I. Zwei deutsche Literaturen?
Das Ende des Zweiten Weltkrieges bedeutete auch das — je nach Ansicht vorläufige oder dauerhafte — Ende der Einheit Deutschlands, die ja erst wenige Generationen alt gewesen war. Über die Frage, wie sehr die beiden deutschen Staaten und Gesellschaften auseinanderdriften, gibt es durchaus verschiedene Meinungen. Entsprechende Einschätzungen sind unablösbar mit dem politischen Standort verbunden.
So hat im Sommer 1986 Ralf Dahrendorf festgestellt, daß die traditionelle Analyse der Systeme in Ost und West nicht mehr trägt: „Die Frage, wie wir die politischen Systeme von Ost und West beschreiben, ist von mehr als akademischem Interesse. Wer in der Sowjetunion das Reich des Bösen sieht, wird eine andere Politik betreiben als der, der alle industriellen Gesellschaften auf ähnlichen Wegen vermutet.“ Dahrendorf findet mit Recht, daß alte Etiketten und Theorien sich abgenutzt haben und polemisiert vor allem gegen die Totalitarismus-These: „Totalitär ist im strengen Sinne nur ein Regime, das alle Bewohner ständig zum Zweck der Erhaltung völlig zentralisierter Machtausübung mobilisiert. Es ist total in seinem Anspruch auf die Zeit und das Leben der Menschen, damit in seiner MachtausÜbung.“ Dahrendorf verweist nachdrücklich darauf, daß die meisten westlichen Gesellschaften dem Bild moderner offener Gesellschaften näher sind als die des Ostens. Aber die Unterschiede will er eher graduell sehen und stellt die rhetorische Frage: „Wie demokratisch sind eigentlich die Demokratien? Auch da gibt es beträchtliche Unterschiede. Wer entscheidet tatsächlich über bestimmte Grundfragen wie das Maß der Rüstung oder die Form der Energieversorgung oder die Stabilität der Währung? Das Volk? Die Parlamente?“
Es versteht sich, daß Widerspruch nicht ausblieb. Von konservativer Seite wurden Dahrendorfs Nuancierungsversuche als .. scheinkluge Formeln“ kri-tisiert und wiederum der „scharfe und prinzipielle Gegensatz der Systeme“ hervorgehoben, wie er durch das Kriterium Freiheit markiert sei
Unzweifelhaft ist, daß eine prinzipielle Verschiedenheit in den zentralen politischen, gesellschaftlichen, ideologischen Fragen und Einrichtungen zwischen den beiden deutschen Staaten besteht. Heute wird man von einer kulturellen Sonderentwicklung der beiden deutschen Staaten ausgehen müssen. Doch die Frage ist, wie weit diese reicht, wie sie einzuschätzen ist. Gewiß ist es zu einfach, ja geradezu falsch, den Befund einer kulturellen Sonder-entwicklung auf die Frage zuzuspitzen, ob es nun zwei deutsche „Literaturen“ gebe. Marcel Reich-Ranicki hat die Diskussion darüber zusammengefaßt und sich der These Hans Mayers angeschlossen, daß diese Frage „mit einem schroffen Ja oder Nein . . . nun einmal nicht entschieden werden kann“ Die Fragestellung selber stammt aus der Zeit des Kalten Krieges, in der gern behauptet wurde, bald könnten Deutsche nicht mehr miteinander reden. Das war gewiß eine überspannte These, und die seinerzeit gern unterstützten Forschungen zur sprachlichen Sonderentwicklung der beiden Deutschlands haben wenig genug erbracht. Doch noch 1972 hat z. B. Fritz Raddatz diese Vorstellung aufgenommen und „witzig“ ausgesponnen: „Es ist zu berücksichtigen, daß es inzwischen Ostdeutsch und Westdeutsch gibt: man muß wissen, daß ein Biwa-Laden ein Spezialladen für billige Waren ist und daß in der DDR ein „Jugendobjekt“ nicht Chiffre für Haschisch ist. sondern für eine von Jugendlichen geleitete Baustelle oder Produktionsstätte.“
Man muß wissen, ließe sich entgegnen, daß ein paar Ausdrücke noch keine eigene Sprache begründen. In der Bundesrepublik sagt man Plastik, in der DDR Plast oder Plaste — das ergibt bessere Reim-möglichkeiten, aber noch kein , Ostdeutsch* Es ist ja auffällig — und dies begründet die Bedeutung der Literaturtradition —, wie wenig es gelungen ist, die Glücksvorstellungen der Menschen wirklich umzukrempeln. Familie, Wohnung oder gar ein Haus mit Garten — notfalls Datscha geheißen — sind für die meisten immer noch anziehender als ein Lob von oben oder eine Auszeichnung. Und was als Sehnsuchtsstoff das Herz der Dichtungen ausmacht, ist in den beiden Deutschlands sehr viel weniger verschieden, als es die Kulturbehörden wahrhaben wollen.
Auch die Literaturwissenschaftler, zur Betonung der Nuance verpflichtet, heben zu leicht auf die Verschiedenheiten ab und sparen sich zumeist die Frage, wie weit diese reichen. Noch 1983 heißt es in einer weitverbreiteten Darstellung: „Dieser Beitrag unternimmt den Versuch, den epochalen Charakter zumindest eines Teils der in der DDR entstandenen Lyrik ausfindig zu machen, einen Charakter, der sie historisch und literarisch unverwechselbar im Verhältnis zur vorher und gleichzeitig andernorts geschriebenen Lyrik in deutscher Sprache macht. Daß dieses Epochenphänomen sich herausgebildet hat, hängt nicht nur mit der nun schon über dreißigjährigen Eigenstaatlichkeit der DDR zusammen, sondern mit einer schrittweise entstandenen eigenen kulturellen Identität bzw. mit der , Diskulturalität der beiden deutschen Staaten, einer in Ökonomie und Lebensweise gegründeten gesamtgesellschaftlichen Verschiedenheit.“
Richtig daran ist, daß die literarische Moderne in der DDR viel schwerer durchbrach, daß das Traditionsverhältnis unter dem Stichwort „humanistisches Erbe“ positiver bestimmt ist; demgegenüber gilt, daß es auch in der Bundesrepublik etwa zwei Jahrzehnte dauerte, bis die „Weltsprache der modernen Poesie“ das Gesicht der Gegenwartsliteratur prägte. Doch kann nicht geleugnet werden, daß die Lesekultur in der DDR auf anderen Voraussetzungen aufruht, z.. B.der Medienkonkurrenz viel weniger ausgesetzt ist als die im Westen.
II. Wechselwirkungen und Wechsler
Die Versuche zu einer schroffen Entgegensetzung der Literatur der DDR und der Bundesrepublik Deutschland sind letztlich alle noch dem Konzept einer deutschen Nationalliteratur verpflichtet, wie es die Germanistik des 19. Jahrhunderts bereitstellte und wie es im Laufe der deutschen Geschichte zunehmend politisch instrumentalisiert wurde. Die „Einheit“ einer deutschen Literatur behaupten zu wollen, ist ohnehin ein hochideologisches Unterfangen; die Anstöße der Studentenbewegung („Schlagt die Germanistik tot/macht die blaue Blume rot“) haben gezeigt, was alles vernachlässigt worden war (nicht nur die Arbeiterliteratur und die politische Lyrik, auch so zentrale Figuren wie Georg Büchner oder Richtungen wie das Junge Deutschland), um den Kanon deutsch-national zu erhalten. So ist die gegenwärtige Entspanntheit vorzuziehen, die in der deutschen Literatur bzw. in der Germanistik nicht mehr die Garanten einer deutschen Identität sucht, der Ausdrücke wie „Überfremdung“ suspekt geworden sind und der Überschneidungen lieber sind als Abgrenzungen.
Das war nicht immer so. Entspannung setzt die (weitgehende) Anerkennung des anderen voraus. Eine der zentralen ideologischen Grundlagen des Kalten Krieges war ja das (verzerrte) One-World-Konzept, wie Roosevelt es formuliert hatte: die mit deutlichem Sendungsbewußtsein gepaarte Über-zeugung beider Seiten, die richtige Lösung für die Zukunft der Völker bereitzuhalten. Dazu gehörte ebenso die geradezu prinzipielle Verkennung der anderen Seite. Die These, daß die Gegenseite nichts als Unterdrückung bezwecke (wenigstens tendenziell), sei es als Totalitarismus, sei es als Imperialismus, machte jede Verständigung unmöglich. Im Westen hieß man den Kommunismus eine „Spottgeburt aus Dreck und Feuer“, im Osten sprach man im Blick auf den Westen von krimineller Clique, Spitzeln und Kriegsverbrechern — so Johannes R. Becher 1950 auf dem „Kongreß für kulturelle Freiheit“ über die westlichen Schriftsteller
Erst ein Titel wie „Der geteilte Himmel“ von Christa Wolf (1963) verließ deutlich und entschieden die Denkgewohnheiten des Kalten Krieges. Teilung setzt ja ein Minimum an Koexistenzbereitschaft voraus, und man versuchte nun, beide Seiten differenzierter zu sehen. Es ist der republikflüchtige Manfred, der beim Abschied von der in der DDR bleibenden Rita das Titelbild beschwört: ... Den Himmel wenigstens können sie nicht zerteilen', sagte Manfred spöttisch. — Den Himmel? Dieses ganze Gewölbe von Hoffnung und Sehnsucht, von Liebe und Trauer? Doch’, sagte sie leise. . Der Himmel teilt sich zu allererst.“
Eine Aufmerksamkeit für die Entwicklungen auf der anderen Seite, die jeweils die Abweichungen vom als , normal* gesetzten eigenen Kulturmuster registriert, ist noch den fünfziger Jahren verpflichtet und keiner Selbstverständigung, weder hier noch dort, förderlich. Peter Rühmkorf konnte noch 1963 der „bundesdeutschen Durchschnittspoesie“ den Vorwurf machen, daß sie sich „an Voraussetzungen gebunden zeigt, die mehr und mehr als Hemmschuh und Maulkorb sich erweisen“. Gemeint war das ideologische Erfordernis, als freies Gegenstück zur Indienstnahme des Schreibens, zum totalitären Osten paradieren zu müssen:
„Wie aber heißt der Kurs, und wie verläuft die Strömung? Die Antwort, nur auf den ersten Blick erstaunlich, lautet: daß das Kursbuch deutscher Gegenwartspoetik sich wie ein Negativ liest dessen, was im östlichen Teil unseres Landes verordnete Kunstideologie ist. Da findet sich zu jeder Forderung die Gegenthese, zu jeder Regel das Pendant, zu jedem Topf der Deckel, zu jedem Ja das Nein und jedem Nein das Doch, und am Ende drängt sich der Verdacht auf, daß beide Richtungen sich auf sinnige Art bedingen, und daß hier unversöhnlich gegeneinander steht, was sich ergänzt. Dort die Gesellschaft — hier das Ich, dort Dienstbarkeit — hier Freiheit, dort der Gebrauchstext — hier das Objekt an sich, dort Propaganda — hier der Monolog, dort Wirklichkeitsveränderung — hier Wirklichkeitsentfremdung, dort Fortschritt — hier Lage, dort Traktoren — hier Kristalle, dort Botschaften — hier Strukturen, dort Raumpiloten — hier Fremdlinge, dort dies — und hier das Echo und nur nirgends ein Minimum an Bereitschaft, den eigenen Regelkanon zu durchbrechen.“
So ist es auch eine Hauptthese für die achtziger Jahre, daß es einer gewissen Autonomie der Kultur bedarf, damit es zu Annäherungen kommen kann. Ein Argument, das sich auch umkehren läßt: daß sich in den achtziger Jahren zahlreiche und wesentliche Konvergenzen beobachten lassen, erlaubt den Schluß auf eine zunehmende Autonomie kultureller Entwicklungen. Für die siebziger Jahre lassen sich da viele Beispiele von Wechselwirkungen geben. Ich greife eines heraus.
Berühmt geworden ist Ulrich Plenzdorfs Stück „Die neuen Leiden des jungen W.“ (1972): Es knüpft an die neuromantische Tradition der Taugenichts-Erzählung an, die in den fünfziger Jahren in den USA eine neue Blüte erlebt hatte (Kerouac, Salinger, Brautigan u. a.) und eigentlich im Sozialismus nicht vorkommen dürfte, klagt diese Gattung doch unbefriedigte Sehnsüchte ein, mit einer deutlichen Weigerung, sich dem Kult der Moderne anzuschließen. Entsprechend heißt es in der offiziösen DDR-Literaturgeschichte (1976) auch stimrunzelnd: „Der Autor löste die Dialektik von objektiven Möglichkeiten und subjektiver Verantwortung in der Personenentwicklung im ganzen noch nicht befriedigend.“
Freilich hat der Autor sich nicht beirren lassen und hat die Tendenz zur Entideologisierung des Schreibens fortgesetzt. An der Schwelle der achtziger Jahre konstatiert Hans Kaufmann vom Zentralinstitut für Literaturgeschichte der Akademie der Wissenschaften der DDR eine „veränderte Literaturlandschaft“ und bemerkt zu Plenzdorfs „Legende vom Glück ohne Ende“: „Alltag in der DDR erscheint weder als historische Errungenschaft noch als enttäuschte hohe Erwartung, sondern als eine in ihren Voraussetzungen nicht diskutierte, von den Personen erlebte und selbstverständlich mitgetragene , Gegebenheit*. Es gibt nur diese Welt und keine andere; ihr ist ein menschenwürdiges Leben abzugewinnen.“
Das spiegelt — in bedeutsamer Verspätung — jene Freigabe des künstlerischen Auftrags, der künstlerischen Auffassung wider, für die Erich Honeckers vielzitierte Parteirede vor dem 4. ZK-Plenum vom Dezember 1971 das Stichwort gab: „Wenn man von der festen Position des Sozialismus ausgeht, kann es meines Erachtens auf dem Gebiet von Kunst und Literatur keine Tabus geben. Das betrifft sowohl die Fragen der inhaltlichen Gestaltung als auch des Stils — kurz gesagt: die Fragen dessen, was man die künstlerische Meisterschaft nennt.“
Bekannt ist, daß der Spielraum, den das einleitende „Wenn“ bot, reichlich genutzt wurde, daß diese Sätze keineswegs ein Wegweiser in Richtung einer autonomen Kultur waren, daß nach anfänglichen Erleichterungen die restriktive Kulturpolitik härter denn je zuschlug und daß viele Künstler, Musiker und Autoren in den Westen gingen, weil ihnen in der DDR die Lebensluft abgeschnitten war. Manche davon mit einem Dauervisum, das neuerdings 10 üblicher wird: Wolf Biermann, Bernd Jentzsch, Reiner Kunze, Jurek Becker, Sarah Kirsch, Günter Kunert. Thomas Brasch, Rolf Schneider, Erich Loest, Stefan Schütz, Bernd Wagner, Katja Lange-Müller, Rüdiger Rosenthal. Sascha Anderson. Wolfgang Hilbig, Uwe Kolbe, um nur einige zu nennen. Für den umgekehrten Weg, in den fünfziger und sechziger Jahren noch gelegentlich begangen (z. B. von Adolf Endler, Christoph Hein. Gisela Kraft u. a.). gibt es in letzter Zeit kaum mehr Beispiele.
Offensichtlich war .. die subjektive Erfahrung widerspruchsvoller Wirklichkeit“ nicht gefragt, nicht in die Kulturpolitik der DDR integrierbar. Wenn sich seit den achtziger Jahren eine Wandlung in dieser rigorosen Ablehnung abzeichnet, so vielleicht auch aufgrund der Einsicht, daß der Versuch, eine Dialektik ohne Widersprüche zu denken, selber ein Widerspruch ist und zur Verödung nicht nur der Kunst führt.
Die „Wechsler“ sind nicht ohne weiteres dem Westen .. preisgegeben" worden, die Verbindungen lassen sich nicht beliebig abschneiden, auf vielfältige Weise wirkt deren Werk zurück auf die Literatur-szene in der DDR. Auch daß viele zentrale Werke der DDR-Literatur nur im Westen erscheinen können (Wolfgang Hilbig. Lutz Rathenow. Gert Neu-mann seien für viele andere erwähnt), ist nicht nur als „eingebürgerte Ausbürgerung“ (Stefan Heym) zu werten, sondern trägt zu einer verschränkten Rezeption bei, sichert einen (nicht nur politischen) Aufmerksamkeitswert im Westen und eine „klandestine“ Lektüre im Osten Das Denken in Blöcken und die zugehörigen Ideologien sind ohne Zukunft, was auch die Frage nach der Eigenständigkeit der DDR-Literatur relativiert: Die bundes-republikanische Literatur ist in der DDR inzwischen gut vertreten, und Rühmkorfs satirisch-polemische Entgegensetzungen gehen gewiß so nicht mehr auf.
Ob das Ziel einer autonomen Kultur einer „unmittelbaren Mündigkeit“, die dort beginnt, „wo das Bevormundungswesen oder Vormundschaftswesen endet“ erreicht oder nahegerückt ist, scheint mir indes fraglich; man vergleiche das große Gedicht „Vom Mündel“ im letzten Gedichtband von Richard Pietraß: Die Freigabe/das Freikommen gelingt nicht. Das Gedicht beginnt: „Wenn dem Mündel wohl ist, macht es einen Knicks und bittet den Vormund, seine Hand lassen zu dürfen für ein paar Tage.“ Es endet mit dem lakonischen Vers, der die Rückkehr anzeigt: „Dann faßt es die kalte Hand."
Ohnedies weiß man, daß der Eingriffe noch zu viele sind, der erzwungenen Rücksichtnahmen auch. Und dennoch läßt sich für die achtziger Jahre eine sehr weitreichende Übereinstimmung von thematischen und formalen Tendenzen behaupten, was, wie bemerkt, auf eine zunehmende Autonomisierung der Kultur zu deuten scheint. An einigen Theoremen, welche die gegenwärtige Literatur-szene bestimmen, sei diese Grenzüberschreitung verdeutlicht.
III. Individualität: das Konzept „Körperlichkeit“
Der gegenwärtigen Kulturdiskussion zufolge ist eine Rückkehr zu den Sinnen „angesagt“, und man redet von einer „Wiederkehr des Körpers“, so als ob dieser eine Weile „weggewesen“ sei Es ist ein ambivalentes Theorem, das viel Reiz hat. Wer empfindet nicht die Unwirtlichkeit moderner Lebens-welten, etwa der riesigen Schlafstädte, als Gewalt am leiblichen Dasein? Das Problem dieses Theorems ist jedoch, daß es leicht den kritischen Impuls in Geistfeindlichkeit umschlagen läßt.
Nun vermag aber die DDR-Lyrik z. B. zu zeigen, daß Körperlichkeit ein ursprünglich aufklärerisches Motiv ist: Der Bezug auf den Leib meint die Basis eines jeden Widerstandes gegen Fremdverfügung. In einer Hymne, die das Goethesche Prometheus-Gedicht zum Vorbild hat, denkt Volker Braun die Revolution, die „Verschwörung der Gleichen“, als Demokratie des Leibes
.. Ich bewege mich auf dem Boden der Gesetze Gewiß doch, ihr Lieben!
Meines Herzens, das in jedem Körper schlägt Legal und zerstörerisch, unzüchtig und sanft.
Ich vereinige die wirkliche Sehnsucht Und die unwirklichen Küsse Die Verzweiflung und die Detonationen Der Sinne.
Ich kenne kein Protokoll und keine Chefs Ich nehme keine Befehle entgegen Ich folge dem gemeinsamen Ratschluß meiner Glieder. Ich konstituiere mich Für eine Verschwörung der Gleichen.“
Das berührt sich vielfältig mit „körperlichen“ Tendenzen der westlichen Lyrik und Kulturdiskussion, welche die „Wirklichkeit der Sinne“ gegen den verfügenden Gestus aller Herrschaftsausübung ausspielen. Ein Gedicht des jungen Nürnberger Poeten Gerhard Falkner aus dessen Lyrikband „so beginnen am körper die tage“ (1981) lautet:
„siehst du. ich habe das äuge aufgestemmt, mit dem Werkzeug der stimme habe ich freigelegt das zittern seiner linse.
ich habe die netzhaut durchlässig gemacht für den einspruch der körper ihre ratlosen schatten und stürze.
ich habe seine krümmung verspannt mit dem vertikalen fall des fleisches außen, abseits, ans unerträgliche hin“
Dieses Gedicht entfaltet wesentliche Theoreme einer zeitgenössischen Poetologie: die Absage an die Widerspiegelung, d. h. an die fast besinnungslose Herrschaft des „Bildes“ in der Dichtung; die Auffassung der Stimme als Werkzeug, was nicht nur das Wort gegen das Bild ausspielt, sondern es zugleich auch als Artikulation, als „körperlichen“ Ausdruck faßt; so bekommt der „einspruch der körper“ wieder Anteil an der Poesie.
Das große Gedicht von Wolfgang Hilbig „Stimme Stimme“ hat gezeigt, wie wichtig das Theorem „Körper“ für die DDR-Lyrik ist. Dies zeigt auch ein schönes Gedicht von Uwe Kolbe aus dem neuen Band „Bornholm II“ (1986). Es heißt „Sehnsucht“ und benennt damit das Grundmotiv der Rückwendung auf den Körper. Es ist ein romantisches Motiv. Eichendorffs eigene Liedersammlung beginnt mit dem Gedicht „Frische Fahrt“, in dem die Zeilen stehen: „Und ich mag mich nicht bewahren! /Weit von euch treibt mich der Wind . . .“ Entsprechend werden in jeder der vier Strophen Kolbes „Segel gesetzt“; jede Strophe gilt einem anderen Sinnesorgan: Ohren, Nase, Mund und Auge. Es ist eines der schönsten Gedichte gegenwärtiger (DDR-) Lyrik, die letzte Strophe lautet: „Das Auge, was da ins Auge fällt, frei ihm gesucht aus der Angst, über die Dächer hinweg, über den Strom zu dem Segel hin, das kleine, das Beiboot, das treibende Auge.“
Bei allen Übereinstimmungen ist jedoch ein unterschiedlicher Ansatz festzuhalten, der das Körper-Theorem auch verschieden gewichtet. Volker Braun läßt ein aufklärerisches Konzept Wiederaufleben, die — den Schluß von „Emilia Galotti" tragende — Idee, daß der Körper, die Sinne, das Herz und die Glieder sich als Basis der Selbstbestimmung begreifen, ja „konstituieren“ können. Das setzt — im Anspruch — eine Gesellschaftsform voraus, für die eine solche Berufung auf eine als ursprünglich gesetzte Gleichheit noch etwas besagt. Also im Klartext einen Sozialismus, der sich diesem Vorbehalt theoretisch nicht verschließen kann.
Im Westen hingegen ist die über die Medien und die Sozialisationsagenturen vermittelte Fremdbestimmung unserer Sinne und Gefühle eine so zentrale Erfahrung und Einsicht, daß solche Appelle als blauäugig verworfen werden. Auch wenn es in Kreisen einer postmodernen Ästhetik dazugehört, „dem Sinnschwund offensiv zu begegnen“, d. h.der „Inkriminierung des Auges, das als der Hauptsinn der Moderne und als Hebel der neuzeitlichen Körperpolitik gilt“, wird nur das Lob der Nahsinne entgegengesetzt: Geruch, Geschmack, Gespür bilden „nach wie vor ein festes Fundament für den Körper-einsatz“. Es sei „bloß ein von der Zivilisationspropaganda ausgestreutes Gerücht, daß sie beim Menschen verkümmert seien. Gerade weil die abstrakte Gesellschaft der Ausbildung von Riech-, Schmeckund Tastkulturen feindlich gegenübersteht, konnten diese nicht verallgemeinerungsfähigen Vermögen überdauern“
Diese These übersieht das, was Peter Gay die „Erziehung der Sinne“ nennt. Und sie hat ihre Konsequenzen nicht gut genug bedacht. Das tat hingegen mit hinreißender Genauigkeit Patrick Süskind in seinem Roman „Das Parfum“, der sich nur als Parodie auf solche postmodernen Flausen begreifen läßt. Süskind zeigt deutlich, was von einer solchen These wie „Der einzige feste Ort ist unser Leib“ zu halten ist. Die Leiber werden ohne Zögern verbraucht, wie das jeweilige Begehren es vorschreibt, dessen moralisch/soziale Einbindungen ja von der Postmoderne zu Hokuspokus erklärt sind. Der Wiedergewinn einer humanen Lebensperspektive wird zwar in Ost wie in West als Problematisierung des Zivilisationsprozesses begriffen, aber die neue Bezugnahme auf den Körper ist offenbar nur oberflächlich gesehen vergleichbar.
Allzu leicht wird unter bundesrepublikanischen Autoren vergessen, daß die „postmoderne“ Wiederentdeckung des Leibes diesen, der ja in der durch Sex, Mode, Werbung (= Entsublimierung) bestimmten Öffentlichkeit nur allzu präsent ist, nicht wörtlich meint. Gert Mattenklott bezieht sich auf Nietzsches Mythos-Begriff, „das zusammengezogene Weltbild“, die „Abbreviatur der Erscheinung“, wenn er den „mythischen Leib“, als „Phantasma“ begriffen, zum Ansatzpunkt einer Kritik logozentrischer Vernunft macht: „Seine Vernunft ist die eines sympathetisch regierenden Ensembles, einer Konstellation unterschiedlichster physischer, psychischer und geistiger Energien.“ Mattenklott zitiert Nietzsches (postmodernes) Votum: „Meine Hypothese: das Subjekt als Vielheit“ und beruft die Mehrsprachigkeit des Leibes Einem solchen Phantasma die ästhetische Dimension wegzukürzen, wie das viele junge (westliche) Erzähler zur Zeit tun, hebt die ideologiekritische Potenz auf. die in ihm gelegen ist Die Körper-Literatur der „wilden, jungen Achtziger“, die allzu direkt die Verführungen der großen Städte preist, in denen einzig zu leben sei, wird denn auch unvermerkt in einem grundsätzlichen Sinne obszön.
Hingegen hält ein DDR-Autor wie Heinz Czechowski sehr bewußt und auch ästhetisch nachvollziehbar, die „historische Dimension“ fest, mit der Hans Kaufmann literarische Verfahren charakterisiert, „die eine zusätzliche Dimension der Sicht auf die Wirklichkeit erlauben“ Dazu gehört (wie im Text-Zitat von Volker Braun bereits ersichtlich wurde) der Rückgriff auf den Individualitätsanspruch der Sturm-und-Drang-Periode, wie er sich etwa in Goethes Prometheus-Hymne verdichtet hat: „Wer half mir/Wider der Titanen Übermut? /Wer rettete vom Tode mich, /Von Sklaverei? /Hast du nicht alles selbst vollendet, /Heilig glühend Herz?“ Und nach oben gewandt (Gott/Herr/Zeus/Obrigkeit), fährt der aufmüpfige Goethe fort — oder genauer: fragt der trutzige Titan in des jungen Goethe Rollengedicht: „Ich dich ehren? Wofür?“
Die trutzige Absage Volker Brauns („Ich kenne kein Protokoll und keine Chefs/Ich nehme keine Befehle entgegen“) läßt sich ebenso als Intertext zur Prometheus-Hymne lesen wie Heinz Czechowskis Gedicht „Was mich betrifft“ (1981) das mit den Trotz-Versen endet:
„Meine Vorzüge, ich gebe es zu, Sind vergleichsweise gering: aber Daß ich nicht kriechen kann Und meine Farbe nicht wechseln Je nach Belieben, Ist auch eine Gnade, für die ich Niemand zu danken habe.
Außer mir selbst.“
Die Absage an „die Zunge der Schlange“ und an „die Haut des Chamäleons“ bringt die Eigenart des menschlichen Leibes zur Geltung. Auf dem Ich zu bestehen („Was mich betrifft, /So bin ich ich“), wird hier zugleich eine Absage an alle Sozialisationsansprüche und „Maßnahmen“, wie sie zu den Früh-und Kampfzeiten des Sozialismus, zu dessen „heroischer Phase* gehören.
Heiner Müllers Text „Mauser“ (1970) buchstabiert das noch radikal im Sinne der „Lehre“ durch; das Ich (des jungen, mit Töten beauftragten Genossen) wird, als es sich im „Auftrag“ verliert, vom Kontrollchor als Negation gesetzt, als Riß zwischen der Einsicht ins revolutionäre Handeln und dem Erlebnis der Mitmenschlichkeit. Heiner Müller probiert die orthodoxe Lesart durch: „Nicht Menschen zu töten ist dein Auftrag, sondern /Feinde. Nämlich der Mensch ist unbekannt.“ Der Chor korrigiert die Ansprüche des jungen Genossen, auf sich selber und seinen Gefühlen zu bestehen „Denn das Natürliche ist nicht natürlich/Sondern das Gras müssen wir ausreißen/Und das Brot müssen wir ausspein/Bis die Revolution gesiegt hat endgültig . . .“
Nun läßt sich Heiner Müller nicht mit dem (Kontroll-) Chor identifizieren, und er hat ja diese Problematik auch weiter durchgearbeitet (vergleiche „Der Auftrag“); aber deutlich ist, daß in den achtziger Jahren diese Macher-Ideologie — gelegentlich auch mit dem Scheltwort „Moderne“ angesprochen — in Ost wie in West dubios geworden ist. Die Wiederaufnahme von Sturm-und-Drang-Tönen meint so auch eine Kritik an der (Dialektik der) Aufklärung, der nicht beliebig zu vertrauen ist.
Christa Wolf formuliert das ganz ausdrücklich unter dem Theorem „Körperlichkeit/Sinnlichkeit": . „ , Die Erkenntnis, die nicht durch die Sinne gegangen ist, kann keine andere Wahrheit erzeugen als die schädliche. 1 Leonardo da Vinci. Wenn diese Einsicht — nach dem langen gefährlichen Experiment mit der abstrakten Rationalität, das im instrumentalen Denken endete — wieder fruchtbar würde: Dies wäre wirklich eine neue Renaissance des Bewußtseins. Was spricht dagegen? Daß die Sinne vieler Menschen — nicht durch ihre , Schuld'— verödet sind und daß sie, mit Recht, Angst davor haben, sie zu reaktivieren. Daß sie es vielleicht nicht mehr können. Was fehlte der Menschheit, wenn ihr der „europäische Mensch'genommen würde, wie es jetzt ins Auge gefaßt wird? Was können wir zu unseren Gunsten vorbringen?“
IV. Mythos: die Selbstkritik der Vernunft
Das Interesse für mythische Themen und Gestalten zeichnet die DDR-Literatur in ganz besonderer Weise aus; doch gehört diese Rückwendung zum mythischen Wissen ebenso zur gegenwärtigen Literatur im Westen, wobei auch der österreichische Anteil zu betonen ist. Am berühmtesten ist vielleicht die „Kassandra“ -Erzählung von Christa Wolf geworden. Sie kritisiert schonungslos die Männer-herrschaft und den dazugehörenden Krieg, die schmale Vernunft unserer Lebenseinrichtung bis heute, und wählt dafür die trojanische Königstochter Kassandra als Sprecherin. Ihr war der Sage nach der Fluch zuteil geworden, die Zukunft vorauszusehen, aber keinen Glauben zu finden. Bei Christa Wolf wird Kassandra so als Trägerin eines anderen Wissens eingesetzt, das wir dennoch negieren: „Das hab ich lange nicht begriffen: daß nicht alle sehen konnten, was ich sah. Daß sie die nackte bedeutungslose Gestalt der Ereignisse nicht wahrnehmen.“
Diese Haltung wird nun als die der Moderne begriffen, die alle Zeichen des selbstverschuldeten Untergangs negiert, und weder zu einem Frieden mit der Natur bereit ist noch zu einer Verständigung zwischen den Führungsmächten, den gesellschaftlich-politisch unterschiedlichen Systemen. Der Geist der Konkurrenz gilt als modern, während die Mythen von einer Einheit berichten, die das Gegenbild liefert.
Gert Mattenklott zitiert Nietzsches „Geburt der Tragödie“ mit den Sätzen: „Ohne Mythos aber geht jede Kultur ihrer gesunden schöpferischen Natur-kraft verlustig; erst ein mit Mythen umstellter Horizont schließt eine ganze Culturbewegung zur Einheit ab.“ Der Mythos verheißt eine Wahrheit, eine Sinndeutung, eine ganzheitliche, tiefere Sicht und Zusammenschau, die von Unzufriedenheit mit modernen Denkmustem und Erklärungsmodellen zeugen. Er beansprucht ein Wissen, das allem Disput entzogen ist, beansprucht, Natur und Geschichte zu übersteigen; die Poesie wird sein Medium, beide „bindet keine Zeit“ (Goethe).
Nun ist, wie die ausführliche Mythos-Diskussion der letzten Jahre deutlich genug gezeigt hat, die Ambivalenz des Mythos-Begriffs kaum aufhebbar: Einmal steht er für die Sehnsucht nach dem Ursprung, nach einer neuen Lebenswärme, nach der „Enthirnung“ (Gottfried Benn), der Unterwerfung des Geistes unter die Natur, was auch als Heimkehr des „verlorenen Ich“ gedacht wird. Der Ruf nach solchen Mythen und entsprechende Angebote geistern durch die gegenwärtige Erzählliteratur der Bundesrepublik, von Otto F. Walter, Peter Rosei, Klaus Hoffer, Silvio Blatter bis zu Botho Strauß und Peter Handke.
Vermutlich ist es das Marx’sche Mythosverbot das die DDR-Autoren vor einer sogenannt-unbefangenen Mythos-Adaption behütet. Wenn Siegfrieds Bad im Drachenblut das Muster einer Ich-Panzerung wird (bei Christoph Hein, in „Drachenblut“), so wird das doch vielfach gebrochen eingesetzt. Seine Ich-Erzählerin verständigt sich anrührend unverständig mit sich selber: „Ich war überzeugt, daß ich niemals meine Distanz zu Menschen aufgeben durfte, um nicht hintergangen zu werden, um mich nicht selbst zu hintergehen. Ich war gegen mich gewappnet.“ Wir werden zu Zeugen ihres Scheiterns, auch wenn sie am Ende des Buches nur Erfolg vermeldet: „Ich wüßte nichts, was mir fehlt. Ich habe es geschafft. Mir geht es gut.“ Diese letzten Sätze werten den mythischen Bezug (endgültig) um: Er half, sich den Gegenwärtigkeiten zu entziehen, das Ich so zuzurichten, zu kasernieren, daß es seinen Wünschen nicht mehr begegnen kann. Die heroische Attitüde wird als ungleichzeitig ausgestellt, damit die Fassungslosigkeit als einzig gleichzeitige Reaktion sich vermitteln kann.
Im Westen kommt die banale Mythos-Aneignung häufiger vor. Stephan Reinhardt kritisierte 1984 in der Frankfurter Rundschau das „Verlangen unserer Intellektuellen nach einer neuen Mythologie, die alles trägt“: „Wenn Mythos wie in der Antike oder im christlichen Mittelalter die legitimierte Rückführbarkeit von Handlungen, Gedanken und Gefühlen auf eine die Gesamtgesellschaft tragende Sinnquelle bedeutet — brauchen wir das heute noch, einen solchen starken Sinn, der wie ein starker Mann alle und alles trägt?“
Die Antwort der Philosophen, die sich um eine gewisse Rehabilitierung des Mythosbegriffs (nach Hitler und Rosenberg) mühen, lautet im ganzen: nein. Wenn die Forderung nach einer neuen Mythologie erhoben wird, so stets mit Hinweis auf das „älteste Systemprogramm“ des deutschen Idealismus: „Diese Mythologie aber muß im Dienste der Ideen stehen, sie muß eine Mythologie der Ver-nunft werden.“ Peter Bürger umriß im Sammelband „Mythos und Moderne“ (1983), was das heißen könnte: „In dem Maße, wie Rationalität das Leben der Menschen prägt, scheint daraus das zu verschwinden, was es allererst lebenswert machen würde. Dieses andere, das die Ratio nur als das ihr Widerstreitende, das Irrationale, zu fassen vermag, ist in der modernen Gesellschaft der Mythos. In ihn geht ein, was außerhalb des rationalen Diskurses bleibt: Hoffnungen ebenso wie Ängste, Lebenserwartungen und Todeswunsch. Das Problem des Mythos ist das seiner Abtrennung von der Vernunft.“
Auch Hartmut und Gernot Böhme begreifen Mythos als Reaktionsbildung auf einen verkürzten Begriff von Rationalität und haben doch in ihrem Buch „Das Andere der Vernunft“ (1983) die Selbstkritik der Vernunft nicht-mythopoetisch zu entwikkeln gesucht. Immerhin gerät das unvermerkt zu einem Plädoyer für ästhetische Erfahrung, für eine künstlerische, eine nicht-disziplinierte Weltdarstellung und Weltauffassung: „Das Andere der Vernunft: von der Vernunft her gesehen ist es das Irrationale, ontologisch das Irreale, moralisch das Unschickliche, logisch das Alogische. Das Andere der Vernunft, das ist inhaltlich die Natur, der menschliche Leib, die Phantasie, das Begehren, die Gefühle — oder besser: all dieses, insoweit es sich die Vernunft nicht hat aneignen können . . . Die Kriterien für Wirklichkeit: Einheit, Gesetzmäßigkeit, Zusammenhang dienten zugleich der Abwehr des Anderen, das als bloße Einbildung verworfen oder unter den Kategorien des Als-Ob virtualisiert wurde.“
Mythos wird ein so wichtiger Begriff, weil er die Autonomie der Kunst impliziert, sie, mit einem Worte von Friedrich Schlegel, als „eine Rede“ auffaßt, „die ihr eignes Gesetz und ihr eigner Zweck ist“. So erklären sich auch die Bedenken sozialistischer Theoretiker und Politiker gegenüber dem Mythosbegriff Zentral für die gegenwärtige Aneignung, für die „Arbeit am Mythos“ (H. Blumen-berg) ist, daß die ästhetische Dimension nicht einbezogen wird, daß die Konzepte „Natur“, „Frau", „Jugend“, „Leib“, „Gemeinschaft“, „Kind“, „Heimat“ usw. nicht mythisiert und damit jeglicher Ver-ständigung entzogen werden; das ist ja schließlich dem Mythosbegriff am nachhaltigsten geschehen. Zugleich wird deutlich, daß das Projekt einer autonomen Kultur sich vor allem an Worten, Begriffen und Konzepten stoßen muß, mit denen festgelegt werden soll, was Wirklichkeit ist und was zum anderen gemacht, ins Als-Ob abgedrängt wird. Für die DDR hat wohl Gert Neumann diese (herrscherliehe) Technik der Wirklichkeitsverfügung am radikalsten problematisiert, z. B. in seinem großen Buch „Elf Uhr“ (1981), das nur in der Bundesrepublik erscheinen konnte: „Das genaue, heutige, Thema meiner Begegnungen in den Tiefen dieses Kaufhauses, ist die durch mich stattfindende Verweigerung einer allgemein bestätigten Wirklichkeit: der die Menschen dienen; und dies mit einer wenig verborgenen Wollust, so, daß dem Thema der Wahrheit ein befremdender Dienst erwiesen ist. . ."
Gert Neumann bringt die Poesie in Gegenstellung gegen „die Versteinerung der Materie Wirklichkeit durch die Sprache“ was auch zum Thema „Die Schuld der Worte“ hinführt
„In jeder Minute der Männer wird Wirklichkeit verhindert; und ich bin nicht wenig daran beteiligt. Jede Äußerung zum, unumgänglichen, Geschehen, das — wegen der Unmöglichkeit, es in Sprache zu bringen ... — bei einer plötzlich notwendig werdenden Bezeichnung das , Elend‘ genannt wird, soll den Verdacht zerstreuen, daß außerhalb des stattfindenden Geschehens, das irrtümlich die Wirklichkeit genannt ist, also im Denken etwa: eine Gegenwart existiert, in der es durchaus würdig sei eine Formulierung der immer gleichzeitig anwesenden Wahrheit zu versuchen, deren ständige Form die dauernde und künstlich erhaltene Nichtform ist, an der die Männer ihr zynisches Interesse haben.“ Für Gert Neumann wird „der Nachweis von Poesie-ruinen in dieser Gegenwart“ sogleich eine Polemik „gegen die Wirklichkeitsrealität“ (welche als ein Mythos aufgenommen wird): „Ein ganz besonderer Kampf muß deshalb aufgenommen werden: der Sieg der Poesie ist das einzige, moderne, Argument gegen die, tödliche, Gegenwartsgrammatik der Diktatur. Denn, die Diktatur repräsentiert die poetische Würde des Lebens: nicht.“
So sympathisch (zumal für Romantik-Kenner) und überzeugend dieses Programm klingt, wäre doch zu bedenken, ob die hier eingesetzten Hauptwörter „Diktatur“ und „Poesie“ nicht ihrerseits einer Mythisierung unterliegen. „Daß die Gestalt der Poesie in ihrer Würde endlos ist“ sucht Gert Neumann in seinen Textbewegungen zu erweisen, doch zugleich entwörtlicht er den poetischen Ansatz, mythisiert ihn mit Hilfe des Johannes: „Und bald ist es vollbracht den poetischen Geist auf neue Weise zu sehen!“ Für die Realitätssetzung des Begriffs Diktatur müssen intensive Alltagsdarstellungen einstehen, deren Idiosynkrasien nicht jedem ganz nachvollziehbar sein werden. Ganz aufgegeben sei die Frage also nicht; doch sei vermerkt, wie intensiv hier Sprache und Wirklichkeit aufeinander bezogen werden.
Zumeist gehen Mythisierungen wie Entmythologisierungen ja von Bildern (Figuren) aus. Wenn etwa in der psychologischen Diskussion heute der Ödipus-Figur die (Denk-) Figur Narziß entgegengehalten wird, so ist es auch eine List der kulturtheoretischen Kommunikation, die Macht des einen Mythos zu brechen, indem man ihm die Bedeutung des anderen entgegenhält. Die Mythen werden so zu Verständigungsweisen, die man sich augenzwinkernd erlaubt: Damit können Erfahrungen zugelassen und bearbeitet werden, die nur bedingt begrifflich faßbar sind. Christa Wolf hat so ihre „Kassandra“ -Erzählung gearbeitet und begründet, als Konsequenz einer Weitsicht, eines Erfahrungsstandes, der „natürlich die klassische Ästhetik endgültig aus ihren Angeln“ hebt und aus „ihren Halterungen, welche, letzten Endes, an den Gesetzen der Vernunft befestigt sind“ Doch nie geht sie zu jener Mythenbeschwörung über, welche eine Entwirklichung der Realität und eine Sinnbild-Setzung zur Voraussetzung hat, wie sie z. B. in Peter Handkes Schlußmonolog der Nova in „Über die Dörfer“ (1981) ausgesprochen wird.
Wolfgang Emmerich, der sich ausführlich mit den „antiken Mythen auf dem Theater der DDR“ beschäftigt hat, konstatiert für Heiner Müllers zwanzigjährigen theatralisch-formalen Umgang mit antiken Mythen: „Geblieben ist ihre . strukturale'Lesart, nämlich als Sinn-Bilder aus der Frühgeschichte unserer Zivilisation, deren katastrophische, deformierende Wirkung noch andauert.“ In entsprechender Bedeutung erscheinen Mythen in der Lyrik eines Günter Kunert, Erich Fried, Michael Krüger, Uwe Grüning, Volker Braun oder Uwe Kolbe, also in Ost und West gleichermaßen. Die „Polymythie“ — für die sich der Philosoph Odo Marquard einsetzt, dem selbst der „Einfall“ suspekt ist („es lebe der Vielfall“) — meint, daß es „multiindividuell oder multikulturell je eigene Wege zur Humanität“ geben müsse. Sie gibt also ein zentrales Stichwort für eine Antwort auf unser Thema vor.
V. Postmoderne
Entgrenzungen und symmetrische Bedrohtheit. Es zeigt sich, daß die Rückwendung zum Mythos keine modische Träumerei ist, sondern dem Gefühl einer globalen Bedrohtheit entspringt. Mythos meint eine vor-moderne Wissensform, die sich lebensfreundliche Vereinfachungen gestattete. Die Autoren in Ost und West heben dies als den Wahrheitsanspruch der Dichtung hervor: auf ein Wissen zu deuten, das menschlicher sei als die gegenwärtigen Wissensformen.
Die Autoren gehen dabei von einer „Symmetrie“ der selbstzerstörerischen Tendenzen in Ost und West aus, von einer negativen Konvergenz also. Im Theorem der Postmoderne hat die westliche Kulturkritik darauf reagiert: Dieses ist kaum als analytische Kategorie zu gebrauchen, sondern eher als Index von Stimmungen aufzunehmen. Der Begriff Postmoderne kritisiert sozusagen die Moderne „als ästhetische Praxis des Sinnentzugs“, wendet sich „gegen eine gewisse Hypertrophie der Reflexion“, deutet auf eine „mythogene Geisteslage“
Peter Rühmkorf hat Gedichte als „Mythen in Tüten“ bezeichnet, womit er etwas schnoddrig den traditionellen Anspruch der Poesie aufnimmt, Sprache des anderen zu sein. So versteht auch Botho Strauß sein postmodernes Dichten; in seinem Gedichtzyklus von 1985 versucht er, den Ton Rilkes zu erreichen und gleich jenem orphische Weisheit zu künden:
„Wo wohnen? Es gibt nur Zimmer ohne Haus.
Schiere Stube auf offenem Feld.
Nur Rosen gibt es ohne das Wort.
Unbegreifliche Siegelknäufe.
Nicht Haus, nicht Rose.
Nicht bald, nicht einst.
Belanglos geboren in reines Vergessen.
Mager von Erschütterungs-Schaudern.
Schwankend um den Nebelgrad von Person.
Mal weniger als niemand, mal mehr um eine lichte Träne.
Es auszuhalten trotz des sternklaren Bewußtseins oft und plötzlich, daß nur Nacht ist, wo wir sind, und alles Handeln und Begreifen geschieht beim Abwärtsrasen in einem schallenden Schacht — Niemandgebraus. Schwarzstrahlung.“
Solche Töne nehmen vormodernen Verkündigungsgestus, lyrische Abstraktion und Evokation und pansophische Traditionen zusammen, wobei der Schritt ins Kunstgewerbe rasch getan ist.
Als Beispiel sei ein jüngerer DDR-Dichter danebengehalten: Klaus Rahn, dessen Gedichtband „Unter dem schönen dachfirst" 1984 erschien: „RUFEND: ER VERBEISST SICH Bäume mit glänzenden zimmern, wo wir ein und aus gehn, wie’s uns gefällt, unberührt von den schwebenden türen, türen aus nichts aus lauter licht und schatten, rauschend die klinke unter der hand, goldene flügel unter dem mantel angelegt und schluchzend zu fliegen, rufend: er verbeißt sich, er in meinem innern, wie er lebt: ohne riegel.
Ohne stoßwunden, ohne stichwunden, wie er lebt, ohne gitter, ohne waffen“ Der Traum von der Entgrenzung des Ichs und der Welt führt auf das (gleichfalls Rilke verpflichtete) Bild vom schluchzenden Fliegen. Wir/er/ich — das verbeißt sich zu einer Person, von der staunend bemerkt wird, „wie er lebt: ohne riegel. . . /ohne gitter, ohne waffen“. Der Poesie wird wieder zugemutet, Ort der Utopie zu sein, genauer: Nichtort einer Utopie, für die Bilder und Benennungen fehlen. Entsprechend landet Botho Strauß beim pansophischen Motiv von der Schwarzstrahlung, das eines der zentralen Momente früherer romantischer Lyriktheorie (den Topos vom dunklen Licht) wiederaufnimmt. Die billige ästhetische Aufmachung („Bäume mit glänzenden zimmern“ oder „Schiere Stube auf offenem Feld“) muß uns ausreichend Warnung davor sein, die Botschaft allzu wörtlich zu nehmen, die gleichwohl eine sein soll.
Das Theorem „Postmoderne“ setzt Vielheit gegen Einsinnigkeit und Verschiedenheit gegen den Zwang zur Identität, Körperlichkeit gegen eine lenkbar gewordene Vernunft, Minderheiten gegen eine sogenannte Mehrheit, Subkulturen und Rand-kulturen gegen die Leitkultur. Für die DDR sind diese im Westen formulierten Theoreme keineswegs fremd, und der bedeutendste DDR-Dramatiker Heiner Müller äußerte auf einer Postmodernismus-Diskussion in New York u. a.: „Ich kann die Frage des Postmodemismus aus der Politik nicht heraushalten. Vielleicht kommt in andern Kulturen anders wieder, bereichert diesmal durch die technischen Errungenschaften der Moderne, was in den von Europa geprägten dem Modernismus voraufging: ein sozialer Realismus, der die Kluft zwischen Kunst und Wirklichkeit schließen hilft, die , Kunst ohne Anstrengung, mit der Menschheit auf Du‘, von der Leverkühn träumt, bevor ihn der Teufel holt, eine neue Magie, heilend den Riß zwischen Mensch und Natur.“
An einer Vielzahl von Theoremen, welche die gegenwärtige kulturelle Verständigung und damit auch die Dichtung bestimmen, ließe sich die Wiederannäherung der beiden deutschen Literaturen zeigen: Die Zuwendung zur Kindheit gehört dazu, das Thema „Vater“ oder die Sympathie auch für alternative Lebensentwürfe, die neue Aufmerksamkeit für die Leistung der Sprache, das Ich oder Selbst mit aufzubauen, eine neue Sicht auf die Rollenmuster von Mann und Frau und vieles andere mehr. Es zeigt sich, daß es nicht glückt, Literatur-entwicklungen zu kasernieren: Der Anschluß an international geführte Diskussionen (Natur, Frieden, Heimat, Zukunft) ist deutlich sichtbar. So sei am Schluß wieder auf die doch bemerkenswerte Differenz der beiden Literaturen hingewiesen, die nicht nur für die Rahmenbedingungen gilt.
VI. Dichtung als Widerspruch
Der 48. internationale PEN-Kongreß, der im Januar 1986 in New York stattfand, hatte das Thema „Dichter und Staat“, genauer: „Die Vorstellungskraft des Schriftstellers und die Vorstellungskraft des Staates“. Hochgereizt wurde das Thema durch den Auftritt des amerikanischen Außenministers George P. Shultz. Günter Grass fühlte sich dadurch an den Ostblock erinnert und befand im Sinne der Konvergenzthese: ihm sei beim Vergleich von Schriftstellertreffen in Budapest und New York erneut klargeworden, daß der wahre Gegensatz nicht zwischen Ost und West bestehe, sondern zwischen Künstlern und Bürokraten. Sein Fazit: „Wir müssen wieder Anarchisten werden!“ Ähnlich lautete Heiner Müllers These, daß der amerikanische Traum so weit entfernt von der amerikanischen Realität sei wie sein sozialistischer Traum vom realen Sozialismus.
Doch als nun, auf den Eindruck des prinzipiellen Gegensatzes von Macht und Humanität bezogen, die Staaten zum Kürzel „der Staat“ zusammen-schmolzen, regte sich Widerspruch. Der Peruaner Mario Vargas Llosa warnte: Die Dämonisierung des Staates sei ein ebenso romantisches Relikt wie die unter Schriftstellern verbreitete Vorstellung, sie allein hätten ein Monopol auf politische Einsichten
Ein Blick auf die Reibungsverhältnisse zwischen Literatur und Staat in den beiden Deutschlands gibt dem Recht. Deutlich ist, daß die DDR eine ganz andere Kontrolle auf die literarische Produktion und Distribution ausübt und ganz andere Sanktionen kennt als die Bundesrepublik. In der Bundesrepublik hatte es zwar zum Beispiel der Gedicht-band des ehemals der Terroristenszene zugerechneten Peter-Jürgen Boock schwer zu erscheinen; aber nach einiger Verzögerung und einigen Streichungen kam er doch heraus. In der DDR warten viele, oft selbst sehr bekannte Dichter lange Jahre auf die Zustimmung zum Druck ihres Werks. Eine ganze Lyrikergeneration, die jetzt etwa Dreißigjährigen, kommt in der DDR fast überhaupt nicht zu Wort.
Eine entsprechende Zensur gibt es in der Bundesrepublik nicht, und entsprechend hat auch das Thema „Widerspruch“ in den beiden deutschen Staaten eine andere Form gewonnen. In der Bundesrepublik wird Widerspruch oft recht pathetisch vorgetragen, der Dichter scheut sich dann auch nicht vor dem Prophetengestus, wie er im Expressionismus üblich war. So kam kürzlich ein Buch mit lauter Abschiedsbriefen an Deutschland heraus, in dem ein groß aufgemachter Absage-Gestus dominiert
In der DDR hat sich in den achtziger Jahren der Druck auf die Autoren vermindert; der Staat sieht sich gewachsenen Freiheitsansprüchen konfrontiert. Doch noch ist der Schock der massenhaften Ausbürgerung oppositioneller Intellektueller im Zusammenhang mit der Ausweisung des Liedersängers Wolf Biermann (1976) nicht verwunden. Noch werden unbequemen Autoren Dauervisa für den Westen erteilt, mit dem Rat, dort zu bleiben. Doch das ist für beide Seiten gewiß nicht der Weisheit letzter Schluß.
Lutz Rathenow, einer der zahlreichen jüngeren DDR-Autoren, die praktisch Berufsverbot haben, hat in einem Gedicht gezeigt, wie die Abgrenzung zur Eingrenzung, dann zur Ausgrenzung wird. Beruhigend spricht er der Obrigkeit zu: wenn er einen Kreis ziehe, achte er doch darauf, daß „keine sich ausweitenden Kreise“ entstünden. Sind die Staats-behörden damit zu beruhigen? Keineswegs. Denn „für einen Wächter der Reglosigkeit/bleibt ein Kreis ein Kreis. /Den gilt es einzukreisen, /aufeinen Punkt zurückzuführen, /der dann aufzulösen ist“
Die sarkastische Tonart zeigt Bitterkeit an, zeigt auch in der Formulierung „Wächter der Reglosigkeit“, daß der Negativ-Bezug auf die Bürokraten nicht für eine deutsch-deutsche Gemeinsamkeit ausreicht. Struktur und Machtbefugnisse der jeweiligen Verwaltungen sind doch sehr unterschieden. Freilich nicht mächtig genug, um Dichtem beiderseits der Grenze in Deutschland zu verwehren, immer wieder auf die jeweiligen Bedrohungen für selbstbestimmte Menschlichkeit aufmerksam zu machen. Und das stiftet immer aufs neue ein Verantwortungsgefühl und ein Zutrauen zum kritischen Wort, die sich stets weniger parteilich rückbinden lassen. So stimmt Heiner Müllers Befund von 1979: „Zwei verschiedene deutsche Erfahrungen sind geronnen zu zwei deutschen Staaten“, zwar immer noch. Doch gilt ebenso seine These: „Der Stein arbeitet in der Wand“