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Entgrenzung und Selbstbeschränkung Zur Literatur der DDR in den achtziger Jahren | APuZ 40-41/1987 | bpb.de

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APuZ 40-41/1987 Entgrenzung und Selbstbeschränkung Zur Literatur der DDR in den achtziger Jahren Kulturelle Affinität oder Diskulturalität? Wechselwirkungen in der Literaturentwicklung beider deutscher Staaten Gesellschaft und Kultur in der DDR Politik, Kulturtheorie und Kulturmuster im Realsozialismus Artikel 1

Entgrenzung und Selbstbeschränkung Zur Literatur der DDR in den achtziger Jahren

Antonia Grunenberg

/ 34 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Literatur der achtziger Jahre zeichnet sich durch eine stark differierende Wirklichkeitssicht und durch ein Nebeneinander völlig unterschiedlicher Schreibstile und ästhetischer Programmatiken aus. Die Differenzierung des literarischen Tableaus ist Ergebnis eines Wandels, der in den sechziger Jahren begonnen und seither zu immer größeren Autonomiebestrebungen in der Literatur geführt hat. Diese tragen in den achtziger Jahren vor allem bei der Generation der jüngeren und jüngsten Schriftsteller ihre Früchte. In ihren Werken ist deutlich zu spüren, daß sich die jüngeren Literaten deutlich als Teil der Weltliteratur begreifen und nicht mehr nur als Teil einer Nationalliteratur. Der sozialistische Realismus der fünfziger und sechziger Jahre ist in den achtziger Jahren einer Pluralität der Stile gewichen. Der Pluralität der Stile und Wirklichkeitssichten entspricht eine Vielzahl von Thematiken in der Literatur: Nach wie vor ist die Bewältigung des Nationalsozialismus ein vorrangiges Thema. Mehr als in den siebziger Jahren schiebt sich jedoch auch die Bewältigung der eigenen Vergangenheit, d. h. vor allem der fünfziger Jahre, in den Vordergrund. Spezifisch für die achtziger Jahre ist die Zunahme von zivilisations-und fortschrittskritischer Literatur. Natürlich wird nach wie vor über den großen und kleinen Alltag in der DDR berichtet, aber auch über Bürokratie und soziale Hierarchisierung. Auch in den achtziger Jahren ist die Literatur in der DDR ein „Ort ungezwungenen Denkens" (Günter Kunert), an dem ausgesprochen werden kann, was öffentlich noch nicht sagbar ist.

„die Wirklichkeit ist scharf umrandet, ein geviert gleich der fußgrube vorm backofen das hochgelobte leben hier und jetzt.“

Wulf Kirsten „Sprachlos vor Zorn erkannte ich die Untat, die das Denken der angewandten Realität an mir begangen hatte. Gelächter schüttelte mich, wenn ich daran dachte, wie ich jeden meiner Sätze, bevor ich ihn notierte, an die Wirklichkeit gehalten, wie ich versucht hatte, jedes Wort mit dieser Wirklichkeit zur Deckung zu bringen. Und wie ich daran gescheitert war, wie jeder Satz endlos meine Unfähigkeit abspiegelte, eine reale Existenz zu gewinnen, wie alle Wörter letzten Endes der Wirklichkeit fremd blieben.“

Wolfgang Hilbig

Zwei Arten, die Wirklichkeit zu beschreiben? Oder zwei Arten, sie zu erkennen?

Wulf Kirsten, Jahrgang 1934, ein bei uns bisher wenig bekannter Lyriker, besingt die Welt des Dorfes und der ländlichen Panoramen in ihrer eigenen Sprache. Es ist die Welt der kleinen Marktflekken mit ihren schiefergedeckten Häusern, der weitläufigen Wälder und der Hügelketten der dörflichen Familienbindungen und des ewigen Kreislaufs der Evolution, für die das Leben stets den Tod birgt — der Tod jedoch neues Leben möglich macht. Es ist eine Welt jenseits der Politik und der Kollektivierung. jenseits industrieller Massenviehhaltung und Pestizide versprühender Agrarflugzeuge. Der Autor fühlt sich in dieser Welt der einfachen Ordnung zu Hause. Er ist ihr Barde, der auch ihren Untergang besingt, einen Untergang, der von rationalistisch planenden Industriestrategen und politischen Propagandisten herbeigeführt wird. Das Gedicht „lebensspuren“, aus dem oben zitiert wurde, ist ein Klagelied:

„weit hinten versinken im dämmerlicht die niemandsgehöfte heimatlichen dorfs.

das nichts hat gestalt angenommen, wo keiner mehr die nesseln mäht. eine greisin zum kirchgang gerüstet, der predigt zu lauschen mit ertaubten ohren. die Wirklichkeit ist scharf umrandet, ein geviert gleich der fußgrube vorm backofen das hochgelobte leben hier und jetzt, vollmundig beuteln die sprechblasen, herzensergießungen aus dem Schlagwortschatz von hurrajüngelchen: reklame lehrt leben. die stille tropft wie blut aus einer wunde, ein engel sieht die dreifältige sonne.

der sechsflüglige seraph kündet vom tage, vom heute gewesenen tage und schlingert mit Schlagseite über die bruchstellen deiner und meiner gestutzten biographie.“

In der Klage und im bitteren Vorwurf an die zerstörenden Kräfte wird festgehalten an der Fiktion der Einheit von Mensch und Natur als dem Kem unserer Kultur.

Bei Wolfgang Hilbig, Jahrgang 1941, ist die Erfahrung der Nicht-Identität und der „Versprengung“ (so der Titel seines bisher nur im Westen veröffentlichten zweiten Gedichtbands) des eigenen Ichs nicht Ergebnis eines von außen kommenden Zerstörungs-und Denaturierungsvorgangs, sondern Voraussetzung des literarischen Ichs Ihm steht keine untergehende Welt mehr zur Verfügung, an die sich noch ein Traum von Sehnsucht hängen kann. Innere Voraussetzung des Schreibens ist die Unmöglichkeit, die uns umgebende Realität als Einheit zu erfassen oder zu erkennen. Hilbigs Prosa versucht, den Auflösungsprozeß des Ichs, den Vorgang des Zerfließens und der Versprengung naturwissenschaftlich genau aufzuzeichnen — die Anamnese einer Verwesung.

Beide Autoren verkörpern gegensätzliche Pole in der literarischen Szenerie der DDR der achtziger Jahre. Sie verkörpern dies durch ihre ästhetische Programmatik, ihre Lebensumstände und ihre schriftstellerische Existenz. Wulf Kirsten hat sparsam, aber doch kontinuierlich veröffentlicht — in seinem eigenen Land, in dem er auch seine Leser fand. Wolfgang Hilbig hat bis heute nur in der Bundesrepublik veröffentlicht. Der Kontakt mit seinen Lesern zu Hause blieb ihm weitgehend vorenthalten. Gegenwärtig lebt er in der Bundesrepublik. Ein Wanderer zwischen den Welten, vielleicht eine ihm angemessene, sicherlich keine bequeme Art des Lebens. Seine Situation ist die etlicher jüngerer Autoren, die literarisch in einem Niemandsland existieren und sich in ihren Werken der Entgrenzung widmen, dem Ausbruch, aber auch dem Verlust. Darauf werde ich später noch zu sprechen kommen. Soviel nur hier schon:

Neuer Umgang mit den Worten Literatur der achtziger Jahre in der DDR kommt nicht aus ohne die Literatur von Schriftstellern aus der DDR im Westen. Diese ist gegenwärtig vielleicht ihr interessantester Teil, so paradox das aufs erste klingen mag. Dabei ist die kulturpolitische Situation in den achtziger Jahren beileibe nicht mehr so angespannt und so fest umrissen, daß es klare Verbote für Literaten und Literatur gäbe. Der „sozialistische Realismus“ ist längst einer Vielfalt von Stilrichtungen gewichen, hinter denen die Definitionsversuche der Literaturwissenschaftler und -kritiker weit Zurückbleiben. Erst unlängst sprach der Direktor des Instituts für Ästhetik und Kunst-wissenschaften der Akademie der Wissenschaften, Peter Feist, davon, daß man „nur von einer Eignung von Kunstwerken, sozialistisch-realistisch wirken zu können (ausgehe), nicht von einer ihnen fest anhaftenden, meßbaren Eigenschaft, sozialistisch-realistisch zu sein“ Aber beobachten kann man auch, daß die Literatur der Entgrenzung und des Ausbruchs, wie sie uns bei vielen jüngeren Autorinnen und Autoren entgegentritt, noch immer offiziell ausgegrenzt wird. Erst allmählich werden Annäherungsversuche unternommen, deren Ausgang noch nicht abzusehen ist und die vorderhand auch darin bestehen können, daß man den Autoren und Autorinnen Visa für längere Westreisen ausstellt.

Doch zurück zum literarischen Tableau. Hilbig und Kirsten repräsentieren (bei aller gebotenen Vorsicht gegenüber schnellen Einordnungen) zwei Pole eines Tableaus, das sich über die Jahre hinweg weit aufgefächert hat. Schaut man näher hin, wird man gewahr, daß das Auseinanderdriften der Stile, ästhetischen Positionen und Traditionsbezüge keine neue Entwicklung ist. Im Gegenteil: Die Phase, in der der sozialistische Realismus vorherrschte, war relativ kurz bemessen. Die Richtung, die der „Bitterfelder Weg“ (1959) vorschrieb, führte bald auch zu Gegenreaktionen, zur Rebel-lion der Dichtung gegen die „Message-Literatur“. Adolf Endler, Karl Mickel, Volker Braun, Heinz Czechowski, Reiner Kunze, Sarah und Rainer Kirsch, Wolf Biermann, Günter Bartsch, Günter Kunert — sie alle bestanden schon in den sechziger Jahren auf der Autonomie des lyrischen Ichs. Sie fanden zusammen im gemeinsamen Verständnis einer an ästhetischen und nicht an ideologischen Normen orientierten Lyrik, verständigten sich mit ihrem Publikum auf privaten Lesungen, tauschten ihre Texte aus, ließen sich kritisieren und kritisierten selbst — und eroberten sich mit Beharrlichkeit eine Autonomie zurück, auf die viele ihrer Schriftstellerkollegen damals freiwillig verzichteten. 1968 erschien Christa Wolfs Erzählung „Nachdenken über Christa T.“ Die Geschichte einer unpolitischen, nur ihrer Privatheit lebenden Frau läutete dann auch in der Prosa ganz vernehmlich eine neue Ära für die Literatur ein. In dieser Zeit begann ein Wetterleuchten in der Kunst-und Literaturlandschaft der DDR. Im Dezember 1971 verkündete der neue Parteichef Honecker, der Ulbricht abgelöst hatte: „Wenn man von der festen Position des Sozialismus ausgeht, kann es . . . auf dem Gebiet von Kunst und Literatur keine Tabus geben“. Was wie ein Signal für eine Öffnung klingt — und oft auch so verstanden wurde —, war auch die Bestätigung einer Entwicklung, war auch der Versuch, die Fremdheit, die zwischen den Literaten und der Partei eingetreten war, zu überwinden. Und in der Folgezeit wurden in den Verlagen Manuskripte angenommen und gedruckt, die vielleicht schon in den sechziger Jahren entstanden und dann lange in den Schubladen gelegen hatten (so geschehen mit dem inzwischen legendären Jugendstück „Neue Leiden des jungen W.“ von Ulrich Plenzdorf, das den Ausbruch der Jugend aus den verordneten Biographien in der Sprache der Jugend aufgriff Die kulturpolitische Öffnung währte jedoch nicht lange. Die Ausbürgerung des Dichters und Liedersängers Wolf Biermann im November 1976 war ein Zeichen dafür, daß die Partei die Öffnung rückgängig machen wollte. Aber das Neue an den siebziger Jahren ist: Die Literatur hatte sich inzwischen so emanzipiert, daß die Kulturpolitik zwar noch behindernd, aber nicht mehr verhindernd eingreifen konnte.

Es setzte in der Literatur eine Entwicklung ein, die mit dem Schlagwort der „Ablösung von der Partei“ (Hans-Dietrich Sander) nur ungenau beschrieben ist Gewiß ist die Verschärfung des kulturpolitischen Klimas seit 1975 ein Umstand, der bei vielen Schriftsteller(inne) n zu einer Auflösung ihres als patriarchalisch-moralisch empfundenen Verhältnisses gegenüber der Partei geführt hat. Aber die Ablösung von der politischen Autorität kann jene Entwicklung nicht erklären, die seither Platz greift und seit Beginn der achtziger Jahre noch schärfer hervortritt: die Rückeroberung der literarischen Autonomie. Die Ablösung von der Partei war vielmehr nur Voraussetzung eines Prozesses, durch den eine enorme schöpferische Produktivität freigesetzt worden ist. In den siebziger Jahren tauchen neue Genres in der Literatur auf. Die Frauenliteraturerobert sich ihren Platz in der literarischen Szenerie, es häufen sich die literarischen Verarbeitungen von Identitätssuche und Zweifel an der offiziellen Ordnung der Dinge; Kinderliteratur wird zu einem ernstzunehmenden literarischen Bereich, das Verhältnis zur Geschichte und zum „Erbe“ wird neu aufgegriffen. Kurz: Eine Vielzahl neuer literarischer Themen taucht auf; es ändern sich auch die Gestaltungsformen und die Sprache.

Nicht zufällig wird z. B. in den siebziger Jahren häufig zur Form der ironischen und satirischen Überhöhung der Realität gegriffen sowie zu phantastischen Bildern und Traumfiktionen (so bei Irmtraud Morgner und Fritz Rudolf Fries). Diese Veränderung hat sich bei der Generation derer, die seit den fünfziger und sechziger Jahren schreiben, über viele Jahre hinweg herausgebildet.

So kann man für die siebziger Jahre mit Fug und Recht von einem Nebeneinanderexistieren zweier Literaturen in der DDR sprechen (Sander nennt sie die „bellizistische" und die „kritizistische" Richtung in der Literatur); heute haben sich beide Richtungen so weit voneinander entfernt, daß man von einem „Aneinandervorbeiexistieren“ sprechen müßte. Die Differenzierung des literarischen Tableaus ist Produkt eines ästhetischen Wandels, der aus den Autonomiebestrebungen der Literatur in den sechziger Jahren herrührt. Es wird wieder mehr fiktional geschrieben (Irmtraud Morgner, Helga Königsdorf); das neue ästhetische Selbstbewußtsein und eine ihm angemessene Sprache lassen die „realistische Inhaltsliteratur“ (Erik Neutsch, Herbert Otto, Helmut Sakowski) als literarisch zweitrangig erscheinen. Gleichzeitig wird erkennbar, daß sich hinter gegensätzlichen ästhetischen Positionen unterschiedliche Wahrnehmungen gesellschaftlicher Probleme und Stimmungslagen verbergen.

Ein Beispiel: Auf politischem, ökonomischem und sozialem Gebiet wird in den siebziger Jahren die Tendenz beibehalten, die Arbeit als zentrales gesellschaftliches Ordnungsprinzip zu begreifen. Der Umstand, daß ein Großteil der Literatur diese Entwicklung hin zur Arbeit nicht nur nicht mitvollzogen hat, sondern daß im Gegenteil mehr und mehr auf den entfremdeten Charakter der Arbeit verwiesen wird, macht nicht nur den Unterschied zwischen literarischer und politischer Verarbeitung von Realität aus, sondern signalisiert auch — wenn denn Literatur eine Bewußtseinsform ist —, daß sich politische Wunschvorstellungen und reale bewußtseinsmäßige Verarbeitungsformen mehr und mehr voneinander entfernen Denn daß Literatur von Entfremdung handelt, während in wissenschaftlichen Texten die Arbeit als Nutz-und Glücksbringerin behandelt wird, hat nicht nur etwas mit der subjektiven Befindlichkeit der Schriftsteller zu tun, sondern auch mit dem Umstand, daß Politik und Theorie noch immer mehr auf die ideologische Interpretation der Verhältnisse zielen als auf deren authentische Wahrnehmung. Die Funktion der authentischen Wahrnehmung hat die Literatur übernommen. Das hat Günter Kunert einmal anschaulich formuliert, als er von der „Eigengesetzlichkeit“ der Literatur sprach, „die darin besteht, mittels einer unverstellten, individuellen Sprechweise die Wirklichkeit zu evozieren. Das jedoch heißt, daß den einzigen und letzten Ort eines im wahrsten Sinne des Wortes ungezwungenen Denkens die Literatur bereitstellt“

Die unverstellte Sprechweise behält ein gewichtiger Teil der Literatur auch in den achtziger Jahren bei. Die Aufspaltung des literarischen Tableaus setzt sich jedoch weiter fort. Die Autoren der jüngeren und jüngsten Generation stoßen die Türen zur Zukunft auf, indem sie an die tabuisierte Vergangenheit anknüpfen. Endlich wird jene Tradition der Moderne wieder aufgenommen, die in den fünfziger Jahren abgebrochen war: Expressionismus, Surrealismus, Dadaismus werden rehabilitiert. Poesie und Prosa dürfen sich wieder an ihrer europäischen Tradition messen.

Zwar gibt es nach wie vor die Parteischriftsteller (Erik Neutsch, Herbert Otto, Günter Görlich, Helmut Sakowski u. a.), aber selbst sie hat der autoritätsgläubige Optimismus verlassen. Die kritischen Schriftsteller der älteren Generation (Christa Wolf, Günter de Bruyn, Stefan Heym, Volker Braun) haben in den sechziger und siebziger Jahren Wege eröffnet, die Grenzen des Sagbaren hinausgeschoben; auf diesen Wegen bewegen sich jetzt jüngere (Christoph Hein, Irmtraud Morgner, Monika Maron, Gert Neumann, Wolfgang Hilbig u. a.).

Eine zentrale Figur ist in dieser Hinsicht der Dramatiker Heiner Müller. Ihm, der jahrelang in der DDR nicht gewürdigt wurde, dessen Stücke nicht aufgeführt werden durften oder wieder abgesetzt wurden, verdanken die Literatur (und nicht nur die in der DDR) und die Literaten viel — vor allem die jüngeren und jungen. Er verkörpert wie kein anderer die endliche Emanzipation der Kultur und Literatur von der Kulturpolitik.

Müller ist der große Autor der ästhetischen Entgrenzung. Die DDR als literarischer Stoff interessiert ihn schon seit Jahren nicht mehr, wie er mehrfach gegenüber Interviewern äußerte Statt dessen ist ihm die deutsche Geschichte zum großen Thema geworden, das er bald in aktueller Form aufbringt, bald unter Benutzung klassischer Tragödien-Vorlagen bearbeitet. In „Germania Tod in Berlin“ (1956/71), in „Leben Gundlings . . . “ (1976) — Stücken, die erst in den achtziger Jahren rezipiert werden — wird gegen das Vergessen und Verdrängen unserer Vergangenheit, aber auch gegen die verordneten Geschichtsinterpretationen (etwa die, daß auf den Trümmern der Vergangenheit in der DDR die beste aller möglichen Ordnungen aufgebaut worden sei) angespielt. Die geschichtlichen Vorbilder — wie etwa Lessing in „Germania Tod in Berlin“ — ersticken bei Müller unter den ihnen aufgestülpten Büsten der „Erbe" -Aneignung. Den in der DDR offiziell verkündeten Fortschrittsoptimismus führt Müller in seinen Stükken ad absurdum. Auch in der DDR endet der Fortschritt auf der Müllhalde (so wie in „Leben Gundlings ..." auf dem Autofriedhof).

Auch sein neues Stück „Wolokolamsker Chaussee“ hat die Geschichte der jüngsten Vergangenheit zum Gegenstand: Faschismus — Stalinismus — Aufbau. Das Erinnern beginnt im Kriegsjahr 1941 und endet mit dem Aufmarsch russischer Panzer in den Straßen (Ost-) Berlins im Jahre 1953.

Der Absage an das herrschende Kulturverständnis entspricht bei Müller das Experimentieren mit der Form. Lange Zeit operierte Müller mit historischen Fabeln, die er als Modelle verwendete (Philoktet, Ödipus, Hamlet). Durch das Auseinanderbrechen herkömmlicher Dialogstrukturen, durch gezielten Einsatz von Körperbewegung als Sprache, durch Gegenüberstellung von unvereinbar erscheinenden historischen Konstellationen, durch Verwendung des — wie Franz Fühmann es ausdrückte — „Traumprinzips“ fördert er disparate Stücke aus dem kollektiven Unbewußten hervor und setzt sie vor unseren staunenden Augen wieder zusammen. Müllers Bedeutung für die Literatur der Jetztzeit in der DDR liegt zum einen in seiner Vorreiterfunktion als Tabuverletzer, etwa indem er die „Erbe" -Aneignung als Verdrängungsmechanismus gegenüber den Katastrophen in der Geschichte kritisiert, und zum anderen darin, Perspektiven zu öffnen. Ungesehenes sichtbar zu machen, Unsagbares zu sagen. Die junge Literatur in der DDR profitiert davon.

Die Differenzierung der literarischen Szenerie in den achtziger Jahren findet nicht nur innerhalb der Staatsgrenzen der DDR statt. Wichtige Autoren der achtziger Jahre wie Wolfgang Hilbig, Gert Neu-mann. Monika Maron, Sascha Anderson u. a. haben ihre ersten Veröffentlichungen im Westen, machen sich dort einen Namen. Dies hat nicht nur negative Auswirkungen: Heimatlosigkeit heißt auch — in dem gesetzten Rahmen natürlich — Freiheit von hinderlichen Bindungen an moralisch-politische Instanzen, heißt Öffnung gegenüber der Weltliteratur und Strömungen des Zeitgeistes, heißt Feinfühligkeit für das Leben zwischen den Grenzen. „Die Überläuferin“ heißt fast programmatisch der 1986 erschienene Roman von Monika Maron, die bisher als Autorin in der DDR nicht wahrgenommen wurde.

Neu in den achtziger Jahren ist auch, daß — wie zuletzt in den sechziger Jahren während der Rebellion der jungen Lyriker — nicht gedruckte Werke oder Erstlingsliteratur auf dem privaten Markt, in den kleinen, dezentralen Öffentlichkeiten der großen Städte feilgeboten und rezipiert werden. In den achtziger Jahren blüht — zusammen mit einer neuen Jugendmusikkultur — das literarische und künstlerische Leben in den Wohnungen, Hinterhöfen und kleinen Galerien. Sie treten forsch auf, die jungen Künstler und Literaten, (manche versehen auch den puren Dilettantismus mit Kunstanspruch) und fordern ihr Recht auf einen Generationswechsel in Kunst und Literatur. Sie begreifen sich in der Nachfolge der Expressionisten, Surrealisten, Dadaisten — und nicht in der Tradition von Autoren wie Anna Seghers und Willi Bredel oder Malern wie Willi Sitte und Werner Tübke. Dabei sind die. die den Wechsel wirklich herbeiführen, oft keine ganz jungen Autoren mehr. Elke Erb, Gert Neu-mann, Wolfgang Hilbig sind Angehörige einer mittleren Generation. Heiner Müller ist Jahrgang 1929. An diesen Autoren wird deutlich, daß der Generationswechsel keine Altersfrage, sondern das Auftreten eines ästhetischen Wandels und einer neuen Radikalität in Schreibauffassung und Bewußtsein bedeuten.

Wolfgang Hilbigs Erzählungen („Unterm Neomond“, 1982, und „Der Brief“, 1985) handeln von der Entgrenztheit und Konturlosigkeit, vom Wahn und von der Panik des einzelnen In der Nachfolge von Edgar Allan Poe und Robert Louis Stevenson beschreibt er minutiös die Vergeblichkeit jeder Identitätssuche und jeden Festhaltens von Realität. Was festgehalten wird, zerfließt; Realität wird zum Alptraum. In der Erzählung „Beschreibung II“ wird der Ich-Erzähler durch einen Freund an einen entfernten Ort bestellt, um dort eine Arbeitsstelle anzutreten. Am Ort eingetroffen, hält man ihn für einen anderen, für einen Spion, zuweilen gar für seinen Freund. Alle Identitätsbeteuerungen nützen nichts; es gelingt ihm nicht, die Gegenseite zu überzeugen, daß er er selbst ist. Man wirft ihm sogar noch vor, sich für einen anderen auszugeben. Der Vorgang wird so weit getrieben, daß der Ich-Erzähler sich schließlich selbst nicht mehr erkennt: „Ich hatte Mühe, mein eigenes, aschfahles Gesicht in der Spiegelwand wiederzuerkennen: wie chancenlos war ich doch hier; ich war die chancenlose Figur eines Alptraums, in dem ich nach und nach und erst zu spät, erkannt hatte, daß ich auf sein Geschehen keinen Einfluß nehmen konnte, wohl aber stand fest, daß es nur zum Zweck irgendeines Urteils gegen mich in Gang gesetzt worden war, von dem es für mich kein Entrinnen gab.“

Und wenig später: Es „war. als trüge ich das falsche Gehirn im Kopf, ein von mir nicht mehr regierbares Gehirn, dem ich das, was mein Ohr aufnahm, nicht mehr verdeutlichen konnte.“ Völlig verwirrt stürzt der Betroffene, seiner Identität nicht mehr sicher, davon; es gelingt ihm nicht, die Einheit seiner Person herzustellen.

In „Die Überläuferin“ von Monika Maron (1986) zieht sich die Hauptfigur aus der Realität zurück Sie geht nicht mehr arbeiten und verbringt fortan ihre Zeit im Bett, läßt die Außenwelt an sich vorüberziehen. Die Außenwelt aber weicht mehr und mehr ihrer eigenen Innenwelt. Der Zustand der völligen Ruhe — oder besser gesagt: des völligen Stillgestelltseins — öffnet Raum für die Suche nach dem eigenen Selbst, das sich bald in ihr (Rosalind), bald in ihrer sehnsüchtig erwarteten Freundin (Martha) findet, jedoch nicht zu einer Synthese kommt.

Monika Maron, die erst in den achtziger Jahren als Autorin hervortritt (vorher war sie lange Jahre bei der Berliner Zeitschrift „Wochenpost“), hat — wie viele andere — die Untiefen der gegenwärtigen Kulturpolitik und die Berührungsängste gewisser Kulturfunktionäre mit der neuen Literatur selber zu spüren bekommen. Ihre gesamte schriftstellerische Existenz hat bisher nur im Westen stattgefunden, angefangen von ihrem Erstling „Flugasche“ (1982) über den Erzählungsband „Das Mißverständnis“ (1983) bis hin zu „Die Überläuferin“ (1986). Als Autorin war Monika Maron in der DDR nicht existent, erhielt aber dennoch, wie eine „normale“ Autorin, Visa für Reisen in den Westen. Erst 1987 bequemte sich der stellvertretende Kulturminister Höpcke auf der Buchmesse in Leipzig und auf der Kulturtagung „Duisburger Akzente“ zu der gequälten Stellungnahme, die Autorin sei seinerzeit bei ihrem ersten Buch „Flugasche“ mit ihrem Verlag in Konflikt geraten. Der Grund: Sie sei in ihrer Erzählung „plötzlich von der einen Person in die andere umgesprungen“ Kein Wort darüber, daß in diesem Buch ein Tabu verletzt wurde, das damals noch heilig hochgehalten wurde: An der sozialistischen Industrie der DDR ist Kritik nicht erlaubt. Dies war der Grund für die Ablehnung; das jedoch kann die Kulturbürokratie nicht zugeben, weil ja offiziell keine Zensur stattfindet. Also greift man zu einem so lächerlich-dilettantischen Argument wie der wechselnden Erzählperspektive und nimmt lieber das schallende Gelächter der westdeutschen Kritikergilde in Kauf, als einen Fehler zuzugeben

Eine Köpenickiade, die lustig wäre, würde es dabei nicht auch um die Existenz und den Ruf von Autoren gehen. Immerhin ließ man sich dazu herab, Monika Maron vom gleichen Verlag, der sie früher abgelehnt hatte, einen Vertrag für „Flugasche“ zu geben. Dabei ist diese Autorin nur eine von mehreren mit denselben Problemen; sie ist zudem durch ihren Namen, den sie in der westdeutschen Öffentlichkeit hat, geschützt. Anderen, wie dem jungen Lyriker Bert Papenfuß, geht es weitaus schlechter; sie werden über Jahre hinweg von den Verlagen der DDR vertröstet, ohne daß sie Ausweichmöglichkeiten nach dem Westen haben.

Vergangenheit als Erbe Die Vergangenheit ist ein großes und wichtiges Thema auch der achtziger Jahre. Schon in den siebziger Jahren hatten einzelne begonnen (Erich Loest, Christa Wolf, Hermann Kant), das nationalsozialistische Erbe neu aufzurollen, nicht mehr als bewältigte Episode der Vergangenheit, sondern als gelebten Jugend-Alltag der Generation der heute Sechzigjährigen. Auch die Decke über der eigenen, der DDR-Vergangenheit, wurde vorsichtig gelüftet (Werner Heiduczek, Gerti Tetzner). Es ist dies bis heute ein zartes Zweiglein am Baum der Literatur der DDR geblieben.

In Christoph Heins Roman „Homs Ende“ (1985) wird der ehemalige Parteigenosse Horn aus Gründen, die vom Autor im unklaren gelassen werden, von seinem Posten entlassen und aus der Partei geworfen. Als Hom — inzwischen Museumsdirektor in einer Kleinstadt — ein zweites Mal wegen seiner Westkontakte verdächtigt wird (auch hier bleibt die Ursache im dunklen), nimmt er sich das Leben. Die Geschichte wird aus derje wechselnden Perspektive einiger Einwohner aus der Provinz-stadt, die mit Hom in Berührung kamen, erzählt: vom Arzt, der ihn behandelt hatte; vom Apothekerssohn, der ihn am Baum hängend fand; von der Kolonialwarenhändlerin, bei der er wohnte; vom Bürgermeister, der einst die treibende Kraft bei seiner Degradierung war und sich auch beim zweiten Mal nicht für ihn einsetzt und von einem verrückten Mädchen.

Die Kapitel sind gegliedert durch fiktive Dialoge des toten Horn mit dem jungen Apothekerssohn, der ihn fand und dem er in den Träumen begegnet. Der Tote mahnt die Erinnerung an und fordert, das Vergessene wieder hervorzuholen:

Erinnere dich an das Ungesehene.

— Das ist unmöglich. Wie soll ich wissen . . .

— Streng dich an. Du hast viel gesehen. Mehr als du weißt.

— Es ist zu lange her.

— Nein, dein Gedächtnis hat alles festgehalten.

Nur wenn du dich nicht erinnerst, wenn du das unendliche Netz nicht weiterknüpfst, dann falle ich ins Bodenlose. Aber dann wird auch dich keiner halten können.

— Was lebt, ist vergänglich. Wir müssen alle sterben und werden vergessen. — Falsch, ganz falsch. Das sind abgeschmackte Dummheiten. Solange es ein menschliches Gedächtnis gibt, wird nichts umsonst gewesen sein, ist nichts vergänglich.

— Dann ist die Ruhe der Toten nicht mehr wert als die Unruhe der Lebenden.

— Natürlich. Denn auch die Toten waren einmal lebendig. Du kannst sie nicht einfach vergessen. Was war mit dem Sommer?

— Ich versuche, mich zu erinnern. — Es war . . .

— Was war? Sprich!“

Die Toten mahnen die Lebenden, in ihrem eigenen Interesse Erinnerungsarbeit zu leisten, bei Strafe des eigenen Vergessenwerdens. Fast könnte man hierin die Umkehrung der Benjaminschen „Geschichtsphilosophischen Thesen“ entdecken. Der kühne Zeitsprung, das Weitergehen auf den angehäuften Trümmern der Vergangenheit bringt nicht der erhofften glücklichen Zukunft näher, sondern ruft nur die „Wiederkehr des Immergleichen“ (Nietzsche) hervor: das Vergessen der Vergessenen Umgekehrt, so die Quintessenz der stummen Dialoge, die den Roman zerschneiden: Das Erinnern bewahrt vor dem Vergessen und davor, ständig in die gleichen Sackgassen zu laufen.

Ein formal sehr interessanter Roman, in dem ein dunkles Kapitel DDR-Geschichte angesprochen wird. Gleichwohl hätte ich dem Autor und seinem Lektor etwas mehr Mut gewünscht. Wenn man liest, was in der Sowjetunion schon seit Jahren an Kritik über die stalinistische Zeit erscheint (ich denke an Dudinzews „Der Mensch lebt nicht vom Brot allein“ [1956], an Solschenizyns „Ein Tag im Leben des Iwan Denissowitsch“ [1962], Jewtuschenkos „Stalins Erben“ [1962], Aitmatows „Ein Tag länger als das Leben“ [1976] und an Rybakows „Kinder des Arbat“ [1987]), kann einen die selbst-beschränkende Zurückhaltung wirklich guter Autoren in der DDR manchmal ärgern. Immerhin hatte Stefan Heym mit seinem Roman „Collin“ (1979), der leider nur im Westen erscheinen konnte, Maßstäbe gesetzt, was man den , Leichen im Keller der Vergangenheit* schuldig sei (den der Spionage verdächtigten West-Emigranten, den Sozialdemokraten, den antiautoritären Kommunisten, den kritischen Funktionären, den Oppositionellen). Aber es scheint, als sei er ebenso wie Werner Heiduczek mit seinem wichtigen Roman „Tod am Meer“ (1982) ein einsamer Rufer in der Wüste geblieben. Bei Hein jedenfalls bleiben die Ursachen und Hintergründe jener Diffamierung, an deren Ende sich der Betroffene aufhängt, nebelhaft verschwommen. Fast scheint es, als sei der konkrete Vorgang nur ein Anlaß fürs allgemeine Philosophieren übers Nicht-Vergessen. Offenbar war die Nennung der Selbst-tötung eines Beschuldigten per se schon eine so große Tabuverletzung, daß man sich mehr zu sagen nicht traute. Aber die Zeiten haben sich geändert, möchte man als Außenstehende einwerfen; mehr Mut also.

Auf einer ganz anderen Ebene handelt Franz Fühmanns Buch „Der Sturz des Engels. Erfahrungen mit Dichtung“ (1982) von der Vergangenheit. Fühmann läßt uns darin teilhaben an seiner Auseinandersetzung mit Person und Werk des Dichters Georg Trakl. Aber Fühmann schreibt, das wissen wir aus seinen Werken, immer auch über sich selbst. Das große Thema ist zeit seines Lebens seine eigene Biographie vor dem Hintergrund seiner Verstrikkung in den Nationalsozialismus gewesen. Fühmann hat daran gelitten, und er hat es schwer abgearbeitet. Sein Buch stellt Trakls Dichtung in Korrespondenz zu dessen Lebensgeschichte und zu seiner — Fühmanns — Biographie. Der Schriftsteller Fühmann sieht seine eigene Geschichte vor dem Hintergrund des katastrophenreichen Lebens von Georg Trakl. War Trakls Unglück der Erste Weltkrieg, in dem er und an dem er zugrunde ging, so war Fühmanns Unglück der Zweite Weltkrieg und sein Glauben an den Sieg. Die Aporien in Trakls Leben umreißt Fühmann sensibel:

Ich „erfuhr ... die Biographie eines nicht lebbaren Lebens: ein Dasein, verfallen der Poesie. — Ein Dasein, verfallen an Gift und Inzest; Verfall, der dann jäh in den Selbstmord stürzte; ein Leben zum Gipfel europäischer Dichtung“

Zwischen Trakl und Fühmann steht Fühmanns Vater, selber ein Anhänger des Nationalsozialismus und ein zeitweiliger Gefährte des Apothekers Georg „Schorschl" Trakl, für den dieser kein Dichter, sondern ein armer Wicht war, den die Kameraden im Feld mit seinen Gedichten aufgezogen und bis zur Weißglut gebracht hatten. Fühmanns Arbeiten mit dem Werk Trakls beginnt zu Lebzeiten des Vaters und wird zu einem Baustein im Akt der Emanzipation vom Vater, der sich — welch eine Parallele — ebenfalls das Gift gibt, als das Ende des Krieges naht. Auch Trakl vergiftete sich.

Dies nun ist die Folie, vor der Fühmann in den achtziger Jahren das Tabu Trakl aufs Tableau der literarischen Szenerie in der DDR bringt. Trakl war — wie so viele Größen der Weltliteratur — jahrzehntelang für die Literaturgeschichte der DDR nicht existent. Die erste Ausgabe erschien 1975, von Franz Fühmann herausgegeben und mit einem Nachwort versehen von Stephan Hermlin Fühmann rekonstruiert hier also zugleich ein Stück Literaturgeschichte für die DDR und räumt mit jenem unseligen „Decadence“ -Verdikt auf, das jahrzehntelang von Bürokraten gegen die Literatur der klassischen Moderne ins Feld geschickt wurde.

Fühmanns Kontakt mit Trakl beginnt in der Jugendzeit. Er begegnet ihm erneut in der antifaschistischen Umerziehung, wo jener als Beispiel für bürgerliche Dekadenz und Wehleidigkeit gebrandmarkt wird. Und dies nicht nur von kulturlosen Bürokraten, sondern von Johannes R. Becher selbst Und da der junge Fühmann sein Leben und seine Anschauungen umkrempeln will, stürzt ihn dies in tiefe Gewissenskonflikte: „Der Konflikt zwischen Dichtung und Doktrin war unvermeidlich; beide waren in mir verwurzelt, und beide nahm ich existentiell. Es war mir ernst mit der Doktrin, hinter der ich noch durch die verzerrtesten Züge das Gesicht der Befreier von Auschwitz sah, und es war mir ernst mit der Dichtung, in der ich jenes Andere ahnte, das den Menschen auch nach Auschwitz nicht aufgab, weil es immer das Andere zu Auschwitz ist.“

Eine Antithese zu Adornos Diktum, „nach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben, ist barbarisch“ Der Konflikt zwischen Dichtung und Doktrin kennzeichnet die Situation der Literatur in der DDR weiterhin. Nur ist die Doktrin in den achtziger Jahren zahnloser geworden.

Schließlich legt Fühmann uns hier die erste intensive Interpretation von Trakls Werk vor. Dabei faltet er die Gedichte im Selbstgespräch gleichsam von innen auf. Seine Koordinaten reichen von der griechischen Mythologie bis zur Poesie Arthur Rimbauds. Im Mittelpunkt steht das Traum-Prinzip. „Eigenerfahrung“ lehre ihn, schreibt Fühmann, „daß zur Erhellung von Problemen der Lyrik die Annahme eines Analogieverhältnisses von Träumen und Gedichten hilfreich sein kann. — , Der Traum ist unwillkürliche Dichtkunst“, sagte Jean Paul und zitiert damit Kant, der seinerseits uralte Erkenntnis tradiert, und ein Traumprinzip par ex-cellence ist eben das Montieren von Disparatem“ — wie in der Dichtung Trakls, sei hinzugefügt.

„Der Sturz des Engels“ ist ein Denkmal für Trakl und eines für Fühmann, der hier zu einer Synthese zwischen der Bürde seiner Vergangenheit und seiner Existenz als Schriftsteller kam. Ich halte es für eines der wichtigen Bücher der achtziger Jahre.

Zeugnis gegen die Apokalypse Mißtrauen gegenüber dem herrschenden Zivilisationsmodell und Zweifel am Fortschrittsglauben thematisiert die schöne Literatur schon in den siebziger Jahren. In den achtziger Jahren wird das Fragen drängender, wächst die Skepsis. Drei Bücher haben mich in dieser Hinsicht beeindruckt:

— „Kassandra“ von Christa Wolf (1983)

-„Störfall“ von Christa Wolf (1987)

— „Respektloser Umgang“ von Helga Königsdorf (1986).

In ihnen wird die Sinnhaftigkeit unseres Fortschrittsglaubens — der westliche unterscheidet sich ja nur graduell vom sozialistischen — im Angesicht von Krieg, Super-Gau und Gen-Manipulation zur Debatte gestellt. Und es kommt dies nicht von ungefähr. In den achtziger Jahren wächst die Gefahr der gegenseitigen atomaren Vernichtung durch Krieg und Atomkatastrophe, wachsen auch die Bewegungen, die Proteste und die Empörung der Menschen, aber auch die Angst und die Hilflosigkeit. Schriftsteller, Künstler und Wissenschaftler treffen sich mehrfach zu Friedenskundgebungen und Tagungen, sammeln Unterschriften. Christa Wolf, die auf der „Berliner Begegnung zur Friedensförderung“ zwischen Künstlern und Schriftstellern aus Ost und West 1981 in Ost-Berlin gesagt hatte, angesichts einer solch gewaltigen Bedrohung wie durch die atomaren Potentiale beider Supermächte „darf man sich ja wohl einiges herausnehmen“ brachte 1983 die Erzählung „Kassandra“ heraus. Kassandra, eine griechische Priesterin und Seherin am Hofe des Troer-Königs Priamos, dessen Tochter sie ist, sieht den Untergang Trojas voraus, wird seine Zeugin und wird schließlich als Sieger-beute des Griechenkönigs Agamemnon verschleppt und ermordet. Kassandra also rekonstruiert in den Stunden vor ihrem Tod ihr Leben vor der Schlacht, ihre Freunde, ihre Liebe zu Aeneas, ihren Haß auf Achill und ihre Kontakte zu den Frauen am Hof. Im Angesicht der Gefahr und im Bewußtsein der Niederlage wächst sie über sich selbst hinaus und wird Zeugin für eine Nachwelt, die vielleicht nicht mehr existieren wird.

Man kann die Erzählung sehr zeitgenössisch lesen. Dennoch ist dieses Buch nicht bloß kulturpessimistisch. In einer wunderbaren dichterischen Sprache wird hier die Warnung mit dem Zeugnis verbunden. Nichts Selbstgerechtes wird durchgelassen.

In „Störfall" (1987) wird die gleiche Thematik von einer anderen Perspektive beleuchtet: Die Katastrophe ist geschehen; wir leben noch und fühlen uns daher doppelt gezwungen, uns den Schrecken, seine Wiederholbarkeit und seine unabsehbaren Folgen zu vergegenwärtigen. Tschernobyl ist also gewesen, und die Erzählerin leistet Erinnerungsarbeit. In Form von Tagebuchnotizen — „Nachrichten vom Tage“ heißt der Untertitel — wird der Ablauf eines Tages und die Verarbeitung der großen Katastrophe im kleinen, in den vier Wänden des Hauses und auf den alltäglichen Besorgungen außerhalb geschildert. Die Diagnose der Schockreaktion nach Tschernobyl verzeichnet Wut und Angst. Die Katastrophe im großen wird nachvollzogen anhand des Unglücks im kleinen: Der Bruder wird am gleichen Tag einer Hirnoperation unterzogen — und des kleinen Glücks: der Frühjahrsbestellung im Garten. Das eine ein angstbesetzter Vorgang, den die Erzählerin im stummen Dialog mit dem Bruder zu bannen versucht — das andere ein fast archaischer Pflanz-und Aufbauvorgang, der kindlich-naiv wirkt angesichts der globalen Bedrohung, die nicht faßbar ist. Parallel zum Bericht über die Alltäglichkeiten des Tages reflektiert die Erzählerin über Fortschritt und Zivilisation. Aber das, was dazu formuliert wird, geht kaum über konventionelle, schon oft geäußerte Klagen hinaus. „Die jungen Leute, die uns (beim Kampf gegen das Kernkraftwerk in Wyhl in den siebziger Jahren — A. G.) die ersten Materialien über Gefahren bei der „friedlichen’ Ausnutzung der Atomenergie in die Hand drückten, wurden verlacht, reglementiert, gemaßregelt. Auch von Wissenschaftlern, die ihre Arbeit, ich hoffe: ihre Utopie verteidigten. . Monster“? Aber habe ich gesagt, daß sie Monster waren. Waren wir Monster, als wir um einer Utopie willen — Gerechtigkeit, Gleichheit, Menschlichkeit für alle —, die wir nicht aufschieben wollten, diejenigen bekämpften, in deren Interesse diese Utopie nicht lag (nicht liegt), und, mit unseren eigenen Zweifeln, diejenigen, die zu bezweifeln wagten, daß der Zweck die Mittel heiligt? Daß die Wissenschaft, der neue Gott, uns alle Lösungen liefern werde, um die wir ihn angehen würden?“ Gewiß, hier wird deutlich nach dem Sinn des Diktums gefragt, man dürfe die Menschen auch gegen ihren Willen zu ihrem Besten zwingen — im Namen des Kommunismus, im Namen der Gleichheit, im Namen des Fortschritts. Aber der Gedanke wird dahingestellt und verschwindet gleich darauf wieder. Spürbar wird, was wirklich die Erzählerin (Autorin?) bewegt, an einer anderen Stelle, wo sie den Ekel vor der Ohnmacht der Worte beschreibt, mit denen sie als Schriftstellerin gegen den Schrecken anschreibt: Was „kann eine, auch die gelungenste Formulierung überhaupt noch heißen, soviel ist schon geredet und geschrieben worden, immer dichter wird der Kordon des Wort-Ekels, das hätte ich niemals für möglich gehalten, lieber Bruder, vorläufig sage ich es nur dir, Älterwerden heißt: alles geschieht, was du niemals für möglich gehalten hättest, und wie hätte ich voraussehen sollen, daß zuerst die Worte, dann meine Worte mich ekeln würden, und wie blitzschnell der Umschlag in Selbst-Ekel gehen kann, das hätte ich auch nicht gedacht.. ,“

Aber der Wort-Ekel, den die Autorin Christa Wolf schon mehrfach geäußert hat, ist er nicht in Wirklichkeit der Ekel der Ohnmacht (von Sprache repräsentiert) gegen Macht (von Sprache, aber auch von Raketen repräsentiert)? Hier jedenfalls wird der Ekel nicht gegen die Macht gerichtet, sondern gegen „den Menschen“. Wen meint sie?, darf man fragen. „Störfall“ ist eher ein Dokument der Hilflosigkeit. Die Wut wird allzu früh zurückgenommen. An die Radikalität wie die sprachliche Schönheit von „Kassandra“ reicht dieses Buch nicht heran.

An ein ähnliches Thema hat sich Helga Königsdorf gewagt. Ihr Buch kam 1986 heraus. Die stark auto-biographisch geprägte Erzählung „Respektloser Umgang“ erzählt von einer fiktiven Begegnung zweier Frauen: Der Erzählerin, einer Mathematikerin, die als Zeichen ihrer zum Tode führenden Krankheit Wahngebilde sieht und ihrem Gegenüber, der berühmten Physikerin und Jüdin Lise Meitner. Die Ich-Erzählerin überdenkt das Leben der Lise Meitner. Trotz aller Brüche und Ungereimtheiten (Meitners eigenartig naive Haltung gegenüber dem heraufziehenden Nationalsozialismus) ist Lise Meitner für die Hauptperson das alter ego, von dem sie eines für die depressiven Stunden ihrer Krankheit mitnimmt: ihre Verbissenheit in die Wissenschaft. Freilich: Die Ich-Erzählerin fühlt sich — im Unterschied zu Lise Meitner — auch einem moralischen Auftrag verpflichtet: dem der Verantwortung der Wissenschaft(ler) vor der Zukunft der Menschen. Aber worin besteht die?

Das Buch ist vor Tschernobyl entstanden. Wir haben heute Tschernobyl hinter uns und befinden uns mitten in einer großen technologischen Revolution, die von Chips, Bakterien und Genmanipulation bestimmt wird. Wir haben die Erfahrung, daß das moralische Gewissen der Naturwissenschaftler wenig ausgebildet ist und daß es allein auch wenig bewirken würde, solange wissenschaftliche Forschung eine funktionalisierbare Größe in weltweiten Machtzusammenhängen ist.

Während die Autorin für den Nationalsozialismus diesen Machtzusammenhang ausdrücklich thematisiert und Lise Meitner zum Vorwurf macht, sie habe die Willfährigkeit der Wissenschaft gegenüber dem Nationalsozialismus nicht rechtzeitig erkannt, blendet sie diesen Zusammenhang für die Jetztzeit weitgehend aus. Zweimal startet sie den Versuch, Wissenschaft und Forschung in einen größeren Zusammenhang zu stellen: Das eine Mal sind es die ökonomischen Zwänge und der Profit, die Forschung und Wissenschaft bestimmen Das andere Mal stellt die Ich-Erzählerin-Autorin die Grundfrage: „Keinesfalls werde ich sagen, Wissenschaft verbiete sich von jetzt an. Gefährlich ist der Mythos, wir könnten mit ihrer Hilfe getrost jede Suppe auslöffeln, die wir uns einbrocken . . . Aber gefährlicher ist der Glaube, wir kämen ohne neue Erkenntnis aus.“

Hier wird so argumentiert, als gebe es eine Wahl des Ja oder Nein. Weiter als bis zur Aufforderung, die Regierungen möchten doch, bitteschön, die Moral der Wissenschaft(ler) fördern und anerkennen, reicht der Gedankengang nicht. Auch dies ein Dokument der Hilflosigkeit. Man wünscht sich, daß wenigstens der Schrecken dann mutiger und offener gezeichnet würde, wenn schon keine neuen Argumente in die Diskussion kommen. An diesem Sujet fällt überhaupt auf: Die in den vergangenen Jahrzehnten gewachsene Rolle der Literatur in der DDR als Aufklärerin, als Produzentin von Öffentlichkeit, versagt (noch?) vor diesem Thema. Und dies nicht zufällig: Der gesellschaftliche Denkprozeß über Kosten und Folgen unserer Zivilisation (auch und gerade der sozialistischen) steht noch am Anfang; und er hat mit vielen Tabus zu kämpfen: dem Tabu der Macht; dem Tabu der Neutralität von Technik und Wissenschaft ... So möchte man sich auf der einen Seite freuen, daß überhaupt in dieser Richtung etwas geschrieben wird — und auf der anderen Seite möchte man sich mehr Wagnis in der Literatur wünschen.

Biedermeier und Alltag Der Skizze über die Literatur in der DDR der achtziger Jahre würde Entscheidendes fehlen, fragte man nicht auch: Wie kritisch, wie positiv sehen Schriftsteller ihre Gesellschaft in den achtziger Jahren? Und da fällt mir als erstes der hierzulande unterbewertete Roman „Neue Herrlichkeit“ von Günter de Bruyn ein. Lange hatte de Bruyn an diesem Roman gearbeitet. Lange hatte er sich mit den zensurähnlichen Auflagen seines Verlages herumgeschlagen. Wie in „Preisverleihung“ (1972) und in „Märkische Forschungen“ (1979) wählt de Bruyn auch hier einen abgeschlossenen kleinen Mikrokosmos, in dem sich die menschlichen Beziehungen umso klarer abzeichnen. Gezeigt wird eine nach außen heile Welt, hinter der sich Schwäche und Grausamkeit ebenso verbergen wie Leid und Clownerie. Der Landpfarrer sinniert gegen Ende des Romans beim Begräbnis der Großmutter über schöne Lied-texte und kommt dabei zu dem Schluß, daß „das Biedermeier eine Zeit (gewesen sei), die, wie er findet, unserer irgendwie gleicht“ Der Roman selbst ist ein Anti-Biedermeier-Roman, der sich der Ironie so fein bedient, daß man sie manchmal gar nicht spürt. Es gibt nicht eigentlich eine Handlung. Eher werden Szenen beschrieben.

Im Mittelpunkt steht Viktor, Abkömmling von karrierebewußten Funktionärseltem. Viktor zieht sich zum Arbeiten an seiner Dissertation in die Abgeschiedenheit eines ländlichen Ferienheims zurück. Aber statt sich diszipliniert an seine Dissertation zu setzen, stürzt er sich auf alle Ablenkungen, die das Haus, seine Bewohner und Gäste für ihn bereithalten. Viktor ist, wie es scheint, ein typisches Produkt seiner Klasse, die in ihren Kindern mitunter ihre schärfsten Widersacher findet. Beide Eltern haben dem Sohn ein Leben vorgeführt, das dieser nicht für nachahmenswert hält und dem er sich mehr unbewußt als bewußt entzieht: „Er will sich nicht lenkend und leitend über andere erheben; ihm genügt es, mit ihnen auskommen zu können“ Jedoch am Ende entkommt Viktor seinem „Schicksal“ nicht. Er wird für einen „Leitungsposten“ „gezogen“, ja, eher gezogen, als daß es ihn treibt. Aber dafür verrät er immerhin die heiße Liebe Thilde, der er zuvor noch ewiges Zusammensein versprach.

Viktor ist kein bewußter Verweigerer und somit auch nicht mit jenem „Anti-Helden“ in Erich Loests Roman „Es geht seinen Gang oder Mühen in unserer Ebene“ (1978) zu vergleichen, der sich dem dauernden Leistungsstreß in Betrieb und Familie bewußt entzieht. Viktor läßt sich treiben, wird gezogen und entzieht sich. Mit der Gestalt des Viktor zeichnet de Bruyn die Belanglosigkeit eines Lebens in der „Arrangement-Gesellschaft“ nach, in der auch überleben kann, wer nur seiner Privatheit , lebt, ohne daß es ihm gelänge, etwas Eigenes, Authentisches in sich zu finden.

Hinreißend ist die Großmutter Tita, die einzige Gestalt, der de Bruyn etwas Farbe gibt. Diese Großmutter befindet sich an der Grenze zum Altersschwachsinn. Sie ist dennoch oder gerade deshalb die einzige, die die Dinge beim Namen nennt.

Diese Großmutter reagiert und agiert mit der Spontaneität eines Kindes. Sie droht der Kontrolle der Umwelt zu entgleiten und muß dies damit büßen, daß sie ins Heim gesteckt und damit dem langsamen Tod anheimgegeben wird. Diese Großmutter ist der Anti-Biedermeier-Typ par excellence. Sie ist die Gegenfigur zum Ich-schwachen Viktor. Sie ist Repräsentantin einer untergehenden Generation. Ihr und den „Alten“ setzt de Bruyn ein Denkmal in seinem Roman. Bei ihrem Besuch im Altenheim sprechen Viktor und Thilde die Ärztin des Heims empört auf die schlechte Behandlung der Großmutter an. Die Ärztin, die ihre Patientin mit Psychopharmaka so vollpumpt, daß diese kaum mehr die Augen aufschlagen kann, hält ihnen die harte Realität entgegen:

„Wer aber keine Zeit für seinen Nächsten habe, . . .der solle doch die Frage nach der Schuld auf sich beruhen lassen. Der soll doch ehrlich sein und sagen: in unsere Welt der Nützlichkeit paßt eine kranke Alte nicht hinein. Solange sie den Haushalt führen und die Kinder hüten kann, ist sie noch unentbehrlich, wenn sie dann aber selbst Betreuung braucht, schickt man sie weg ins Heim — mit anderen Worten: man verurteilt sie. Unfähigkeit zur Arbeit heißt die Schuld; die Strafe dafür ist Verbannung und Enteignung“

De Bruyns Roman ist ein melancholisches Stück Literatur aus einer Zeit des Übergangs, in der das Alte nichts mehr gilt und das Neue sich noch nicht herauskristallisiert hat. Dazwischen liegt der Alltag. Ein rechtes Stück Biedermeier-Literatur ist hingegen der neue Erzählungsband von Hermann Kant „Bronzezeit. Aus dem Leben des Buchhalters Farßmann“ (1986). Auch Kants Erzählungen handeln vom Alltag. Nehmen wir die Titelgeschichte „Bronzezeit“, in der der Buchhalter Farßmann zum Förderer des nationalen Erbes wird. Dieser F. wird beauftragt, die Chronik seines Betriebes zu schreiben. Beim Studium der historischen Papiere stößt er nicht etwa nur — dies wäre in einer Erzählung vor zwanzig Jahren noch der Fall gewesen — auf die Spuren des Faschismus, sondern auf ein Reiter-standbild, auf das Reiterstandbild Friedrichs des Großen. Das gelangte zu einer Zeit, als das monarchische und militärische Erbe noch keine Konjunktur hatte, über einen Schrottabnehmervertrag in den Besitz seines Unternehmens, einer Orden fabrizierenden Fabrik, wurde in zwei Hälften geteilt und je zu einer Hälfte im Goldfischteich und im Sockel der betriebseigenen Tischtennisplatte verarbeitet. Und weil nun, zu heutigen Zeiten, Erbe ein heiliges Gut ist, wird das Reiterstandbild wieder restauriert und der Buchhalter als rechter Erbeverwalter geehrt.

Oberflächlich, aber auch nur oberflächlich, besitzt diese Geschichte einige Anklänge an Kafka: Der Buchhalter, die Verwicklungen, das Labyrinth des Lebens. Aber bei der Übersetzung in den real existierenden Sozialismus kommt eben pures Bieder-meier heraus. Und dies geschieht so: Statt die Untiefen des Bürokratismus, seine unfreiwillige Komik, auch seine Beängstigungen darzustellen, führt der Autor die Umwelt des Buchhalters als etwas vor, dem aller Schrecken gewichen ist und in dem man sich so richtig heimisch und heimelig fühlen kann. Die Ironie ist auf ein solches Minimum geschrumpft, daß sie sich in ihr Gegenteil verkehrt: Bürokratismus ist nett. Alles, was irgend Anlaß zu Satire, Ironie und Kritik bieten könnte, wird niedergebügelt auf ein schlechtes Mittelmaß. Ja, so ist’s im Sozialismus, will uns der Autor verraten, nicht schlecht und manchmal auch nicht gut. . . Eine Erzählung vorne so hinten wie hoch, wie der Volksmund so schön sagt, und so ist der ganze Band. Er ist harmlos und hermetisch. Nicht eigentlich Literatur der achtziger Jahre, in seiner Schreib-haltung eher den sechziger Jahren zuzurechnen. Scharf sticht dagegen der „Hinze-Kunze-Roman“ (1985) von Volker Braun ab. Er bietet zugleich ein Schelmenstück über die Autorität und ein Lehrstück über die Last des „Leitens“, frei nachempfunden den Geschichten von Brechts „Herr Puntila und sein Knecht Matti“. Handlung findet nicht statt. Es sind die Dialoge zwischen Kunze, dem von Termin zu Termin hetzenden Parteifunktionär, und Hinze, seinem räsonnierenden Chauffeur, die das Ganze tragen. Manchmal ergreift auch die Erzählerperson, die immer in Reichweite steht, das Wort. Da trifft man dann auf Kurzsatiren wie die folgende: „Die Frage nach dem gesellschaftlichen Interesse ist zweifellos die fruchtbarste für die Literatur, und ich finde es wohltuend und ermutigend, daß sie immer wieder gestellt wird. Dies kommt mir nicht von ungefähr in den Sinn. Ich habe es mit der Buttermilch eingesogen in den Hungerjahren. Glückliche Umstände, die mich bildeten, unter denen auch der abstrakte Begriff, mangels greifbarer Dinge, materielle Wucht bekam. Die Gesellschaft, ein armes, aber gesprächiges Luder, saß immer mit am Tisch (wie jetzt am Schreibtisch), sie verlangte, daß man an sich selbst dachte, indem man an sie dachte, indem man an sich dachte; es wurde nur problematisch, wo sie einem das Denken abnahm. Da stimmte dann alles in der Stube überein, nur man stand draußen. Aber ich verplaudere mich. Die Literatur ist eine Angelegenheit des Volkes, sagt Kafka. Es lebt, genauer: es lebe die Überein-stimmung der persönlichen und gesellschaftlichen Interessen, ich erkläre mich damit einverstanden . . ."

Hier ist nun wirklich alles hineingepackt: der Dogmatismus der fünfziger Jahre, die Verzerrungen der Wirklichkeit in der Literatur, die Vergewaltigung der Künstler, das auf Parolen heruntergekommene Verhältnis zwischen Literatur und Politik. Dies sagen zu können, ist in den achtziger Jahren möglich; es ist daher auch ein Stück Literaturgeschichte, was uns hier vorliegt.

Will man dem „Hinze-Kunze-Roman“ glauben, so sind die herrschenden Leiterpersönlichkeiten, die Politiker und Wirtschaftsfunktionäre in den achtziger Jahren mehr denn je aufs Volk angewiesen. Von der Last des Leitens fast erdrückt, suchen sie Trost beim einfachen Mann oder im Schoß der einfachen Frau. Aber es läßt sich auch das lesen: Diese bier-ernsten Leiterpersönlichkeiten sind nun an einem Punkt angelangt, wo sie der Farce nicht mehr entgehen können. Schön wär’s.

Ein einheitliches, gar repräsentatives Bild von der Literatur der DDR in den achtziger Jahren läßt sich nicht gewinnen. Prägend ist der Eindruck, daß es viele Literaturen und nicht eine Literatur in der DDR gibt. Der Generationswechsel (als ästhetischer Wechsel und als Veränderung in der Erkenntnishaltung) ist im Gange. Er wird mehr von den jüngeren, aber auch von einigen älteren Schriftstellern repräsentiert. Nachhaltig hat mich beeindruckt, wie genau, manchmal ans Selbstquälerische grenzend, einige der jüngeren Autoren versuchen, den Zwischenräumen der Realität, der Spannung zwischen Ich und Außenwelt, zwischen Erkenntnis und Ideologie, zwischen Gesagtem und Ungesag-tem sprachlich auf die Spur zu kommen. Um was es dabei geht, formuliert Gert Neumann in seinem Buch „Elf Uhr“ (1981) fast programmatisch:

„Ich . . . antwortete deutlich: daß ich glaubte, damit beschäftigt zu sein, die Realität zu untersuchen, weil ich den immer stärker werdenden Verdacht hätte, daß sie ganz anders organisiert sei, als die Sätze, die es über Realität gäbe. Es sei mir eigentlich unerträglich, sagte ich, daß das allgemeine Bewußtsein vom Zustand der öffentlichen Sätze, die über die Realität gesprochen seien, nicht über das Stadium der Verachtung hinauskäme, und deshalb die Wirklichkeit, die ich als ein Werk des Freiheitswillens betrachtete, immer dauernd abwesend sei.“

Fussnoten

Fußnoten

  1. W, Kirsten, lebensspuren, in: ders., die erde bei meißen. Gedichte. Leipzig 1986. S. 106.

  2. W. Hilbig. Der Brief, in: ders.. Der Brief. Drei Erzählungen. Frankfurt/M. 1985, S. 120f.

  3. Ders.. die Versprengung, gedichte, Frankfurt/M. 1986. insbes. S. 44.

  4. H. Wenderoth. Die alten Tapeten der DDR. Kulturpolitische Abgrenzung gegen Moskau, in: Neue Zürcher Zeitung vom 24. /25. Mai 1987.

  5. C. Wolf. Nachdenken über Christa T.. Halle 1968.

  6. E. Honecker, Bericht auf der 4. Tagung des Zentralkomitees der SED am 16. und 17. Dezember 1971. in: Neues Deutschland vom 18. Dezember 1971.

  7. U. Plenzdorf. Die neuen Leiden des jungen W.. Rostock 1973.

  8. H. -D. Sander. Geschichte der Schönen Literatur in der DDR. Freiburg 1972. S. 235.

  9. Vg]. die Darstellung der Arbeit in Christoph Heins „Drachenblut" (1982). in Monika Marons „Flugasche“ (1981) und in Gerti Tetzners „Karen W.“ (1974).

  10. G. Kunert. Diesseits des Erinnerns. München-Wien 1982. S. 185.

  11. Vgl. H. Müller. Ich glaube an Konflikt. Sonst glaube ich an nichts. Ein Gespräch mit Sylvre Lotringer über Drama und Prosa, über PHILOKTET und über die Mauer zwischen Ost und West, in: ders.. Gesammelte Irrtümer. Frankfurt/M., S. 85.

  12. Vgl.ders.. Wolokolamsker Chaussee I bis III. in: ders., Shakespeare Factory. Band 1 und 2. Berlin 1985 und 1986. vgl. auch: Berührung ist nur eine Randerscheinung. Neue Literatur aus der DDR, hrsg. v. S. Anderson u. E. Erb, Köln 1985.

  13. W. Hilbig. Unterm Neomond. Frankfurt/M. 1982: ders.. Der Brief (Anm. 2).

  14. Ders.. Beschreibung II. in: ders.. Der Brief (Anm. 2).

  15. Ebd.. S. 31

  16. M. Maron. Die Überläuferin. Frankfurt/M. 1986.

  17. Dies.. Flugasche. Roman. Frankfurt/M. 1981

  18. Dies.. Das Mißverständnis. Erzählungen, Frankfurt/M. 1982.

  19. Vgl. M. Ahrends. Ein DDR-Minister gibt Auskunft. Alles klar, in: DIE ZEIT vom 29. Mai 1987.

  20. Vgl. ebd.

  21. C. Hein. Homs Ende, Darmstadt-Neuwied 1985. S. 18.

  22. Vgl. W. Benjamin. Geschichtsphilosophische Thesen, in: ders.. Illuminationen. Frankfurt/M. 1961. S. 268ff.

  23. F. Fühmann. Der Sturz des Engels. Erfahrungen mit Dichtung. Hamburg 1982. S. 167.

  24. Vgl.ders. (Hrsg.). Georg Trakl. Gedichte, mit einem Nachwort von S. Hermlin, Leipzig 1975.

  25. Vgl.ders.. Der Sturz (Anm. 23), S. 117.

  26. Ebd.. S. 236.

  27. Vgl. T. W. Adorno. Kulturkritik und Gesellschaft, in: ders.. Prismen. Kulturkritik und Gesellschaft. München 1963. S. 26.

  28. Vgl. Fühmann. Der Sturz (Anm. 23) S. 102 f.

  29. C. Wolf. Redebeitrag, in: Protokoll der „Berliner Begegnung zur Friedensförderung" am 13. /14. Dezember 1981. Darmstadt-Neuwied 1982. S. 116.

  30. C. Wolf, Störfall. Nachrichten vom Tage. Darmstadt-Neuwied 1987. S. 37.

  31. Ebd., S. 108.

  32. Vgl. H. Königsdorf, Respektloser Umgang, Berlin-Weimar 1986, S. 69.

  33. Ebd.. S. 91.

  34. G.de Bruyn. Neue Herrlichkeit. Frankfurt/M. 1984. S. 210.

  35. Ebd., S. 11.

  36. Ebd.. S. 198.

  37. V. Braun. Hinze-Kunze-Roman. Halle-Leipzig 1985. S. 59.

  38. G. Neumann. Elf Uhr. Frankfurt/M. 1981. S. 229.

Weitere Inhalte

Antonia Grunenberg, Dr. phil., geb. 1944, Privatdozentin für Politische Wissenschaft an der Rheinisch-Westfälischen Technischen Hochschule Aachen. Veröffentlichungen u. a.: Die gespaltene Identität. Gesellschaftliches Doppelleben in der DDR, in: W. Weidenfeld (Hrsg.), Die Identität der Deutschen, Bonn—München—Wien 1983; Reise in den Traum. Vier Schriftsteller der DDR (Klaus Schlesinger, Christoph Hein, Barbara Honigmann, Monika Maron), Drehbuch, WDR 1985; Ein Volk steht im Streß. Zwischen Fortschritt und industrieller Modernisierung (I), in: DIE ZEIT vom 28. März 1986; Nichts ist mehr gültig. Der sozialistische Realismus ist out — alles ist erlaubt (II), in: DIE ZEIT vom 4. April 1986; „Eine Lust an der Zerstörung“. Heiner Müllers Umgang mit Fortschrittsglauben und Geschichtsoptimismus, in: GDR Culture and Society, no. 5, New York 1985; Der Skandal. Eine Weimarer Geschichte, in der Reihe: Weimarer Geschichten, Drehbuch, WDR 1985.