I.
Geschichte ist zwar eine Wissenschaft, aber keine exakte Wissenschaft. Jede Beschäftigung mit der Vergangenheit kann nur vom gegenwärtigen Standpunkt und aus einer stets relativierbaren Perspektive erfolgen und ist somit wechselnden Interessen und Beurteilungsmaßstäben unterworfen. Dadurch istjede historische Darstellung zugleich immer auch Interpretation und kann nie absolute Aussagekraft gewinnen. Selbst alle Bemühungen um größtmögliche Objektivität können nichts daran ändern, daß ein großes Maß an Subjektivität konstitutiver Bestandteil jeder Beschäftigung mit der Geschichte ist.
Allerdings muß auch klar gesehen werden, daß es in unterschiedlichen Gesellschaften und zu unterschiedlichen Zeiten vorherrschende Deutungsmuster gibt, die einen gewissen Verbindlichkeitsgrad erreichen können, zumal wenn sie Ausfluß einer bestimmten politischen Richtung sind oder wenn sogar politische Ziele mit ihnen erreicht oder wenigstens unterstützt werden sollen. Die Betrachtung, Deutung und Vermittlung der Vergangenheit unterliegt damit ständig — bewußt oder unbewußt, mehr oder weniger — Politisierungstendenzen. Für das Schulfach Geschichte hat dies zur Folge, daß es im besten Falle zugleich immer auch politische Bildung ist, daß es aber ebenfalls leicht zur politischen Indoktrination mißbraucht werden kann. Diese Tatbestände finden natürlich auch einen Niederschlag in den Schulbüchern.
Ein weiterer Gesichtspunkt muß in diesem Zusammenhang bedacht werden: Schulbücher unterliegen und unterlagen in Deutschland stets einem Genehmigungsverfahren. Durch Richtlinien und Lehrpläne umreißt der Staat einen Rahmen und nimmt eine Weichenstellung vor. Der Inhalt und die Gestaltung der Bücher ist dann zwar in erster Linie ein Produkt von Autoren und Verlagen und müssen von ihnen verantwortet werden. Aber indem der Staat über Zulassung oder Nichtzulassung eines Buches entscheiden kann, hat er — zumindest indirekt — einen nicht unbeträchtlichen Anteil an dem Endprodukt Schulbuch, wie es in die Hand von Schülern und Lehrern gelangt. Insofern liegt es nahe, ja, es scheint sogar selbstverständlich zu sein, daß die Schulbücher für den historischen Unterricht weitgehend ein Geschichtsbild spiegeln, das nicht nur der jeweiligen Staatsform und den vorherrschenden politischen Machtverhältnissen nicht widerspricht, sondern sie auch zu stützen vermag.
Hier wird deutlich, daß das Schulbuch eben nicht nur ein Spiegelbild von gesellschaftlichen und politischen Verhältnissen ist — und damit mehr passiven bzw. statischen Charakter trägt —, sondern daß es auch zum Instrument, unter Umständen sogar zur Waffe werden kann, um einer bestimmten Auffassung möglichst weite Verbreitung und Durchsetzungskraft zu verschaffen. Dem Medium Schulbuch kann somit eine höchst aktive Rolle zufallen, die um so wirkungsvoller erscheint, als seine Haupt-adressaten junge Menschen sind, die bildungsfähiger — das heißt aber auch: leichter beeinflußbar — sind als Erwachsene und die zugleich die Zukunftsträger einer Gesellschaft darstellen. Das ist auch der Grund, weshalb in der Bundesrepublik Deutschland die Schulbuchdiskussion in den letzten Jahren einen so hohen Stellenwert gewonnen hat und das Schulbuch vielfach zum Politikum geworden ist
Indem unsere gegenwärtige Welt eine gewordene ist und man zu ihrem Verständnis der Kenntnis und der Deutung der Vergangenheit bedarf, indem Geschichte vergangene Politik und gegenwärtige Politik die Geschichte zukünftiger Zeiten sein wird, sind die Interdependenzen zwischen Politik und Geschichte besonders eng. So ist es verständlich, daß der Streit um die Schulbücher — abgesehen von den Politik-Lehrbüchern — sich besonders stark an den Geschichtsbüchern entzündet hat.
An dieser Stelle sollte allerdings gefragt werden, ob diesen oft in parteipolitische und ideologische Positionskämpfe abgleitenden Diskussionen heute noch wirklich solches Gewicht zukommt. Denn es dürfte unbestritten sein, daß Schulbücher für die Prägung eines jungen Menschen nicht mehr die Bedeutung haben wie noch vor ein oder zwei Generationen. Zu stark ist heute der Stellenwert anderer — meist außerschulischer — Medien geworden, die ebenfalls historische Themen aufgreifen und vermitteln. Außerdem hat die Unterrichtsorganisation sich insofern geändert, als sie sehr viel offener geworden ist, weil schulisches Lernen in erheblich stärkerer Weise eine kritische Fragehaltung anzielt, als das ehedem der Fall war. Dazu gehört auch, daß die Lehrbücher heute meist anders aufgebaut sind: Sie streben die Form des Arbeitsbuchs an, das von seiner Anlage her das diskursive Denken erheblich leichter fördern kann als der früher vorherrschende Typ des Leitfadens. Darüber hinaus ist neben den Büchern auch die Person des Lehrers mit ins Kalkül zu ziehen (was allerdings immer notwendig war). Seine persönliche Haltung, seine politische Auffassung, seine Interpretation der Geschichte und nicht zuletzt seine didaktisch-methodischen Fähigkeiten sowie sein Unterrichtsstil sind — und waren wohl auch stets — erheblich prägender für eine Klasse als der Inhalt von Schulgeschichtsbüchem. Daher sollte das Medium Schulbuch in seinem Stellenwert und in seiner Wirkung nicht überbewertet werden — zumindest gilt dies für die Gegenwart, in eingeschränkter Weise sicher auch für die Vergangenheit.
Da das Schulgeschichtsbuch nur eine Komponente bei der Entwicklung des Geschichtsbildes und der politischen Prägung von Jugendlichen ist, wird es wohl nie möglich sein, genau herauszufinden, wie stark seine Wirkung tatsächlich ist. Sicherlich ist sein Einfluß um so größer, je mehr es durch das Unterrichtsgeschehen insgesamt und auch durch andere Medien gestützt wird. (Daß hier auch an Schulbücher für andere Fächer, besonders Lesebücher, aber selbst Fibeln, Rechenbücher, Liederbücher und sogar Lateinbücher gedacht werden muß, haben Untersuchungen gezeigt Umstritten im Hinblick auf seine Bedeutung für die Entwicklung des Geschichtsbildes bei Jugendlichen ist sogar der Geschichtsunterricht insgesamt. Außerschulische Einflüsse — besonders die Freizeitlektüre und die Sozialisation in Familie und Freundeskreis — spielen sicherlich eine nicht zu unterschätzende Rolle. So werden wohl Vorstellungen vom Alltagsleben in den Provinzen des Römischen Imperiums eher durch Asterix-Hefte geprägt als vom Geschichtsunterricht, genau wie die Erlebnisebene von Soldaten und der Zivilbevölkerung während des Zweiten Weltkriegs vielfach erst durch Erzählungen der Eltern-und Großeltemgeneration Gestalt gewinnt, obwohl der Geschichtsunterricht sich hier besonders um die Vermittlung von Tatbeständen und Zusammenhängen bemüht und die Schulbücher anschauliches Bildmaterial enthalten.
Selbst dem Nationalsozialismus gelang es trotz seines totalitären Anspruchs auf die Erziehung und der daraus abgeleiteten Anstrengungen um die Vereinnahmung der Jugend nicht völlig, die Schulzeit erfolgreich für eine Sozialisation im Sinne der Staatsideologie zu nutzen. Das wird etwa aus den Beispielen deutlich, die Rolf Schörken als Hintergrund für seine Untersuchung des politischen Bewußtseins von Luftwaffenhelfern anführt. Er kommt zu dem Schluß: „Es war offenbar nicht nur möglich, sondern — für bestimmte Altersstufen zumindest — keineswegs die Ausnahme, weitgehend unbeeinflußt vom Nationalsozialismus die Schule zu durchlaufen.“ Auch die nationalsozialistischen Geschichtsschulbücher, die es allerdings erst seit 1939 gab, scheinen daran nichts geändert zu haben. Der Staat selbst jedoch schätzte die Wirkung von Schulbüchern erheblich höher ein und verfügte in der zweiten Hälfte der dreißiger Jahre, daß bis zum Erscheinen neuer, d. h. nach den Grundsätzen der NS-Ideologie konzipierter Bücher nicht etwa die alten Unterrichtswerke aus der Zeit der Weimarer Republik (bzw. überarbeitete Nachdrucke), sondern überhaupt keine Bücher verwandt werden sollten.
Auch vor dem Ersten Weltkrieg zeigte sich bereits, daß Schulbücher gegenüber anderen Sozialisationskräften vielfach eine untergeordnete — zumindest aber eine nebenrangige — Rolle spielen. Dafür spricht nicht zuletzt die doch recht breite sozialdemokratische Grundströmung jener Zeit, die nur sehr bedingt den Idealen entsprach, die Horst Schallenberger als einheitliches Kennzeichen bei seiner Analyse von Geschichtsbüchern der Wilhelminischen Ära herausgestellt hat: die preußisch-konservative Grundhaltung, die heroische Geschichtsauffassung, die Betonung der dynastischen Geschichte, der christliche Traditionalismus, die Vorstellung von Kaiser und Reich als prägende Kraft sowie der Nationalismus Andererseits dürfte kein Zweifel darüber bestehen, daß dieses von Schallenberger konstatierte Geschichtsbild weite Resonanz auch bei denen gefunden hatte, die in ihrer politischen Gegenwart sozialdemokratischen Zielsetzungen anhingen und daher eigentlich eher die Geschichtsauffassung eines Franz Mehring hätten haben müssen. Doch diese Unstimmigkeit ist nur scheinbar. Sie löst sich auf, wenn man sich klar macht, daß Geschichtsbild und politisches Bewußtsein nicht unbedingt übereinstimmen müssen. Anders gesagt: Aus einem Geschichtsbild, wie es z. B. durch Schulbücher präsentiert wird, werden vom Leser/Adressaten nicht immer gleich die eigentlich dazugehörigen politisch-ideologischen Schlüsse gezogen. Das hängt mit dem Problem zusammen, inwieweit überhaupt Geschichte aktualisiert wird, d. h. inwiefern Geschichte und Gegenwart verknüpft werden und sich z. B. Schüler von der Geschichte und damit auch von deren Darstellung im Schulbuch betroffen fühlen. Es ist wohl eine Art Gespaltenheit möglich, daß man nämlich ein den eigenen politischen Auffassungen entgegengesetztes oder ihnen jedenfalls nicht deckungsgleiches Geschichtsbild durchaus übernimmt, indem man es „lernt“ und dann auch reproduziert, ohne überhaupt zu merken, daß dieses Geschichtsbild der eigenen Position nicht entspricht. Dies ist um so häufiger in Zeiten und Gesellschaftsordnungen, in denen das staatlich verordnete Bildungsgut von den Rezipienten ohne viel Hinterfragen übernommen wird.
Aus diesen Ausführungen soll nun nicht etwa der Schluß abgeleitet werden, Schulbücher seien unwichtig, und es sei daher — zumindest für die politische Sozialisation — eher nebensächlich, was in ihnen steht. Wenn Schulbücher an dieser Stelle in ihrer Wirkung relativiert werden, so bedeutet das nicht, daß ihnen keinerlei Wirkung zugesprochen wird. Zweifellos sind sie ein wichtiges Medium bei der Vermittlung von Kenntnissen, bieten sie doch oft geradezu ein Basiswissen — wie einseitig, „gefärbt“ oder sogar falsch es auch unter Umständen sein mag. Andererseits transportieren sie dabei als zusätzliche Fracht auch immer, mehr oder weniger offenkundig, gewisse Einstellungen politischer oder ideologischer Natur, von denen jedoch nicht sicher ist, inwieweit sie vom Schüler auch wirklich rezipiert werden.
Die größte Gefahr bei der Überbewertung von Schulbüchern besteht dann, wenn sie isoliert betrachtet werden. Eine Warnung vor zu großer Überbetonung scheint heute auch deswegen manchmal angebracht, weil seit den siebziger Jahren das Medium Schulbuch durch eine große Zahl von Analysen und Betrachtungen einen Stellenwert in der didaktischen Forschung erhalten hat, der ihm nicht immer zukommt. Verständlich ist diese Vorliebe für die Schulbuchforschung allerdings. Denn innerhalb des ansonsten nur schlecht greif-und überprüfbaren Unterrichtsgeschehens und der noch viel größeren Unwägbarkeiten von Unterrichtsplanung bilden Schulbücher gewissermaßen eine feste Größe, die schwarz auf weiß nachprüfbar ist.
Erste Ansätze gab es zwar schon zur Zeit der Weimarer Republik im eigentlichen Sinne hat die wissenschaftliche Schulbuchforschung jedoch erst nach dem Zweiten Weltkrieg begonnen. Hier ist besonders an die Pionierleistung Georg Eckerts und des von ihm geleiteten Internationalen Schulbuch-instituts (seit 1975 Georg-Eckert-Institut) und an die bahnbrechende Arbeit von Horst Schallenberger zum Geschichtsbild der Wilhelminischen Ära und der Weimarer Zeit zu erinnern.
Es ist gut und wichtig, daß derartige Analysen unternommen und zum Teil auch praktische Konsequenzen in Form von Empfehlungen daraus gezogen worden sind. Nur: Man sollte nicht glauben, wissenschaftlich einwandfreie und von Einseitigkeiten oder Manipulationen freie Schulbücher würden schon genügen, um ein richtiges Geschichtsbild zu vermitteln und eine unanfechtbare politische Bildung zu gewährleisten. Dagegen sprechen die oben gemachten Einwände. Gute Schulbücher allein sind noch kein Allheilmittel, so wie schlechte Schulbücher nicht unbedingt zu einer Fehlinformiertheit oder — im äußersten Falle — sogar zu einer Verhetzung der Jugend führen müssen. Tendenzen wird man aber sicherlich konstatieren können. * Die beiden angeführten Beispiele sind typisch für zwei unterschiedliche Intentionen bei der wissenschaftlichen Schulbucharbeit. Dem Internationalen Schulbuchinstitut/Georg-Eckert-Institut geht es in erster Linie um Schulbuchrevision. Hier werden gegenwärtige Schulbücher — und zwar auf internationaler Ebene — daraufhin untersucht, inwiefern sie nicht nur dem fachwissenschaftlichen Forschungsstand entsprechen, sondern auch inwiefern sie einseitig oder gar tendenziös ausgerichtet sind. Der Vergleich der einzelnen Bücher untereinander ist dabei übrigens zweitrangig. Ziel ist, durch die Erstellung kritischer Gutachten und detaillierter Empfehlungen eine Schulbuchverbesserung durch Überzeugung und auf freiwilliger Basis zu erreichen. Auf diese Weise sollen Schulbuchdarstellungen initiiert werden, bei denen nicht nur die Forderung nach wissenschaftlicher Exaktheit erfüllt ist, sondern die auch dazu angetan sind, Vorurteile abzubauen, und die verunglimpfenden Formulierungen keinen Raum geben. Von seiner Zielsetzung her ist dieser Typ der Schulbuchforschung gegenwarts-oder sogar zukunftsbezogen. Der schulbuch-historische Aspekt ist dafür höchstens eine Kontrastfolie, um aufzuzeigen, was sich gegenüber früher in heutigen Büchern verändert hat — zum Guten oder Schlechten.
Der Ansatz von Schallenberger verfolgt andere Absichten. Hier geht es nicht um Schulbuchverbesserung (obwohl die Einsicht in die Notwendigkeit einer Revision das Ergebnis derartiger Studien sein kann), sondern in erster Linie um Zeitgeistforschung. Die Schulbücher werden daraufhin befragt, welche Aussagen sie über vorherrschende Denkrichtungen, Zielsetzungen und Voraussetzungen ihrer eigenen Zeit machen. Derartige Analysen ermöglichen es dem Nachgeborenen, einen Eindruck von vorherrschenden — oder wenigstens offiziell vertretenen — Zeitströmungen zu gewinnen und frühere Bewußtseinsstränge bis zu einem gewissen Grade nachzuempfinden. Um jedoch derartige Merkmale herausfiltern zu können, muß man eine große Anzahl von Büchern ein-und derselben Zeit untereinander vergleichen, da nur so die Gewähr besteht, typische Faktoren herauszufinden. Auch bei dieser Methode müssen die Bücher zwar an dem fachwissenschaftlichen Erkenntnisstand (und zwar ihrer eigenen Zeit!) gemessen werden, aber erst im zweiten Schritt. Wesentlicher, weil aufschlußreicher für das Verständnis des Schulbuch-Umfeldes ist die Erkenntnis, welche Auffassungen oder Schwerpunkte sich in der Zeit und/oder bei der Gesellschaftsschicht manifestieren, von denen diese Bücher Zeugnis ablegen. Vorrangig sollen also Rückschlüsse auf das Geschichtsbild der Zeit und der Gesellschaft gezogen werden, in denen die Bücher entstanden. Im Gegensatz zu der weitgehend didaktisch ausgerichteten Methode des Braunschweiger Instituts ist der Ansatz, den Schallenberger bei seiner Untersuchung anwandte, überwiegend hermeneutisch. Die historische Schulbuch-forschung ist damit eher ein Autoren-als ein Rezipientenproblem: Der vorliegende Text wird zunächst als Quelle und dann erst unter dem Gesichtspunkt seiner Wirkung auf den (damaligen) Schüler betrachtet und ausgewertet.
II
Die folgende Betrachtung von Schulbüchern aus dem Kaiserreich, der Weimarer Republik, dem Dritten Reich und der DDR ist nicht als vergleichende Schulbuchanalyse zu verstehen. Für ein derartiges Unterfangen ist hier gar nicht der Platz. Der Rückgriff auf die Schulbücher soll jedoch trotzdem wenigstens einige Charakteristika der betreffenden Entstehungszeit zeigen und auf wesentliche Unterschiede wie auch auf einige Entwicklungstendenzen aufmerksam machen. In erster Linie sollen jedoch die bisherigen Erörterungen durch Beispiele konkretisiert werden.
Um zumindest eine gewisse Vergleichbarkeit zu gewährleisten, um also Kontraste oder Gemeinsamkeiten besser hervorheben zu können, werden die Schulbücher nur auf zwei sehr eng begrenzte Themen aus der Regierungszeit Friedrichs des Großen hin untersucht: auf die 1. polnische Teilung des Jahres 1772 und auf die Trockenlegung von Oder-, Warthe-und Netzebruch. Selbst dieser schmale Ausschnitt kann nicht erschöpfend behandelt werden; viele reizvolle Aspekte müssen im Rahmen eines knappen Aufsatzes ausgeklammert bleiben. Dieses Verfahren erscheint jedoch legitim, da es ja nicht in erster Linie um eine Schulbuchanalyse geht, sondern um die Verdeutlichung der im ersten Teil gemachten Aussagen. Die 1. polnische Teilung bietet sich für dieses Vorhaben deswegen an, weil sie eine Maßnahme darstellt, die bereits im 18. Jahrhundert umstritten war und die seitdem nichts von ihrer Brisanz verloren hat. An ihr entzündeten und entzünden sich daher unterschiedliche politische, ideologische und moralische Auffassungen. Sie bietet zweifellos einen kritischen Ansatzpunkt für die Beurteilung der Regierungszeit Friedrichs des Großen. Die Trockenlegung der Bruchgebiete an Oder, Warthe und Netze steht dagegen nicht in der Auseinandersetzung; als Beispiel für den friedlichen Landesausbau findet sie allgemeine Zustimmung. Beiden ausgewählten Vorgängen ist gemeinsam, daß sie zu einem faktischen Landgewinn Preußens führten, und zwar jeweils ohne Krieg. Ihre politische Bedeutung ist zweifellos von unterschiedlichem Gewicht, verschieden ist auch ihre Zielrichtung. Der Erwerb Westpreußens und des Netzedistrikts in der 1. polnischen Teilung war eine ganz wesentliche machtpolitische Expansion, die gewaltsam — wenn auch ohne Kampfhandlungen — und in enger Abhängigkeit von der politischen Konstellation Europas erfolgte. Die Binnenkolonisation durch Trockenlegung der Brüche war hingegen eine rein innenpolitische Maßnahme und zudem in erster Linie wirtschaftspolitisch bestimmt. Die Verbreiterung der landwirtschaftlichen Basis mit der einhergehenden Peuplierung diente letztlich zwar auch der Stärkung des Militärwesens, aber erst in zweiter Linie. Vorrangig war der Landesausbau und die Hebung der Wirtschaftskraft des Staates.
Die Bücher aller Epochen tragen diesem Bedeutungsgefälle Rechnung und widmen der polnischen Teilung erheblich mehr Aufmerksamkeit und damit auch größeren Raum als der Urbarmachung von Oder-, Warthe-und Netzebruch. 1. Kaiserreich Faktisch wie verfassungsrechtlich besaß Preußen im Deutschen Kaiserreich von 1871 das Übergewicht; so wurde die preußische Geschichte auch bald zur deutschen Geschichte. Der Geschichtsbuchautor David Müller vollzog diese Gleichsetzung sogar schon früher. Im Vorwort zur 1. Auflage seiner sehr erfolgreichen und bis zum Anfang des 20. Jahrhunderts ohne große Änderungen oft wieder aufgelegten „Geschichte des deutschen Volkes“ schrieb er bereits 1864: Von der Zeit des Großen Kurfürsten an „ist die preußische Geschichte auch die deutsche, und umgekehrt; eine Trennung beider ist unmöglich. Preußen wird für viele ruhmreiche Mühen, die es in älteren wie neuesten Tagen für das gesamte deutsche Vaterland getragen hat, immerhin wohl den Anspruch erheben dürfen, daß die deutsche Geschichte auch die seine sei.“
Das Müllersche Werk ist von mehr als einer Generation benutzt worden und scheint nicht nur Schüler, sondern auch Schulbuchautoren beeinflußt zu haben, wie aus wörtlichen Übernahmen (ohne Quellenangabe!) in zumindest einem anderen Buch zweifelsfrei nachweisbar ist Daß Müller jedenfalls das Geschichtsbild der Schüler prägen wollte, indem er ihnen „vaterländische Erziehung“ zuteil werden ließ, sagt er selbst: „Gerade in dem frischen Alter von 12— 15 Jahren, wo im Knaben der Jüngling reift, soll mit der deutschen Geschichte auch deutscher Sinn geweckt werden.“
Es ist nicht zu erwarten, daß bei einer derartigen Einstellung die polnische Teilung unparteiisch dargestellt wird, und in der Tat wird allein von preußischer Seite aus geurteilt. Hierbei muß beachtet werden, daß die Bücher des Kaiserreiches in unmittelbarer Tradition zur 1. polnischen Teilung stehen, indem die Gebietsgewinne des Jahres 1772 bis 1919 Bestandteil des Preußischen Staates und damit des Deutschen Reiches waren und immer noch einen gewissen polnischen Bevölkerungsanteil aufwiesen, der allerdings geringer war als in der Provinz Posen. Den Schülern jener Zeit wird es also nicht schwer-gefallen sein, diesen Teil der Geschichte des 18. Jahrhunderts zu aktualisieren, zumal sie mit seinen Auswirkungen auch im außerschulischen Bereich konfrontiert wurden, und zwar nicht nur im Osten des Deutschen Reiches. Erinnert sei nur an die Binnenwanderung von Bewohnern der östlichen Provinzen in die Industriereviere Mittel-und Westdeutschlands.
Die Bücher des Kaiserreiches sind sich einig darüber, daß die Gewinnung Westpreußens von sehr großer Bedeutung für Preußen war, da auf diese Weise die langerstrebte Landbrücke zwischen Brandenburg/Pommern und Ostpreußen hergestellt wurde. Positiv herausgehoben wird meist auch, daß dies ohne Blutvergießen gelang. Der Zustand des polnischen Staates wird allgemein als zerrüttet dargestellt, wobei allerdings nur selten die verfassungsgeschichtlichen Hintergründe dafür dar-gelegt werden. Die Bücher vertreten die Auffassung, daß infolge dieser inneren Schwäche und wegen der russischen Expansionsabsichten der polnische Staat ohnehin nicht mehr lebensfähig war, daß nur noch die Frage blieb, ob Rußland die gesamte Beute erhalten sollte oder ob auch Preußen und Österreich sich daran beteiligen sollten. Daß der „Ausgleich“, der in der Konstellation wie beim Dreikaiserbund von 1873 und 1881 erfolgte (worauf die wilhelminischen Bücher aber nicht hinweisen), eine Vergewaltigung Polens darstellte, wird in einigen Büchern angesprochen aber nicht negativ bewertet.
Ein Buch allerdings glaubt dieses Vorgehen wenigstens in bezug auf Preußen rechtfertigen zu müssen und zu können: durch die Aufbauleistungen in der neugewonnenen Provinz, wie Hebung des Wohlstandes und Förderung der Zivilisation, durch alte Rechtsgrundlagen und durch die Aufgabe, die Preußen in Hinblick auf das gesamte deutsche Reich zukomme: „Denn was Friedrich damals gewann, war einst bis auf den Netzedistrikt Land des deutschen Ordens gewesen, durch deutsches Schwert und deutschen Pflug gewonnen, dann aber zur Zeit der deutschen Ohnmacht und Schmach unter Kaiser Friedrich III.dem Orden entrissen worden. Friedrich handelte auch hier nur nach der Preußen zugewiesenen Aufgabe: im Osten Deutschlands einzubringen, was im Westen verloren gegangen war. Das Land, das ihm zufiel, war öde und verkommen, mit einem zuchtlosen, armen und übermütigen Adel und einem fast vertierten Bauernstände. Städte und städtische Gewerbe gab es kaum dem Namen nach; den Bürgerstand bildeten die Juden, die Handel, Handwerk und dergl. in ihren Händen hatten . . . Noch ehe Friedrich die Augen schloß, war hier eine neue Schöpfung deutschen Geistes und Strebens erblüht, die das Unrecht der Besitzergreifung vergessen ließ."
Bis auf den letzten Halbsatz könnte diese Passage auch in einem nationalsozialistischen Buche stehen! Interessant ist übrigens, daß Müller selbst den polnischen Bauernstand als „völlig verthiert" bezeichnet hatte, nach seinem Tode änderte der neue Herausgeber F. Junge die Formulierung ab in „vertierten Bauernstand“, der nächste Herausgeber (und ehemalige Schüler Junges), R. Lange, nahm dann die weitere Abschwächung zu „fast vertiert“ vor Wie sehr dieser Ausdruck und damit die Interpretation der polnischen Zustände — in einigen Fällen explizit als „polnische Wirtschaft“ bezeichnet — dem Zeitgeist entsprochen hat, ist daran zu sehen, daß ein anderer Autor Müllers Formulierung fast wörtlich übernimmt: Westpreußen „war ein ödes, verkommenes Land mit einem zuchtlosen, armen, aber übermütigen Adel und einem vertierten Bauernstände. Außer den Juden, die den Handel und das Handwerk in Händen hatten, gab es kaum Bürger."
Wenn man bedenkt, daß dieses Zitat in einem Buch steht, das für den Geschichtsunterricht an Lehrer-Seminaren bestimmt war, so kann man sich vorstellen, welchen Multiplikatoreneffekt derartige Formulierungen haben konnten. Die Bücher für Präparandenanstalten und Lehrerseminare sind sicherlich in sehr viel weniger Hände gekommen als Schulbücher, aber indirekt haben sie eine sehr viel weitere Verbreitung gefunden, weil der größte Teil der Bevölkerung ausschließlich die Volksschule besuchte und von Lehrern unterrichtet wurde, die ihre Lehrbücher aus der Ausbildungszeit häufig für ihr ganzes Berufsleben — und das konnten bei Volksschullehrern über 45 Jahre sein — zur Grundlage ihres Unterrichts machten. Und Schulunterricht wird, wie anfangs schon gesagt wurde, oft mehr durch die Lehrerpersönlichkeit und den individuellen Unterrichtsstil geprägt als durch den Inhalt von Schüler-Lehrbüchern.
Wenn Bücher nicht nur daraufhin untersucht werden, wie der Zeitgeist sich in ihnen niedergeschlagen hat, sondern auch darauf, welchen Einfluß sie bei der Ausbildung des Geschichtsbildes der Jugend — und damit der künftigen Generation — haben, so darf gerade an den Unterrichtswerken, die in der Lehrerausbildung benutzt wurden, nicht vorbeigegangen werden. Das trifft zumindest für die Zeit zu, in der die Ausbildung von Volksschullehrern nicht an Akademien oder Hochschulen, d. h. nicht nach wissenschaftlichen Grundsätzen erfolgte, sondern an Präparandenanstalten, Lehrerseminaren und Oberlyzeen.
Gegenüber dem Erwerb von Westpreußen ist die Trockenlegung der Sumpfgebiete an Oder, Warthe und Netze weniger spektakulär, und sie nimmt in den Büchern nur eine nebenrangige Stellung ein. Der Grund dafür scheint weniger darin zu liegen, daß wirtschaftsgeschichtliche Zusammenhänge gegenüber der Kriegs-und Diplomatiegeschichte als unwichtig aufgefaßt werden. Denn der Landesausbau in Westpreußen, der allerdings auch als Legitimation für die Besitzergreifung herangezogen wird, erfährt eine größere Aufmerksamkeit als die Binnenkolonisation in den Bruchgebieten. Nicht zufällig scheint, daß auch gar nicht so sehr die Art und Weise der Meliorationen geschildert wird, dafür aber Friedrichs des Großen Ausspruch herausgestellt wird, er habe durch die Trockenlegung der Brüche eine Provinz mitten im Frieden erobert. Der Vorgang der Urbarmachung von Sumpf-und Überschwemmungsgebieten wird also zumindest unterschwellig gar nicht so sehr als Binnenkolonisation oder Landesausbau verstanden, sondern eher an außenpolitischen Kategorien gemessen und als Expansion des Staates gerühmt. 2. Weimarer Republik Durch die Bestimmungen des Versailler Vertrages verlor das Deutsche Reich — mit Ausnahme eines geringfügigen Landstreifens — wieder das Gebiet, das Preußen durch die 1. polnische Teilung fast 150 Jahre zuvor gewonnen hatte. Diese aktuelle Entwicklung findet in den Geschichtsschulbüchern der Weimarer Republik bei der Darstellung der polnischen Teilung von 1772 weder direkt noch indirekt einen Niederschlag. Während ein Gegenwartsbezug fehlt, ist der Rückgriff auf die Vergangenheit hingegen nach wie vor vorhanden. Die Autoren versäumen nicht den Hinweis auf den ehemaligen Besitz dieser Gebiete durch den Deutschen Orden und ihren Verlust an Polen. Auch im Hinblick auf die moralischen und völkerrechtlichen Aspekte ist in den Büchern der Weimarer Zeit kaum ein Unterschied zu den Darstellungen der Wilhelminischen Ära zu bemerken. Das verwundert um so mehr, als das Deutsche Reich 1919 durch die erzwungenen Gebietsabtretungen in gewisser Hinsicht dieselben Erfahrungen machte wie Polen im ausgehenden 18. Jahrhundert. Es gibt zu denken, daß in einer Zeit, in der die Stimmung in Deutschland ganz vehement von der Empörung über den „Diktatfrieden“ von Versailles bestimmt war, von den Schulbuchautoren nicht mehr Verständnis für das Schicksal Polens aufgebracht worden ist. Statt dessen scheint es in den meisten Büchern nach wie vor als selbstverständlich, daß Polen infolge seiner inneren Anarchie und der Unfähigkeit, sie mit verfassungsrechtlichen Instrumenten zu überwinden, zur Beute der Nachbarstaaten wurde. So heißt es etwa in einem Mittelstufen-band: „Gerüchte tauchten auf, daß die Kaiserin Katharina von Rußland das Königreich Polen einstecken wollte. Das Land war völlig verwahrlost. Auf dem Reichstag genügte der Widerspruch eines einzigen Adligen, einen Beschluß zu verhindern. Adlige Führer hatten Insurgentenbanden gebildet und fielen raubend, plündernd, mordend über die deutschen Ansiedler in Polen her. Friedrich der Große forderte, daß auch Preußen ein Stück erhielt, wenn Polen aufgeteilt werden sollte. Ebensowenig aber wollte Österreich leer ausgehen. So fand die erste Teilung Polens statt. Preußen bekam Westpreußen und Ermland ohne Danzig und Thorn (1772). 15)
Das Buch schildert dann die soziale Lage in Westpreußen vor der Übernahme durch Preußen und bringt als Kontrast dazu eine Geschichtserzählung über eine Inspektionsreise Friedrichs des Großen einige Jahre später, die in den Sätzen gipfelt: „Aufrichtiger Dank leuchtet ihm aus allen Augen entgegen. Sie sind ja erst Menschen durch ihn geworden.“ 16)
Zugegeben, dies ist ein extremes Beispiel; aber es erstaunt dennoch, daß eine derartig überhebliche Schlußfolgerung vor 1933 Eingang in ein Schulbuch gefunden hat. Diese Tatsache ist um so bedenklicher, als das Buch sich an einen großen Adressaten-kreis richtete, wenn man Schultyp und Altersstufe berücksichtigt. Der völkische Gedanke klingt auch in einem anderen Buch an: „Es warzufürchten, daß das ohnmächtige Polen von dem russischen Eroberungsstaat verschlungen würde; dann wäre die russi- sehe Grenze bis über die Weichselund an die Warthe vorgerückt worden, und alte Gebiete, die einst deutsch gewesen waren, wie Westpreußen, wären rettungslos slawisch geworden. “
Andere Bücher deuten wenigstens durch ein Schlagwort an, so wie dies ja auch schon in einzelnen Büchern des Kaiserreichs geschehen war, daß es sich bei der Teilung Polens um einen gewaltsamen Vorgang gehandelt hat Ein Oberstufenband bringt die Unrechtmäßigkeit der Teilung sehr deutlich zum Ausdruck und zeigt dabei gleichzeitig Mitgefühl für Polen. Interessant ist, daß diese Interpretation zugleich einen ausgesprochen aufklärungsfeindlichen Tenor hat, der sich auch an anderen Stellen des Buches bemerkbar macht: „Der Gedanke, ein ganzes Staatswesen aufzuheben und aufzuteilen, entsprach so recht der gegen alles Gewordene rücksichtslosen Aufklärung . . . Das Unrecht einer Machtpolitik hatte das unglückliche Polen zuerst geschwächt und zuletzt völlig zerschlagen; nur großzügige Kulturpolitik, die Preußen sofort einleitete, konnte dieses Unrecht wieder einigermaßen gut machen. “
War in den Geschichtsbüchern sowohl aus dem Kaiserreich als auch aus der Zeit der Weimarer Republik, die bisher herangezogen worden sind, die Darlegung der Tatsachen und ihre Wertung stets vermischt worden, so macht es sich der „Grundriß der Geschichte“ zur Aufgabe, . Meldung und Meinung'(um ein Begriffspaar aus dem Journalismus zu verwenden) dem Schuler in deutlicher Trennung zu präsentieren. Die Autoren dieses weit verbreiteten Unterrichtswerks für die Oberstufe von Gymnasien benutzen dafür sowohl drucktechnische (Einrücken von „Zusammenfassungen und Würdigungen“) als auch sprachliche Mittel (Präsens für die Darstellung der Tatsachen, Präteritum für Zusammenfassungen und Würdigungen). Der Verlag hoffte, dadurch „am besten der Aufgabe zu dienen, die dem Ge-schichtsunterricht gestellt ist: in das geschichtliche Denken einzuführen und so den Schüler eine geschichtlich begründete Lebensansicht gewinnen zu lassen“; das Buch möchte ein Material-und damit ein Arbeitsbuch sein. „Die Feststellung des endgültigen geschichtlichen Urteils bleibt dabei durchaus der gemeinschaftlichen Arbeit von Lehrer und Schülern überlassen.“
Mit Ausnahme der Ausgabe C, die wieder zur rein darstellenden Form zurückkehrt folgen die Ausführungen des Buches durchaus diesen Grundsätzen. Friedrichs Politik wird in ihrer Zielsetzung nicht als Expansionsstreben beurteilt, sondern als Versuch, durch geschicktes Taktieren einen Krieg zu vermeiden, der durch die Auseinandersetzungen zwischen Rußland, Östeneich und der Türkei leicht hätte entstehen können und Preußens Wiederaufbau gefährdet hätte. „So ergab sich eine Vermittlerrolle für ihn. Das Gleichgewicht der Mächte war sein Ziel, er erscheint als . ehrlicher Makler'und Vorläufer Bismarcks (1878).“ Polen jedoch ist das Objekt, dessen sich der Makler nicht annimmt, sondern über das verfügt wird: „Mit der Aufteilung Polens begann die Entwicklung eines nationalen Widerstandes in diesem Lande gegen die Fremdherrschaft. Der Völkerrechtsbruch der Nachbarstaaten erklärte sich aus der inneren Schwäche des polnischen Staates. “ Daß der Makler seine hohe Provision bezog, erscheint selbstverständlich: „Friedrich erhielt seinen Anteil auf Grund der neuen Groß-machtstellung Preußens, er gewann altes deutsches Kulturland zurück und die notwendige Verbindung mit Ostpreußen.“
Spätere Auflagen des Buches fügen dann noch als Quellenausschnitt Friedrichs eigene Rechtfertigung seines Vorgehens an Die Gestaltung des Buches mit ihrer Unterscheidung von Tatsachendarstellung einerseits und Zusammenfassung und Würdigung andererseits ist sicher ein großer Fortschritt auf dem Wege, Schülern die Problematik historischer Wertung nahe zu bringen. Aber gerade aus heutiger Perspektive wird deutlich, daß das Verfahren allein noch nicht ausreicht. Selbst wenn Schülern bewußt wird, daß Wertung und Interpretation immer subjektiv sind, werden sie durch das hier dargebotene „Material“ noch nicht in die Lage versetzt, etwa gegen den Autor zu argumentieren. Daher suggeriert das Buch mehr Offenheit, als es zu leisten vermag. Die Zielvorstellung des Verlages — „die Feststellung des endgültigen geschichtlichen Urteils bleibt dabei durchaus der gemeinschaftlichen Arbeit von Lehrer und Schülern überlassen“ — wird daher wohl meistens unerfüllt geblieben sein, und zwar nicht nur deswegen, weil es endgültige Urteile in der Geschichtswissenschaft nicht gibt.
Die Urbarmachung der Bruchgebiete bleibt auch in den Büchern der Weimarer Zeit blaß und wird oft nur knapp erwähnt, und zwar als Werk Friedrichs des Großen. Die Anschaulichkeit des Textes sinkt dabei mit dem Anstieg der Schulstufe. So ist es sicherlich nicht zufällig, daß sich die bei aller Kürze doch noch konkretesten Texte in Unter-und Mittelstufenbänden finden und bei einem von ihnen wird endlich auch einmal deutlich ausgesprochen, daß es die Arbeit der Ansiedler war (und nicht nur der Wille und die Tatkraft des Königs), die die Umwandlung von Oder-, Warthe-und Netzebruch in fruchtbare Landschaften bewirkte Es ist schon erstaunlich, daß auch in der Zeit der Weimarer Republik die Leistung der Bevölkerung hinter den monarchischen Strukturen so versteckt bleibt. 3. Drittes Reich Wie bereits erwähnt, vergingen sechs Jahre der nationalsozialistischen Herrschaft, ehe neu konzipierte, systemangepaßte Bücher für den Geschichtsunterricht zur Verfügung standen. Als Überbrückung wurden seit 1938 in der gymnasialen Oberstufe die Hefte von Walther Gehl: „Deutsche Geschichte in Stichworten“ verwandt, ebenfalls eine nationalsozialistisch geprägte Publikation, die sich eher als Nachschlagewerk verstand und keinen darstellenden Text bietet. Wie aus einer Besprechung der Lodscher (!) Zeitung über die zu einem Buch zusammengebundenen Hefte hervorgeht, erhoffte man sich mit dieser Veröffentlichung auch Leser zu erreichen und zu beeinflussen, die ihr Geschichtsbild nicht während der Zeit des Dritten Reiches oder überhaupt nicht in Deutschland gewonnen hatten: „Es ist erstaunlich, wie es dem Verfasser gelang, unter Verwendung nationalsozialistischer Geschichtserkenntnisse, auf dem knappen Raum von nur 224 Seiten den gewaltigen und umfangreichen Stoff deutscher Geschichte zusammenzufassen. Wer in diesem Nachschlagebuch täglich auch nur fünf Minuten blättert, der frischt nicht nur seine geschichtlichen Schulkenntnisse auf, sondern wird darüber hinaus heimisch werden in dem Wissen über die Grundlinien deutschen geschichtlichen Werdens.“
Dieses „geschichtliche Werden“ des Deutschen Reiches bzw. das „Volkwerden der Deutschen“ (so der Titel eines mehrbändigen Oberschulgeschichtswerks) den Schülern nahezubringen, ist Ziel und Zweck der Bücher, die dann ab 1939 erschienen. Zugleich soll die politische Erziehung erfolgen: „Wir sind uns bewußt, daß die Bedeutung des Geschichtsunterrichts eine kaum zu überbietende Steigerung gegen früher erfahren hat, und daß ihm , ein wesentlicher Teil der Verantwortung für die rassische, politische und charakterliche Erziehung des deutschen Volkes* übertragen ist.“ Trotz der offenkundigen Lenkung durch die Partei entstand aber nicht etwa ein Einheits-Buch, sondern es gab — wie früher auch — konkurrierende Unterrichts-werke. Allen gemeinsam ist aber, daß das Vorbild von „Führergestalten“ die Jugend aufrufen soll, „ebenso zu werden und ebenso zu handeln wie sie“. Darum seien „die Persönlichkeiten und Ereignisse nicht als vergangene Größen, sondern als unmittelbar in der Gegenwart wirkend dargestellt worden“ Auch vor dem Dritten Reich war die starke Personalisierung ein Kennzeichen der Schulgeschichtsbücher gewesen, und manchmal hatte sie sich geradewegs zu einer Fixierung auf die Biographie des Herrschers gesteigert; aber sie war ideologisch nie ausdrücklich untermauert worden, wie es hier durch die Berufung auf das Führerprinzip geschieht. Auffällig ist auch, wie die Geschichte früherer Zeiten nun fast ausschließlich als Vorgeschichte des Nationalsozialismus interpretiert wird, der viel stärker als Krönung der deutschen Geschichte verstanden wird, als es mit der Reichsgründung von 1871 in den wilhelminischen Büchern geschah.
Neben aller nationalsozialistischen Idiomatik erscheinen aber auch Anklänge an andere Zielsetzungen des Geschichtsunterrichts: „Unser Geschichtsbuch will deshalb zu gesundem politischem Urteil und unbedingter Wahrhaftigkeit erziehen, zur Liebe zu unserem Volk und zur , Ehrfurcht vor der großen deutschen Vergangenheit, aber auch zur Achtung vor dem Lebensrecht der anderen Völker.“
Der Schulbuchtext entspricht dann aber nicht dieser Programmatik. Die Polen jedenfalls scheinen nicht zu den Völkern zu gehören, denen ein eigenes Lebensrecht zukommt. Im Lehrbuch für die 7. Klasse wird gesagt, Preußen, Rußland und Österreich hätten „dem Verfall des kranken polnischen Körpers nicht tatenlos zusehen“ können, „wollten sie nicht selbst in Mitleidenschaft gezogen werden ... So kam es im Jahre 1772 zur 1. Teilung Polens“ Und in dem dazugehörigen Band für die 4. Klasse heißt es: „Da griffFriedrich ein, undeinerAnregung Katharinas folgend, brachte er die erste polnische Teilung zustande. Das durch Parteiung und Bürgerkrieg zerrüttete Polen mußte sich fügen. "
In den Überschriften steht übrigens der Begriff „polnische Teilung“ oft nicht oder er ist nur nebenrangig. Statt dessen heißt es „Erwerbung Westpreußens“ (als Unterüberschrift in dem Kapitel „Der Eroberer im Frieden“) oder „Die Wiedergewinnung des Ostraumes (1. polnische Teilung)“ Möglichen Zweifeln an der Berechtigung der Teilung wird von vornherein vorgebeugt, indem einerseits immer wieder betont wird, es habe sich bei Westpreußen nicht um „altpolnischen Besitz“, sondern um „alten deutschen Kulturboden“ gehandelt, der nach „dreihundertjähriger Fremdherrschaft“ wieder zur deutschen Kultur zurückgekehrt sei Es finden sich Anklänge an die , Heim-ins-Reich Bewegung', wenn etwa formuliert wird: „Dergroße König aber holt altes deutsches Siedlungsgebiet, das Ordensland, wieder heim, dessen Deutschtum durch die Jahrhunderte polnischer Herrschaft nahezu verschüttet worden ist.“
Wie auch schon in den Büchern des Kaiserreichs und der Weimarer Republik wird sehr stark die deutsche Aufbauleistung in der neuen Provinz betont, „die glücklich war, zu Preußen gekommen zu sein“ Das kulturelle Überlegenheitsgefühl wird zur Legitimation, das Land in Besitz zu nehmen, wenn Friedrich der Große mit den Worten zitiert wird: „Es war nur gerecht, daß ein Land, das einen Kopernikus hervorgebracht hat, nicht länger in der Barbarei jeder Art versumpfte.“
Die Formulierungen sind zwar unterschiedlich, der Tenor ist in allen nationalsozialistischen Büchern jedoch gleich: An der polnischen Teilung zeige sich, wie ein starker Führer dem deutschen Volk den ihm zukommenden Lebensraum im Osten schaffe und dabei gleichzeitig eine große Kulturleistung vollbringe. Demgegenüber tritt die Urbarmachung der Bruchgebiete völlig in den Hintergrund, obwohl doch gerade sie eine Kulturleisturig darstellt. Sie wird zwar in allen Büchern positiv erwähnt, aber nicht in der Ausführlichkeit wie der Landesausbau in Westpreußen. Ein Buch allerdings bindet die Gewinnung von neuem Ackerland durch die Trokkenlegung der Sümpfe explizit in die nationalsozialistische Volkstumsideologie ein: „Protestantische Pfälzer, die nach Amerika auswandem wollten, wandten sich nach Brandenburg und blieben so der deutschen Heimat erhalten.“
Aber auch die einheitliche nationalsozialistische Geschichtsauffassung war immer noch abhängig von der aktuellen politischen Entwicklung, die durchaus einen Einfluß auf die Textgestaltung der Bücher und damit gleichzeitig auf die Darstellung und Interpretation der Geschichte hatte. Das wird im Mittelstufenband von „Volk und Führer“ für Klasse 4 deutlich. Die 1. (1939) und 2. Auflage (1941) sind identisch und stehen auf dem Boden des deutsch-sowjetischen Nichtangriffspaktes vom August 1939, in dem durch ein Geheimabkommen zugleich eine erneute Aufteilung Polens beschlossen wurde. Die 4. Auflage (1943) hingegen geht nicht mehr von einer gemeinsamen Interessenbasis aus, sondern zeugt von einer ganz deutlichen antirussi-sehen Wende, zweifellos die Folge der deutschen Kriegserklärung an die Sowjetunion im Juli 1941. Preußen und Rußland erscheinen nun auch nicht mehr als gleichberechtigte Partner. Indem aus möglichen Absichten eine klare Zielsetzung wird, verschärft das Buch die russischen Aggressionsgelüste und die davon ausgehenden Gefahren. Gleichzeitig wird eine deutliche preußische Überlegenheit konstruiert. 1939/1941:
„Während des Siebenjährigen Krieges hatten russische Truppen nach Gutdünken in Polen geschaltet. Sie hatten das Land nicht mehr verlassen; fast schien es, als wenn Polen eine russische Provinz werden sollte. Friedrich besorgte, daß die Russen ganz Polen für sich haben wollten. Das bedeutete eine starke Gefährdung des von polnischen Gebieten umgebenen Ostpreußen und eine große Gefahr für ganz Deutschland; deswegen schlug er Teilung vor. Ruß-land erhielt den größten Anteil, Weißrußland im Osten; Österreich nahm Galizien, und Preußen bekam Westpreußen ohne Danzig und Thorn (1772).“ (S. 93) 1943:
„Während des Siebenjährigen Krieges schalteten die Russen nach Gutdünken in Polen, als wenn es schon eine Provinz ihres Riesenreiches wäre. Sie wollten das Land nicht mehr verlassen. Das bedeutete tödliche Gefahr für Ostpreußen und selbst für ganz Deutschland. Deshalb trat Friedrich den Russen entgegen. Er schlug eine Neuordnung vor, und Ruß-land fügte sich. Polen wurde auf seine älteren Gebiete beschränkt und gab die Herrschaft über die fremden Völker auf. Rußland erhielt Weißruthenien, Österreich nahm Galizien mit Lemberg, und Preußen bekam Westpreußen ohne Danzig und Thorn (1772).“ (S. 96)
Interessant ist, daß die Auflage von 1943 nicht nur machtpolitisch, sondern auch rechtspolitisch argumentiert. In den Auflagen von 1939 und 1941 steht noch als Resümee: „. . . Westpreußen, das der Deutsche Orden an Polen verloren hatte, dessen Bewohner und Kultur immer deutsch geblieben waren, stand wieder unter deutscher Oberhoheit. So hatte Friedrich dem Deutschtum einen großen Dienst geleistet und zugleich seinem Staat eine breite Land-brücke nach Ostpreußen gewonnen und sich dem Vordringen Rußlands nach Westen entgegengestellt.“ (S. 93)
Die Auflage von 1943 ist demgegenüber nicht nur sehr viel ausführlicher, sondern sie bemüht sich, durch einen Rückgriff auf die Geschichte die preußischen Ansprüche des 18. Jahrhunderts zu belegen. Dabei gehen die Autoren recht differenziert vor, sprechen nicht einfach von Polen (wie in den Auflagen von 1939 und 1941), sondern unterscheiden zwischen dem polnischen König und dem polnischen Staat: „Ein altes Unrecht wurde endlich wieder gutgemacht. Der Deutsche Orden hatte nach unglücklichen Kämpfen in die Teilung Preußens willigen und 1466 im Frieden zu Thorn an den polnischen König, aber nicht an den polnischen Staat, Westpreußen abtreten müssen. Als dessen Nachkommen ausstarben, mußte Westpreußen wiederfrei werden. Aber aufdem Reichstag in Lublin (1569) hatten die Polen wider alles Recht Westpreußen ihrem Staat einverleibt, obwohlseine Bewohner undseine Kultur immer deutsch geblieben waren. Nun vereinigte Friedrich der Große Preußen wieder und stellte es ganz unter deutsche Oberhoheit. Er bewahrte das Deutschtum in diesen Gebieten voreiner ungeheuren Gefahr und nahm es in den Schutz eines starken Staates. Er leistete dem Deutschtum damit einen großen Dienst, er gewann zugleich eine breite Land-brücke nach Ostpreußen und hemmte das Vordringen Rußlands nach dem Westen und in das Herz Europas.“ (S. 96f.)
Hier wird deutlich, wie nicht nur Politik mit Geschichte begründet wird, sondern wie Geschichte mit Geschichte gemacht wird. 4. DDR In der DDR gibt es keine konkurrierenden Schulbuchverlage, und da das Schulwesen eingliedrig ist, gibt es auch keine unterschiedlichen Bücher für ein und dieselbe Altersstufe. Statt der bisher vorgefundenen Vielfalt, die wir ja auch aus dem bundesrepublikanischen Schulwesen kennen, haben wir es in der DDR nur mit einem Unterrichtswerk zu tun, das im volkseigenen Verlag „Volk und Wissen“ erscheint. Trotzdem ist ein Buchvergleich nicht nur möglich, sondern sogar angebracht. Denn im Laufe der Zeit wurden nicht nur Neuauflagen mit manchmal geringfügigen Änderungen herausgebracht; vielmehr erschienen nach jeweils einigen Jahren völlig neue Bücher, die dann auch sofort an allen Schulen der DDR Verwendung fanden.
Da das gesamte Unterrichtswesen in der DDR streng unter der Aufsicht des Staates steht, kann man davon ausgehen, daß in den staatlich verord49 neten Schulbüchern auch jeweils die offizielle Geschichtsauffassung Ausdruck findet. Daher kann von Änderungen im Schulbuch unmittelbar rückgeschlossen werden auf Änderungen des vorherrschenden oder besser: des erwünschten Geschichtsbildes. Die Vorgaben dazu kommen von der Partei, wie es ja auch zur Zeit des Nationalsozialismus war, und werden in den Lehrplänen niedergelegt, an die die Autoren sich äußerst genau halten müssen So bietet sich für sie keine Möglichkeit einer individuellen Ausgestaltung. Und auch für den Lehrer ist der Spielraum sehr eng. Für jede Klassenstufe gibt es nur ein Buch, welches das genau vorgeschriebene Pensum enthält. Wie aus den methodischen Hinweisen für die Hand des Lehrers, den „Unterrichtshilfen“, hervorgeht, sind sogar die einzelnen Stundeneinheiten vorgegeben; auch sie haben sich eng an dem Schulbuchtext zu orientieren. Daher dürfte der Regelfall so aussehen, daß die Geschichtsstunden dem Buch Abschnitt für Abschnitt folgen, die Schüler den Text durcharbeiten und die sich z. T. daran anschließenden Arbeitsaufgaben lösen
Indem der Geschichtsunterricht so stark vereinheitlicht wird, fast möchte man sagen: genormt, ist die Ausgangsbasis für die Wirksamkeit von Büchern äußerst günstig. Trotzdem bleibt die Frage, ob es mit Hilfe der Schulbücher wirklich gelingt, der DDR-Jugend genau das Geschichtsbild einzupflanzen, das die Partei vertritt und bei allen Staatsbürgern erzeugen möchte. Zweifel sind da durchaus angebracht, zumindest wenn das Geschichtsinteresse als Maßstab gewählt wird. Untersuchungen haben ergeben, daß Fernsehen und Rundfunk bei der Bevölkerung in der DDR, besonders bei Erwachsenen, aber auch bei Jugendlichen, erheblich mehr Gewicht haben als Studium und Schule Und es liegen ebenfalls Aussagen darüber vor, daß auch in der DDR die Weltanschauung von Schülern mehr durch das Elternhaus geprägt wird als durch die Schule
Wie Peter Meyers ausführlich dargelegt hat, hat im Laufe der DDR-Geschichte die offizielle, von der Partei gutgeheißene, wenn nicht sogar initiierte Interpretation der Vergangenheit einen Wandel erfahren, was nicht ohne Folgen für die Schulgeschichtsbücher geblieben ist An der grundsätzlich „antikapitalistisch“ ausgerichteten Sicht hat sich natürlich nichts geändert, und deutlich wird auch, daß der stets betonte Vorbildcharakter der Sowjetunion für die DDR bis zu einem gewissen Grade ebenfalls auf das vorrevolutionäre Rußland übertragen wird. Sehr deutlich wird das bei der Einschätzung der russischen Rolle bei der 1. polnischen Teilung. Der Plan dazu geht demnach ausschließlich von Preußen aus. Nun hatten auch die wilhelminischen und die nationalsozialistischen Bücher zum Teil die Initiative Friedrichs des Großen überbetont; aber das geschah, weil der Erwerb Westpreußens eindeutig positiv gesehen wurde und der Erfolg Friedrichs um so strahlender herausgestellt werden konnte. Indem die DDR-Bücher die polnische Teilung als in jeder Hinsicht verabscheuungswürdig betrachten, gereicht sein Vorgehen Friedrich nicht nur nicht zur Ehre, sondern erhöht seine Schuld als Unterdrücker des Volkes und als Gallionsfigur des Militarismus.
Vier unterschiedliche Schulbuchausgaben liegen hier der Betrachtung zugrunde, in Auflagen aus den Jahren 1952, 1967, 1969/1982 und 1986 Bis auf die letzte Ausgabe werden die Teilungen Polens zusammen mit den beiden Schlesischen Kriegen und dem Siebenjährigen Krieg in einem gemeinsamen Kapitel behandelt unter der Überschrift: „Die Eroberungspolitik Friedrichs II.“ (1952); „Friedrich II. vergrößerte Preußen durch Eroberungskriege“ (1967); „Die Eroberungskriege Friedrichs II.“ (1969— 1982). Und auch der Text erweckt den Eindruck einer kriegerischen Auseinandersetzung, wenn es in der Äusgabe von 1968 heißt: „Schon kurze Zeit nach dem Ende des Siebenjährigen Krieges bereitete Preußen einen Raubkrieg gegen Polen vor.“ Die Ausgabe von 1967 hatte diesen Vorgang sogar personalisiert, indem sie von einem Raubkrieg gegen „die Polen“ spricht Damit interpretiert sie die absolutistische Machtpolitik, die nicht die Bevölkerung oder das Volk, sondern allein das Territorium im Blick hatte, unter national-staatlichen Kategorien des 19. Jahrhunderts. Erst die Neuausgabe aus der Mitte der achtziger Jahre verzichtet auf die Assoziation von polnischer Teilung und Krieg, und es ist in diesem Zusammenhang interessant, daß auch die Schlesischen Kriege und der Siebenjährige Krieg unter die unmartialische Überschrift gestellt werden „Der preußische Staat wird zur europäischen Großmacht“
Die Darstellung der polnischen Teilung verzichtet in dieser jüngsten Schulbuchausgabe dann auch auf die Behauptung, Friedrich habe einen Raubkrieg vorbereitet, sondern schreibt statt dessen: „Friedrich II. spielte schon lange mit dem Gedanken, seine Gebiete , abzurunden‘. Er hatte keine Skrupel, die Aufteilung Polens zu fordern und zu betreiben. "
Eine Abschwächung der Negativdarstellung ist auch an anderer Stelle zu beobachten. Hatte es in der 2. Auflage der Ausgabe von 1968 noch geheißen: „In den neu erworbenen Gebieten wurde die polnische Bevölkerung der Ausplünderung durch den preußischen Staatsapparat unterworfen. Preußische Junker eigneten sich die Güterpolnischer Adliger an. Lehrer, die der deutschen Sprache nicht mächtig waren, ließ Friedrich II. sofort vertreiben. 1793 und 1795fanden weitere Teilungen Polens zwischen den Großmächten statt“ so wird in der 15. Auflage der vorletzte Satz weggelassen. Die Neuausgabe von 1985 hingegen hat in ihrer 2. Auflage folgende Fassung: „Die polnische Bevölkerung wurde drangsaliert. Preußische Junker konnten sich die Güterflüchtigerpolnischer Adliger aneighen. In den Jahren 1793 und 1795fanden weitere Teilungen Polens zwischen Preußen, Rußland und Österreich statt. Die nationalen Interessen des polnischen Volkes wurden von den Teilungsmächten mit Füßen getreten.“
Diese Aufgabe der extremen antipreußischen und antifriderizianischen Position erfolgte zu der Zeit, als auch das Reiterstandbild Friedrichs des Großen von Christian Rauch wieder Unter den Linden aufgestellt wurde!
Noch etwas ist bemerkenswert bei der chronologischen Betrachtung der DDR-Schulgeschichtsbücher in bezug auf die polnische Teilung: der Gegenwartsbezug und dabei besonders die Haltung gegenüber der Volksrepublik Polen. In der Ausgabe von 1952 fehlt er noch; der Band aus dem Jahre 1967 beschränkt sich auf eine Parallele vom Preußen des 18. Jahrhunderts zur Bundesrepublik: „So gibt es in Westdeutschland schon wieder Militaristen, die andere Länder und Völker erobern und unterdrücken wollen. Finde Beispiele für die Bestrebungen in Westdeutschland und vergleiche sie mit den einzelnen Punkten des preußischen Militarismus!"
Die Ausgabe von 1968 zieht dann überdeutlich die „Moral aus der Geschieht’“: „Die Knechtung Polens, an der der preußisch-junkerliche Militarismus führend beteiligt war, hemmte nicht nur die nationale Entwicklung unseres östlichen Nachbarvolkes, sondern wirkte sich auch negativ auf die weitere Geschichte unserer eigenen Nation aus. Daher traten die fortschrittlichen Deutschen, wenn sie gegen den preußischen Militarismus kämpften, immer auch für die Wiederherstellung der nationalen Unabhängigkeit Polens ein. Hier liegt auch eine der Wurzeln der festen Freundschaft, die die Deutsche Demokratische Republik seit ihrem Bestehen mit der Volksrepublik Polen verbindet.“
Auch die „Unterrichtshilfen“ betonen diesen Gegenwartsbezug ganz besonders: „Aktualisierung: Hatten die beiden Nachbarvölker ein Interesse an Feindseligkeiten? Wie sind die Beziehungen zwischen Polen und der DDR heute? Warum sind heute freundschaftliche Beziehungen möglich, ja selbstverständlich? (In der DDR gibt es die Kräfte, die an Raub und Unterdrückung ein Interesse hatten, nicht mehr. Ebenso haben sich die gesellschaftlichen Verhältnisse in Polen geändert.)“
In der Neuausgabe des Lehrbuchs aus dem Jahr 1985 (2. Auflage 1986) fehlt sowohl der Seitenhieb gegen die Bundesrepublik wie auch die Freundschaftsbezeugung gegenüber der Volksrepublik Polen. Es liegt nahe, auch hier an aktuelle politische Begründungen zu denken.
An diesen ausgesprochenen Gegenwartsbezügen kommt einmal explizit zum Ausdruck, was sonst meist nur implizit in den Geschichtsschulbüchern (und hier sind Bücher aus allen Epochen gemeint) enthalten ist, und zwar mal mehr, mal weniger: nämlich der Versuch, mit Schulbuchtexten zu geschichtlichen Vorgängen nicht nur historische, sondern auch gegenwartsbezogene und systemimmanente politische Bildung zu erzielen. Alles was nicht in diesen Rahmen paßt, wird bestenfalls weggelassen, wie etwa die Meliorationen im Oder-, Wartheund Netzebruch zur Regierungszeit Friedrichs II. (wie er in den DDR-Büchern stets genannt wird). Nur das jüngste Buch — und auch das paßt wieder in den Rahmen — bringt wenigstens einen knappen Hinweis: „Um mehrArbeitskräfte zu haben, holte er (Friedrich, I. H.) Böhmen und Pfälzer, Polen und Sachsen, Württemberger, Schweizer und Mecklenburger ins Land. Sie wurden vor allem in Gebieten angesiedelt, die durch Entwässerung fruchtbares Land ergaben, wie beispielsweise im Oderbruch. Neue Kanäle und Straßen begünstigten den Verkehr.“ 54)
III.
Aus Platzmangel ist es an dieser Stelle nicht möglich, auch Bücher der Bundesrepublik Deutschland vorzustellen Aber sie sind ja auch erheblich leichter zugänglich als Schulbücher aus der Zeit des Kaiserreichs, der Weimarer Republik, des Dritten Reichs und aus der DDR. So muß und kann es dem interessierten Leser überlassen bleiben, sie kritisch zu betrachten. Dabei dürfte es reizvoll sein, u. a.den Fragen nachzugehen:
— Ob der Wandel in der Ostpolitik seit dem Ende der sechziger Jahre eine Änderung in der Darstellung der polnischen Teilung hervorgerufen hat, ob also die aktuelle Politik in der Bundesrepublik Deutschland Auswirkungen auf die Darstellung historischer Vorgänge hatte. In diesem Zusammenhang wären auch noch die deutsch-polnischen Schulbuchempfehlungen zu berücksichtigen, die — auf deutscher Seite — im Georg-Eckert-Institut erarbeitet worden sind.
— Welchen Niederschlag in den Geschichtsschulbüchem die seit den siebziger Jahren erfolgte Hin-wendung zu einem emanzipatorisch verstandenen Unterricht gefunden hat, der stärker auf Kritikfähigkeit und selbständiges Urteilsvermögen bei der Ausbildung des Geschichtsverständnisses abzielt als auf die Aneignung von historischem Tatsachen-wissen. Hier wäre besonders zu prüfen, ob und inwieweit die Bücher Arbeitsmaterialien anbieten und Denkanstöße geben und ob sie methodische Hilfestellungen bei der selbständigen Lösung von Aufgaben leisten, die auf das Urteilsvermögen hinzielen. — Wie weit das reichhaltige Quellenangebot — sowohl Text-wie Bildquellen — in den heutigen Büchem den rein darstellenden Text nicht nur ergänzt, sondern neue Arbeitsmotivationen und Einsichten schafft und die methodischen Fähigkeiten der Schüler zur Analyse historischer Sachverhalte fördert.
— Ob die farbige Gestaltung, besonders die reiche Ausstattung mit Bildern in qualitativ hochwertigem Vierfarbendruck, die Freude an der Beschäftigung mit der Geschichte erhöht, den Lerneffekt vergrößert und die Bücher so attraktiv macht, daß sie dem heutigen Überangebot von Medien standhalten können und ihr Inhalt haften bleibt.
Der Blick auf die Schulbücher hat gezeigt, daß sie durchaus zeitgebunden sind und sowohl ihr Inhalt wie ihre Zielsetzung von den jeweils vorherrschenden politischen Strömungen abhängen. Das kann bis zum Versuch der Indoktrination führen, wie an Beispielen aus Büchem des Nationalsozialismus und der DDR deutlich wurde. Aber auch bei anderen Büchem war erkennbar, wie eng die Grenzen zwischen einseitiger Interpretation und Beeinflussung sind. Wer so überspitzte, aber darum gerade besonders einprägsame Formulierungen wie „vertierter Bauernstand“ im Schulbuch liest und unter Umständen als Lernstoff rekapituliert, dem können sich leicht mit dem Begriff auch Vorstellungen einschleichen, die ein guter Nährboden sind für völkische oder rassische Vorurteile. Bis zur Verachtung oder — im Extremfall — sogar Vernichtung von „Untermenschen“ ist es dann nicht mehr weit, obwohl dieser Schritt keineswegs mit Notwendigkeit erfolgen muß.
Einzelne Ansichten machen noch niemanden zum blinden Anhänger eines Systems, aber gerade das unterschwellige Vorhandensein von gewissen Denkstrukturen und Vorstellungen vergrößert die Gefahr des unkritischen Gewährenlassens, das, was man in der Phase der Entnazifizierung als „Mitläufertum“ bezeichnet hat. Selbst wenn die Autoren von Schulbüchern oder das System, das hinter ihnen steht, ihre Interpretation der Vergangenheit den Schülern nie völlig werden aufpfropfen können, so werden sie es doch bis zu einem gewissen Grade tun. Ihnen kommt dabei entgegen, daß ihre Adressaten wegen mangelnder Kenntnisse, Erfahrungen und Reife noch nicht über das notwendige kritische Urteilsvermögen verfügen.
Durch die Schulbücher allein wird es sicherlich nicht gelingen, Schülern und damit auch späteren Erwachsenen ein bestimmtes Geschichtsbild einzupflanzen; bei diesem Prozeß spielen viel zu viele andere Faktoren mit. Aber einer dieser Faktoren ist eben auch das Schulbuch. Schulbuchforschung und Schulbuchkritik müssen daher betrieben werden; aber dieser Weg ist kein Allheilmittel bei dem Bestreben, der Jugend ein verantwortbares Geschichtsbild zu vermitteln.