Parteiensystem, Sozialstruktur und Parlament 'in Großbritannien Wandlungen des „Westminster Modells“
Herbert Döring
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Zusammenfassung
Nach den jüngsten britischen Wahlen sind wiederum nur zwei Parteien für Regierung und Opposition relevant. Doch im Gegensatz zu den fünfziger und sechziger Jahren, als das Parteienduopol noch fest im Elektorat verankert war, steht heute dem Zweiparteiensystem im Unterhaus ein Dreiparteiensystem im Lande gegenüber. Neben der Erosion der Wähler-und Mitgliederbasis der beiden Kontrahenten des etablierten Parteiendualismus ist eine Schwächung — jedoch keine Preisgabe — emotionaler Parteibindungen zu beobachten. Als hauptsächliche Ursache der Parteienverdrossenheit — ohne Ablehnung alternierender Mehrheitsherrschaft durch eine Partei — lassen sich die traumatischen Erfahrungen der „englischen Krankheit“ identifizieren. Abweichend von anderen Demokratien ist die Abschwächung der früher außergewöhnlich hohen Parteibindungen nicht auf „Jungakademiker“ einer Generation beschränkt; sie geht quer durch alle Schichten, Altersgruppen und Bildungsgrade. Nicht nur durch den Wandel der Berufsstruktur, sondern auch infolge einer stärker instrumentellen Politikorientierung der Bürger ist das traditionelle „dass voting“ relativiert worden. Hinter diesem Symptom verbergen sich jedoch mehrere voneinander unabhängige Trends. Das subjektive Klassenbewußtsein ist nicht gesunken. Vermutlich analog zu einem stärker instrumenteilen Politikverständnis „kognitiv mobilisierter“ Bürger zeichnet sich auch ein Bewußtseinswandel ihrer Repräsentanten im Parlament ab. Ein wachsender Anteil von „Vollzeit-Abgeordneten“, die Politik nicht mehr vorwiegend als Nebentätigkeit in einem „Redeparlament“ betreiben, hat sich in einem neuen System ressortbezogener Aufsichtsausschüsse seit 1979 ein bleibendes Arbeitsinstrument geschaffen. Die dokumentierten Trends lockern die „geschlossene Einheit“ des „Westminster Modells“ auf. Damit wird der bisherige Sonderfall der internationalen Verfassungslandkarte den übrigen Systemen ähnlicher, ohne seine strukturdominanten Merkmale zu verlieren.
L Einleitung
Mit der jüngsten Unterhauswahl vom 11. Juni 1987 wurde noch einmal — einschneidender als bereits 1983 — der Versuch der sozialdemokratisch-liberalen Allianz zunichte gemacht, das traditionsreiche Zweiparteiensystem — den „mould" des Parteienduopols — zu zerbrechen. Da nach dem „winnertakes-all“ -Prinzip des relativen Mehrheitswahlrechts nach der Art eines sportlichen Wettkampfs in jedem Wahlkreis nur ein Abgeordneter gewählt wird und die auf alle unterlegenen Gegenkandidaten entfallenden Stimmen bei der Zusammensetzung des Unterhauses unberücksichtigt bleiben, erzielte die Allianz (ungeachtet ihres nationalen Stimmenanteils von 22, 6 Prozent) nur 22 der 650 Sitze. Die 17 Liberalen und 5 Sozialdemokraten, die nach einem Verdikt eines Leitartiklers nicht den „mould“ der britischen Politik, sondern den ihrer politischen Karrieren zerbrochen haben dürften, sind nach den traditionsreichen „rules of the game“ für Regierungsbildung und Gesetzgebung irrelevant.
Wohlverschanzt hinter dem Schutzwall des relativen Mehrheitswahlrechts sitzen sich auf den Bänken von Westminster — in einer sportlich-gegnerischen („adversary") Sitzordnung zur Redeschlacht bereit — wiederum nur zwei für Regierung und Opposition relevante Parteien gegenüber (Labour 229 Sitze, 30, 8 Prozent der Stimmen; die regierenden Konservativen 375 Sitze, 42, 3 Prozent der Stimmen). Wieder einmal zeigt damit das parlamentarische Regierungssystem nach dem erneuten Triumph Margaret Thatchers, die — ein einmaliges Ereignis in diesem Jahrhundert — ein drittes Mal Premierministerin wurde, jene „wunderbare äußere Beständigkeit“ („a wonderful superficial permanence"), durch die es sich seit Jahrhunderten ausgezeichnet hat: Es ist — in den Worten Sidney Lows — „stets dieselbe Maschine oder wenigstens eine Maschine, die so bemalt ist, daß sie wie dieselbe aussieht“ — („There is the same machine, or at least a machine which is painted to look the same. But its balance and adjustment have been varied, and its Operation is quite differ Prozent der Stimmen). Wieder einmal zeigt damit das parlamentarische Regierungssystem nach dem erneuten Triumph Margaret Thatchers, die — ein einmaliges Ereignis in diesem Jahrhundert — ein drittes Mal Premierministerin wurde, jene „wunderbare äußere Beständigkeit“ („a wonderful superficial permanence"), durch die es sich seit Jahrhunderten ausgezeichnet hat: Es ist — in den Worten Sidney Lows — „stets dieselbe Maschine oder wenigstens eine Maschine, die so bemalt ist, daß sie wie dieselbe aussieht“ — („There is the same machine, or at least a machine which is painted to look the same. But its balance and adjustment have been varied, and its Operation is quite different, and needs different handling") 1).
Unter dem stets gleichen rituellen Mantel von Westminster und Whitehall haben sich in den letzten beiden Jahrzehnten in Parteiensystem und Sozialstruktur sowie im institutioneilen Gefüge neue Entwicklungen vollzogen. Sie stellen neue (oder doch zumindest eine neue Brisanz gewinnende) Herausforderungen an die gewohnte Funktionsweise des parlamentarischen Systems dar 2). Unter der Annahme, daß sie durch die jüngste Unterhauswahl wohl verdeckt worden, aber nicht verschwunden sind, gibt der vorliegende Beitrag eine Bestandsaufnahme, die 1970 einsetzt. Dabei dienen die Funktionserwartungen als Fokus, die dem „Westminster Modell“ parlamentarischer Demokratie von der vergleichenden Regierungslehre zugeschrieben worden sind. Diese Bezeichnung beschreibt ja nicht nur die altehrwürdigen Institutionen in Westminster und Whitehall. Als ein regulatives Sinnschema, in welchem „das parlamentarische Regierungssystem, der Einheitsstaat und das Redeparlament eine geschlossene Einheit“ bilden (Steffani), bezeichnet der Begriff „Westminster Modell“ auch ein funktionales Ordnungsmodell der Verknüpfung von Wählerwillen und Regierungshandeln 3).
II. Ein Zweiparteiensystem im Unterhaus — ein Dreiparteiensystem im Lande
Ein durch das „mehrheitsbildende“ Wahlrecht systematisch geförderter — aber auch in der Struktur der sozio-politischen Konflikte (cleavages) verankerter — Parteiendualismus soll dem Wähler direkt (ohne Koalitionsverhandlungen der Parteien hinter verschlossenen Türen) die Auswahl und Abberufung einer starken Regierung erlauben. Politisch vom Volkssouverän ausgewählt und sodann von der Krone ernannt, erhält das mit der Vorderbank der Mehrheitsfraktion zur Funktionseinheit verschmolzene Kabinett dank der Doktrin der Souveränität des Parlaments, die neben der Rule of Law als oberster Grundsatz der „unkodifizierten“ Verfassung gilt, faktisch ein Legislativmonopol. Ohne Beschränkung durch eine zweite Kammer, Föderalismus oder Verfassungsgerichtsbarkeit darf sie mit den Stimmen ihrer einfachen Mehrheit jedes, auch das verfassungsändernde Gesetz verabschieden und solche früherer Parlamente aufheben.
Abgesehen von ihrem eigenen Augenmaß und den informellen Verhaltensregeln der politischen Kultur, soll die Kontrolle der Exekutive nicht durch die in den meisten übrigen Verfassungsstaaten üblichen „checks and balances", sondern allein durch die demokratische Logik der Abwahl, das „turning the rascals out“, gewährleistet werden. Die Grundmaxime, daß Wahlen dazu da seien, einen Machtwechsel herbeizuführen, ist nicht nur in der angelsächsischen Leitidee der befristeten, widerrufbaren „Auftragsautorität“ (trust) im Sinne eines responsible government (Mandt) verankert Sie ist im berühmten „swing of the pendulum" (Jennings/Ritter) auch ein empirisches Faktum: Eine statistische Studie des Zusammenhangs zwischen Wahlausgang und Regierungsbildung in 18 Demokratien im Zeitraum zwischen 1948 und 1979 ergab, daß in den anglo-amerikanischen Demokratien Regierungen als Regelfall bei Stimmeneinbußen stürzten, während in den übrigen demokratischen Systemen der Welt in einem solchen Falle oft nur Kabinette nach Stimmenverlusten der sie tragenden Parteien umgebildet wurden Doch ist diese Logik in Großbritannien durch die Abwanderung enttäuschter Wähler vom Parteienduopol und die Bildung eines Dreiparteiensystems in England (und sogar eines Vierparteiensystems in Schottland und Wales) suspendiert worden.
Angesichts eines Dreiparteiensystems im Lande und einer gespaltenen Opposition hat die Regierung Thatcher in der vorletzten Unterhauswahl 1983 trotz einem um 2, 5 Prozent rückläufigen Stimmenanteil (von 43, 9 auf 42, 4 Prozent der gültigen Stimmen, siehe Tabelle 1) einen erdrutschartigen Zugewinn von 58 Mandaten erzielt. Auch in der Wahl vom 11. Juni 1987, in der die Parteistärken nur geringfügig verändert wurden (leichte Zuge-winne von Labour auf Kosten der Allianz), ist wiederum ein Zweiparteiensystem im Unterhaus, aber ein Dreiparteiensystem im Lande bestätigt worden: „The mould is not broken, but neither is it intact“ (Pulzer) Ist dieses Argument nicht trügerisch? Handelt es sich bei den Stimmen für die Allianz wirklich um eine Wählerpartei? Stellen ihre Wähler nicht nur ein flüchtiges Proteststimmenbarometer dar? Um die Frage zu beantworten, ob wirklich von einem Dreiparteiensystem außerhalb des Unterhauses gesprochen werden darf, sind die von der Politikwissenschaft verwendeten Indikatoren zu prüfen. 1. Sinkender Stimmenanteil des Parteienduopols Tabelle 2 gibt den Konzentrationsgrad des Parteienduopols in Prozent der gültigen Stimmen an. Der Trend ist eindeutig: Wählerunterstützung für das Parteienduopol ist stetig und nicht etwa nur in zufallsbedingten Sprüngen erodiert. Da das Wahlrecht nicht geändert worden ist, müssen die für dritte Parteien abgegebenen Stimmen nach wie vor als verloren gelten. Trotzdem hat sich, beginnend mit der Unterhauswahl von 1959 und seitdem von nur geringfügigen Erholungen unterbrochen, eine stetige Erosion des kombinierten Stimmenanteils des Parteienduopols ergeben. Gewiß ist die Labour Party — wie die Zahlen in Tabelle 1 zeigen — von dieser Abwanderung viel stärker betroffen worden als die Konservativen. Aber auch diese verloren bis 1974 parallel zu Labour Stimmen; und sie haben sich erst in den letzten drei Unterhauswahlen wieder erholt. 2. Steigende Anzahl von Kandidaten pro Wahlkreis Ebenfalls gibt Tabelle 2 die durchschnittliche Anzahl von Kandidaten pro Wahlkreis wieder — allerdings bereinigt um die sogenannten „lost deposits“ und trägt dem Vorschlag von Sturm im Anschluß an Nohlen und Schultze Rechnung, bei der Klassifikation eines Parteiensystems nicht nur die für Regierung und Opposition relevanten Parlamentssitze zu berücksichtigen, sondern nur dann von einem Zweiparteiensystem zu sprechen, wenn auch außerhalb des Parlaments der Stimmenanteil der beiden stärksten Parteien bei rund 90 Prozent oder darüber liegt und sich durchschnittlich weniger als drei Kandidaten pro Wahlkreis bewerben.
Die von Sturm verwendete Grafik aus dem „Economist“ (Kandidaten von 1900— 1979) hat allerdings einen Nachteil Sie enthält auch jene bunten Kandidaten, die keiner Partei angehören. Im englischen System können Kandidaten auch ohne offizielle Nominierung durch eine Partei mit den Unterschriften von zehn ortsansässigen Bürgern aufgestellt werden. Sie haben eine Kaution von 150 englischen Pfund (1987 erhöht auf 500 englische Pfund) zu zahlen. Erreichen sie weniger als ein Achtel der gültigen Stimmen, ist dieses „deposit“ verwirkt. Es empfiehlt sich, die Zahl der Kandidaten (ob von bunten Gruppen oder auch von Zwerg-parteien aufgestellt) um diese „lost deposits“ zu bereinigen. Sonst gelangt man mit Sturm bereits für die Unterhauswahl von 1950 zu einer Kandidaten-zahl von drei. Tatsächlich aber war damals das Zweiparteiensystem kein „Mythos“, sondern das Duopol mit 90 Prozent der Stimmen (Tabelle 1) noch fest im Elektorat verankert. Auch die durch-schnittliche Zahl der Bewerber, die nicht ihr „deposit“ verwirkten, lag damals noch weit unter der für kritisch gehaltenen Grenze von drei. Erst mit der Unterhauswahl von 1974 näherte er sich dieser Schwelle. So wirkt das Zweiparteiensystem in bezug auf die Zahl der „ernsthaften“ Kandidaten pro Wahlkreis, die mehr als einen „fringe" repräsentieren, wie eine belagerte Bastion. 3. Abschwächung hoher „Parteiidentifikation“
Parallel zum „harten“ Indikator des tatsächlichen Stimmenanteils von Konservativen und Labour haben sich auch die durch die „weichen“ Sonden der Surveyforschung gemessenen emotionalen Parteibindungen abgeschwächt (Tabelle 2). Das analytische Konstrukt der sogenannten „Parteiidentifikation“ kann trotz einiger dagegen vorgebrachter Bedenken dann als Indikator der Veränderungen emotionaler Parteibindungen im Zeitverlauf akzeptiert werden, wenn die Frageformulierungen (so wie in den britischen Wahlstudien zwischen 1964 und 1987) in allen Surveys stets gleich geblieben sind
Der Anteil der mit dem Parteienduopol identifizierten Bürger ist zwischen 1964 und 1987 von 81 auf 71 Prozent gesunken. Damit liegt die affektive Parteibindung immer noch über dem Anteil der Wahlberechtigten, der tatsächlich in den siebziger und achtziger Jahren für das Zweiparteiensystem stimmte. Bezogen auf die Wahlberechtigten (die mit den Samples der Surveys vergleichbare Bezugs-größe), stimmte 1983 (51 Prozent) wie 1987 (56 Prozent) praktisch nur noch jeder zweite Bewohner Großbritanniens für das Zweiparteiensystem; die andere Hälfte blieb den Wahlurnen fern oder wählte dritte Parteien außerhalb des Systems. Crewe zufolge ist die breite affektive Bindung, die noch immer über dem kombinierten Stimmenanteil des Parteienduopols liegt, „testimony to the glacially slow rate at which a major party in Britain is finally abandoned by the electorate", und er vergleicht das schrumpfende Zweiparteiensystem mit langsam schmelzenden Eisbergen
Doch hat sich die Intensität dieser nach wie vor breiten Parteibindung im Zeitraum zwischen 1964 und 1987 deutlich abgeschwächt, insofern die Kategorie „very strong“ sich bis 1979 fast halbiert, die Kategorie „not very strong“ dagegen verdoppelt hat. Doch ist auch die Intensität der affektiven Parteibindungen im letzten Jahrzehnt nicht nur in Großbritannien (wie aus Tabelle 2 ersichtlich), sondern auch in Westeuropa und den USA wieder angestiegen So wäre es verfrüht, ein Ende des Parteienstaates britischer Prägung zu prognostizieren.
Gegenläufig zum Trend der Etablierten hat sich über die letzten beiden Jahrzehnte hinweg auch eine leicht (von 12 auf 18 Prozent) angestiegene Identifikation mit „anderen“ Parteien entwickelt. 1983 lag der Anteil der mit der Allianz identifizierten Befragten im BBC/Gallup Survey bei 16 Prozent. In anderen Systemen würde dies ausreichen, um eine kleinere Partei dauerhaft zu etablieren. Das Dilemma der britischen Liberalen ist, daß sie zusätzlich zu dem mit ihnen identifizierten Wähler-potential auf frei fluktuierende Proteststimmen rechnen müssen, um eine angemessene parlamentarische Repräsentanz zu erhalten. So kann man die auf die Allianz entfallenden Stimmen nicht „nur“ als Proteststimmen werten, obgleich sie auch um solche wirbt.
In Großbritannien ist — abweichend von den meisten übrigen Demokratien — die Abschwächung der Parteiidentifikation nicht überproportional unter der jüngeren Generation der besser gebildeten Bürger verbreitet. Sie geht vielmehr als traumatischer „Periodeneffekt“ gleichmäßig durch die gesamte Bevölkerung. Zwar konnte man anhand der veröffentlichten Studien bis einschließlich der Unterhauswahl von 1974 annehmen, daß die Partei-bindung besonders rasch und tief unter „Jungakademikern“ gesunken sei. Aber die Fortführung dieser Analysen durch Barton/Döring bis einschließlich der Unterhauswahl von 1983 zeigte: Alle Bildungsgrade haben sich in der abgeschwächten Intensität ihrer emotionalen Bindungen angeglichen
Höchstwahrscheinlich geht die sinkende Intensität der Parteiidentifikation auf die traumatischen Erfahrungen der wirtschaftlichen Wachstumskrise, der „englischen Krankheit“ zurück. Bis zu Beginn der sechziger Jahre war mit wirtschaftlichem Niedergang Großbritanniens nur relativer, nicht absoluter Abstieg gemeint. Es war nur logisch, daß der einstige „Pionier der industriellen Revolution“ seine frühere Monopolstellung mit den aufholenden Konkurrenten der Nachzüglergesellschaften teilte. Die britische Wirtschaft wuchs, aber sie wuchs langsamer als der Durchschnitt aller vergleichbaren Konkurrenten Über das gestörte außenwirtschaftliche Gleichgewicht und die chronischen Währungskrisen, die erst mit der Förderung von Nordseeöl aufhörten, schlug das relative Zurückbleiben des Pioniers der industriellen Revolution in ein absolutes Sinken seines Lebensstandards um. Dahrendorf hat die Konsequenzen dieses Umbruchs so zusammengefaßt: „Rapid economic progress elsewhere does not make much difference to the political game in Britain; but once there is real decline, effecting individuals, the Emperor — Government — turns out to have no clothes, and fundamental questions of Support and legitimacy arise.“ (Rasches Wachstum außerhalb der britischen Inseln störte zunächst nicht den Parteien-wettbewerb in Großbritannien. Die realen Einbußen des Lebensstandards aber ließen die Regierung plötzlich wie den Kaiser ohne Kleider dastehen, wodurch Fragen des Einverständnisses mit dem „System“ aufgeworfen wurden.)
Was sind die Gründe für das geringe Industrie-wachstum? Die durchaus kontroversen Erklärungen sind vielfältig und auch unter Ökonomen umstritten Ob man sich zu einer der verbreiteten Patentantworten bekennt oder skeptisch gegenüber zumeist monokausalen Erklärungsversuchen bleibt, für ein Verständnis von Parteiensystem und Parlament ist das schlichte Faktum erheblich, daß wechselnde Regierungen aus Konservativen und Labour es über zwei Jahrzehnte hinweg mit vergleichbaren Rezepten nicht vermocht haben, das zur Erhaltung des Lebensstandards nötige Wirtschaftswachstum zu stimulieren.
Daß das in klarer Verantwortung vergleichbare Scheitern der Parteien die Hauptursache der Schwächung früher hoher Parteiidentifikation war, wird von Alt mit Hilfe der Analyse von Paneldaten zwischen den beiden Unterhauswahlen von 1970 und Februar und Oktober 1974 erhärtet. Beide Parteien hatten sich als unfähig erwiesen, ihre selbstgesteckten Ziele zu erreichen. Die Parteianhänger mußten sich — so Alt — davon überzeugen, daß die Gegenpartei versagt hatte, ohne daß sie ihrer eigenen Partei eine bessere Kompetenz attestieren konnten
Unter den traumatischen Erfahrungen Mitte der siebziger Jahre (Drei-Tage-Woche, Kursverlust der Währung, Ansteigen von Arbeitslosigkeit bei einem zeitweiligen Inflationsrekord von 26, 9 Prozent im August 1975, Zusammenbruch der öffentlichen Dienste im Streikwinter 1978/79) gaben Labour wie Konservative den Konsens des „Butskellismus" auf Daß nun nicht mehr überwiegend Verteilungsfragen, sondern ähnlich wie in den zwanziger Jahren Herrschaftsfragen im Vordergrund stehen, verwundert den Beobachter nicht: „After some fifty years’ quiescence, the nature of the Constitution has become a live political topic again“ (Kavanagh) 4. Sinkender Mitgliedertrend Politische Parteien sind auf Wähler-, Mitglieder-und Parlamentsebene verankert. Betrachtet man sie nicht nur als stimmenmaximierende „Offiziere ohne Soldaten“ beziehungsweise — im englischen Idiom — als Häuptlinge ohne Indianer (chiefs with----------------out Indians), sondern fragt auch nach ihrem Mitgliederstand, so wird das Bild ihrer sinkenden Bindekraft eindrucksvoll erhärtet.
Die Zahl der individuell eingeschriebenen Mitglieder der Labour Party (irreführend sind in diesem Zusammenhang die über die Mitgliedschaft in einer Gewerkschaft automatisch affilierten Millionen von Blockstimmen) sank — parallel zum Schrumpfen der Wählerbasis — von einem Nachkriegsrekord von 1, 015 Millionen im Jahre 1952 auf 277 000 (sic!) im Jahre 1981 und erholte sich bis 1983 nur geringfügig auf 295 000. Bei der Konservativen Partei, die als lose Assoziation der „Conservative and Unionist Associations" keine Mitgliederzahlen veröffentlicht, nehmen Schätzungen an, daß die Zahl ihrer Mitglieder von einem 1953 erreichten Gipfel von 2, 8 Millionen auf 1, 2 Millionen im Jahre 1984 gesunken ist
Um so beachtlicher ist der unter starken Fluktuationen leicht gegenläufige Trend eines Mitgliederzuwachses der Liberalen (ebenfalls parallel zu ihren Renaissancen in der Wählergunst). Ebenso bemerkenswert (weil gegen den generellen Trend laufend) ist die Tatsache, daß der neu gegründeten SDP die Gewinnung eines Stamms von heute etwa 60 000 eingeschriebenen Mitgliedern gelang, von denen über die Hälfte früher nicht Mitglied einer anderen Partei gewesen war
Als Fazit unserer Bestandsaufnahme des Parteien-systems läßt sich festhalten: In bezug auf die Unterhausmandate (sie wurden in der Einleitung genannt und im Text nicht mehr eingehend untersucht) existiert ein Zweiparteiensystem nach wie vor in der ihm von Kirchheimer zugeschriebenen „pristine beauty“. Im Hinblick auf die landesweit abgegebenen gültigen Stimmen ist es zu einem Dreiparteiensystem geworden. Nach der durchschnittlichen Anzahl von Kandidaten pro Wahlkreis gleicht es einer hart belagerten Bastion, da die Schwelle von drei Bewerbern, die ihr „deposit" behalten, fast erreicht ist. Doch haben die alten, emotionalen Parteiloyalitäten, freilich auf einer abgeschwächten Intensität, gehalten. Aber auch die Allianz kann sich auf einen Stamm von Wählern stützen. Freilich reicht er ohne Zugewinn von Proteststimmen nicht aus, den „mould" zu brechen. Darüber hinaus besitzen die Allianzparteien einen festen Mitgliederstamm, der — beim Fehlen einer staatlichen Parteienfinanzierung besonders wichtig — die Existenz der Organisationen im Lande trägt.
Ob das Dreiparteiensystem Bestand haben wird, hängt von einigen Unwägbarkeiten ab. Wird sich die Social Democratic Party nach der Abstimmung ihrer Mitglieder über eine Fusion mit der Liberal Party spalten? Finden sich auch weiterhin ausreichend viele Kandidaten, damit die landesweite Präsenz einer dritten Partei erhalten bleibt? Sind in einer sportlichen Wettbewerbskultur zahlreiche Wähler auch weiterhin bereit „to sport a loser“? Werden sie weiterhin aufeinen bereits zweimal stigmatisierten Verlierer setzen? Ist die sich abzeichnende Erholung der Industrie von Dauer oder nur ein weiterer Versuch der vielen ergebnislosen Experimente, das historisch schwache Wachstum zu stimulieren?
Die „winner-takes-all“ -Regel des relativen Mehrheitswahlrechts sichert den „mould“, d. h. die auch in der jüngsten Unterhauswahl nicht zersprungene Form des unter Wähler-und Mitgliederschwund leidenden Zweiparteiensystems, mit dem Korsett einer vergleichsweise außergewöhnlichen Sperrklausel von annähernd 30 Prozent gegen die Herausforderung neugegründeter Parteien ab Daraus darf aber keinesfalls geschlossen werden, daß das unfaire Wahlrecht gegen den erklärten Willen der Bürger nur von „Oligopolparteien" am Leben erhalten werde. 5. Akzeptanz des „Mould“ durch die Mehrheit der Bevölkerung Eine Sichtung der gesamten (veröffentlichten und unveröffentlichten) Surveydaten ergibt ein differenziertes Bild. Einerseits ist den Bürgern bewußt, daß ihr traditionsreiches Wahlrecht, das sich nirgendwo vergleichbar in Westeuropa findet, kleinere Parteien ohne regionale oder lokale Hochburgen benachteiligt. Daher erstaunt es nicht, daß eine Mehrheit der britischen Bevölkerung, wenn sie ganz allgemein auf die Verzerrung des arithmetischen Wählerdurchschnitts angesprochen wird, sich in den letzten beiden Jahrzehnten stets für das Verhältniswahlrecht ausgesprochen hat. Diese abstrakte Befürwortung sank aber regelmäßig auf unter die Hälfte der Befragten, wenn sie vom Interviewer darauf hingewiesen wurden, daß eine Mandatsverteilung nach Proportionalität eine Vergrößerung der Wahlkreise nebst einer Aufgabe der vertrauten Praxis nach sich ziehen müsse, jeden Wahlkreis nur durch einen einzigen, „seinen“ M. P. (Member of Parliament) vertreten zu lassen
Daß die Bevölkerung trotz prinzipieller Befürwortung der Verhältniswahl in einer Entscheidungssituation (sollte die Frage einer Wahlreform einmal nach dem Wunsch ihrer Befürworter Gegenstand eines Volksentscheids werden) doch alles beim alten lassen dürfte, darauf weisen auch bisher unveröffentlichte Befragungsergebnisse in der Panelstudie der „British Election Study“ zwischen den letzten beiden Unterhauswahlen hin. Als wegen der damaligen Popularität der Allianz klar war, welche weitreichenden verfassungspolitischen Folgen — nämlich das Ende der Alleinregierung durch nur eine Partei und der Übergang zu Koalitionsregierungen nach dem Muster des übrigen Westeuropa — eine Reform des Wahlsystems haben müßte, entschied sich eine Mehrheit für eine Beibehaltung des geltenden Systems (Tabelle 3)
Tabelle 3: Akzeptanz des Wahlsystems „Einige meinen, wir sollten das Wahlsystem ändern, damit auch kleinere Parteien einen gerechteren Anteil der Sitze erhalten. Andere meinen, wir sollten das Wahlsystem so lassen, wie es ist, um eine regierungsfähige Mehrheit hervorzubringen. Was kommt Ihrer Ansicht nach am nächsten?“
III. Vermeintliche Abschwächung des „dass Cleavage"
Das „Westminster Modell“ reiner Mehrheitsherrschaft arbeitet ungestört bei sozio-ökonomisch-kultureller Homogenität. Denn in religiös, ethnisch, ideologisch oder durch Sprachgrenzen zerklüfteten Ländern werden sich Minderheiten schwerlich dem Entscheidungs-und Gesetzgebungsmonopol einer Exekutive unterwerfen, welche mit der relativen Mehrheit der Stimmen die absolute Mehrheit der Mandate gewinnt. Freilich war auch Großbritannien bekanntlich niemals gänzlich „homogen“. Deutlich sichtbare Enklaven in einer auf London zentrierten politischen Kultur sind die „keltische Peripherie“ in Schottland und Wales — ganz zu schweigen von Nordirland — sowie die aus dem Commonwealth eingewanderten ethnischen Minoritäten und die nicht der anglikanischen Staatskirche angehörenden Religionsgemeinschaften (insbesondere die nonkonformistischen Sekten und die Katholiken).
Da es utopisch wäre, in einer Industriegesellschaft vollkommene Homogenität zu erwarten, hat sich in der Komparatistik die Annahme als sinnvoll erwiesen, von der Politisierung der Cleavagestruktur her gesehen bereits dann von „Homogenität“ einer Gesellschaft zu sprechen, wenn eine einzige dramatisch sichtbare sozio-politische Konfliktlinie alle anderen latent vorhandenen Grundkonflikte dominiert In diesem Sinne galt in den fünfziger und sechziger Jahren das oft zitierte Diktum Pulzers: „Class is the basis of British party politics, all eise is embellishment and detail“ obwohl selbst damals nicht etwa alle Befragten, sondern nur etwa 58 Prozent ihre „natürliche“ Klassenpartei wählten. Die Dominanz des Klassencleavage ergab sich aus der damals geringen Brisanz der übrigen Konfliktdimensionen. 1. Das Symptom eines rückläufigen „class voting"
Ein sehr grober, aber international gebräuchlicher Indikator des sogenannten „class voting“ unterteilt die in repräsentativen Stichproben Befragten zunächst nach ihren Berufen in die beiden Sektoren der „manuellen“ und der „nicht-manuellen“ Tätigkeiten. Sodann wird (auf der Basis der Surveyfrage, welche Partei der Interviewte gewählt habe) die jeweilige Stärke der Parteien in den beiden Gruppen bestimmt. Das Schaubild (S. 22) gibt die entsprechende Stärke der Parteien zwischen 1964 und 1987 wieder.
Ein gleichbleibender Anteil der „manuellen“ Berufe — die sogenannten „working-class tories“ — wählte stets konservativ; ein Fünftel der „nicht-manuellen“ Berufe (sie stehen für die „Mittelklasse“) optierte für die Labour Party; aber 1964 und 1966 entschied sich die Majorität der „Manuellen“ für Labour, die der „Nicht-Manuellen“ für die Konservativen. Doch ist bis 1987 in beiden Beschäftigungssektoren der Anteil der Bürger, die ihre quasi „natürliche“ Klassenpartei wählten, stetig zurückgegangen. Von dieser Entwicklung ist die Labour Party in einem viel stärkeren Ausmaß betroffen worden als die Konservativen.
Diese Entwicklung pflegt als ein Rückgang des „class voting“ bezeichnet zu werden. Doch was ver-24 birgt sich hinter diesem Symptom? In der umfangreichen Literatur ist es umstritten, ob tatsächlich eine Schwächung des dass cleavage und eine Abkoppelung der Bindung sozialer Gruppen an eine der beiden Parteien, d. h. ein dass dealignment, vorliegt. Denn die Intensität des Klassenbewußtseins ist, gemessen an der spontanen Bereitschaft, sich einer Klasse zuzuordnen, in keiner Schicht zwischen 1964 und 1983 gesunken Um verständlich zu machen, warum trotzdem weniger Wähler ihre „natürliche“ Klassenpartei wählen, •sind mehrere Entwicklungen analytisch zu trennen. 2. Regionale Differenzierung des „Klassenwählens“
In nationalen Surveys haben die meisten Merkmale der Klassenlage die Fähigkeit verloren, die Varianz individueller Wahlentscheidungen zu erklären. Allein der Besitz eines Eigenheims — in Großbritannien selbst ein Klassenmerkmal ersten Ranges — erklärte schon lange vor dem Amtsantritt Margaret Thatchers mehr als alle übrigen sozialstrukturellen Faktoren zusammengenommen das Wahl-verhalten. Aber gegenläufig zur sinkenden Erklärungskraft sozialstruktureller Merkmale auf nationaler Ebene hat sich eine neue Brisanz regionaler sozio-ökonomischer Disparitäten zwischen Nord und Süd, Zentrum und Peripherie, ergeben. Auch wird (bekannt als das von William Miller nachgewiesene „ökologische Paradox“ des Wählens) in lokalen Kontexten die individuelle Wahlentscheidung von den Zensusmerkmalen der Wahlkreise stärker als von den Merkmalen der individuellen Sozialstruktur beeinflußt
In den beiden Unterhauswahlen von 1983 und 1987 hat sich der Gegensatz zwischen Nord und Süd, in dem immer schon nicht nur regionale, sondern auch sozio-ökonomische Disparitäten zusammenfielen, infolge der Wirtschaftskrise kraß verstärkt. Ein Blick auf die vielfach (etwa im „Economist“) abgedruckten wahlgeographischen Karten der Verteilung der Unterhaussitze nach Parteien zeigt, daß sich das Land in Nord und Süd gespalten hat. Labour hält nur noch wenige Sitze im Süden. Die Konservativen haben wegen der geringen Zahl ihrer schottischen Mandate Mühe, die verfassungsmäßig vorgeschriebenen Regierungsposten mit M. P. s aus Schottland zu besetzen. Aufgrund dieser Vertiefung des Nord-Süd-Gegensatzes ist auf lange Sicht die Gefahr nicht von der Hand zu weisen, daß sich der Klassencleavage und der Zentrum-Peripherie-Konflikt nicht mehr durch Überlagerung dämpfen lassen, sondern durch parallele Verstärkung an Sprengkraft gewinnen könnten. 3. Neue Interessenlagen Unter den „Manuellen“ ist Labour immer noch die angestammte Partei der „alten“, „reifen“ Arbeiterklasse in den niedergehenden Industrien in Wales, den Midlands und in Schottland. Aber der Umfang dieses Potentials schrumpft. Die Facharbeiter in den „neuen“ prosperierenden Branchen des technologischen Sektors im Süden wählten 1987 überproportional konservativ Auch die „neue Mittelklasse“ der Angestellten, das „salariat", hat ihre Parteipräferenzen stärker der Allianz und den Konservativen als der Labour Party zugewandt. Insbesondere unter den angestellten Akademikern ist die Allianz überproportional vertreten, wobei aber nicht übersehen werden darf, daß die Mehrheit dieser Gruppe nach wie vor konservativ wählt Eine weitere, hier nicht zu erörternde Trennlinie zeichnet sich zwischen dem öffentlichen und privaten Sektor ab Insgesamt ist durch den Wandel der Berufsstruktur über die letzten beiden Jahrzehnte hinweg die alte Kategorie der „Manuellen“ als „natürliche“ Wählerbasis der Labour Party reduziert bzw. differenziert worden. 4. „Issue voting“ relativiert „dass voting"
Die relativ zu anderen Sektoren schrumpfende soziale Basis vermag jedoch nur etwa die Hälfte des Rückgangs von Labour in der Wählergunst zu erklären. Darin sind sich die Kontrahenten der laufenden wahlsoziologischen Kontroversen mit unterschiedlichen Meßmethoden einig Die andere Hälfte ist nicht im Wandel der Sozialstruktur, sondern in der aktuellen Politik der Labour Party zu suchen. Seit längerem stößt die „kollektivistische Trinität“ der Labour Party (d. h. ihre klassische Zielsetzung von Verstaatlichung, Wohlfahrtsstaat und Gewerkschaftsmacht) auf abnehmende Zustimmung der mit der Partei sich identifizierenden Wähler; in diesem Befund ist nur kontrovers, ob diese Prinzipien selbst oder nur die mangelhafte Art ihrer Umsetzung an der Regierung die Mißbilligung der Labour-Anhänger ausgelöst haben
Überdies ist unter allen Wählern (nicht nur bei den sich mit Labour identifizierenden) die Bereitschaft gewachsen, sich aufgrund kurzfristiger, aktuell anstehender „issues“ zu entscheiden. Die Einstellung eines Befragten zu einzelnen Streitfragen erklärt mehr als seine soziale Lage. So hat eine stärker instrumentelle Politikorientierung die gewohnheitsmäßige (über soziale Lage und Erziehung vermittelte) Entscheidung für eine Partei überlagert und relativiert: „Voters begin to choose“ („Die Wähler beginnen zu wählen“) Daß die Wähler stärker nach issues entscheiden, heißt natürlich nicht, daß der Klassencleavage keine Rolle mehr spielt. Gewiß besitzen einige der aktuellen Fragen, die im letzten Jahrzehnt maßgeblich zur Wahlentscheidung beigetragen haben, keinen direkten Bezug zur Klassenlage (z. B. unilateraler Verzicht auf Atomwaffen, Beitritt zur Europäischen Gemeinschaft). Andere „issues“ aber, wie der zwischen Konservativen und Labour umstrittene Verkauf von „council houses“ mit einem hohen Preisabschlag an ihre Mieter, betreffen ein britisches Klassenmerkmal par excellence: den Unterschied zwischen Eigenheim und Sozialwohnung.
Schließlich ist die Regierung Thatcher die erste britische Regierung seit zweieinhalb Jahrzehnten, die mit ihrer Wirtschaftspolitik den Nutzen ihrer „natürlichen“ Wählerklientel gesteigert hat. Entschieden neu an ihrer von Widersprüchen nicht freien Wirtschaftspolitik ist die Brechung der Privilegien und der Immunitäten der Gewerkschaften und die selbst angesichts einer früher für undenkbar hoch gehaltenen Massenarbeitslosigkeit beharrliche Weigerung, ähnlich wie ihr Vorgänger Heath inflationsfördernde Maßnahmen zur Arbeitsplatzbeschaffung zu ergreifen. Nüchtern betrachtet, waren die letzten Jahre für die Mittel-klasse eine Zeit der Verbesserung des Lebensstandards. Daher verwundert die Beobachtung nicht, daß das „class voting“ der „Nicht-Manuellen“ insgesamt wieder etwas angestiegen ist. 5. „Kognitive Mobilisierung“ mündiger Bürger ohne Preisgabe ihrer Parteibindung Weit über Großbritannien hinausgreifend und für alle westlichen Demokratien gültig formuliert, wird das Ansteigen eines instrumenteilen „issue voting“ auf Kosten eines habituellen (über Klassenlage und Erziehung vermittelten) „class voting“ durch die" Annahme einer mit Bildung und neuen Medien einhergehenden „kognitiven Mobilisierung“ erklärt. Angenommen wird, daß mit der stürmischen Expansion höherer Bildung in allen hochindustrialisierten Demokratien in den fünfziger und sechziger Jahren eine neue Spezies mündiger Bürger entstanden ist: „Die Vermehrung von Bildungschancen geht einher mit einem Anwachsen politischer Fertigkeiten und Ressourcen. Dadurch sind Wähler mit einem niemals zuvor in der Geschichte der Demokratien erreichten Reflexionsstand hervorgebracht worden. Aber selbst ihr Bildungsniveau wird sich gegenüber dem um das Jahr 2000 erreichten bescheiden ausnehmen.“ Ein wachsender Anteil besonders der jüngeren und besser gebildeten Bürger sei dank eines „revolutionary growth in cognitive mobilization“ viel weniger als früher auf die ideologischen Deutungsangebote und auf die Informationsbeschaffung durch die politischen Parteien angewiesen.
So plausibel diese Verallgemeinerung, die eine „stille Revolution“ in Aussicht stellt, auch klingt, so sehr ist doch vor der naheliegenden Generalisierung zu warnen, daß die „kognitive Mobilisierung“ eine zur traditionellen „Parteimobilisierung“ unabhängig und alternativ ablaufende Partizipationsform sei. Zwar räumt auch Dalton ein, daß die bisherige Forschung gezeigt habe, wie gerade unter den politisch Interessierten die affektive Parteibindung in der Regel stärker ausgeprägt sei. Aber er konstruiert dennoch einen Index „kognitiver Mobilisierung“ durch Addition der beiden Variablen „Bildungsabschluß“ und „Interesse an der Politik“, ohne zwischen beiden zu differenzieren Wenn man aber nicht unterstellt, daß höhere Bildung auch per se zu vergrößertem politischen Interesse führt, sondern die drei Variablen Bildungsgrad, politisches Interesse und Parteiidentifikation in ihrem Verhältnis zueinander getrennt untersucht, so ergibt eine Neuauswertung der „PoliticalAction-Studie“ (Tabelle 4) nicht nur für Großbri-tannien, sondern für alle acht Nationen (mit Ausnahme Österreichs) ganz andere Befunde.
Tabelle 4 unterteilt (auf der Basis der gültigen Antworten) alle Befragten der Acht-Nationen-Studie -von Barnes/Kaase nach dem Grad ihrer Bildung (niedrig, mittel, hoch) und dem Grad ihres selbst-erklärten politischen Interesses (ebenfalls niedrig, mittel, hoch) in jeweils neun Felder ein. Für jedes Feld wird der Mittelwert der Stärke der „Parteidentifikation“ der in diesen Feldern enthaltenen Individuen durch die Zahlen in der Tabelle wiedergegeben. Dabei zeigt sich: Einerseits sinkt — wie erwartet — mit steigendem Bildungsgrad (die Vertikale) regelmäßig auch die Stärke der Parteibindung. Doch ein steigendes politisches Interesse (die Horizontale) geht in allen Ländern (mit Ausnahme von Östeneich selbst in der Gruppe der am höchsten Gebildeten nicht etwa auf Kosten der Parteibindung. Vielmehr zeigt sich — liest man die neun Ländertabellen in den von rechts unten nach links oben ansteigende (fett gedruckten) Diagonalen — ein eindeutiges Anwachsen der Parteibindung bei einer Kombination von steigendem Bildungsgrad mit steigendem politischem Interesse. Die Diagonale verläuft im Gegensatz zur unterstellten Richtung.
Als Ergebnis ist festzuhalten: „Kognitive Mobilisierung“ (definiert als eine Kombination von hohem Bildungsgrad mit großem politischen Interesse) geht in Großbritannien und in den übrigen Demokratien nicht mit einer Preisgabe der Parteibindung einher. Kurzfristige issues und das Image von Kandidaten werden wichtiger. Trotzdem bleibt die Parteibindung der Bürger aufrechterhalten.
IV. Das House of commons — Teilreform eines „Redeparlaments“
Abbildung 7
„Wahlrecht ändern“ „So lassen, wie es ist“ „Unentschieden“ „Keine Antwort“ 38, 6 53, 9 7, 2 0, 3 37, 0 58, 9 4, 1 N= 1090 1983 1986 Quelle: Panel der „British Election Study“ (Angabe für 1986 dank persönlicher Mitteilung von Anthony Heath)
„Wahlrecht ändern“ „So lassen, wie es ist“ „Unentschieden“ „Keine Antwort“ 38, 6 53, 9 7, 2 0, 3 37, 0 58, 9 4, 1 N= 1090 1983 1986 Quelle: Panel der „British Election Study“ (Angabe für 1986 dank persönlicher Mitteilung von Anthony Heath)
Was für die britischen Bürger gilt, fand seit Beginn der siebziger Jahre auch eine Entsprechung bei ihren Repräsentanten im Unterhaus. Ein wachsender Anteil issue-orientierter Bürger stimmte ohne Aufgabe einer abgeschwächten Parteiidentifikation nicht mehr nach habitueller Parteipräferenz ab, sondern orientierte sich an der aktuellen Politik. Analog dazu stimmte ein wachsender Anteil von Abgeordneten, ohne den Bestand der Parteiregierung wirklich zu gefährden, nicht mehr nach der früher eisernen Fraktionsdisziplin, sondern entschied sich nach dem Inhalt anstehender Gesetzesvorlagen. Das gewachsene Selbstbewußtsein einer „Politik als Beruf“ und nicht mehr als Nebentätigkeit betrachtenden neuen Generation von einfachen Abgeordneten ohne Regierungsamt — der „Backbencher“ — hat sich 1979 gegen den Wunsch der Mehrheit der Regierung in einem System ressortbezogener Aufsichtsausschüsse ein neues Arbeitsinstrument geschaffen. Die Tatsache, daß diese „Departmental Select Committees“ nun den 14 wichtigsten Ministerien zugeordnet sind, stellt eine (begrenzte) Auflockerung des nach wie vor strukturdominanten, aber durch Teilreform modifizierten, „Westminster Modells“ dar. Beide Entwicklungen lassen sich — auch wenn die Forschung noch im Fluß ist — als Ergebnis eines mit dem gewandelten politischen Bewußtsein der Bürger kongruenten Einstellungswandels der Abgeordneten auffassen. 1. Lockerung der Fraktionsdisziplin Infolge von Fraktionsdisziplin und der in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts von den Abgeord-neten selbst beschlossenen Änderungen der Geschäftsordnung (Beschränkung der Antrags-und Rederechte der Hinterbänke sowie Beendigung der Debatte durch „closure“ und „guillotine") bestimmt die Regierung mit den Stimmen ihrer einfachen Mehrheit den Zeitplan und die Beschlüsse des Plenums und der (Gesetzgebungs-) Ausschüsse. So kontrolliert — in den treffenden Worten Fraenkels — „nicht das Parlament das Kabinett, sondern das Kabinett das Parlament“ Die Dominanz der Exekutive über das Parlament wird nur noch vom „rationalisierten Parlamentarismus“ der V. Republik in Frankreich übertroffen. Er übertrug allerdings die britischen Formen nach den Vorstellungen von Debr und de Gaulle auf die ganz andersartigen französischen Verhältnisse und übersteigerte sie
Im „Westminster Modell“ wird die Dominanz des mit der Mehrheitsfraktion zu einer Funktionseinheit verschmolzenen Kabinetts über das Unterhaus mit dem regulativen Sinnschema einer „Legitimation durch Kommunikation“ (Crick, Oberreuter) in einem „Redeparlament“ (Steffani) gerechtfertigt An die Stelle des Dualismus von Exekutive und Legislative ist der innerparlamentarische Dualismus von Regierung und Opposition getreten. Die durch Besoldung des Oppositionsführers und der beiden „chief whips“ im Unter-und Oberhaus staatlich anerkannte Opposition kann zwar (anders als in Frankreich) durch Bereitstellung fester Debattiertage die Regierung ständig im Plenum und in den auch prinzipiell öffentlich tagenden Ausschüssen unter das „Feuer der Kritik“ nehmen, besitzt aber keine der in vielen anderen Demokratien üblichen Instrumente einer „Mitregierung“. Statt dessen soll die zur alternativen Regierungsbildung bereite Opposition „Entscheidungsoffenheit und -Vielfalt (. . .) verbürgen. Diese Zusammenhänge werden in der Bundesrepublik selten gesehen und, wo dies geschieht, unterbewertet“ (Thaysen) Fraktionsdisziplin der Abgeordneten hält das eigene Kabinett gegen die Angriffe der Opposition im Amt.
Mit Beginn der siebziger Jahre hat sich die international vergleichsweise immer noch sehr hohe Abstimmungsdisziplin so stark gelockert, daß man über ein Jahrhundert zurückgehen muß, um vergleichbare Fälle zu finden. Doch vor vorschnellen Dramatisierungen ist zu warnen. Denn noch immer herrscht eine vergleichsweise außergewöhnliche Abstimmungsdisziplin Ohne quantitative Gefährdung der Regierung durch ein Mißtrauensvotum bedeutete das neue Abstimmungsverhalten einen qualitativen Sprung. Anders als in vorangegangenen Jahrzehnten mußten Regierungen Gesetzesvorlagen zurückziehen, weil ihre eigenen Abgeordneten nicht nur symbolischen Protest demonstrierten, sondern tatsächlich durch die Abstimmungslobby der Opposition gingen, um die Vorlage ihrer Regierung scheitern zu lassen.
Dadurch wurden zwei Verfassungskonventionen ins Reich der konstitutionellen Mythologie verwiesen: Zum einen die Ansicht, daß eine Regierung, die eine wichtige Abstimmungsniederlage erleidet, durch Rücktritt den Weg für Neuwahlen freimacht. Die Regierungen blieben (teilweise ohne die Vertrauensfrage zu stellen) im Amt. Zum anderen die Ansicht, daß Mißachtung eines „three-line whip“ (dreifache Unterstreichung im wöchentlichen Zirkular der Fraktionsführung fordert strikteste Abstimmungsdisziplin von den Hinterbänken) politischen Selbstmord bedeute, wurde obsolet, weil zahlreiche Rebellen später Kabinettsrang erhielten. Die neue Entwicklung betraf beide Parteien (und nicht etwa nur die innerparteilich gespaltene Labour-Regierung). Auch die Hinterbänke der Regierung Thatcher haben sich 1983— 1987 nicht auf die bei der ungewöhnlich großen Majorität (71 Sitze über der absoluten Mehrheit) zu erwartende ritualisierte Rebellion beschränkt, sondern tatsächlich einen Gesetzentwurf zu Fall gebracht und in etwa zehn Fällen die Regierung angesichts der akuten Gefahr einer Niederlage zur Rücknahme von Vorlagen gezwungen. Die neugewählte konservative Fraktion, in der die innerparteilichen Opponenten Margaret Thatchers nicht im Kabinett gezähmt sind, sondern auf den Hinterbänken sitzen, hat bereits Widerstand gegen die umstrittene Gesetzesvorlage zur Umstellung der Gemeindesteuern (poll tax) angekündigt.
Die neue Qualität der Abstimmungsrevolten begann nicht unter Labour, sondern unter dem konservativen Premier Heath. Er nutzte die ihm formal zustehenden Rechte von Premier und Kabinett gegenüber den Hinterbänken voll aus und provozierte damit erst den Schule machenden Verhaltenswandel. Neben anderen vorübergehenden Ursachen der „cross-voting explosion" (z. B. die damals anstehenden, beide Parteien spaltenden Fragen des Beitritts zur Europäischen Gemeinschaft oder die Änderung des Staatsbürgergesetzes zur Eindämmung der Einwanderung aus dem Commonwealth) lassen sich zwei bleibende Ursachen identifizieren, die dazu beigetragen haben dürften, daß das Unterhaus eine „less tarne and minor role" gegenüber der Exekutive spielt. Zum einen das Schwinden des Glaubens „that govemment knows best“, der für die Akzeptanz des „Westminster Modells“ grundlegend ist. Zum anderen der wachsende Anteil von Vollzeit-Abgeordneten, die ihr Abgeordnetenmandat nicht mehr als Nebentätigkeit auffassen und nicht zufrieden sind, als „lobby fodder“ im „besten Club Londons“ zu dienen 2. Die 14 neuen „Departmental Select Committees"
Auch die Struktur der Ausschüsse ist auf das Leitbild einer öffentlichen Kritik ohne Detailkontrolle und Mitregierung durch das Parlament zugeschnitten. Als „Redeparlament“ verzichtete das Unterhaus angesichts des Wachstums der Regierungsaufgaben und der Zunahme der Gesetzgebungstätigkeit auf ein der Gesetzesvorbereitung dienendes System von Fachausschüssen und delegierte die Ausarbeitung der Gesetzesvorlagen an Exekutive und Bürokratie. Das „Westminster Modell“ kennt prinzipiell zwei Arten von Ausschüssen. Zum einen existieren die der Gesetzesberatung dienenden (permanent tagenden) Ständigen Ausschüsse (Standing Committees). Zum anderen gibt es die (fallweise eingesetzten) zur Prüfung spezieller Fragen als „Select Committees" berufenen Untersuchungs-und Aufsichtsausschüsse. Einige dieser Select Committees, die der Haushaltsfeststellung und Finanzkontrolle dienen, werden allerdings ebenfalls permanent eingesetzt. Obwohl die legislativen Standing Committees permanent tagen, werden sie ad hoc von Fall zu Fall je nach den anstehenden Gesetzesvorlagen mit wechselnden Mitgliedern beschickt. Sie sind im Gegensatz zu der in den meisten übrigen Demokratien der Gegenwart üblichen Praxis nicht parallel zu den wichtigsten Ministerien aufgebaut. Ebenfalls im Unterschied zu den meisten anderen Demokratien tagen sie prinzipiell öffentlich.
Die Legislativausschüsse, in denen Regierungs-und Oppositionsvertreter in „adversary" Sitzordnung plaziert sind, agieren als verkleinerte Plenarversammlungen. Auch in ihnen darf die Regierung mit einfacher Mehrheit der Ausschußmitglieder, über die sie dank Fraktionsdisziplin in der Regel verfügt, im Ernstfall die „Guillotine“ verhängen. Die Standing Committees dürfen (solange nicht ausdrücklich ermächtigt) keine Akten anfordem oder Zeugen hören. Dieses Privileg ist der zweiten Form der Ausschüsse, den Select Committees, vorbehalten, die aber nur Untersuchungsberichte anfertigen und keine Gesetzesvorlagen ausarbeiten oder beraten dürfen. Es versteht sich von selbst, daß diese auf Ratifizierung der Regierungsvorlagen abgestellte Art der Gesetzesberatung ohne Zeugenvorladung und Akteneinsicht den Abgeordneten keine Möglichkeit zur professionellen Spezialisierung bietet. Dagegen war die Zahl der Select Committees, in denen in freier, hufeisenförmiger Sitzordnung der konkurrenzparadigmatische Schlagabtausch von Argumenten suspendiert ist, zugunsten einer fach-bezogenen interfraktionellen Spezialisierung zu klein, um ein Betätigungsfeld zu bieten. Bis zur Reform von 1979 bot sich der Mehrheit der M. P. s nur die Alternative, einen der annähernd einhundert Posten der Regierung anzunehmen oder Politik als Nebentätigkeit im „besten Club Londons“, dem Unterhaus, zu betreiben.
Ohne die bisherige gespaltene Struktur von Gesetzgebungs-und Aufsichtsausschüssen anzutasten, brach die Reform des Ausschußwesens von 1979 bis 1984 in fünf Punkten mit der bisherigen Verfassungstradition 1. Unter Bereinigung des Systems bestehender Aufsichtsausschüsse wurden 14 neue „Select Committees“ parallel zu den wichtigsten Ministerien eingerichtet. 2. Anders als in der Vergangenheit sind sie nicht durch einen Ad-hoc-Beschluß des Plenums nur vorübergehend eingesetzt, sondern fest und dauerhaft in der Geschäftsordnung verankert. 3. Ihr Recht zur Zeugenvernehmung und Akteneinsicht erstreckt sich auch auf die den Ministerien zugeordneten „Quangos“ (halbstaatliche Körperschaften) und nachgeordneten Behörden.
4. Die Ausschußmitglieder werden nicht mehr nach Gutdünken des whip entsandt, sondern von einem unabhängigen Committee of Selection, in dem natürlich die Fraktionsführungen nach wie vor ihren Einfluß geltend machen können, für die Dauer einer ganzen Legislaturperiode ernannt.
5. Der vollzeitliche Mitarbeiterstab wurde vergrößert. Obwohl mit diesen Änderungen das „Westminster Modell“ den Ausschüssen in anderen Parlamenten der Welt ähnlicher geworden ist, bleibt die grundsätzliche konstitutionelle Zweigleisigkeit bestehen, derzufolge die Aufsichtsausschüsse zwar Zeugen und Akten anfordern, aber keine Gesetze beraten dürfen, wogegen die Gesetzgebungsausschüsse kraft alter Verfassungstradition keine Experten hören oder Beamte und Minister vorladen dürfen. Eine Überbrückung hätte in den probeweise eingeführten sogenannten „Special Standing Committees“ bestanden. Hier erhielten die Standing Committees das Recht, an drei Sitzungstagen jeweils eineinhalb Stunden lang im Stil eines Select Committee Anhörungen durchzuführen. Von dieser Möglichkeit wurde aber zwischen 1980 und 1984 nur bei insgesamt fünf Gesetzentwürfen Gebrauch gemacht.
Einschränkungen des Einflusses der neuen Select Committees ergeben sich aus herrschendem Verfassungsbrauch: eine vom Civil Service ausgegebene Liste geheimzuhaltender Materien, über die Beamte in keinem Falle vor Ausschüssen aussagen dürfen; die Verweigerung der Aussagegenehmigung für Beamte durch den nach der formellen Verfassung allein verantwortlichen Minister; und nicht zuletzt die fehlende Garantie, daß die Berichte der Ausschüsse auch vom Plenum angesichts dessen Zeitnot diskutiert werden. So ist es den Ausschüssen verwehrt, zu mächtigen „watchdog committees“ zu werden, die der aus den führenden Parlamentariern bestehenden Exekutive gefährlich werden könnten. Andererseits aber ist die einseitige Kabinettsdominanz über das Unterhaus aufgelokkert. Auch Interessenverbände richten ihre Eingaben in verstärktem Maße an die neuen Ausschüsse. Zusammen mit einigen anderen hier nicht näher dokumentierten Änderungen (Verbesserung der Arbeitsbedingungen der Abgeordneten durch das elektronische Informationssystem der Bibliothek des Unterhauses, Erhöhung der Pauschale zur Beschäftigung von Mitarbeitern sowie Anhebung der früher international vergleichweise äußerst niedrigen Diäten) hat sich das Unterhaus ein gutes Stück weg vom extremen Typus des reinen Rede-parlaments hin zum international eher üblichen Mischtyp entwickelt.
V. Schluß
Abbildung 8
'Manuelle* Berufe 'Nicht-manuelle* Berufe Quelle: British Election Studies und BBC/Gallup Election Surveys. (Angaben für 1987 dank persönlicher Mitteilung durch Ivor Crewe)
'Manuelle* Berufe 'Nicht-manuelle* Berufe Quelle: British Election Studies und BBC/Gallup Election Surveys. (Angaben für 1987 dank persönlicher Mitteilung durch Ivor Crewe)
Im vorliegenden Beitrag sind neben einigen politischen Tendenzen derjüngsten Unterhauswahl auch darüber hinausweisende Entwicklungen der siebziger und achtziger Jahre dokumentiert worden. Der Wandel von Parteiensystem und Sozialstruktur sowie der sich schrittweise vollziehende Einstellungswandel von Bürgern wie Parlamentariern stellt eine Herausforderung an die „geschlossene Einheit“ des „Westminster Modells“ dar — jedenfalls so, wie es als funktionales Ordnungsmodell von der vergleichenden Regierungslehre wahrgenommen wird. Für die Politiker in Westminster und die Beamten in Whitehall braucht dies freilich kein Anlaß zur Besorgnis zu sein. Ist doch der vorherrschende Politikstil des pragmatischen „muddling through“ geprägt durch die Unwichtigkeit von Modellannahmen, eine — in den Worten Sidney Lows — „unimportance of formal Statements of doctrine", jedenfalls solange aus ihr keine praktischen Konsequenzen zu folgen drohen („unless it is to be followed by action. Then, indeed, it is a very different matter“)
Weitere Herausforderungen des „Westminster Modells“ konnten auf dem zur Verfügung stehenden Raum nicht dokumentiert werden Zu nennen wäre das Sonderproblem Nordirland, das durch die Aussicht auf eine zwischen London und Dublin auszuhandelnde Lösung eine neue Dimension gewonnen hat. Ferner stellt die externe Souveränitätseinbuße durch den Beitritt zur Europäischen Gemeinschaft eine auch praktisch bedeutsame Beschränkung der Grundmaxime der britischen Parlamentssouveränität dar. Britische Bürger tragen nunmehr zunehmend Streitpunkte mit ihrer Regierung, für die sie im Lande keinen Richter finden können, zu den Europäischen Gerichtshöfen. Da EG-Recht auch in Großbritannien unmittelbar gilt, wird die Regierung in London unter Handlungszwang gesetzt.
In Großbritannien selbst hat die Judikatur angesichts der Gefahren, die aus einer Polarisierung und Radikalisierung der Parteien drohen könnten, auch ohne förmliche Verfassungsgerichtsbarkeit unter Wiederbelebung der Common-Law-Doktrin der „natural justice“ die ungewohnte Rolle eines über Parlament und Parteien stehenden „Hüters der Verfassung“ zu beanspruchen begonnen.
Auch die gegenüber den fünfziger und sechziger Jahren stark (auf ein Sechstel) gesunkene Häufigkeit von Kabinettsvorlagen stellt in Verbindung mit der Praxis von Margaret Thatcher, Kabinettsbeschlüsse durch öffentliche Verlautbarungen zu präjudizieren eine Aufweichung des Prinzips der kollektiven Verantwortlichkeit des durch eine Partei getragenen Kabinetts dar. Doch der vielzitierte „autoritäre Populismus“, mit dem ein sein Gewicht gegenüber Parlament und Kabinett verstärkender Premier gegen den Widerstand im eigenen Kabinett (und in der Fraktion) in personalplebiszitärer Weise unter zugkräftigen Parolen (wie Beschränkung der farbigen Einwanderung aus dem Commonwealth, Ruhe und Ordnung und traditionelle Moral) an die Wähler appelliert, ist keine gänzlich neue Entwicklung, sondern nur eine neue Brisanz eines im „Westminster Modell“ angelegten Potentials. Diese Politik des Premiers kann als eine Anpassung an die gewandelte Konstellation von Parteiensystem, Sozialstruktur und Parlament aufgefaßt werden. Wenn sich — um die Ergebnisse dieser Bestandsaufnahme noch einmal zusammenzufassen — langfristige Wählerloyalitäten abgeschwächt haben und das Elektorat stärker als in den vergangenen Jahrzehnten durch kurzfristige Politikangebote beeinflußbar ist, dann bietet es sich an, einige issues (wie den durch Rabatt weit unter Marktpreis geförderten Verkauf von Sozialwohnungen an ihre Mieter) oder den raschen Gewinn, den eine Privatisierung von Staatsuntemehmen in einer Zeit weltweiter Aktienhausse verspricht als „gute Pferde zu starten“ — wie schon Schumpeter die Fähigkeit politischer Unternehmer beschrieb, Marktlücken zu entdecken.
Wenn Abgeordnete nicht mehr immer im gehorsamen Hammelsprung durch die Abstimmungslobbies gehen und die Ausschüsse trotz nach wie vor existierender Kabinettsdominanz eine stärkere Diskussion und Mitsprache als in der Vergangenheit fordern, dann ist der Stil, mit dem Margaret Thatcher ihre Ziele (oder die ihres Zirkels) aus eigenster innerer Überzeugung gegen den Widerstand des patrizischen Parteiestablishment durchsetzt, die Ausnutzung eines in der „gemischten Verfassung“ angelegten Potentials.
In einer strikt repräsentativ-demokratischen Verfassung ist der Appell an den Volkssouverän in einer Unterhauswahl, die spätestens alle fünf Jahre stattfinden muß, deren Zeitpunkt aber im britischen System vom Premier allein (als Lenker und Ratgeber der Reservatrechte der Krone) ohne Beratung mit seinem Kabinett bestimmt werden kann, ein Instrument zur personalplebiszitären Machtsteigerung. Mit einem solchen „appeal unto Caesar“ (Low) kann sich der „Diktator des Wahl-schlachtfeldes“ (Weber) über Partei und Kabinett hinweg ein Mandat holen. So ist es kein Zufall, sondern logisch, daß sich Margaret Thatcher ihre eigene Demoskopie unabhängig von der Parteizentrale hält
Ihre Taktik resultiert aber eher aus einer Position der Schwäche als der Stärke. So pflegt Margaret Thatcher stärker als konservative Premierminister zuvor den Kontakt mit den Hinterbänklern, weil sie sich der Verwundbarkeit ihrer Position im parlamentarischen Regierungssystem bewußt ist Der Preis einer personalplebiszitären Strategie, die auf Akklamation setzt, ist der sichtbar wiederholte Erfolg. Aber Margaret Thatcher ist keine Präsidentin. Im parlamentarischen System kann sie — sollte sie versagen — durch die eigene Fraktion im Unterhaus gestürzt werden — so wie sie selbst als Gegenkandidat im zweiten Wahlgang den glücklosen Parteiführer Heath 1975 stürzte.
Herbert Döring, Dr. phil., geb. 1940; Privatdozent für Politikwissenschaft an der Universität Mannheim; 1977— 1983 Dozent für deutsche Geschichte an der University of London; seitdem Lehrstuhlvertretungen in Mannheim und Essen. Veröffentlichungen u. a.: Der Weimarer Kreis: Studien zum politischen Bewußtsein verfassungstreuer Hochschullehrer in der Weimarer Republik, Meisenheim/Glan 1975; (Hrsg. zus. mit Gordon Smith) Politische Kultur — Ein Vergleich zwischen Großbritannien und Deutschland, Hagen 1986; (Hrsg. zus. mit Dieter Grosser) Party Government and Political Culture in Western Germany, London 1982; Großbritannien — ein Regierungssystem in der Belastungsprobe, Opladen 1987.
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