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Der Kadarismus und seine Auswirkungen auf das politisch-soziale System in Ungarn | APuZ 36-37/1987 | bpb.de

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APuZ 36-37/1987 Wirtschaft und Politik in der Tschechoslowakei Das Dilemma des Husäk-Regimes Der Kadarismus und seine Auswirkungen auf das politisch-soziale System in Ungarn Rumänien: Hoher Preis der Autonomiepolitik Artikel 1

Der Kadarismus und seine Auswirkungen auf das politisch-soziale System in Ungarn

Hubertus Knabe

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Zusammenfassung

Die Reformbestrebungen in der Sowjetunion und China lassen die Erfahrungen der Volksrepublik Ungarn mit einer Politik begrenzter Reformen, die über einen relativ langen Zeitraum hinweg wirksam wurde, bedeutsamer denn je erscheinen. Im vorstehenden Beitrag werden die Entstehungsbedingungen des Reformkommunismus unter Jänos Kädär untersucht und es wird der Frage nachgegangen, ob dieser als Modell eines liberalen Sozialismus gelten kann. Im Mittelpunkt stehen dabei die Modifikationen am politisch-sozialen System, die bei der westlichen Diskussion über die ungarischen Wirtschaftsreformen kaum näher betrachtet werden. Zu diesem Zweck wird in einem ersten Abschnitt der widersprüchliche Entwicklungsweg des ungarischen Reformsozialismus nach der gewaltsamen Niederschlagung des Volksaufstandes von 1956 dargestellt, um dann verschiedene Elemente des politischen Systems (Partei, Jugendverband, Gewerkschaften. Volksfront, Medien, Kirchen, unabhängige Bestrebungen, Opposition) und ihr Funktionieren im heutigen Ungarn zu analysieren. In einem letzten Teil wird eine thesenhafte Bewertung des „Kadarismus“ versucht, der nach Auffassung des Verfassers wegen seiner spezifischen Ausgangsbedingungen nur sehr beschränkt übertragbar ist. Es werden die inneren Widersprüche einer gebremsten Reformpolitik und ihre schwindende Integrationskraft in der von einer tiefen Wirtschaftskrise betroffenen ungarischen Gesellschaft beschrieben. Der Autor schließt mit der Feststellung, daß das System des Kadarismus mehr als dreißig Jahre nach seiner Installierung seinen historischen Endpunkt erreicht hat; das Urteil über den ungarischen Weg werde davon abhängen, welche Richtung das Land nach der Ernennung eines Nachfolgers für den 75 Jahre alten Parteichef einschlagen wird: konsequente Verwirklichung ökonomischer und politischer Reformen zur Lösung der Probleme — oder Zuspitzung der Widersprüche mit möglicherweise ähnlichem Ausgang wie in Polen?

Nicht jeder kommunistische Parteiführer hat es vermocht, eine solche unverwechselbare Politik zu begründen, die von Historikern, Politologen oder Beobachtern mit seinem Namen unauflöslich verbunden wird. Noch seltener ist dies der Fall, wenn der Betreffende nur einem machtpolitisch relativ unbedeutenden sozialistischen Land vorsteht. Gänzlich einmalig ist schließlich eine solche Begriffsbildung, wenn sie zu Lebzeiten eines Parteiführers erfolgt und zur Charakterisierung eines positiven Modells der sozialistischen Gesellschaft dienen soll.

Dies alles trifft jedoch auf den 75 Jahre alten ungarischen Parteichef Jänos Kdr zu, der das kleinste Land des Warschauer Paktes regiert, seitdem sowjetische Truppen im November 1956 den amtierenden Ministerpräsidenten Imre Nagy gefangen nahmen und den ungarischen Volksaufstand gewaltsam niederwarfen. Kädär, der zunächst mit den Forderungen der Aufständischen sympathisierte und sich dann der sowjetischen Führung zur Verfügung stellte, hat dem ungarischen Sozialismus in seiner mehr als 30 Jahre währenden Amtszeit ein eigentümliches Gepräge gegeben, das Ungarn bis heute als Ausnahme im Ostblock erscheinen läßt. Große Teile der Bevölkerung versöhnten sich ebenso mit dem Verräter von 1956 wie westliche Politiker und Journalisten, die den ungarischen Sozialismus als „liberal“, als „Modell“ oder sogar als „kommunistisches Wunderland“ würdigten Jetzt stößt der ungarische Weg auch in sozialistischen Staaten, vor allem in China und in der Sowjetunion, auf wachsendes Interesse, denn die Erfahrungen des Kadarismus, der politische und ökonomische Reformen mit dem Erhalt des Machtmonopols der kommunistischen Parteiführung verbindet. sind für die Modemisierungsbemühungen der sozialistischen Länder von hohem Wert.

Gleichwohl gibt es bis heute keine ausführliche, empirisch untermauerte Gesamtdarstellung dazu, was der Kadarismus darstellt und in welcher Weise er konkret das ökonomische, politische und soziale System in Ungarn modifiziert hat. Zu fragen ist: Welche Ursachen haben den besonderen ungarischen Weg hervorgebracht, wo liegen Unterschiede und Gemeinsamkeiten zu anderen sozialistischen Staaten, ist Ungarn tatsächlich Modell eines anderen, „sanften“ Sozialismus, eine Art Optimum politischer Liberalität im sowjetischen Einflußbereich, das Entwicklungen vorweggenommen hat, die in anderen sozialistischen Staaten früher oder später auch kommen werden?

Im folgenden soll versucht werden, diesen Fragen nachzugehen, ohne allerdings in diesem Rahmen die angedeutete Forschungslücke schließen zu können. Ich beschränke mich vielmehr auf eine grobe Skizze des Reformprozesses, um den ungarischen Weg verständlich zu machen und Elemente des politisch-sozialen Systems näher zu untersuchen. Dabei konzentriere ich mich auf solche Bereiche, in denen die Unterschiede zu anderen sozialistischen Staaten und früheren historischen Phasen besonders deutlich werden und in denen die Modemisierungspolitik die tiefsten Spuren hinterlassen hat. Dabei ist nicht beabsichtigt, die ungarischen Wirtschaftsreformen zu analysieren, über die an anderer Stelle geschrieben wurde Abschließend möchte ich eine thesenhafte Bewertung des Kadarismus und seiner Auswirkungen auf das politisch-soziale System in Ungarn vornehmen.

I. Die Entstehung des Kadarismus

Wie in den anderen sozialistischen Staaten Ost-und Mitteleuropas bildeten sich die Grundstrukturen des politisch-sozialen Systems im Nachkriegsun-garn unter Anleitung und Kontrolle der Sowjetunion heraus, wobei der Transformationsprozeß bereits in den Jahren 1948/49 im wesentlichen abge-schlossen war. Die Koalitionsparteien waren liquidiert, die Wahlen zu einem Akt der Akklamation umfunktioniert, die unabhängigen gesellschaftlichen Organisationen verboten oder gleichgeschaltet, alle Handels-, Handwerks-und Industriebetriebe mit mehr als zehn Beschäftigten verstaatlicht und die kommunistische „Partei der Ungarischen Werktätigen“ zu einem Werkzeug des stalinistischen Diktators Mätyäs Räkosi gemacht worden.

Einen Bruch in dieser — in anderen sozialistischen Ländern ähnlich, wenn auch mitunter weniger extrem verlaufenen — Entwicklung bedeutete das Jahr 1956, in dem es zu einem gemeinsamen Auf-begehren der unzufriedenen Massen, der enttäuschten Intelligenz und einer starken anti-stalinistischen Strömung in der Partei kam, das schließlich, angefacht durch eine ungeschickte Politik der Führung, in einen Aufstand gegen das kommunistische Einparteiensystem und die seit 1945 andauernde Anwesenheit sowjetischer Truppen in Ungarn umschlug. Die historische Lehre der ungarischen Kommunisten aus dieser Krise, die von der Führung unter Jänos Kädär mehr oder weniger offen als Ausgangspunkt des heutigen politisch-sozialen Systems betrachtet wird läßt sich in vier Punkten zusammenfassen: 1. Der Zerfall der politischen Macht und ihrer wichtigsten Organe (Partei, Armee, Polizei, Staatssicherheit) im Jahre 1956 darf sich niemals wiederholen; potentiellen oder wirklichen Gefahrensituationen für das System muß frühzeitig vorgebeugt werden. 2. Terror, politische Verfolgung und übermäßige Kontrolle der Gesellschaft erhöhen Stabilität und Effektivität des politisch-sozialen Systems nicht, sondern vermindern sie. Der gefürchtete stalinistische Sicherheitsdienst „AVÖ“ wurde als eigenständige Behörde aufgelöst und in das Innenministerium integriert, die Privatsphäre der Bürger wurde zunehmend respektiert. 3. Zur Sicherung der Macht sind bevorzugt politische Mittel einzusetzen, was eine gewisse Offenheit und Durchlässigkeit des politischen Systems erfordert, um gesellschaftliche Bedürfnisse rasch zu erkennen und nach Möglichkeit zu befriedigen. Dies findet seinen Ausdruck in einer größeren Autonomie der Intelligenz, in einer breiter gefächerten offiziellen öffentlichen Meinung, in einer flexibleren Reaktion auf Anstöße aus der Gesellschaft, in einer Reduzierung der Rolle der Ideologie, in der Bereitschaft zu Reformen und schließlich in der partiellen Respektierung von unabhängigen oder oppositionellen Bestrebungen. 4. An der Grundstruktur des sozialistischen Systems sowjetischen Typs dürfen keine Veränderungen vorgenommen werden, insbesondere nicht an dem absoluten Vorrang der sozialistischen Eigentumsverhältnisse in der Ökonomie und an dem Machtmonopol der kommunistischen Parteiführung. Garant der Stabilität und Bedingung der Reformen ist die politische Schwäche der Gesellschaft, deren Fähigkeit zur politischen und sozialen Selbstorganisation im Nachkriegsungam gleich zweimal (nach 1945 und nach 1956) brutal zerschlagen wurde. Deshalb reagiert die ungarische Führung sehr empfindlich auf organisierte unabhängige Interessenäußerungen der Gesellschaft, die sie durch die Konservierung traditioneller Gegensätze (Stadt/Land, Juden/Nicht-Juden, Intelligenz/Plebs), durch eine differenzierte Kultur-und Gesellschaftspolitik und durch eine abgestimmte Strategie von Integration und Repression in einem frühen Stadium zu neutralisieren sucht.

Allerdings ist diese strategische Neubestimmung der ungarischen Kommunisten nicht unmittelbar nach der Krise von 1956 erfolgt, sondern ist Ergebnis eines langen und widersprüchlichen historischen Prozesses. In den ersten Wochen nach der Niederschlagung des Aufstandes bemühte sich die isolierte Kädär-Führung zunächst um die Integration konkurrierender politischer Kräfte (Arbeiterräte, neu-gegründete Parteien, Anhänger von Imre Nagy) und knüpfte an die bereits einige Monate vor der Erhebung eingeleitete Reformpolitik an. Den anhaltenden Widerstand der Bevölkerung gegen die sowjetische Einmischung beantwortete die Kädär-Regierung jedoch nach einer ersten Stabilisierung des neuen Machtapparates mit einer eskalierenden Welle der Repression gegen alle, die sich am Aufstand beteiligt hatten. 200 000 Ungarn flohen ins Ausland, Tausende — unter ihnen der Ministerpräsident Imre Nagy — wurden hingerichtet oder zu langjährigen Gefängnisstrafen verurteilt; die Reformkonzepte wurden öffentlich verurteilt, und der Boden wurde erneut kollektiviert.

Erst in den sechziger Jahren leitete die Kädär-Führung eine Politik der vorsichtigen Versöhnung ein, die der Parteichef in einer programmatischen Rede in dem berühmt gewordenen Satz zusammenfaßte: „Wer nicht gegen uns ist, ist für uns.“ Ein Großteil der Gefangenen gelangte im Rahmen einer abgestuften Amnestie auf freien Fuß, die sozialen Leistungen wurden verbessert und die Interessen der verschiedenen Bevölkerungsschichten stärker berücksichtigt. Mitte der sechziger Jahre setzte dann im Gleichklang mit anderen sozialistischen Staaten, vor allem mit der Tschechoslowakei und der Sowjetunion, eine intensive Reformdiskussion ein, in deren Verlauf nicht nur die Wirtschaftspolitik, sondern auch politische und philosophische Fragen der sozialistischen Gesellschaft grundsätzlich neu diskutiert wurden. Schriftsteller, Intellektuelle, Künstler wie überhaupt die ganze Gesellschaft erlebten diese Jahre als ein befreiendes Tauwetter und erklärten sich zur Versöhnung mit dem Kädär-Regime bereit. 1968 trat schließlich als praktisches Ergebnis der Reformdebatten der „Neue Ökonomische Mechanismus“ in Kraft, der es ermöglichen sollte, daß Unternehmen und landwirtschaftliche Genossenschaften als selbständige wirtschaftliche Einheiten gewinnbringend wirtschaften. Zu diesem Zweck wurde das Preissystem beweglicher gestaltet, die landwirtschaftlichen Erzeugerpreise wurden angehoben und die zentralen Planvorgaben durch indirekte Regulatoren (Preise, Löhne, Steuern) ersetzt.

Die politischen Rahmenbedingungen der Reformen änderten sich jedoch jäh durch den Einmarsch der Warschauer-Pakt-Staaten 1968 in der Tschechoslowakei. Reformen oder gar Reformsozialismus galten nun im östlichen Lager als „revisionistisch“, und Ungarn geriet mit seinen kultur-und wirtschaftspolitischen Experimenten zusehends in die Isolation. 1972 sammelten sich die von Moskau ermutigten Gegner des damaligen Kdr-Kurses, um den Parteichef zu stürzen, doch dieser rettete sich durch einen Abbruch der Reformen und die Verbannung ihrer führenden Verfechter aus der politischen Führung. Einige Monate später wiederholte sich das gleiche in der Kulturpolitik, indem der damalige ZK-Sekretär György Aczl seine Ablösung durch einen Angriff auf „revisionistische Tendenzen“ im Kulturleben in letzter Minute vereitelte. Das innenpolitische Klima verhärtete sich, und die Reformfeindlichkeit steigerte sich soweit, daß Leiter gewinnbringender Unternehmen reihenweise wegen „unanständigen Profites“ vor Gericht kamen.

Massive wirtschaftliche Schwierigkeiten lösten Ende der siebziger Jahre eine zweite, bis heute anhaltende Reformwelle aus, deren bedeutendstes Ergebnis neben einer Wiederbelebung und Fortschreibung der Reform von 1968 die Legalisierung der privaten Schattenwirtschaft darstellt. Um Versorgungsmängel und wachsende staatliche Subventionen abzubauen, wurden staatliche oder genossenschaftliche Kleinuntemehmen massenhaft zur Pacht angeboten, wurden halbprivate Arbeitsgemeinschaften zugelassen, die mit den Geräten des Unternehmens nach Feierabend für dieses auf eigene Rechnung produzieren können, wurde schließlich die Möglichkeit eingeräumt, vollkommen privat wirtschaftende Arbeitsgemeinschaften zu gründen, die bis. zu 30 Mitglieder haben und maximal 30 Angestellte beschäftigen dürfen. Die Aussicht auf massive Einkommenssteigerungen sowie der wachsende Zwang, Zusatzverdienste erschließen zu müssen, um sinkende Reallöhne und steigende Preise ausgleichen zu können, führten dazu, daß private Unternehmen wie Pilze aus dem Boden schossen und inzwischen schätzungsweise 20 Prozent des Bruttosozialproduktes erwirtschaften. Die Wirtschaftsreform wurde dabei nicht als einmaliger Akt verstanden, sondern durch Gesetze und Verordnungen fortgeschrieben (Ausstattung der Unternehmen mit Außenhandelsrechten, Gründung gemischter Gesellschaften, Bildung der nicht-subventionierten Inlandspreise auf der Basis der Weltmarktpreise usw.) und mit einer stärkeren Integration Ungarns in den Weltmarkt (Mitgliedschaft in IWF und Weltbank, begrenzte Konvertibilität des Forint, Kooperationsangebote an die EG, usw.) verknüpft. Im Spannungsfeld des Ost-West-Konfliktes sah sich Ungarn dabei genötigt, die Bedeutung der Reformen gegenüber der Sowjetunion möglichst herunterzuspielen, sie indes gegenüber den westlichen Kreditgebern herauszustreichen. Nach dem Tode Breschnews, der Führungskrise in der Sowjetunion und schließlich dem Machtantritt von Michail Gorbatschow erweiterten sich die Spielräume der ungarischen Reformpolitik und beschränkten sich nicht mehr vorwiegend auf wirtschaftliche Fragen. Auch in der Außenpolitik ging Ungarn einen Weg vorsichtiger Öffnung und profilierte sich nach der Raketenstationierung in Europa als Anhänger einer Politik des Dialoges zwischen Ost und West. Im Innern wurde das politische System partiell durchlässiger, indem Interessen und Stimmungen wie das jahrzehntelang tabuisierte Nationalgefühl stärkere Berücksichtigung fanden, die Medien problembewußter berichteten und zaghafte Ansätze einer von der Zentrale unabhängigeren Interessenvertretung (Stärkung der Rechte der Gemeinden, Wahl der Untemehmensdirektoren, Reform des Wahlsystems, Zulassung von Vereinen, etc.) entwickelt wurden.

Zugleich sind in den achtziger Jahren aber auch die Grenzen der Reformpolitik unter Jänos Kädär deutlicher geworden. Seitdem die Sowjetunion — zumindest vordergründig — nicht mehr als Bremser einer Liberalisierung auftritt, wird sichtbar, daß die Parteiführung selbst eine weitere Pluralisierung des politisch-sozialen Systems blockiert. Die neuen Losungen aus Moskau für Demokratie und Offenheit werden — wenngleich mit Wohlwollen — als innersowjetische Entwicklung gekenn15 zeichnet, denn man fürchtet, sie könnten die wachsende soziale und politische Unzufriedenheit im eigenen Land ermutigen. Jänos Kädär sieht Ungarn am Ende eines Weges, den die Sowjetunion gerade erst betritt, und möchte sein Werk der Konsolidierung nicht durch einen neuen, unkalkulierbaren Reformschub gefährden. Jedoch wächst aufgrund der großen wirtschaftlichen und sozialen Probleme des Landes, das seit Jahren mehr verbraucht als erwirtschaftet, der politische Handlungsbedarf, so daß eine wachsende Zahl von Menschen eine personelle und politische Erneuerung für nötig hält, die auch mit der Ernennung von Käroly Grosz zum neuen ungarischen Ministerpräsidenten nicht wirklich erfolgt ist. Solange die Erneuerung durch die ungelöste Nachfolgefrage und die Handlungsunfähigkeit der gegenwärtigen Führung blockiert wird, kennzeichnen Stillstand und Perspektivelosigkeit bei Fortführung der begrenzten Reformen das innenpolitische Klima in Ungarn.

II. Elemente des politisch-sozialen Systems

Bereits nach dieser groben Charakterisierung des ungarischen Entwicklungsweges unter Jänos Kädär kristallisieren sich widersprüchliche Tendenzen heraus: Liberalität und politische Diktatur, Innovation und Restauration, Befriedigung gesellschaftlicher Bedürfnisse und Zunahme politischer und sozialer Unzufriedenheit. Um die Modifizierung des politisch-sozialen Systems im Kadarismus genauer zu erfassen, sollen einige seiner Elemente näher dargestellt werden. 1. Die Partei Die „Ungarische Sozialistische Arbeiterpartei“ (MSZMP, ca. 850 000 Mitglieder) die in den Krisenlagen des Jahres 1956 gegründet wurde, ist laut Verfassung die „leitende Kraft der Gesellschaft“ und unterscheidet sich in Aufbau und Programm nicht wesentlich von den alleinregierenden Parteien der übrigen sozialistischen Staaten. Auch im ungarischen Sozialismus gilt das parteiinterne Fraktionsverbot, doch mitunter werden Strömungen (Reformer, Anti-Reformer, Zentristen) und Gegensätze (zwischen Hauptstadt und Provinz, zwischen Populisten und Urbanisten, zwischen einzelnen Personen) sichtbar. An der Basis herrscht eine größere Offenheit in der Diskussion, und das dogmatische Bekenntnis zum Marxismus-Leninismus ist vielfach von einem distanzierten, pragmatischen oder zynischen Verhältnis zur Politik der Partei abgelöst worden. Diese Differenzierung des Apparates hat die Flexibilität des politischen Systems erhöht, verstärkt aber auch die innerparteilichen Konflikte, die, wenn sie die Führung selbst erfassen, in der Regel durch die Stellungnahme des Parteiführers Jänos Kädär entschieden werden.

Der Hegemonieanspruch der Partei ist in den letzten Jahren in einen wachsenden Gegensatz zum selbst erklärten Ziel geraten, das politisch-soziale System zu demokratisieren und die gesellschaftliche Selbstverwaltung zu fördern. Auf der Ebene der Betriebe und der landwirtschaftlichen Genossenschaften ist es unklar, welche „führende“ Rolle die Parteigliederungen noch spielen sollen, wenn die wirtschaftlichen Einheiten nach den Prinzipien der Gewinnmaximierung und der Selbstverwaltung arbeiten sollen. Ähnliches gilt für die staatliche Verwaltung und die politischen Vertretungsorgane (Parlamente, Massenorganisationen), deren Eigenständigkeit erhöht werden soll. Die Forderung nach mehr Transparenz des politischen Systems kollidiert zudem mit der leninistischen Binnenstruktur der Partei, die Außeneinsicht oder gar Kontrolle ausschließt und als ein geheimer „Staat im Staat“ funktioniert. Dem Pluralisierungsbestreben widerspricht das Verbot konkurrierender Parteien und Organisationen, dem Prinzip der Selbständigkeit die permanenten Eingriffe in die wirtschaftliche, gesellschaftliche und staatliche Sphäre, dem Ziel der Offenheit das Verbot, über interne Vorgänge in der Partei zu berichten. Die politischen Reform-bestrebungen haben deshalb in der Partei Verunsicherung ausgelöst und bleiben größtenteils auf der Ebene verbaler Bekenntnisse haften. 2. Der Jugendverband Der „Kommunistische Jugendverband“ (KISZ, ca. 900 000 Mitglieder) ist die Jugendorganisation der Partei und gleichzeitig die einzige Massenorganisation der Jugendlichen. Diese Doppelfunktion stürzt den Verband in den Widerspruch, einerseits als „Kaderschmiede der Partei“, andererseits als korporative Vertretung aller Jugendlichen fungieren zu müssen, was wiederholt Diskussionen ausgelöst hat, beide Aufgaben in separaten Organisationen zu verwirklichen. Nach eigener Einschätzung ist der KISZ seit Anfang der achtziger Jahre, d. h.seit Beginn der zweiten Reformwelle, in eine Krise geraten und hat einen erheblichen Prestigeverlust erlitten, der sich in Massenaustritten nach Beendigung der Schulzeit und im Mangel an Nachwuchs-kadern ausdrückt. Ursache dafür ist auch hier das ungeklärte, widersprüchliche Rollenverständnis des Verbandes, wobei der Erosionsprozeß durch den Bedeutungsverlust der Ideologie und das Nachlassen des politischen Organisationszwanges rasch vorangetrieben wurde.

Zum offenen Konflikt kam es, als Jugendliche 1982 versuchten, einen eigenen Studentenverband und später eine unabhängige Friedensgruppe ins Leben zu rufen. In einem anderen Fall wurde KISZ-Mitgliedern die Herausgabe einer Studentenzeitschrift untersagt, so daß diese seither im Untergrund erscheint. Hinzu kommen wachsende soziale Probleme der Jugendlichen wie Schwierigkeiten bei der Wohnungsbeschaffung, Zwang zu zusätzlicher Erwerbstätigkeit nach Feierabend, Zerrüttung der Familien, Alkoholismus und Drogenmißbrauch, ungerechte Verteilung der Einkommen usw. Auf dem XI. KISZ-Kongreß im Sommer 1986 wurde deshalb beschlossen, die Rolle des Verbandes als Interessenvertretung der Jugendlichen zu stärken, u. a. durch die Gründung besonderer Jugendsektionen innerhalb der Gewerkschaften. Die Organisationsstruktur sollte insoweit modifiziert werden, als Studenten und Hochschülem verstärkt die Gründung organisatorisch selbständiger Kulturzirkel, Klubs und Vereine ermöglicht werden soll.

Um seine Isolation zu verringern, ist der KISZ auch bemüht, sich frühzeitiger für gesellschaftliche Stimmungen zu öffnen und diese nicht — wie bei der Friedensfrage — unabhängigen Gruppen zu überlassen. Deutlich wird dies besonders in der Reaktion des Verbandes auf das wachsende Umweltbewußtsein in der Jugend, zu dessen Kanalisierung 1984 ein ausführlicher Beschluß gefaßt und ein „Jugendumweltschutzrat“ ins Leben gerufen wurde. Dieser versucht, sich als Dach der zahlreichen an Schulen und Hochschulen entstandenen Umweltzirkel zu profilieren, die er durch Geldausschüttungen im Rahmen von Wettbewerben an sich bindet. Bei überschaubaren Umweltstreitfällen hat sich der Rat für die ökologischen Belange mit Hilfe des KISZ eingesetzt, während er bei Konflikten, in denen er sich in Gegensatz zur Parteiführung hätte begeben müssen, auf ein Engagement verzichtete. 3. Die Gewerkschaften Der ungarische Zentralrat der Gewerkschaften (SZOT), dessen 19 Branchengewerkschaften rund 4, Millionen Menschen, d. h. beinahe jeden ungarischen Arbeitnehmer vertreten, hat die widersprüchliche Aufgabe, einerseits die materiellen, sozialen und kulturellen Interessen seiner Mitglieder zu vertreten, andererseits, wie es offiziell heißt, die Werktätigen zum Aufbau der sozialistischen Gesellschaft zu erziehen 5). Der hohe Mitglieds-stand erklärt sich vor allem aus den sozialen Leistungen der Gewerkschaften (Urlauberheime, Erwerbslosengeld usw.), doch seine politische Rolle ist gering — obwohl die Bewegung der Arbeiterräte in Ungarn in den Revolutionen von 1919 und 1956 eine große Rolle spielte. Größere Aufmerksamkeit wurde den ungarischen Gewerkschaften nur während der polnischen Streikbewegung in den Jahren 1980/81 gewidmet; mit der politischen Befriedung in Polen und der Verschärfung der wirtschaftlichen Schwierigkeiten Ungarns wurden die Gewerkschaften jedoch zusehends in die Rolle gedrängt, höhere Arbeitsleistungen zu fordern und an dem Sanierungsprozeß der Wirtschaft mitzuwirken sowie das standesähnliche konservative Denken der Arbeiter gegenüber ökonomischen Umstrukturierungen aufzubrechen.

Die mangelhafte soziale Interessenvertretung durch die Gewerkschaften führte im Vorfeld ihres 25. Kongresses im Frühjahr 1986 zu heftigen Diskussionen in der Mitgliedschaft; dort verwies man auf die wachsenden sozialen Probleme durch Inflation und Zwang zur Zusatzarbeit nach Feierabend, wovon besonders kinderreiche Familien, Rentner und ungelernte Arbeiter hart betroffen seien. Die Gewerkschaftsführung versprach daraufhin, den sozialen Problemen mehr Aufmerksamkeit schenken zu wollen, wies jedoch Ansichten zurück, die die Interessen der Beschäftigten eines einzelnen Betriebes über diejenigen der Volkswirtschaft stellen wollten. Der Vorsitzende des SZOT, Sändor Gäspär, bejahte die Wirtschaftsreformen und die Existenz eines zweiten, nicht-staatlichen Arbeitsmarktes, auch wenn dadurch die Tätigkeit in der Hauptarbeitszeit möglicherweise ethisch entwertet werde und Arbeitskräfte in die weniger effizienten, aber besser entlohnten Bereiche strömten. Die Gewerkschaftsführung führte die Demokratisierung des Wirtschaftsprozesses auf Betriebsebene an, verlangte dafür aber eine erhöhte Arbeitsmoral und die Bereitschaft zu Entsagungen in einer wirtschaftlich schwierigen Lage. Nachdem der Kongreß vorrüber war, beteiligte sich der SZOT auch an der öffentlichen Vorstellung eines Gesetzespaketes über Betriebsstillegungen, Massenentlassungen und Einführung eines Erwerbslosengeldes in Ungarn, das im September 1986 in Kraft trat und die hohen Subventionen für unrentable Unternehmen reduzieren soll 4. Die Patriotische Volksfront Die Volksfront (HNF), die vergleichbar ist mit der Nationalen Front in der DDR und über nahezu 5 000 lokale Komissionen mit etwa 100 000 gewählten Mitgliedern verfügt, „vereinigt die Kräfte der Gesellschaft zum völligen Aufbau des Sozialismus, zur Lösung der politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Aufgaben, und wirkt bei der Wahl und in der Arbeit der Volksvertretungsorgane mit“ (Verfassungstext). Unter ihrem Generalsekretär Imre Pozsgay kann seit einigen Jahren der Versuch beobachtet werden, die Volksfront als Organisation halb-offizieller gesellschaftlicher Initiativen und als Instrument eines begrenzten Demokratisierungsprozesses zu profilieren. In zahlreichen Reden machte sich Pozsgay für die Entwicklung von Demokratie und Selbstverwaltung stark, um „weiteren gewillten Bürgern Möglichkeiten zu echten Aktivitäten im öffentlichen Leben“ zu bieten. So könne die Volksfront zu einem perspektivischen, strategischen Faktor auf Ungarns Weg der gesellschaftlichen Reform und Erneuerung werden. „Ein Staatsbürger mit reduzierter Rolle kapselt sich auf individualistische Weise ab, fordert einfach die Befriedigung seiner Bedürfnisse. Ein verantwortungsvoller und zu Entscheidungen fähiger Bürger hingegen handelt im Bereich der Selbstverwaltung selbstbewußt, bringt der Regierung in schweren Zeiten Verständnis entgegen und setzt sich auch dann für den Sozialismus ein, wenn dieser die Befriedigung seiner berechtigten Bedürfnisse auch nur in der Zukunft verspricht.“

Tatsächlich beschränkt sich die Mitwirkungsmöglichkeit der Volksfront jedoch auf ein schmales Feld, das Fragen der Siedlungspolitik, des Verbraucherschutzes, des Natur-und Umweltschutzes, der Durchführung der Wahlen und des „Systems demokratischer Foren“ umfaßt. Ihre Randstellung im politischen System wird auch darin deutlich, daß ihr Generalsekretär im Gegensatz zu den Vorsitzenden von SZOT und KISZ keinen Sitz im Politbüro inne-hat. Ein Versuch Pozsgays, 1986 einen „Verband Ungarischer Umweltschützer“ ins Leben zu rufen, wurde von der Parteispitze ebenso abgeblockt wie das Erscheinen einer kritischen Zeitschrift der Volksfront, deren erste Nummer vor der Auslieferung wieder eingestampft werden mußte. Vergeblich hat die Volksfront bislang auch die Einführung lokaler Volksabstimmungen zu bestimmten Streitfragen propagiert, während sie in einer Reihe von begrenzten Umweltkonflikten mit ihrer Stellungnahme eine Entscheidung zugunsten der ökologischen Belange herbeiführen konnte. Darüber hinaus gelang es der Volksfront, die Gründung eines landesweiten Vereines kinderreicher Familien durchzusetzen, doch im Konflikt um ein gigantisches Staustufensystem an der Donau, gegen das 10 000 Menschen protestierten, verzichtete sie auf eine kritische Stellungnahme.

Ein wichtiges Ereignis im Zusammenhang mit den offiziellen Bemühungen um eine Reform des politischen Systems stellten die Parlamentswahlen im Juli 1985 dar Unter dem Eindruck der Streikbewegung in Polen wurde Anfang der achtziger Jahre ein neues Wahlrecht ausgearbeitet, dessen bedeutendste Neuerung die Verpflichtung zur Aufstellung von mindestens zwei Kandidaten war, zwischen denen der Wähler sich entscheiden mußte. Kandidat konnte man werden, wenn man auf zwei Nominierungsversammlungen im Wohngebiet mindestens ein Drittel der Stimmen der Anwesenden auf sich vereinigen konnte und sich zum Programm der Volksfront bekannte. Faktisch bedeutete dies nur eine geringfügige Veränderung des Wahlrechtes, denn auch früher konnten schon mehrere Kandidaten bestimmt werden, was die lokalen Volksfront-kommissionen jedoch in den meisten Fällen ebenso verhinderten wie die Kandidatur von Unabhängigen. Das Besondere der Parlamentswahlen lag vielmehr darin, daß die breit propagierte Intention der Reform, Demokratisierung des politischen Systems, erstmals von einem größeren Teil der Gesellschaft beim Wort genommen wurde und rund 80 unabhängige Bürger sich um eine Kandidatur zu den sonst nur als „schäbigen Ritus“ betrachteten Wahlen bemühten. Die politische Führung wurde von dieser Entwicklung offensichtlich überrascht und rief noch während der Nominierungsversammlungen das Zentralkomitee zusammen, um die verunsicherten Parteikader zu beruhigen und Maßnahmen gegen unerwünschte Kandidaturen, z. B. von Oppositionellen, zu vereinbaren. Lediglich solche Kandidaten hatten danach noch eine Chance, als Anwerber auf ein Abgeordnetenmandat nominiert zu werden, die die Unterstützung lokaler oder anderer Kräfte aus dem Staats-und Parteiapparat genossen. Auf diese Weise führte das neue Wahlrecht nicht zu einer Demokratisierung des politischen Systems, sondern zu Verschiebungen inner-halb der Machtstruktur, von denen vor allem die lokalen politischen Eliten profitierten, während Frauen und Gewerkschaftsvertreter seltener nominiert wurden. Hinweise auf eine echte Demokratisierung der Parlamentsarbeit, die in den Medien zunehmend breiter dargestellt wird, gibt es bislang nicht; unverändert besteht darüber hinaus die Praxis fort, die meisten Gesetze und Entscheidungen auf dem Verordnungsweg zu beschließen. Insgesamt gesehen ist die Volksfront neben den Wirtschafts-und Sozialwissenschaftlern wohl die wichtigste Stütze reformerischer Kräfte, deren Einfluß auf das politische System jedoch-eher als gering zu veranschlagen ist, da sie unter den derzeitigen Bedingungen keine Chance haben, die Gesamtpolitik in Ungarn zu bestimmen. 5. Die Medien Bei den Versuchen, das politische System in Reformperioden durchlässiger zu gestalten, kommt — wie jetzt auch in der Sowjetunion — den Medien (Radio, Fernsehen, Zeitungen, Zeitschriften, Buchproduktion und Film) eine hervorragende Rolle zu. In Ungarn hat diese Strategie bereits seit einer Reihe von Jahren dazu geführt, daß das Informationsniveau und das Problembewußtsein der Massenmedien und Teilöffentlichkeiten angestiegen sind. Reale gesellschaftliche Probleme wie Arbeitslosigkeit, Umweltverschmutzung, Drogen-und Alkoholkonsum, sinkende Lebenserwartung usw. finden ebenso ihren Niederschlag wie solche Tabuthemen, die nicht der inneren Opposition oder der westlichen Berichterstattung überlassen bleiben sollen (z. B.der Aufstand von 1956, die Lage der ungarischen Minderheit in Rumänien, die radikale Reformdiskussion usw.). Auf diese Weise ist es gelungen, die Attraktivität der offiziellen Medien erheblich zu steigern und den Wert alternativer Informationsquellen — wie des amerikanischen Senders „Freies Europa“ — zu verringern. Auffällig ist dabei, daß in dem Bereich, wo es eine offizielle Zensurinstanz gibt (Filmproduktion), die Spielräume für Kritik größer sind als dort, wo Redakteure und Chefredakteure selber über die „Verantwortbarkeit“ der Beiträge entscheiden. Zudem ist zu beobachten, daß sich die „erleichternde“ Wirkung der Öffnung der Medien rasch abnutzt, wenn es, wie oftmals, bei Problemrhetorik bleibt und keine Lösungen zustande kommen.

Eine Änderung der Grundwidersprüche der Medienpolitik hat auch ein neues Pressegesetz aus dem Jahre 1986, das Aufgaben der Medien und ihrer Mitarbeiter neu regelte, nicht herbeiführen können, da die zentrale Kontrolle durch das ZK-

Sekretariat für Agitation und Propaganda unverändert fortbesteht. So haben die Medien ihren Kommuniqud-Charakter behalten, der sie dazu verpflichtet, Erklärungen der Partei, der Regierung oder des sozialistischen Lagers den Anordnungen entsprechend zu publizieren, wovon vor allem die Tagespresse betroffen ist. Das gleiche gilt für die meisten politischen Ereignisse und ihre Bewertung, so daß die Vertreter alternativer Standpunkte nicht zu Wort kommen können. Zahlreiche wichtige Informationen werden der Bevölkerung zudem vorenthalten, wenn — wie etwa in den ersten Wochen nach dem sowjetischen Reaktorunglück — die Parteiführung eine Berichterstattung nicht wünscht. Schließlich kommt es auch immer wieder zu direkten Eingriffen gegen unliebsame Publikationen; und das ZK-Sekretariat verhindert, daß sich einzelne Medien als Vertreter einer kritischen Richtung profilieren können — notfalls, wie bei den Zeitschriften „Mozgö Vilg" (Bewegliche Welt) und „Tiszatäj“ (Land der Theiß), durch die Absetzung des Chefredakteurs und vorübergehende Einstellung des Erscheinens. Auf diese Weise ist der Mediensektor beständig Gegenstand politischer Auseinandersetzungen hinsichtlich der Frage, wie weit die Öffnung gegenüber den gesellschaftlich relevanten Themen gehen darf. 6. Die Kirchen Als einzige nicht-kommunistische Großorganisationen sind die Kirchen für eine Untersuchung des politisch-sozialen Systems der sozialistischen Gesellschaft besonders interessant. Die ungarischen Kommunisten begannen nach dem Zweiten Weltkrieg, den bis dahin erheblichen Einfluß der Kirchen, vor allem der katholischen Kirche, systematisch und mit eskalierender Brutalität zurückzudrängen. Unter diesem Druck setzte sich seit Anfang der fünfziger Jahre im katholischen Episkopat eine neue, anpassungsbereite Politik durch, die die staatsloyale Tradition des ungarischen Katholizismus unter anderen, d. h. sozialistischen Vorzeichen fortführte. Die katholischen Würdenträger verbanden ihre Kooperationsbereitschaft mit der Hoffnung, die Existenz der Kirche im Sozialismus zu sichern und praktische Erleichterungen ihrer Arbeit zu bewirken, sind aber — anders als in der DDR — bis heute unmittelbar abhängig vom Staats-und Parteiapparat, weil in Ungarn Bischöfe nur mit Zustimmung des staatlichen Kirchenamtes geweihtwerden können. Der Konflikt zwischen Staat und Kirche hat sich unter diesen Umständen zu einem Konflikt mit jenem Teil der kirchlichen Basis verschoben, der gegen die neue Allianz von Thron und Altar auftritt. In Ungarn sind dies vorrangig unabhängige katholische Gebetsgemeinschaften mit häufig fundamentalistischen Überzeugungen, die bis Anfang der siebziger Jahre vom Staat verfolgt wurden, während dann — im Zusammenhang mit den KSZE-Verhandlungen — der Episkopat selbst die Aufgabe übertragen bekam, diese Basisgemeinden zu disziplinieren. Zu einem zentralen Konfliktpunkt hat sich dabei seit einigen Jahren die Frage der Wehrdienstverweigerung entwickelt, die in Ungarn mit Gefängnisstrafen von durchschnittlich drei Jahren geahndet wird Während die Basisgemeinden die Schaffung eines Wehrersatzdienstes fordern, hat die Kirchenhierarchie bei verschiedenen Gelegenheiten gegen die katholischen Wehrdienstverweigerer Stellung bezogen und disziplinarische Maßnahmen gegen die Arbeit der Basisgemeinden ergriffen.

Im Vergleich zu Polen oder der DDR gewährt die staatliche Kirchenpolitik in Ungarn den Glaubens-gemeinschaften einen ausgesprochen schmalen, nahezu ausschließlich religiösen Spielraum, der sich auch in der Reformperiode nur unwesentlich vergrößert hat. Trotz einer auch in Ungarn zu beobachtenden Hinwendung zur Religiosität, die dem allgemeinen Säkularisierungsprozeß zuwiderläuft, und im Gegensatz zur Liberalisierung anderer Bereiche im Zuge der Reformpolitik wird den Kirchen eine autonome Stellung im politisch-sozialen System verweigert. Sie fungieren weder als „Stimme der Nation“ wie in Polen noch als Schutz-raum für unabhängige gesellschaftliche Orientierungen wie in der DDR, sondern beschränken sich auf religiöse Aufgaben und die Rolle eines Verstärkers der Politik der Partei. 7. Unabhängige politische Bestrebungen Nicht-kommunistische Parteien und Gruppen wurden in Ungarn zweimal — nach 1945 und nach 1956 — vollständig liquidiert. In der Reformperiode wurden dabei polizeiliche Mittel zunehmend von der Bereitschaft des politischen Systems ergänzt, sich für bestimmte Stimmungen und Bedürfnisse in der Bevölkerung zu öffnen und diese nicht mehr in die Illegalität abzudrängen. Ein Beispiel dafür ist die Integrationsstrategie im Hinblick auf den ungarischen Nationalfeiertag am 15. März, der niemals zu einem arbeitsfreien Tag erklärt wurde und lange Zeit Symbol unterdrückter nationaler und revolutionärer Gefühle war. Während bis Anfang der achtziger Jahre unangemeldete Studentenaufmärsche an diesem Tag von der Polizei brutal zerschlagen wurden, hat die Parteiführung das offizielle Gedenken zum 15. März inzwischen beständig ausgebaut und 1987 erstmals die Polizei angewiesen, für einen ungestörten Ablauf der illegalen Demonstration zu sorgen. Auf diese Weise wurde der Konsens zwischen Staat und Gesellschaft verstärkt und der Tag von der Partei partiell mit ihren eigenen politischen Inhalten besetzt.

Ein anderes Feld unabhängiger politischer Bestrebungen bilden Problemlagen, aus denen sich in westlichen Gesellschaften die neuen sozialen Bewegungen speisen und die auch in Ungarn zur Gründung unabhängiger Gruppen wie der Friedensinitiative „Diälogus“ oder der Protestbewegung gegen ein Staustufensystem an der Donau geführt haben Kennzeichnend für beide Initiativen war, daß sie keine grundsätzliche Kritik am politischen System üben wollten, sich bewußt von der Opposition entfernt hielten und zum Teil sogar bestritten, überhaupt eine politische Bewegung zu sein. Nach einer Übergangszeit leitete die Parteiführung eine Politik der Marginalisierung gegenüber diesen Gruppen ein, die — von polizeilichen Maßnahmen flankiert — zu deren Auflösung führte, während gleichzeitig die offiziellen Institutionen (Friedens-rat, KISZ, Volksfront) für die genannten Anliegen partiell geöffnet wurden. Inzwischen hat in Ungarn jedoch eine sozialwissenschaftliche Diskussion eingesetzt, ob das politische System nicht Freiräume für solche autonomen gesellschaftlichen Bewegungen zulassen oder sogar deren institutioneile Absicherung, z. B. in Form eines Vereines, ermöglichen solle, ohne daß allerdings diese Diskussion bislang praktische Auswirkungen gezeigt hätte.

Ein weiteres Feld, auf dem sich gesellschaftliche Ambitionen mit einer gewissen Unabhängigkeit artikulieren können, sind die zahlreichen offiziell zugelassenen Klubs, Zirkel, Vereine und kulturellen Institutionen, denen von der Partei eine Ventil-funktion zugedacht wird, ohne daß sich daraus politische oder soziale Bewegungen formieren. Dieses Modell, organisatorische Autonomie mit vielfälti-gern subtilen Druck bis hin zur Auflösungsdrohung zu verbinden, findet in erster Linie gegenüber der Intelligenz Anwendung und liegt auch der Rolle des ungarischen Schriftstellerverbandes zugrunde.

Insgesamt ist das Potential unabhängiger politischer Bestrebungen in den letzten Jahren erheblich angewachsen und umfaßt wahrscheinlich mehrere tausend Menschen, vor allem aus der Intelligenz. Es bleibt allerdings diffus und ungeordnet, da kein institutioneller Rahmen zur Verfügung steht, in dem es sich organisieren und kontinuierlich kristallisieren könnte. Bewegungen zu einzelnen politischen Themen können ebenso rasch entstehen wie wieder zerfallen, weshalb die Reaktion der Parteiführung auf solche Phänomene flexibler ist als die auf Gruppen wie die Basisgemeinden, die eine feste, kaum zu beeinflussende Ideologie und organisatorische Stabilität besitzen. Mit ebensolchem Nachdruck verhindert der Partei-und Staatsapparat auch die Entstehung sozialer Protestbewegungen außerhalb der Intelligenz, die das politische System — wie 1980/81 in Polen — unmittelbar gefährden könnten. 8. Opposition Zu den kompliziertesten Phänomenen des politisch-sozialen Systems in Ungarn gehören die Aktivitäten jenes Kreises von Intellektuellen und Systemkritikern, der sich selbst „demokratische Opposition“ nennt und dessen wichtigste Tätigkeit die Schaffung einer unabhängigen „zweiten Öffentlichkeit“ darstellt Allein die Definition dieser Gruppe von Schriftstellern, Philosophen, Soziologen, Historikern, Literaturkritikern und Vertretern anderer intellektueller Berufe ist äußerst schwierig, weil die Vielfalt von Meinungen, Tätigkeiten und Lebensläufen sowie die fließenden Übergänge zum „offiziellen“ ungarischen Geistesleben eine genaue Bestimmung etwa nach inhaltlichen Kriterien ausschließt. Auch der Einfluß der Opposition in Ungarn ist schwer abzuschätzen, weil einerseits ihre Vorstellungen über die Untergrundpresse, private Seminare und die in ungarischer Sprache gesendeten Programme von „BBC“ und „Radio Freies Europa“ einen großen Adressatenkreis erreichen, andererseits die Opposition gegenüber der Gesellschaft extrem isoliert ist und vielfach als elitärer, auf Budapest beschränkter, zum Teil mit besonderen Privilegien (West-Reisen) ausgestatteter Freundeskreis empfunden wird.

Die Entstehung der Opposition geht auf die Desillusionierung kritischer, „revisionistischer“ Marxisten zurück, die in der zweiten Hälfte der sechziger Jahre einsetzte und durch die sowjetische Intervention in der ÖSSR beschleunigt wurde. Die Gruppe um den ehemaligen ungarischen Ministerpräsidenten Andräs Hegedüs, der damals die Soziologische Forschungsgruppe an der Akademie der Wissenschaften leitete, stieß mit ihrer Bürokratiekritik und ihren Sozialismusvorstellungen schon seit Mitte der sechziger Jahre auf den Widerstand des Parteiapparates und geriet durch ihren Protest gegen den Prager Einmarsch in einen offenen Konflikt. Ein ähnlicher Vorgang spielte sich um den Philosophen Georg Lukäcs ab, dessen Arbeiten wegen seiner Mitgliedschaft im Kabinett von Imre Nagy den Geruch der politischen Opposition trugen und dessen Schüler mit der „Budapester Schule“ eine Erneuerung des Marxismus anstrebten. Einigen heutigen Oppositionellen wurde 1968 auch ein Prozeß wegen maoistischer Aktivitäten gemacht. Zu einer Marginalisierung dieser Intellektuellen kam es 1973, als die Reformperiode in Ungarn gestoppt wurde: Sieben Wissenschaftler, unter ihnen Andräs Hegedüs und die Schüler des zu diesem Zeitpunkt bereits verstorbenen Lukäcs, erhielten Berufsverbot; die Parteimitglieder unter ihnen wurden aus der MSZMP ausgeschlossen. Kurz darauf kam es auch zu Prozessen und vorübergehenden Verhaftungen. Trotzdem wurde der ideologische Erosionsprozeß unter den Intellektuellen, der sich in dem Konflikt andeutete, nur langsam zu einem Faktor im politischen System, denn ihre neo-marxistischen Vorstellungen waren in der ungarischen Gesellschaft alles andere als populär.

In der zweiten Hälfte der siebziger Jahre, die durch eine innen-und außenpolitische Entspannung in Ungarn gekennzeichnet waren, begann die kritische Intelligenz, in Ermangelung offizieller Publikationsmöglichkeiten sich eine eigene Öffentlichkeit für ihre Überlegungen zu schaffen: Manuskripte wurden privat vervielfältigt, Vorlesungen in Privatwohnungen abgehalten, politische Vorgehensweisen diskutiert. Viele Intellektuelle lösten sich vom Marxismus und stellten die Verwirklichung der bürgerlichen Freiheiten als Minimalprogramm in den Mittelpunkt ihrer Vorstellungen. Dies fand praktisch-politisch seinen Ausdruck in zwei Solidaritätserklärungen für die Charta 77, die 1977 und 1979 von ungarischen Intellektuellen unterzeichnet wurden.

Den Behörden gelang es nicht, die Entstehung der Opposition zu verhindern, obwohl sie mit Entlassungen, Publikationsverboten, Vorladungen und einer großzügigen Praxis bei der Genehmigung von Auslandsaufenthalten reagierten. Statt dessen hat sich die „zweite Öffentlichkeit“ in den achtziger Jahren stabilisiert und ausdifferenziert und den Charakter einer Gegenöffentlichkeit angenommen, die unterbliebene Nachrichten, aktuelle Informationen und Kommentare sowie Aufrufe, Analysen, philosophische Essays und verbotene Literatur einem begrenzten Kreis zur Kenntnis bringt Inhaltlich schlägt sich dies in der Dominanz solcher Themen nieder, die in der staatlichen Öffentlichkeit nicht oder nur unzureichend behandelt werden (der Aufstand von 1956, die Lage der ungarischen Minderheit in Siebenbürgen, die Geschichte Ungarns nach dem Zweiten Weltkrieg, Menschenrechtsverletzungen, Umweltprobleme, Antisemitismus usw.) — häufig mit dem Ergebnis, daß auch die offiziellen Medien sich den aufgeworfenen Fragen zuwenden.

Die ungarische Opposition ist eine typische Intellektuellenbewegung, die durch ein hohes Maß an Theorie und einen Mangel an politischer Praxis gekennzeichnet ist, was nicht zuletzt auch eine Folge des Arrangements der Gesellschaft mit dem System des Kadarismus ist. Angesichts der Vielfalt von politischen Theorien und Überzeugungen läßt sich die Opposition am ehesten als Keimform einer demokratischen Öffentlichkeit verstehen, die erst in einer Umbruchssituation größere politische Bedeutung gewinnen, dann aber auch in sehr unterschiedliche Strömungen zerfallen könnte. Die staatliche Strategie gegenüber der Opposition besteht im wesentlichen darin, ihre gesellschaftliche Isolation aufrechtzuerhalten, ihre praktische Tätigkeit zu erschweren und ihr politisches Gewicht zu neutralisieren, ohne zu Methoden zu greifen, die die Fiktion einer liberalen, zivilisierten und erneuerungsfähigen Gesellschaft nachhaltig zerstören würden. Hinter dieser Politik, die von der Opposition manchmal als „repressive Toleranz“ bezeichnet wird, steht die Überlegung, daß diese außen-und innenpolitisch so lange mehr Vor-als Nachteile mit sich bringt, wie die Stabilität des politisch-sozialen Systems nicht in Gefahr gerät. Insofern ist die Ausweitung der „zweiten Öffentlichkeit“ in den achtziger Jahren nur zum Teil ein Zeichen der Zunahme oppositioneller Bestrebungen und spiegelt auch die Stärke des Kadarismus, der sich mit einer differenzierten Isolierungs-und Integrationsstrategie gegenüber der kritischen Intelligenz begnügen kann. Die Wirtschaftskrise und das Anwachsen sozialer Spannungen im heutigen Ungarn könnten jedoch durchaus dazu führen, daß die politische Führung diese Politik revidiert, wobei, zumindest theoretisch, zwei Varianten denkbar sind: die Liquidierung der Opposition mit polizeilichen Mitteln oder ihre Einbeziehung in eine Lösung der Krise.

III. Bewertung der Reformpolitik

Das politisch-soziale System in Ungarn, von dem hier nur einige Facetten dargestellt werden konnten, hat nach 1956 erhebliche Wandlungen erfahren, die eine differenzierte Bewertung der Reform-politik erforderlich machen. Der Wandlungsprozeß wurde vom Bemühen der politischen Führung geleitet, Rationalität, Flexibilität und Effektivität in der Lenkung und Entwicklung wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Prozesse zu stärken, um nach der Krise von 1956 und den nachfolgenden Jahren der Repression das politisch-soziale System zu stabilisieren, Fehler nach Möglichkeit zu beseitigen und einen neuen gesellschaftlichen Entwicklungsschub einzuleiten. Trotz Unterbrechungen und mancher gegenläufiger Prozesse griff in Ungarn damit über einen relativ langen Zeitraum eine Politik begrenzter Reformen Platz, deren bedeutendste Auswirkungen im Bereich des wirtschaftlichen und kulturellen Lebens liegen. Sie wurde von der Intention geführt, die Ökonomie zu modernisieren, die Möglichkeiten materieller Bedürfnisbefriedigung sichtbar zu verbessern, die Gesellschaft zur Mitarbeit und größerer Übereinstimmung mit der Führung zu bewegen und der Intelligenz größere Entfaltungsmöglichkeiten einzuräumen. Auf diese Weise ist es dem Kadarismus gelungen, die Krise des Jahres 1956 weitgehend erfolgreich zu bewältigen, einen beachtlichen Konsenz zwischen Staat und Gesellschaft herzustellen und in vielen Bereichen eine dynamische gesellschaftliche Entwicklung zu bewirken. Erst in der Wirtschaftskrise der achtziger Jahre drohen diese positiven Trends wieder umgekehrt zu werden.

Das politische System selbst blieb dabei von diesem Wandlungsprozeß relativ unberührt, weil die Reformen von vorneherein strukturellen Einschränkungen unterlagen: Sie berühren nicht das Grundmodell der sozialistischen Gesellschaft einschließlich der monopolisierten politischen Herrschaft und der Vormachtstellung der Sowjetunion; sie erfassen kaum oder gar nicht den Kernbereich der Machtstrukturen (Partei, Armee, Polizei, Staatsapparat); sie sind institutionell nicht abgesichert und können damit — wie Anfang der siebziger Jahre — jederzeit durch politischen Beschluß gestoppt oder rückgängig gemacht werden. Dadurch erscheinen die Ziele des Reformprozesses in der Bevölkerung als grundsätzlich unglaubwürdig, langfristig ungesichert und kurzfristig immer wieder durch gegenteilige Erfahrungen konterkariert. Ökonomisch drückt sich dies u. a. darin aus, daß Gewinne aus der privaten Wirtschaft nicht reinvestiert, sondern in Konsumgütern angelegt werden; gesellschaftlich in Passivität, Verantwortungslosigkeit und Demoralisierung. Die Intention der Reformen, die Gesellschaft zu echter Mitarbeit zu mobilisieren, konnte daher nur in Teilbereichen und auch da nur begrenzt realisiert werden.

Eine der langfristig vielleicht bedeutsamsten Folgen des Bestrebens der Reform, Rationalität, Effektivität und materielle Bedürfnisbefriedigung in den Mittelpunkt von Politik und Wirtschaft zu stellen, ist ein massiver Entideologisierungsprozeß. Dieser äußert sich in der Bevölkerung in einem häufig extremen Materialismus, im Partei-und Staatsapparat in einem oftmals zynischen Pragmatismus und in der Intelligenz und der gebildeten Jugend in einem Zuwachs geistiger Autonomie und politischen Selbstbewußtseins. Es ist ein völlig neues Klima innergesellschaftlicher Kommunikation und Orientierungen entstanden, das nur noch sehr wenige Bezüge zum Marxismus-Leninismus enthält. Dadurch entsteht eine zunehmende Spannung zwischen den äußeren, strukturellen Determinanten des politischen Systems und dem tatsächlichen Bewußtsein in der Gesellschaft, dessen tiefgreifenden Wandel der ungarische Soziologe Ivän Szelenyi einmal treffend als „sozialistische Verbürgerlichung“ gekennzeichnet hat. Gesellschaft und insbesondere Partei-und Staatsapparat sind an ein ideologisches System gebunden, das, zugespitzt formuliert, nur wenige ernst nehmen und das von einer immer kleiner werdenden Zahl von Menschen aktiv vertreten wird.

Gleichzeitig bildet sich auf diese Weise ein Antagonismus zwischen einer liberalen Kultur des Denkens, die sich besonders stark in der Intelligenz entwickelt hat, und der anti-liberalen politischen Praxis heraus. Dieser Antagonismus wird noch dadurch verstärkt, daß die Politik der „repressiven Toleranz“ nach sozialen Schichten und Regionen unterschiedlich gehandhabt wird, also der haupt-städtischen Intelligenz Freiheiten eingeräumt werden, deren Inanspruchnahme auf dem Lande durch einen Vertreter mit niedrigem sozialem Status Repressionen nach sich ziehen würde. In Teilen der Gesellschaft, besonders in der jungen Generation, die als „Nachgeborene“ keine Dankbarkeit mehr gegenüber dem Kadarismus für die „kleinen Freiheiten“ empfindet, drängt man auf Auflösung der Widersprüche. Das führt zu einem Zuwachs an kritischem gesellschaftspolitischem Engagement, das zwangsläufig an die Grenzen des politischen Systems stößt. Illusionen oder Hoffnungen werden enttäuscht, und das politische System weist gerade jene aktivsten gesellschaftlichen Kräfte zurück, deren Mitarbeit es braucht und gewinnen will. Die Spannungen im Bewußtsein der ungarischen Gesellschaft sind mit der Reformpolitik letztendlich nicht kleiner, sondern größer bzw.deutlicher geworden und haben Mitte der achtziger Jahre, durch soziale Gegensätze und physische und psychische Überanstrengung verstärkt, ein für die Führung beunruhigendes Ausmaß angenommen.

Von besonderem Interesse in diesem Zusammenhang sind die sozialen Auswirkungen des Reform-prozesses und der Ausweitung des Marktes in der sozialistischen Gesellschaft. Auf der einen Seite konnte die Warenversorgung erheblich verbessert, Unzufriedenheit abgebaut und ein großer Teil der individuellen Anstrengungen in die Befriedigung der Konsumbedürfnisse gelenkt werden. Auf der anderen Seite ist gleichzeitig auf diese Weise eine Art bürgerliches Subjekt neu entstanden, das sowohl als Käufer als auch als privater Anbieter von Waren, Dienstleistungen oder Arbeitskraft über eine größere Autonomie verfügt als in anderen sozialistischen Staaten, was für Stabilität und Effektivität des politisch-sozialen Systems widersprüchliche Auswirkungen hat. Schließlich haben die Reformen aber auch zu einem Ansteigen der sozialen Unterschiede und Spannungen geführt, die in den achtziger Jahren eine wachsende Unzufriedenheit ausgelöst haben Der breite Anstieg des Lebensstandards und der Realeinkommen in den siebziger Jahren währte nur eine verhältnismäßig kurze Zeit; er erfaßte danach im wesentlichen nur noch eine schmale Schicht, die durch staatliche Funktionen oder Verdienste aus der privaten Wirtschaft ein weit über dem Durchschnittslohn (ca. 5 500 Forint = ca. 200 DM) liegendes Einkommen erwirtschaften konnte. Demgegenüber ist die Schicht derjenigen angewachsen, die über ein durchschnittliches Einkommen verfügen und durch Inflation, Korruption („Trinkgelder“ für ärztliche Behandlung, Dienstleistungen etc.) und das hohe Preisniveau in der privaten Ökonomie dazu gezwungen sind, einem zweiten, dritten oder sogar vierten Beruf nach Feierabend nachzugehen, um ihren Lebensstandard zu halten. So lagen die Real-einkommen 1985 um 5 % unter denen des Jahres 1980, während sich die Konsumpreise im selben Zeitraum um 39% erhöhten; zugleich ist Ungarn das Land mit der höchsten Pro-Kopf-Arbeitszeit in Europa Schließlich ist eine breite Schicht der Bevölkerung überhaupt nicht in der Lage, ein durchschnittliches Einkommen zu erwirtschaften, so daß mindestens 800 000 Menschen (8 % der Gesamtbevölkerung) unterhalb des offiziellen Existenzminimums von monatlich 2 400 Forint (ca. 100 DM) leben. Die Verarmung trifft vor allem Rentner, Zigeuner, Hilfsarbeiter und kinderreiche Familien. Die aus den fünfziger Jahren im wesentlichen unverändert übernommene Sozialpolitik, die Asozialität“ als Straftatbestand versteht, ist ungeeignet, der powerisierten Bevölkerungsgruppe ein menschenwürdiges Dasein zu sichern.

Diese Austeritätspolitik, die dem ungarischen Weg das Etikett „sozialistischer Thatcherismus" eingetragen hat, verstärkt soziale Negativtrends wie Kriminalität, Alkoholismus, Krankheits-, Selbstmord-und Scheidungsrate und führt zu einer Polarisierung innerhalb der Gesellschaft, die sich in Empfindungen wie Sozialneid und Anti-Reformismus auf der einen, Egoismus und Diskriminierung der Schlechtergestellten auf der anderen Seite ausdrückt. Die Politik der ungarischen Führung, mit Betriebsstillegungen und Entlassungen staatliche Subventionen abzubauen und in den nächsten Jahren insgesamt 200 000 Arbeitsplätze zu liquidieren, verschärft das soziale Klima und hat in einzelnen Regionen wie der nordungarischen Industriestadt Özd zu einer Verdoppelung der Kriminalität innerhalb eines Jahres geführt. An dieser Stelle wirken nun die Defizite des politisch-sozialen Systems besonders einschneidend, denn es läßt weder die Entstehung schlagkräftiger gesellschaftlicher Interessenvertretungen und die Ausübung politischen Drucks, noch die Herausbildung einer breiten, unabhängigen und betroffenenorientierten Sozialpolitik zu. Die Reformpolitik oder vielmehr ihre Einengung auf die wirtschaftliche Sphäre haben auf diese Weise über die beabsichtigte Differenzierung der Gesellschaftsstruktur hinaus eine insgesamt negativ zu beurteilende soziale Entwicklung eingeleitet und forciert.

Fragt man nach der Übertragbarkeit der ungarischen Reformpolitik auf andere sozialistische Staaten, so muß man sich zunächst die spezifischen Gründe vor Augen führen, die den Entwicklungsweg im kleinsten Land des Warschauer Paktes geformt haben: Ausgangspunkt des Kadarismus sind der Volksaufstand von 1956 und seine Niederschlagung durch sowjetische Truppen, die die Bevölkerung zu der Einsicht zwangen, daß eine Veränderung der politischen Rahmenbedingungen illusorisch sei; sie suchte nach einem Arrangement und verharrte auch dann noch im Schrecken der Niederlage, als sich die Spielräume im Zusammenhang mit den Reformvorbereitungen Mitte der sechziger Jahre erweiterten. Umgekehrt war die politische Führung, die zum Teil selbst — wie Kädär — unter dem Stalinismus zu leiden gehabt hatte, bereit und entschlossen, den Ursachen der Krise von 1956 vorzubeugen und das politisch-soziale System im Sinne des sogenannten Zwei-Fronten-Krieges gegen „Revisionisten“ und „Stalinisten“ zu verändern. Resignation unten und Reformwilligkeit oben boten die Voraussetzungen für einen Reformprozeß, der weiter ging als in anderen sozialistischen Staaten und trotzdem nicht der Kontrolle der Führung entglitt.

Hinzu kommen weitere spezifisch ungarische Bedingungsfaktoren wie die extreme Abhängigkeit Ungarns vom Außenhandel, wodurch die politische und ökonomische Öffnung gegenüber dem Westen forciert wurde, und Ungarns relative geopolitische Unbedeutsamkeit, die größeren Spielraum für Experimente läßt. Von Bedeutung sind auch die besondere soziale Struktur Ungarns, das bis 1945 vor allem agrarisch geprägt war, und die daraus resultierenden politischen Traditionen, in denen demokratische Bestrebungen wenig verankert sind und gesellschaftlicher Widerstand nur in historischen Ausnahmesituationen entstanden ist.

Schließlich kann man die Reformpolitik auch als eine Annäherung an Strukturen und Traditionen des Vorkriegsungarns interpretieren, die in der Umwälzungsperiode nach 1945 zunächst heftig bekämpft wurden, heute aber gewissermaßen wieder rehabilitiert sind: die stille Akzeptanz einer breiten pauperisierten Bevölkerungsschicht; die Existenz zweier scharf voneinander getrennten sozialen Wirklichkeiten, von denen die eine Ausländern und einer schmalen Schicht Besserverdienender, die andere dagegen der breiten Bevölkerung vorbehalten ist; die strenge Gliederung der Gesellschaft nach Geschlecht, Status, Verdienst und Stellung im hierarchischen Aufbau; die Marginalisierung von sozialen Randgruppen (Zigeuner) und politischen Oppositionsbestrebungen; die Herausbildung und „Kultivierung“ einer aufgeklärten, aber isolierten Intelligenz; der wachsende Nationalismus und die feindlichen Gefühle gegenüber dem Nachbarstaat Rumänien; die autoritäre, patriarchalische politische Ordnung, für die gleichzeitig ein gewisses „Laisser-faire“ und „Savoir-vivre" sowie eine zuweilen fast sibyllinische Zweideutigkeit in der Orientierung zwischen den Großmächten kennzeichnend sind.

Kommen wir auf die eingangs aufgeworfenen Fragen zurück, können wir resümieren, daß Ungarn weder als ein „Modell“ der sozialistischen Gesellschaft, das auf andere Länder beliebig übertragen werden kann, zu betrachten ist, noch im eigentlichen Sinne des Wortes als „liberal“ zu definieren ist. Das Gewicht der spezifisch ungarischen Bedingungen ermöglicht es höchstens, im Zusammenhang mit dem Reformprozeß von bestimmten Erfahrungen, bestenfalls von modellhaften Elementen zu sprechen, die für andere Länder interessant sein könnten; der politische Inhalt des Wandlungsprozesses ist dagegen eher mit der Philosophin Agnes Heller als „Enttotalisierung der Gesellschaft“ zu bezeichnen, die die Struktur der Herrschaft bislang weitgehend unberührt gelassen hat. Die endgültige Bewertung des Reformprozesses in Ungarn hängt schließlich ganz entscheidend von seinem Ergebnis ab, also von der Frage, wohin dieser Wandel führt. Dies ist bislang nicht endgültig zu beantworten, denn als Endpunkt der durch den Kadarismus ausgelösten Dynamik sind sowohl eine weitere Öffnung des politischen Systems und eine Pluralisierung der Gesellschaft denkbar als auch eine Verschärfung der sozialen Spannungen mit dem Ergebnis einer ähnlichen Entwicklung wie in Polen. Sicher ist aber, daß der Kadarismus in seiner jetzigen Form aufgrund seiner inneren Widersprüche nur eine Übergangsperiode darstellt, deren Ende gerade jetzt durch eine Reihe von Faktoren heranzurücken scheint: Die absehbare Ablösung des Parteichefs Jänos Kädär aufgrund seines fortgeschrittenen Alters und die dann eröffnete Möglichkeit und Notwendigkeit zur Neuordnung der ungarischen Politik; das Nachlassen der materiellen Integrationskraft des Kadarismus; die Aufzehrung der historisch bedingten „Dankbarkeit“ der Bevölkerung für den Prozeß begrenzter Reformen; die Erosionserscheinungen innerhalb der Intelligenz und die zunehmenden Schwierigkeiten der kadaristischen Bündnispolitik gegenüber den sozialen Schichten; die Entstehung unabhängiger gesellschaftlicher Bewegungen, die das Herrschaftsmonopol der Partei bedrohen; die Verschärfung der ökonomischen Krise und die Unmöglichkeit, sie mit dem bisherigen Instrumentarium zu bekämpfen; schließlich die neue Reformdynamik in der Sowjetunion, die dem Kadarismus die wichtigste Säule seiner Legitimation gegenüber der Bevölkerung als „kleineres Übel“ raubt — diese und weitere Faktoren bestärken den Eindruck, daß Ungarn am Ende einer mehr als dreißigjährigen Epoche steht. Erst wenn die Weichen der post-kadaristischen Periode in Ungarn gestellt sind, läßt sich ein endgültiges Urteil über die Bedeutung des ungarischen Weges nach 1956 fällen.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. Istvän Futaky (Hrsg.), Ungarn — ein kommunistisches Wunderland?, Reinbek 1983.

  2. Vgl. Tons Hilker, Ungarns Wirtschaftsmechanismus zwischen Plan und Markt. Eine entwicklungspolitische Analyse

  3. Vgl. dazu Hubertus Knabe, Eine Revolution in Anführungsstrichen? Zur neueren Rezeption des Volksaufstandes in Ungarn 1956, in: Osteuropa, 5 (1986).

  4. Die ausführlichste, allerdings nicht mehr ganz aktuelle Analyse der MSZMP findet sich bei Bennett Kovrig. Communism in Hungary. From Kun to Kädär. Stanford 1979.

  5. Ungarn heute, hrsg. vom Statistischen Zentralamt. Budapest 1985, S. 38.

  6. Ausführlich dazu Hubertus Knabe. Arbeitslos im Sozialismus, in: Kommune. Forum für Politik. Ökonomie. Kultur. 12 (1986). S. 45f.; sowie Budapester Rundschau 36 (1986) vom 8. 9. 1986.

  7. Budapester Rundschau 3 (1986) vom 20. 1. 1986.

  8. Vgl. dazu Das Wahlsystem in Ungarn, hrsg. von BUDA-PRESS. Budapest 1985; Die Wahlen in Ungarn: Der tiefere Sinn, in: Osteuropa-Info Nr. 66. Hamburg 1986; Välasztäsi Almanach 1985 (Wahl-Almanach 1985); Független Kiadväny (Unabhängige Publikation). Budapest 1985.

  9. Schätzungen zufolge gibt es in Ungarn sechs Millionen Katholiken, zwei Millionen Calvinisten, 0. 4 Millionen Lutheraner. 0. 27 Millionen Griechisch-Orthodoxe und 0, 1 Millionen Juden; vgl. dazu in deutscher Sprache Emmerich Andräs/Julius Morel, Bilanz des ungarischen Katholizismus, München 1969; Hans H. Hücking, Katholische Basisgruppen in Ungarn, in: Hubert Frankenmöller (Hrsg.), Kirche von unten. Alternative Gemeinden, München-Mainz 1981.

  10. Vgl. Klaus Ehring. Wie Schafe unter Wölfen. Unabhängige Friedensinitiativen in Ungarn, in: Osteuropa. 8 (1983); Klaus Ehring/Hans H. Hücking. Die neue Friedensbewegung in Ungarn, in: Faszination der Gewalt. Politische Strategie und Alltagserfahrung, Friedensanalysen 17. hrsg. von Reiner Steinweg, Frankfurt 1983; Interview mit György Bulänyi, in: Hans-Henning Paetzke. Andersdenkende in Ungarn, Frankfurt 1986.

  11. Vgl. dazu Hubertus Knabe. Neue soziale Bewegungen als Problem der sozialistischen Gesellschaft. Zur Entstehung und Bedeutung neuartiger Bewußtseinslagen in der DDR und Ungarn, erscheint in Kürze in: Die DDR in der sozialistischen Staatengemeinschaft. XX. Tagung zum Stand der DDR-Forschung. Edition Deutschland Archiv. Köln.

  12. Vgl. dazu György Dalos, Archipel Gulasch. Die Entstehung der demokratischen Opposition in Ungarn, Bremen 1986.

  13. Eine Auflistung des Untergrundverlegers Gabor Demszky kam auf 164 unabhängige Schriften, die zwischen Dezember 1981 und November 1985 in Ungarn erschienen sind.

  14. Zu diesem Komplex vgl. in deutscher Sprache Istvän Kemny, Die neue Armut in Ungarn und ihre Ursachen, sowie Brigitte Mihok. Die Schattenseiten der Wirtschaftsreform. Die Situation der unterprivilegierten sozialen Schichten am Beispiel der Zigeuner, in: Osteuropa-Info. (Anm. 8).

  15. Ferenc Köszeg. Hungary Doesn’t Deserve Model Communist Image, in: The Wall Street Journal vom 18. 6. 1986.

Weitere Inhalte

Hubertus Knabe, geb. 1959; Studium der Geschichte und Germanistik; Publizist; 1985— 1987 Forschungsaufenthalt in der Volksrepublik Ungarn. Veröffentlichungen u. a.: Volksrepublik Ungarn — Geschichte und Gegenwart, in: Sozialwissenschaftliche Informationen für Unterricht und Studium (SOWI), (1983) 3; „Der Mensch mordet sich selbst“. Ökologiekritik in der erzählenden DDR-Literatur, in: Deutschland Archiv, (1983) 9; Gesellschaftlicher Dissens im Wandel. Ökologische Diskussionen und Umweltengagement in der DDR, in: Redaktion Deutschland Archiv (Hrsg.), Umweltprobleme und Umweltbewußtsein in der DDR, Köln 1985; Ungarn — die fröhlichste Baracke im Lager, in: Anders Reisen Osteuropa, Reinbek 1985; Der schwierige Kulturdialog in Europa. Anmerkungen zum KSZE-Kulturforum in Budapest, in: Osteuropa, (1986) 5.