Das Thema „Das geteilte Berlin und die Deutschen nach dem Zweiten Weltkrieg“ bedarf der Präzisierung. Es waren nicht die Deutschen, die nach 1945 die wichtigsten Aussagen über Berlin machten, von den Entscheidungen ganz zu schweigen; alle deutschen Äußerungen hielten sich dicht an ausländische Stimmen und faßten wie diese die Frage Berlin immer nur als eine Teilfrage auf; das „geteilte Berlin“ wiederum war keine gleichmäßige Gegebenheit, sondern ein Resultat, das viele Phasen aufwies, in gewisser Weise eine Leistung, ja ein Sieg der einen Seite und dann Symbol einer schweren Niederlage; doch an diesem Sieg, weit mehr als an der Niederlage, waren „die Berliner“ wesentlich beteiligt, ebensosehr wie die westlichen Alliierten und mehr als die Bewohner der „Bizone“ oder der Bundesrepublik Deutschland. Aber Walter Ulbricht und Otto Grotewohl waren ebenfalls Deutsche, und auch bei ihnen ist es nicht ausgeschlossen, daß sie auf Chruschtschow Einfluß ausübten, obwohl sie sich ihm grundsätzlich ohne Zweifel unterordneten. Eigentlich müßte das Thema also lauten: „Die Zeitgenossen und der Prozeß der Teilung Deutschlands und Berlins“, aber das wäre eine Aufgabenstellung, die sich auf knappem Raum kaum auch nur umreißen ließe, und daher ist eine Verengung des Blickwinkels erforderlich, obwohl ein Exklusivismus der Berliner Perspektive von vornherein unmöglich ist.
Am 11. Mai 1945 kabelte Harold Callender, der Chefkorrespondent der New York Times in Paris, seinem Blatt die folgende Meldung, die zugleich eine Meinung enthielt: „Von Berlin ist wenig übrig-geblieben. Warum sollte überhaupt etwas davon übrigbleiben? . . . Die Alliierten könnten Berlin sehr wohl das Schicksal Karthagos bereiten . . . Sehr wenige würden das Verschwinden dieses unliebenswerten Parvenüs unter den europäischen Hauptstädten bedauern — des Parvenüs Berlin . . . Eine Politik des , Berlin muß zerstört werden* würde mehr als ein dramatischer Akt der Gerechtigkeit sein. Sie würde der Beginn jener Erziehung Deutschlands sein, die notwendig ist, wenn Deutschland wieder ein zivilisiertes Niveau erreichen soll.“ In dieser Meldung und Meinung kam ein machtvolles Grundempfinden zu Wort, das keineswegs nur in den USA, sondern in ganz Europa und auch in Westdeutschland verbreitet war. Berlin war nun einmal seit 75 Jahren der Hauptsitz und das Symbol des Deutschen Reiches, das viele für ein „Großpreußen“ hielten und dem schon vor 1914 die Abneigung aller „reichsfeindlichen“ Kräfte gegolten hatte, ob es sich nun um Polen oder um die Anhänger einer älteren Reichsidee, nämlich die katholischen und die demokratischen Großdeutschen, handelte. Dieses Deutsche Reich hatte, wie fast alle Ausländer und nicht wenige Deutsche glaubten, den Ersten Weltkrieg verschuldet, und dieses selbe Reich hatte, von dem nationalsozialistischen Regime zum höchsten Punkt der Konzentration und des Machtwillens gebracht, nach so gut wie allgemeiner Überzeugung den Zweiten Weltkrieg willentlich „entfesselt“. Was der amerikanische Korrespondent schrieb, war daher die offene oder heimliche Überzeugung zahlloser Ausländer und auch vieler Deutscher, die sich den einst von Bismarck besiegten Traditionen zugehörig fühlten: schwäbischer Demokraten, rheinischer Katholiken, hannoveranischer Welfen. Berlin der Zerstörung zu überlassen, schien ebenso naheliegend und gerechtfertigt zu sein, wie den Staat Preußen auszulöschen.
Die wichtigste aller Entscheidungen über Berlin und Deutschland trafen die Amerikaner, als sie sich im Sommer 1945 entschlossen, an den Abmachungen der Europäischen Beratenden Kommission von September und November 1944 festzuhalten, die von ihnen eroberten Provinzen Sachsen und Thüringen zu räumen und statt dessen zusammen mit den Engländern und Franzosen jene Westsektoren eines fünften und gemeinsamen Besatzungsgebietes zu besetzen, als das Berlin definiert worden war. Wenn sie jener Grundstimmung gefolgt wären, die Callender zum Ausdruck gebracht hatte, würden sie Churchills dringendem Rat gefolgt sein, und ein gut abgerundetes Westund Mitteldeutschland hätte einem nur wenig kleineren Ostdeutschland einschließlich Berlins gegenübergestanden, das vermutlich dennoch durch die Abtrennung großer Gebiete jenseits der Oder und der westlichen oder der östlichen Neiße trotz Berlins beinahe so etwas wie eine „quantit ngligeable" gewesen wäre. Wenn es trotzdem, wie wahrscheinlich, zum Kalten Kriege gekommen wäre, würden sich sehr rasch und ohne größere Komplikationen ein West-und ein Oststaat gebildet haben. Der weitaus größere Weststaat wäre dann zu einem überdimensionalen Piemont geworden, oder eine undurchdringliche Grenze hätte sehr bald, wie wenig später in Korea, zwei völlig fremde Welten voneinander abgeschlossen.
Als die Amerikaner die Entscheidung trafen, ihre Sektoren gemäß den Bestimmungen von 1944 in Besitz zu nehmen, obwohl sie 1945 darauf verzichtet hatten, sich an der Eroberung Berlins zu beteiligen oder gar der Sowjetunion zuvorzukommen, machten sie die Ostzone Deutschlands potentiell zu einem starken Staat, sprachen sie sich für die Einheit Deutschlands aus und verurteilten sie sich selbst zu dem Schicksal, in nächster Nachbarschaft mit dem befremdlichen Alliierten, der sich noch ein Jahrzehnt zuvor für den Todfeind des „kapitalistischen Systems“ erklärt und der sechs Jahre zuvor durch den Hitler-Stalin-Pakt Hitlers Krieg überhaupt erst möglich gemacht hatte, entweder gemäß den Hoffnungen Roosevelts zu kooperieren oder nach den Vorhersagen klügerer Köpfe in eine unerbittliche Konfrontation verwickelt zu werden. Die Kooperation würde die gemeinsame Herrschaft über das gesamte verbliebene Gebiet des besiegten Feindes bedeutet haben; die Konfrontation mußte für die Westalliierten und für den notwendigerweise entstehenden Weststaat ein geteiltes Berlin zum Trumpf oder aber zum Mühlstein am Halse machen: zum Trumpf, wenn man zur Behauptung der Stellung entschlossen und überdies gewillt war, eine Konsolidierung der sowjetischen Macht im neuen Ostdeutschland zu verhindern; zum Mühlstein, sobald Zweifel und pragmatische Vernunft einen Bund schlossen, wie es in den Wohlfahrtsstaaten des westlichen Systems immer naheliegt. Jedenfalls würde aber der westdeutsche Staat in eine weit größere Abhängigkeit von den Amerikanern geraten als jener vorstellbare westund mitteldeutsche Staat ohne Berlin. Jenes präsumtive Ostdeutschland wiederum würde weder aus eigener Kraft noch mit Hilfe der vom Krieg so schwer getroffenen Sowjetunion imstande gewesen sein, das zerstörte Berlin zu einer prospektiven Hauptstadt eines künftigen Gesamtdeutschland zu entwickeln. Dagegen müßte gerade die Beschränkung auf das Zentrum Berlins die Einwirkungsmöglichkeiten der Sowjetunion und eines ostdeutschen Staates beträchtlich vergrößern.
Als die Amerikaner im Juli ihre Truppen nach Berlin einrücken ließen, da fuhren sie, wie der damalige Oberst Howley erzählt, 200 Kilometer durch ein völlig fremdartig wirkendes Land, und sie kamen in Stadtteile, in der keine Maschine mehr an ihrem Platze war, in der es aber bereits Parteien und eine funktionierende Verwaltung gab. Deren Hauptsitze lagen indessen allesamt im sowjetischen Sektor, zu dem, anders als in Wien, die gesamte Innenstadt gehörte. Dieser Einzug schuf die Möglichkeit einer Teilung des bis dahin einheitlichen Berlin, aber er führte sie keineswegs unmittelbar herbei. Zugleich und paradoxerweise bedeutete er die Proklamation der Einheit Deutschlands, als deren Organ sich der gesamtalliierte Kontrollrat konstituierte, wo indessen jede einzelne Macht, abermals anders als in Österreich, über ein Vetorecht verfügte.
Die Initiative lag weiterhin bei der Sowjetunion. Von der Innenstadt Berlins aus erhoben die Zentralen der bereits im Juni vom sowjetischen Oberbefehlshaber zugelassenen, aber zugleich in ein antifaschistisches Blocksystem eingespannten Parteien gesamtdeutsche Ansprüche und riefen eben dadurch in Westdeutschland rasch das erste Mißtrauen wach. Vor allem aber ging von hier der Versuch aus, den Charakter des deutschen, ja des europäischen Parteiensystems grundlegend zu ändern. Die Spaltung der bis dahin einheitlichen Arbeiterparteien hatte sich als Folge des Ersten Weltkrieges und der gerade für Marxisten so konsternierenden Russischen Revolution in ganz Europa vollzogen, und man konnte darin einen Differenzierungsprozeß der Reife sehen, welcher bereits vor dem Ausbruch des Krieges mit dem Gegensatz von Reformisten und Revolutionären einen unübersehbaren Anfang genommen hatte. Der Sieg des Nationalsozialismus hatte nach 1933 zwar eine Gegenbewegung in Gang gesetzt, welche „die Einheit der Arbeiterklasse“ auf ihre Fahnen schreiben wollte, aber an keiner Stelle Europas war es bis 1945 zu einer Verschmelzung einer sozialdemokratischen mit einer kommunistischen Partei gekommen, und nach 1945 konstituierten sich überall im sowjetisch besetzten Osteuropa sozialdemokratische Parteien als selbständige Organisationen, auch wenn sie durch eine „Aktionseinheit“ mit den Kommunisten verbunden waren.
Ausgerechnet in Deutschland aber unternahmen es die Kommunisten bereits Ende 1945, sich mit den Sozialdemokraten zu einer einheitlichen Partei zu verbinden, und das heißt praktisch, sich die Sozialdemokratie einzuverleiben. Es handelte sich um ein Unternehmen von großer geschichtlicher Tragweite und keineswegs um einen bloßen Willkürakt, denn der Drang nach Einheit „der Arbeiter“ war auch in Westdeutschland, in Frankreich und Italien genuin. Ebenso genuin waren freilich die Widerstände. Wäre die Verschmelzung zur „Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands“ auf gesamtdeutscher Ebene gelungen, so hätte sich das Parteiensystem fundamental geändert; denn jene riesige Grenz-und Übergangszone zwischen dem „Proletarischen“ und dem „Bürgerlichen“ wäre verschwunden, die von der Sozialdemokratischen Partei eingenommen wird: Die einheitliche Arbeiterpartei hätte zwar in Westdeutschland nicht notwendigerweise das gleiche Übergewicht gewonnen wie in der Sowjetischen Besatzungszone, aber zwei Großparteien wären einander in schroffer, bloß für eine Übergangszeit noch durch den gemeinsamen „Antifaschismus“ temperierter Feindseligkeit gegenübergetreten. Eine solche Entwicklung wurde in Westdeutschland schon 1945 durch die Aktivität Kurt Schumachers verhindert, die offensichtlich einer breiten Grundströmung entsprach.
Walter Ulbrichts KPD konnte aber mit Hilfe der Sowjetischen Militäradministration Deutschland jene Verschmelzung bewerkstelligen, die schon bald als „Zwangsverschmelzung“ bezeichnet wurde und die in der Tat sowohl ein großangelegter Angriff wie eine verzweifelte Defensivmaßnahme war, denn eine der Voraussetzungen waren die Resultate der Wahlen in Ungarn und Österreich, die für die Kommunisten katastrophal gewesen waren. Ein Erfolg in Berlin lag durchaus im Bereich der Möglichkeit. Berlin wäre dann eine in Sektoren geteilte, aber doch im Grunde eine einheitliche, nämlich sowjetisch-einheitliche Stadt geblieben. Der Widerstand einer kleinen Anzahl von Sozialdemokraten war die erste selbständige politische Aktion von Deutschen nach dem Ende des Krieges, denn sie wurde von den Besatzungsmächten nur auf sehr zögernde, ja laue Art und Weise unterstützt. Das Resultat war bekanntlich so eigenartig, daß die SED es sogar als Zustimmung zu ihrer Position interpretieren konnte, aber die entgegengesetzte Deutung fand eine triumphale Bestätigung durch die Wahlen vom 20. Oktober 1946, mit denen die Bevölkerung Groß-Berlins den angeblichen „Spaltern“ die Mehrheit gab und der SED eine nahezu vernichtende Niederlage bereitete.
Jetzt, nach den ersten und einzigen „freien Wahlen“, die jemals in einem Stück sowjetisch besetzten deutschen Territoriums stattgefunden haben, zeichnete sich eine ganz neue Möglichkeit ab, die Möglichkeit eines einheitlichen und westlich orientierten Berlin, dessen sowjetischer Sektor bloß durch die Anwesenheit einer anderen Besatzungsmacht von den übrigen Sektoren verschieden gewesen wäre. Die große Symbolfigur dieser Möglichkeit wurde Emst Reuter, der Sohn norddeutschen Bürgertums und ehemalige Generalsekretär der Kommunistischen Partei Deutschlands. Ein solches Berlin würde die sich bereits ganz deutlich abzeichnende Umwandlung der Sowjetischen Besatzungszone in einen kommunistischen Staat aller Vermutung nach verhindert haben; und insofern war es eine Verteidigungsmaßnahme der Sowjetunion, daß sie die Amtsübernahme des gewählten Ober-bürgermeisters durch ihr Veto verhinderte. Doch abermals waren Verteidigung und Angriff kaum voneinander zu unterscheiden: Die Blockade Berlins war eine unumgängliche Verteidigung der Wirtschaft des Ostsektors und der Ostzone gegen die Währungsreform in Westdeutschland, welche ihrerseits erst die Einheit eines Besatzungsgebiets schuf, die im Osten von Anfang an gegeben war; sie war aber andererseits auch der fast unglaubliche Versuch der wirtschaftlich weit unterlegenen Macht, mittels der politischen Vorteile, über die sie verfügte, die ehemaligen Alliierten zu einem schimpflichen Abzug aus der Stadt zu nötigen und dasjenige zu vereinigen, was 1945 Alternativmög-lichkeiten gewesen waren: Sachsen und Thüringen und das einheitliche Berlin als künftige Hauptstadt eines von der SED und von nationalneutralistischen Kräften regierten Gesamtdeutschland, wie es Stalin allem Anschein nach vorschwebte.
Diesmal konnte nur die Bevölkerung von Berlin (West) Widerstand leisten, und es war vor allem ein Widerstand gegen die Versuchung, sich vom Osten versorgen zu lassen und weiterhin eine einheitliche Stadt zu bilden. Die eigentliche Absicht der Sowjetunion bestand aber unzweifelhaft darin, die Entstehung der Bundesrepublik zu verhindern. Indem die Bevölkerung der Westsektoren die größten Opfer auf sich nahm, um ihre Freiheit zu verteidigen, und indem sie erst dadurch den Westmächten die Möglichkeit gab, ihre Position zu behaupten, trieb sie gegen ihren Wunsch und Willen die Teilung ihrer Stadt ein entscheidendes Stück vorwärts und gab zugleich den Bewohnern Westdeutschlands die Chance, ihren eigenen Staat zu errichten. Die Teilung Berlins ließ den größeren Teil der Deutschen zu Bundesrepublikanem werden: Freiheit und Teilung waren unlösbar miteinander verknüpft, und darin bestand für die Deutschen die schlimmste Folge des Dritten Reiches. Aber gerade deshalb, weil die Berliner und insbesondere Emst Reuter — durch seine Rede vor den zögernden Ministerpräsidenten in Rüdesheim Ende Juli 1948 — indirekt und direkt so großen Anteil an dieser Teilung Berlins und Deutschlands hatten, mußten sie mit besonderem Nachdruck die Tatsache hervorheben, daß die Teilung ausschließlich auf der Hartnäckigkeit beruhte, mit der sich die Sowjetunion dem Selbstbestimmungsrecht als einem Menschenrecht in den Weg stellte. So entwickelte Emst Reuter unter voller Zustimmung der Bevölkerung einen radikalen Revisionismus, der schlicht das Verschwinden der Russen und „gewisser russischer Majore und Obersten deutscher Nationalität“ verlangte Eben dadurch rechtfertigte er jedoch die Meinung der sowjetischen Politiker, daß der Westen und die Deutschen ihnen gemeinsam das wertvollste Ergebnis des opferreichsten aller Kriege entreißen wollten — ihre Anwesenheit und Mitbestimmung in Deutschland.
Es war indessen ein Zeichen der veränderten Verhältnisse, daß die Sowjetunion nach der Aufhebung der Blockade im Mai 1949 alle Feuer ihrer konzentrierten Propaganda gegen den „westdeutschen Separatstaat“ und gegen die „Marionettenregierung“ in Bonn richtete, daß sie aber nicht in die Vergangenheit zurückgriff und etwa daran erinnerte, daß die KPD in der Endzeit der Weimarer Republik zum „Marsch in die Viertel der Kriegshetzer“ aufgerufen hatte, nämlich in die westlichen Stadtteile. Die nationalsozialistische Vergangenheit ließ sich nicht als Richtschwert gegen West-Berlin schwingen, weil die eigentliche „Bourgeoisie“ längst nach Westdeutschland übergesiedelt und ein Unterschied der politischen Einstellung zwischen dem bürgerlichen Wilmersdorf und dem proletarischen Wedding nicht erkennbar war. Der Wille, den höheren Lebensstandard und die freiere Lebensweise zu bewahren und nicht, wie Emst Reuter es formulierte, „im grauen Elend des Sowjetparadieses“ zu versinken, war offenbar allen Schichten gemeinsam.
Weit eher waren die Ängste früherer Zeiten bei den Westalliierten gegenwärtig, die sich in den zwanziger Jahren meist über derartiges erhaben gedünkt hatten: „Sie haben gut reden“, sagte ein französischer General zu dem amerikanischen Stadtkommandanten Oberst Howley, der ihm wegen seines Defätismus Vorwürfe gemacht hatte, „aber vergessen Sie nicht: Wenn die russischen Armeen, wie jedermann annimmt, Frankreich überrollen und wenn es zwei Jahre dauert, bis Ihr Amerikaner kommt, um uns zu befreien, dann werde ich tot sein, dann wird meine Familie tot sein, und dann wird die ganze französische Bourgeoisie ausgelöscht sein.“ Und Generalleutnant Albert Wedemeyer, einer der mächtigsten Männer im Verteidigungsministerium zu Washington, auf dessen Initiative die Luftbrücke zu einem guten Teil zurückging, sprach sich auch deshalb gegen Gewaltanwendung aus, weil er sich vorstellte, daß westalliierte Bürger in Berlin möglicherweise „zu den Salzbergwerken in Sibirien abtransportiert“ werden würden
So stießen mit der Bildung der beiden Staaten und für lange Jahre danach zwei gesamtdeutsche Ansprüche auf Alleinlegitimität in Deutschland und Berlin aufeinander, die beide eine gewisse Gebrochenheit aufwiesen: Emst Reuter und die drei Parteien in West-Berlin klagten unablässig das Unterdrückungsregime in der „Zone“ an und verlangten die Ausdehnung der Freiheit nicht etwa nur auf Ostdeutschland, sondern auf ganz Europa, und sie konnten mit Zufriedenheit auf Aussagen des jugoslawischen Botschafters verweisen, der bei einem Vortrag in der Freien Universität feststellte, Jugoslawien fühle sich mit Berlin besondersverbunden, da dessen Freiheitskampf an den jugoslawischen Widerstand gegen die Hegemonieansprüche der Sowjetunion erinnere
Aber es paßte nicht recht zu dieser Militanz, daß sie die immer stärkere Eingliederung West-Berlins in die Bundesrepublik betrieben und die gleichberechtigte Teilnahme der Bevölkerung an den Wahlen zum Bundestag verlangten, und vor allem tauchten schon früh Zweifel auf, ob die Alliierten und ob die Regierung sowie die Bevölkerung der Bundesrepublik sich mit derjenigen Entschiedenheit hinter die Politik des Senats stellten, die allein einen Erfolg wahrscheinlich machen konnte. Emst Reuter wollte den Sitz der Bundesregierung nach Berlin oder mindestens nach Hannover verlegt sehen, aber er mußte sich schon bald mit einem Kommentar des Chefredakteurs des Bayerischen Rundfunks, Walter von Cube, auseinandersetzen, der die Auffassung vertreten hatte, die Trennung von Berlin und von der SBZ sei faktisch bereits vollzogen und es sei erforderlich, daraus die Konsequenzen zu ziehen. Ließ die westdeutsche Bevölkerung Berlin im Stich? Der Herausgeber des „Tagesspiegel“, Erik Reger, sprach den Verdacht aus, der „westdeutsche Bund“ betrachte sich nicht, wie er es aus der Berliner Perspektive tun müsse, als „Keimzelle für Gesamtdeutschland“, sondern als „Selbstzweck“ Es ließ sich in der Tat nicht übersehen, daß das „Notopfer Berlin“, welches in der Bundesrepublik erhoben wurde, keineswegs populär war.
Wenn der Senat also befürchten mußte, von der Regierung in Bonn und von der westdeutschen Bevölkerung nicht mit genügender Energie unterstützt zu werden, so war er vom anderen Teil der Stadt aus einem wahren Trommelfeuer von Angrif-fen ausgesetzt. Der Gewerkschaftsführer Jendretzky legte ein Zehnpunkteprogramm „zur Eroberung Westberlins“ vor, die „Nationale Front des Demokratischen Deutschland“ nannte die Wahlen vom Dezember 1950 „Panzerwahlen“, die Erfolge der Nordkoreaner veranlaßten Walter Ulbricht, auch für Deutschland die „Ausräucherung der Nester der Kriegsbrandstifter“ ins Auge zu fassen, zum Widerstand gegen die „Bonner Verwaltung“ sowie die „vom amerikanischen Bürgermeister Reuter“ erlassenen Gesetze aufzurufen und zuversichtlich von dem „Volksgericht“ zu reden, vor dem die „Adenauer, Pferdmenges, Spennrath und Reuter“ bald stehen würden Am 1. Mai 1951 paradierten nicht weniger als 900 000 Angehörige der „Freien Deutschen Jugend“, der Volkspolizei und anderer Organisationen durch Ost-Berlin, und von der „Stadt des Friedens“ aus, die mehr und mehr zur „Hauptstadt der DDR“ wurde, erfolgten immer schärfere Angriffe gegen den „Generalkriegsvertrag“, mit dem die Bundesregierung in Bonn Westdeutschland auf einen Kolonialstatus reduziere und als Potential für den geplanten „Angriffs-und Eroberungskrieg“ der Amerikaner bereitstelle
Aber auch die Zuversicht Ulbrichts war nicht ungebrochen, denn die Westsektoren Berlins erwiesen sich ganz unverkennbar als Anziehungspunkte für die Bevölkerung Ost-Berlins und der ganzen DDR; nach West-Berlin flüchteten immer mehr Menschen, die nach der Proklamation des „Aufbaus des Sozialismus“ durch die 2. Parteikonferenz der SED und nach dem offiziellen Beginn der Aufstellung einer Armee in Schwierigkeiten gerieten, und Ulbricht konnte nicht daran zweifeln, daß die durchsichtigen Strategeme seiner Vorschläge zwecks Bildung paritätischer Gremien zur Vorbereitung der Wiedervereinigung auch in der DDR weit unpopulärer waren als die schlichte Forderung der Bundesregierung nach Abhaltung freier und international überwachter Wahlen in ganz Deutschland. Nach dem Tode Stalins muß diese Unsicherheit Ulbrichts noch viel stärker geworden sein, denn er wußte zweifellos, was der westlichen Öffentlichkeit nicht bekannt war: Daß es mächtige Kräfte in der sowjetischen Führung gab, die bereit waren, einen Preis für die erstrebte Entspannung zu zahlen und — zweifellos gegen bestimmte Garantien — die DDR zu opfern, d. h.freie Wahlen in Deutschland zuzulassen. Als die Deutschen im östlichen, noch frei zugänglichen Teil Berlins und dann in weiten Bezirken der DDR zur größten Überraschung der Amerikaner, der Bundesregierung und der westdeutschen Bevölkerung auf die Straße gingen, um ein einheitliches Berlin und ein einheitliches Deutschland zu erzwingen, da verhärtete sich mit dem Sturz Berijas die Haltung der Sowjetregierung von neuem, und das allein realistische Konzept Adenauers zur Erzwingung einer „westlichen Wiedervereinigung“ scheiterte bereits vor seiner vollen Ausbildung, weil selbst Eisenhower und Dulles nicht die entschlossenen Verbündeten waren, mit deren Hilfe die Deutschen das geteilte Berlin und das geteilte Deutschland zur bloßen Vergangenheit einer unmittelbaren Nachkriegszeit hätten machen können.
So beendete der 17. Juni 1953, ohne daß die Zeitgenossen das gleich hätten erkennen können, eine Periode der Flüssigkeit der Verhältnisse, und es war ein Symbol, daß Emst Reuter bald darauf als ein verbitterter Mann starb. Wohl hatte er aussprechen können, was zweifellos die Haltung der ganzen Bevölkerung Berlins zu Wort brachte: „Ohne die sowjetische Besatzungsmacht würde ich heute ganz allein in das Rathaus des Ostsektors von Berlin gehen und dort die Geschäfte des Regierenden Bürgermeister von ganz Berlin übernehmen, geschützt von derjubelnden Zustimmung der ganzen Berliner Bevölkerung.“ Aber es lag an den Amerikanern, daß er diese Worte nicht in Berlin sagen konnte, da sie ihm kein Flugzeug für die Reise von Wien nach Berlin zur Verfügung stellten, und erst wenige Wochen zuvor hatte er sich erneut mit Walter von Cube auseinandersetzen müssen, der sicher eine in der Bundesrepublik vorhandene, wenn auch nicht vorherrschende Stimmung artikuliert hatte, als er die Notaufnahme von Flüchtlingen aus der sowjetischen Besatzungszone eine „selbstmörderische Humanität“ genannt und die Sperrung der Grenzen der Bundesrepublik sowie die Aufnahme von Verhandlungen mit der SBZ-Regierung gefordert hatte n).
Die entschlossene Politik, die der ehemalige Kommunist hatte treiben wollen, war nicht nur an der sowjetischen Besatzungsmacht, sondern auch an der Vorsicht der Amerikaner und an der Zurückhaltung der westdeutschen Bevölkerung gescheitert. Und schon bald klangen die schroffen Sätze wie eine Erinnerung aus ferner Vorzeit, die Reuters Wirtschaftsstadtrat Gustav Klingelhöfer, einst ein führendes Mitglied der zweiten Münchener Räterepublik, im Februar 1952 in der „Neuen Zeitung“ zur Frage der Wehrpflicht geschrieben hatte: „Die Berliner . . . haben es unwiderleglich, nämlich körperlich erlebt, daß für die Sowjets Menschen vernichten oder Menschen leben lassen keine Frage des Rechts, sondern der Zweckmäßigkeit ist.. . Wer nicht die Macht der Sowjets will, ist ihr Feind und wird getötet . . . Real, allgemein und akut innerhalb und außerhalb aller Staaten, innerhalb und außerhalb des Eisernen Vorhangs ist nur der Kalte Krieg der Sowjets . . . Die Mobilmachung aller Feinde des Sowjetkommunismus durch das Wehrrecht der Demokraten nach innen und außen, außerhalb und innerhalb des Eisernen Vorhangs zielt in das Herz der sowjetkommunistischen Sklaverei.“
Aber auch Walter Ulbricht war nach dem 17. Juni 1953 nicht mehr derselbe, der er gewesen war. Er konnte sich nun schlechterdings nicht länger verbergen, daß seine Herrschaft ausschließlich auf den Machtmitteln der Besatzungsmacht beruhte. Zwar wiederholte er auch weiterhin die alten Wendungen, vom Verrat der rechten SPD-Führer und vom „amerikanischen Agenten“ an der Spitze der „abgesplitterten westlichen Stadtbezirke“ bis hin zu der geschichtlichen Notwendigkeit, den Kapitalismus auch in Westdeutschland zu überwinden, aber in der Sache war seine Politik doch weitaus defensiver geworden, und zu ihrem Hauptkennzeichen wurde neben der erbarmungslosen Härte des politischen Strafrechts das insistente Verlangen nach einem Ende des „Kalten Krieges“, der nur im Westen von „Agentenzentralen“ und vom Sender RIAS geführt werde, sowie nach „Normalisierung“ der Lage, die vor allem in Verhandlungen zwischen den deutschen Regierungen bzw.den Berliner Verwaltungen und also in einer Anerkennung der DDR und ihrer Hauptstadt bestehen müsse.
Im Westteil der Stadt wurden nun nach der kurzen Regierungszeit Otto Suhrs neben den nach wie vor sehr militanten und die Stimmung der Bevölkerung ausdrückenden Äußerungen des neuen Regierenden Bürgermeisters Willy Brandt andere Töne desselben Mannes vernehmbar, welche einen Weg fort von der „Frontstadt“ und hin zu einem „Modus vivendi“ postulierten. Tatsächlich ging die Teilung der Stadt kontinuierlich weiter, etwa durch die Verselbständigung West-Berlins in der Energieversorgung und durch die Einführung von Aufenthaltsbewilligungen für West-Berliner, die sich mehrere Tage im Osten der Stadt aufhalten wollten. Aber immer noch war Berlin für die Besucher aus dem Westen und für die eigene Bevölkerung eine offene Stadt; und wenn Max Frisch in seinen Tagebüchern 1947 hauptsächlich den Schutt und bloß ganz am Rande die Teilung wahrgenommen hatte so schrieb Hartmut von Hentig noch Anfang 1961 in seinen Notizen über einen Berlin-Besuch nicht ohne einen Ton der Zufriedenheit, er habe mit OstBerliner Bekannten die Staatsoper besucht und nachher habe man geraume Zeit in einer West-Berliner Weinstube zusammengesessen
Eben diese Tatsache führte schon im Laufe des Jahres 1958 auf Seiten der SED zu der Versicherung, man werde dieser offenen Grenze „Schutz“ angedeihen lassen, und zu der (sachlich unrichtigen) Behauptung, die Westmächte hätten durch ihre Begünstigung der „Spalter“ das ihnen im Potsdamer Abkommen eingeräumte Besatzungsrecht verspielt. Sie führte zu dem Ultimatum Chruschtschows am 10. November 1958, zu Schwankungen und Defätismus im Westen, aber auch zu Bekundungen fester Entschlossenheit von Seiten de Gaulles und des neuen Präsidenten Kennedy. Sie führte schließlich am 13. August 1961 zur Errichtung der Mauer, d. h. zur vollständigen Teilung Berlins, dem einschneidendsten und folgenreichsten Ereignis der deutschen Geschichte seit jenem Entschluß der Amerikaner vom Sommer 1945. Es ist nicht erforderlich, die bekannten Ereignisse auch nur zu skizzieren. Aber es sollte der außerordentliche Tatbestand hervorgehoben werden, daß von Moskau und Ost-Berlin aus die Forderung nach Abzug der westlichen „Besatzungstruppen“ und nach Umwandlung der Westsektoren in eine „Freie Stadt“ immer wieder als „Konzession“ bezeichnet wurde, welche die Regierung der DDR mache, obwohl ihr das Recht auf Einverleibung zustehe.
Dies soll der Anlaß sein, um in einem Einschub zu fragen, in welche konstruierbaren Teilmöglichkeiten die Fragen des geteilten Berlins und der DDR zerlegt werden können und inwiefern den Westalliierten und der Bundesrepublik ein Gegner von ganz besonderer Art gegenüberstand. 1. Es ist vorstellbar, daß die Franzosen sich im Jahre 1949 geweigert hätten, ihre Besatzungszone in die entstehende Bundesrepublik eingliedern zu lassen und daß sie den „Seidenvorhang“ bis zur vollständigen Abschließung verstärkt und — in einer zusätzlichen kontrafaktischen Annahme — auch die von ihnen besetzten Viertel der Stadt Karlsruhe verwaltungsmäßig separiert hätten. Es ist offensichtlich so gut wie ausgeschlossen, daß sie bloß mit Hilfe ihrer Besatzungstruppen, gegen den Willen der Bevölkerung und gegen eine gewaltige „irredentistische“ Propaganda der Bundesrepublik diesen Zustand für längere Zeit hätten aufrecht erhalten können. Sehr rasch würden im eigenen Lande starke Stimmen laut geworden sein, welche auf die allein sinnvolle „Normalisierung“ gedrängt hätten, nämlich auf die Wiedervereinigung mit dem übrigen Deutschland, wenn auch natürlich nicht ohne jede Gegenleistung wie etwa gewisse Konzessionen gegenüber französischen Wünschen hinsichtlich eines ausgeprägteren Föderalismus. 2. Es ist ebenfalls vorstellbar, daß eine aktivistische Minderheit der Bevölkerung sich in der Tradition der Separatisten von 1923 aus innerer Überzeugung auf die Seite der Franzosen gestellt hätte, etwa deshalb, weil sie in der Bundesrepublik zu viele „preußische“ oder zentralistische Züge wahrgenommen hätte. Die Auseinandersetzung wäre dann um vieles härter gewesen; aber es ist aus den gleichen Gründen unwahrscheinlich, daß die Minderheit sich trotz der Unterstützung durch die Besatzungsmacht auf die Dauer hätte halten können. 3. Eine bloße Konstruktion ist die dritte Möglichkeit, daß die Mehrheit der Bevölkerung sich einer Partei zugezählt hätte, die in Frankreich die Allein-herrschaft ausübte und die auch in der Bundesrepublik zahlreiche Anhänger besäße, so daß sie von den führenden Schichten der Bundesrepublik als „Flut“ empfunden worden wäre. Dann hätte eine nicht geringe Wahrscheinlichkeit bestanden, daß diese Partei von ihrem festen Stützpunkt aus über kurz oder lang die ganze Bundesrepublik erobert haben würde. Eine solche Partei müßte aber einen universalen Anspruch erheben; sie müßte die Verhältnisse fundamental ändern wollen und dabei allgemeinen Wünschen und Strebungen entsprechen. Wenn sie bloß die Überführung der ganzen Wirtschaft in Staatseigentum erstreben würde, um der „Anarchie der Produktion“ ein Ende zu machen, würde sie zwar an starke Tendenzen anknüpfen, aber doch auf unüberwindliche Widerstände stoßen, weil der Gedanke der Freiheit zu vital gewesen wäre. Aber wenn sie auf glaubwürdige Weise behaupten könnte, die Aufhebung der „Anarchie“ in der Wirtschaft bedeute zugleich die Beseitigung allen Zwanges und aller Herrschaft, sei also gerade die Vollendung der individuellen Freiheit, würde sie über eine ganz ungewöhnliche Anziehungskraft verfügen. Und ihre Durchsetzungskraft würde noch höher sein, wenn sie sich, wie die KPdSU es getan hatte, zugleich als Protagonistin des Menschheitsgedankens eines friedlichen Zusammenlebens freier und gleicher Menschen und als die „kriegerischste aller Parteien“ dargestellt hätte.
In der Existenz der DDR waren 1961 alle drei Denkmöglichkeiten vereinigt. Sie war in gewisser Weise ein bloßes Besatzungsregiment, und Emst Reuter hatte mit den entsprechenden Aussagen nicht unrecht; aber sie war trotzdem paradoxerweise die Ausfallstellung einer Partei, die im ganzen europäischen Westen und auch in der Bundesrepublik zahlreiche Anhänger besaß, so daß man gar nicht selten den Terminus „rote Flut“ anwandte. Sie war jedoch, drittens, auch das von einer relativ kleinen Minderheit im Verein mit der ideologischen Hauptmacht entschlossen verteidigte Sperrfort — von einer Minderheit, die durch die Geschichte der letzten vier Jahrzehnte hart gebeutelt worden war, die aber nur ihr Recht und ihre Triumphe wahrhaben wollte.
Diese Minderheit, die nach ihrem Glauben „eigentlich“ die Mehrheit war und eines Tages in der ganzen Welt siegreich sein wollte, baute mit Hilfe ihrer Schutzmacht vom 13. August 1961 an die Mauer mitten durch eine Riesenstadt und schuf damit einen Tatbestand, wie es ihn in der Weltgeschichte noch nie gegeben hatte, obwohl für den Augenblick auch Jerusalem geteilt war und obwohl einst Nikosia geteilt sein sollte. Sie hielt den Aufschrei aus, der durch die ganze nichtkommunistische Welt ging, und schwang sich sogleich zur Rechtfertigung und zum Gegenangriff auf.
Der Aufschrei wurde zuerst, wie es nicht anders sein konnte, vom Stadtoberhaupt West-Berlins, Willy Brandt, zu Wort gebracht: Nicht bloß eine Staatsgrenze werde trotz des Viermächtestatus durch die Stadt gezogen, sondern die „Sperrwand eines Konzentrationslagers“ und wenig später bestätigte der englische Außenminister nach einem Besuch, er sehe mit Grauen auf das von der Mauer und Stacheldraht umgebene Gefängnis zurück, das die Bewohner der SBZ einschließe Die Hoch-Zeiten der Freundschaft zwischen Amerikanern bzw. Alliierten und Deutschen, die 1950 im ersten Läuten der Freiheitsglocke ihr großes Symbol gefunden hatten, schienen zurückgekehrt zu sein. Eine beträchtliche Anzahl hochangesehener westlicher Intellektueller, unter ihnen Robert Oppenheimer und Mans Sperber, schickten Grüße nach Berlin und setzten diesen Mauerbau mit den Abschließungsmaßnahmen zaristischer Regierungen gleich. Die Internationale Juristenkommission nannte die Mauer eine Verhöhnung der Menschenrechte, und Bilder von den Menschen, die aus ihren Wohnungen in der Bernauer Straße sprangen und zur gegenüberliegenden Straßenseite flüchteten, oder von dem Mann, der, sein Kind auf den Nacken gebunden, trotz der Schüsse der Wachtposten glücklich das westliche Ufer der Spree erreichte, machten ihre Runde durch die Welt. Wolfdietrich Schnurre und Günter Grass wandten sich in einem Offenen Brief an die Schriftsteller der DDR und beschworen sie, ihre Stimmen gegen dieses Verbrechen an der Menschlichkeit zu erheben.
Und viele der angesprochenen Autoren antworteten tatsächlich, aber sie nahmen nicht einen Verstoß gegen ewige Gesetze der Gerechtigkeit wahr, sondern sie sprachen gegenwärtige Tatbestände an und beriefen sich auf Erfahrungen der Geschichte. Stefan Hermlin sah im 13. August eine „staatliche Aktion gegen die Globke-Schröder-Politik der Kriegsvorbereitung“, die bestimmt sei, „den gefährlichsten Staat der Welt, die Bundesrepublik, auf ihrem aggressiven Wege zu bremsen“, eine Aktion, die doch nur die logische Konsequenz der Spaltungspolitik sei, welche der Westen seit Mitte 1948 betrieben habe; Hans Marchwitza griff die „schwarzbraune Kriegskanaille“ an und behauptete gleichwohl mit großer Zuversicht: „Die stärkere Macht sind wir. Wagt ihr den Krieg, dann gibt es für euch kein Versteck, keinen Erdenfleck, wo unsere Waffen nicht hinreichen . . . Wer unseren Frieden angreift, wird vernichtet.“ Ludwig Turek erzählte von der maßlosen Enttäuschung, die er als 16jähri-ger Buchdruckerlehrling empfunden habe, als sich das Proletariat 1914 nicht gegen die „kriegswütigen Kaiserlichen“ erhoben hatte, und vom Aufstand des Ruhr-Proletariats im März 1920, an dem er beteiligt gewesen war, aber auch von „Niedertracht und Verrat der rechten SPD-Führung“, die den weißen Tenor ermöglicht habe, und in all dem glaubte er eine Parallele zu dem Heute zu erkennen, wo die Kräfte der Reaktion und des Fortschritts abermals einander konfrontiert seien
So argumentierten die Autoren der DDR weitaus geschichtlicher, und man durfte den Eindruck haben, daß die westlichen Schriftsteller sich nur deshalb so sehr auf die Gesetze der Menschlichkeit beriefen, weil sie über keine andere Sicht der jüngsten deutschen Geschichte verfügten. Dabei lag es auf der Hand, daß diese Erzählungen, so eindrucksvoll sie in all ihrer Einseitigkeit sein mochten, eine Lebenslüge waren, weil sie die Grundtatsache nicht zur Kenntnis nehmen wollten: daß diese Mauer nicht gegen amerikanische Panzer und deutsche Agenten gebaut worden war, sondern gegen die eigene Bevölkerung, die praktisch bloß aus Arbeitern bestand, weil nahezu alle Bürger längst geflohen waren. Und daher konnte es nur noch gräßlich wirken und sich als die radikale Umkehrung des ursprünglichen, humanistischen und idealistischen Ansatzes darstellen, wenn ein „Genosse Kämpfer“ seine Erlebnisse am 13. August folgendermaßen beschrieb: „Als jener Sonntagmorgen . . . begann, versuchten bestimmte Elemente noch zu entkommen, und es machte ihnen nichts aus, durch die Spree zu schwimmen, über Dächer und Mauern zu klettern oder durch Hintertüren zu schleichen . . . Die Feinde der Arbeiterklasse schrecken vor nichts zurück.“
Aber war nicht auch in jenen so einleuchtenden, so anschaulich begründeten Reaktionen des Westens und der westlichen Deutschen eine Lebenslüge offenbar geworden? Während des ganzen Jahres 1960 und bis zum August 1961 waren ja dauernd Signale über den Atlantik und sogar von Westdeutschland aus ergangen, welche die Sowjetunion ermutigen mußten, die offene Grenze in Berlin zu schließen, und manchmal war sogar eine Bereitschaft erkennbar geworden, Berlin vollständig aufzugeben. Walter Lippmann und die Senatoren Mansfield und Fulbright sprachen sich in diesem Sinne aus, und mindestens Lippmann ließ keinen Zweifel daran, daß er die dauernde Teilung Deutschlands für die auf allen Seiten und sogar für Adenauer erwünschteste, die nach Lage der Dinge „normale“ Lösung hielt der Journalist Leonard Beaton und der Historiker Denna F. Fleming hatten vorgeschlagen, ganz Berlin den Russen zu überlassen, aber die Bevölkerung der Westsektoren in der Bundesrepublik neu anzusiedeln Eisenhower hatte im letzten Abschnitt seiner Amtszeit einen sehr eigenartigen Begriff von der Normalität und der Unnormalität der Situation in Berlin entwickelt, und Rudolf Augsteins Essay „Geht Berlin verloren?“ mochte man als zugespitzte Warnung oder als Ausdruck von Defätismus verstehen. Aber selbst Präsident Kennedy hatte in seinen entschiedensten Äußerungen nur den Willen zur Verteidigung des konkreten Status quo, d. h.der Gebiets-hoheit über West-Berlin, aber nicht die Entschlossenheit zur Behauptung des rechtlichen Status quo, d. h.des Viermächtestatus, erkennen lassen. So hätten sich die Berliner, wenn sie Politische Wissenschaftler und nicht bloß einfache Menschen gewesen wären, nicht so tief enttäuscht zeigen dürfen; aber auch ein Engländer schrieb einen Satz wie den folgenden: „Wir hatten Berlin als offene Stadt erlebt. Wir hatten dann gesehen, wie Berlin plötzlich zu einer geteilten Stadt wurde, was für ein Schock es für die Bevölkerung dieser Stadt war.“ Wie hätte dieser letzte Akt der Teilung Berlins kein Schock sein sollen? In Bonn sagte der Chauffeur Hans Krolls, Botschafter in Moskau, zu seinem Chef, als er im Radio die Nachrichten von der Passivität der Alliierten hörte: „Herr Botschafter, was sagen Sie nun, da haben wir uns aber feine Verbündete ausgesucht.“ Bonner Studenten schickten an Kennedy einen Regenschirm und riefen einen Zornesausbruch amerikanischer Medien hervor Noch nie hatte es bis dahin eine solche Krise zwischen den Alliierten und den Deutschen gegeben. Und gleichwohl ließ sich nicht leugnen, daß die Westmächte aus der Perspektive des Chruschtschowschen Ultimatums einen Abwehrsieg errungen hatten, und nach dem Ende der Kuba-Krise, die so eng mit dem Berlin-Problem verknüpft war, konnte niemand mehr übersehen, daß die Mauer nicht zu beseitigen war und daß die Truppen der Westmächte in ihren Sektoren Berlins bleiben würden. Und war es nicht eine bedeutsame Tatsache, daß auch jetzt niemand in der Welt Berlin und seine Bevölkerung mit Preußen und dem Dritten Reich in Verbindung brachte und daß in der Bundesrepublik längst keine Bedenken mehr gegen die außerordentlich hohe Finanzhilfe erhoben wurden, ohne welche der Westteil der Stadt nicht fortexistieren konnte?
Was folgen mußte, ist nie kürzer und prägnanter zum Ausdruck gebracht worden als durch einige wenige Sätze, die Willy Brandt aussprach, als er 1970 bereits Kanzler der Bundesrepublik war: „Will nicht auch Herr Kollege Strauß mir zugeben, daß damals (am 13. August 1961) ein Vorhang weggezogen worden ist und daß sich herausstellte, die Bühne war leer . . . Keine Bundesregierung .. .
hat den Berlinern und dem Berliner Bürgermeister Brandt helfen können. Auch die mächtigen Vereinigten Staaten haben uns nicht helfen können, sondern wir haben zur Kenntnis nehmen müssen: dort ist die Grenze durch die Stadt gleichbedeutend mit einer Grenze zwischen den beiden Supermächten dieser Welt. Wer seitdem geglaubt hat, daß er, mit dem Kopf gegen diese schreckliche Mauer anrennend, etwas erreichen könnte, der hat leider zur Kenntnis nehmen müssen, daß das seinem Kopf schlechter bekommt als der Mauer.“
Es war nun freilich Willy Brandt selbst gewesen, der mit dem Kopf gegen die noch gar nicht gebaute Mauer anrennen wollte, als er noch im Mai 1960 mit großer Leidenschaft von den „Gauleitern drüben“ und von dem dortigen Totalitarismus sprach, der nur in der Farbe anders sei als der nationalsozialistische Im Grunde genommen hatte ja auch er die Auffassung Emst Reuters und Gustav Klingelhöfers vertreten, die 1959 von Willy Schlamm auf ihren extremsten und bereits viel Anstoß erregenden Punkt gebracht worden war: Daß durch eine Zusammenfassung der Kräfte und durch Konzentrierung des Willens das Prinzip der Selbstbestimmung für die Deutschen und die Osteuropäer im Bündnis mit der gleichgesinnten Weltmacht Amerika gegen das despotische Rußland und den unterdrückenden Kommunismus durchgesetzt werden könne. Aber es hatte sich nun gezeigt, daß die westliche, die „entspannte“, die wohlfahrtsstaatliche Gesellschaft eine solche Anspannung und Konzentration von sich abwies, sofern sie nicht in einer klar erkennbaren Verteidigungssituation dazu gezwungen war. Indessen ließ sich andererseits nicht leugnen, daß das Beispiel dieser individualistischen Gesellschaft eine beträchtliche Anziehungskraft besaß und daß sich mindestens in Osteuropa beträchtliche Veränderungen abzeichneten.
So blieb für Willy Brandt und Egon Bahr, die „kalten Krieger“ und „amerikanischen Agenten“ von einst, nur noch der Weg, einen „Wandel durch Annäherung“ zu suchen und damit die Hoffnung zu verbinden, die Mauer werde immer durchlässiger und schließlich ganz fallen. Damit mußten freilich auch die Begriffe, die für sie eben noch selbstverständlich gewesen waren, wie etwa derjenige des Totalitarismus, so unzeitgemäß und obsolet erscheinen, daß sie nicht nur für die Gegenwart verworfen wurden, sondern sogar für das Verständnis der Vergangenheit kaum noch Anwendung finden konnten. Mehr und mehr Intellektuelle entdeckten nun Ähnlichkeiten zwischen den Regimes in Ost und West und klagten den „Imperialismus“ beinahe noch heftiger an als den „realen Sozialismus“, der sich vom Stalinismus nicht genügend befreit habe. Eine nicht ganz kleine Gruppe trieb im Zuge jener „Studentenrevolte“, an der in Berlin die Enttäuschung der einstigen „Fluchthelfer“ bedeutenden Anteil hatte, die Selbstkritik so weit, daß die Verhältnisse in der DDR grundsätzlich als Vorbild für die Umwälzungen gesehen wurden, die in der Bundesrepublik in Gang gesetzt werden müßten. Die Grundtendenz ging hier wie dort dahin, die gegebenen Verhältnisse zu akzeptieren, um dadurch den Frieden zu sichern und Veränderungen möglich zu machen, die je nach der Einstellung den Osten westlicher oder den Westen östlicher machen sollten. Selbst in bloßen Reisebeschreibungen und Zustandsschilderungen wurden diese Konzepte deutlich. Die westliche Version fand ihren symptomatischen Ausdruck in einer Rede des Bundespräsidenten Gustav Heinemann, welcher für die Politik eine neue Verhaltensweise verlangte, die „an der Angst und an der Trauer“ des Gegners Anteil nähme eine Verhaltensweise mithin, die als Bemühen um Verstehen in der Geschichtswissenschaft ihren normalen Platz besitzt, die indessen nicht einmal hier sich vollständig durchgesetzt hat.
Aber große Teile der Deutschen in der DDR haben die gegebenen Verhältnisse akzeptiert, nicht obwohl sie keinerlei Hoffnung auf eine baldige Änderung haben. Sie schalten jedoch regelmäßig die westlichen Fernsehprogramme ein, und sie wünschen sich nichts sehnlicher als einen Besuch im Westen. Dieser Westen ist für sie zwar weitaus mehr die Überfülle des KaDeWe als die europäische Kultur, der sie ja in gewisser Weise näher geblieben sind als die „amerikanisierten“ Deutschen der Bundesrepublik. Aber sie wissen genau, daß die Versprechungen schon der späten fünfziger Jahre, der „demokratische Sektor“ Berlins werde bald zum Anziehungspunkt und Vorbild für die „noch“ kapitalistischen Stadtteile werden, sich nicht verwirklicht haben und sich nach menschlichem Ermessen niemals verwirklichen werden. Und so ist es bei aller Kritik, die der westlichen Oberflächlichkeit und Bindungslosigkeit entgegengebracht wird, doch nicht bloß die Differenz des Lebensstandards, die das Gefühl wachhält, in einer unnormalen und nur schwer erträglichen Situation zu leben. Vermutlich brachte Horst Krüger ein weit verbreitetes Empfinden zu Wort, als er in einem seiner Reiseberichte die Gesprächspartner sagen ließ: „Es ist alles so unsagbar umständlich und mühsam hier. , . Ruhe? Ja für euch, für euch im Westen. Das ist schon wahr — für euch herrscht Ruhe. Für uns geht es weiter.“ Und wer hätte die Situation dieser Deutschen im Blick auf die Ausreisebestimmungen der DDR je in bewegendere Worte gefaßt als Reiner Kunze mit den zwei Gedichtzeilen: „das grab herbeisehnen um am tisch des freundes eine tasse tee trinken zu dürfen“?
Man spricht häufig und nicht zu Unrecht von der „normativen Kraft des Faktischen“. Aber es gibt auch Verhältnisse, deren Unnormalität durch den Verlauf der Zeit allmählich wieder anschaulicher und fühlbarer wird, sofern sich die Menschen das Denken und das Gefühl nicht selbst verbieten. Und so mag es gestattet sein, in einer kurzen Schlußbetrachtung den Blick auf Möglichkeiten der Zukunft zu richten.
Daß Deutschland geteilt ist, und zwar durch den Willen der Sowjetunion und der kommunistischen Bewegung, kann nach vierzig Jahren in seiner Ungeheuerlichkeit besser erkannt werden als nach zwanzig Jahren, und nach sechzig Jahren besser als nach vierzig. Eben dies würde zweifellos der Fall sein, wenn Frankreich zwischen einer besetzten Zone und dem Vichy-Gebiet geteilt geblieben wäre oder wenn eine Grenzlinie von Liverpool nach York liefe. Aber im deutschen Falle handelt es sich um mehr als um die Zerreißung einer Nation. In Deutschland stoßen ein entspanntes und pluralistisches System eines sehr ungleichmäßigen Wohllebens und das gespannte System eines im Ursprung unbedingten politischen Willens aufeinander, der einen uralten Menschheitsgedanken zu verwirklichen behauptet. Diese Unbedingtheit hängt also mit einem Geschichtsverständnis zusammen, das an Einfachheit und Attraktivität nicht zu übertreffen ist, das aber eben deshalb den außerordentlichen Komplizierungen der Moderne nicht angemessen ist. Sicherlich ist gleichwohl nicht auszuschließen, daß es sich gerade durch die Konzentration eines ungebrochenen Willens und durch die Anziehungskraft einfacher Überzeugungen durchsetzt. Diese Möglichkeit trat auf frappierende Weise in Erscheinung, als Erich Honecker 1970 jenem Postulat Gustav Heinemanns, an der Angst und an der Trauer des Gegners Anteil zu nehmen, das Leninsche „Wer—Wen“ („Wer wird wen vernichten?“) entgegensetzte
Aber wenn man den Aussagen des gegenwärtigen Generalsekretärs der KPdSU trauen darf, hat das System eine „Demokratisierung“ nötig, und es erhebt keinen Anspruch mehr auf Alleinbesitz der Wahrheit. Daraus lassen sich schwerwiegende Konsequenzen ableiten, und ganz neue Fragestellungen zwingen sich auf. Indessen steht nicht nur ein System hinter der Teilung Deutschlands, sondern zugleich ein Staat, und dieser Staat wurde durch Hitlers Angriff von 1941 als solcher, unabhängig von seinem System, in Todesgefahr gebracht. Die Deutschen hatten unrecht, als sie nach 1949 das Menschenrecht der Selbstbestimmung mit dem Ziel in Anspruch nahmen, sich inmitten des Kalten Krieges auf die Seite eines der Antagonisten zu stellen und damit denjenigen Staat, der im Kriege am meisten gelitten hatte, von der Mitsprache über Deutschland auszuschließen. Die Frage ist freilich, ob Adenauers „Politik der Stärke“ nicht in Wahrheit unverzichtbare Defensive war, weil das legitime Staatsinteresse der Sowjetunion und das aggressive Ausgreifen des Systems nicht zu trennen waren.
Die Dinge sind zu verwickelt, als daß sie sich auf eine einfache Formel bringen ließen. Recht und Unrecht vermischen sich auf beiden Seiten und sind nur durch Gedankenexperimente voneinander zu trennen. Aberzwei scheinbar gegensätzliche Wahrheiten sind klar erkennbar und sollten mit immer größerer Klarheit herausgestellt werden: Die Teilung Deutschlands und Berlins ist ein Unrecht und muß mit dem Verlauf der Zeit noch schmerzlicher als Unrecht erkennbar werden — es sei denn, es gelänge dem DDR-Regime, in der Bevölkerung das Bewußtsein des Unrechts zum Verschwinden zu bringen, oder die Selbstbezogenheit der westdeutschen Bevölkerung erreichte einen so hohen Grad, daß ihr das Schicksal der Deutschen in der DDR gleichgültig würde. Eine Wiedervereinigung Deutschlands, die auch nur die Möglichkeit einer einheitsstaatlichen und vielleicht gegen die Nachbarn zu wendenden Entwicklung enthielte, wäre ebenfalls ein Unrecht, weil sie ein Moment größter Unsicherheit in sich schließen und erneut jene Nation in eine tragische Aporie bringen würde, die „zu stark ist, um in Europa zu wohnen, und zu schwach, um über Europa zu herrschen“
Als Walter Ulbricht 1957 eine deutsche Konföderation vorschlug, handelte es sich um ein Strategem, das bestimmt war, als einen ersten Schritt die staatliche Anerkennung der DDR zu erreichen. Heute ist diese Anerkennung längst vollzogen, und es wäre kein bloßer Schachzug der Bundesregierung, wenn sie von der Sowjetunion die Zustimmung zur Bildung eines deutschen Staatenbundes verlangte, der Berlin zu einer Hauptstadt singulärer Art machen würde, weil darin ein Staatenhaus und zwei Parlamente existieren würden, aber keine Mauer. Es würde sich vielmehr um diejenige Forderung handeln, die allein neben dem moralischen auch den historischen Aspekt der Situation berücksichtigt, daher nicht als „Revanchismus“ abgetan werden kann, und doch keine passive Hinnahme des gegenwärtigen Zustandes bedeutet. Mit der Verwirklichung würde auf neuer Stufe der Status des Deutschen Bundes wiederhergestellt werden, jenes sonderbaren Gebildes, welches trotz und wegen seiner Schwächen für die Welt, für Europa und nicht zuletzt für Deutschland selbst vermutlich besser war als jener kleindeutsche Einheitsstaat, der zwar lange Zeit hindurch nicht so aggressiv oder gar schuldig war, wie seine Feinde behaupteten, aber auch nicht so harmlos und friedfertig, wie er sich selbst sehen wollte.
Erst wenn das Faktum des Unrechtsbewußtseins in der Bevölkerung der DDR als unabänderlich erkannt und die Weckung des Unrechtsbewußtseins in der Bundesrepublik nicht mehr als „Revanchismus“ zu stigmatisieren ist, darf von einer genuinen Koexistenz die Rede sein. Sie wird sich nicht leicht erkennen lassen. Das Lächeln der Staatsmänner mag eine Kriegslist sein, Städtepartnerschaften mögen der Manipulation dienen, organisierte Gespräche von Schriftstellern erbringen nur allzu-leicht bloß die vorausgeplanten Resultate, die Besuche einfacher Menschen bewirken wenig, solange den „Kadern“ sogenannte Westkontakte verboten sind: Erst wenn, vornehmlich im noch geteilten Berlin, Wissenschaftler von hüben und Wissenschaftler von drüben auch private Gespräche miteinander führen dürfen, die nicht vom Staatssicherheitsdienst initiiert oder überwacht werden, wird im leidvollen Verhältnis der Deutschen zu ihrem geteilten Land und zu ihrer geteilten Hauptstadt ein neues und zukunftsvolles Blatt aufgeschlagen sein — nicht deshalb, weil schon dadurch die Verwirklichung des nationalen Haupt-wunsches näherrücken würde, sondern weil das Verwirrende und Paradoxe einer in allen Vorhersagen stets unrichtig bestimmten Geschichte auf beiden Seiten ein neues Nachdenken erforderlich macht.