Die gewaltsamen Bevölkerungsverschiebungen, die durch die Niederlage des nationalsozialistischen Deutschland in dem von ihm entfachten Krieg in Gang gesetzt worden waren, ließen im Zuge von Flucht, Vertreibung und Einzelwanderung von 1945 bis 1950 mehr als zwölf Millionen Deutsche aus den ehemaligen Ostgebieten des Reiches und aus ihren Siedlungsgebieten im ost-und südosteuropäischen Ausland in das Rumpfdeutschland der vier Besatzungszonen gelangen Zwei Drittel dieses Zustroms, dessen Hauptschub sich in den ersten beiden Nachkriegsjahren vollzog, entfielen auf das Gebiet der späteren Bundesrepublik, das damit 1950 bei einer Gesamtbevölkerung von 47, 7 Millionen einen Vertriebenenanteil von 16, 5 Prozent aufwies. Auf dem Gebiet der DDR lebten 1950 etwa vier Millionen Vertriebene — dort problemneutraler „Umsiedler“ genannt —, deren Anteil an der Gesamtbevölkerung fast ein Viertel erreichte
Dem Aufsatz liegt ein Vortrag zugrunde, der am 30. Oktober 1985 im Rahmen des Symposions „Die Kapitulation von 1945 und der Neubeginn in Deutschland“ an der Universität in Passau gehalten wurde. Ein Band mit den Referaten dieser Tagung erscheint in Kürze.
I.
Diese Millionenmasse depossedierter, entwurzelter Menschen galt es im besiegten und besetzten Deutschland nicht nur vorübergehend zu behausen und zu versorgen, sondern — so lautete apodiktisch der Auftrag der Siegermächte, die in Potsdam die Vertreibung sanktioniert hatten — umgehend und auf Dauer einzugliedem. Entstanden war das deutsche Flüch und der Neubeginn in Deutschland“ an der Universität in Passau gehalten wurde. Ein Band mit den Referaten dieser Tagung erscheint in Kürze.
I.
Diese Millionenmasse depossedierter, entwurzelter Menschen galt es im besiegten und besetzten Deutschland nicht nur vorübergehend zu behausen und zu versorgen, sondern — so lautete apodiktisch der Auftrag der Siegermächte, die in Potsdam die Vertreibung sanktioniert hatten 3) — umgehend und auf Dauer einzugliedem. Entstanden war das deutsche Flüchtlingsproblem 4).
Vor dem Hintergrund zerstörter Städte, einer darniederliegenden Produktion und einer kaum für das Lebensnotwendige hinlangenden Versorgung mit Nahrungsmitteln und Gebrauchsgütem verstärkte das Flüchtlingsproblem in der ersten Nachkriegszeit noch den Eindruck allgemeinen Zusammenbruchs und erdrückender Not. Eine zumindest bis 1947 sich hart und restriktiv gebende Besatzungspolitik, wie sie etwa im sogenannten Industrieplan des Alliierten Kontrollrats vom März 1946 zum Ausdruck kam 5), die ungeklärte Frage der Reparationen und Demontagen wie überhaupt die allgemeine Ungewißheit über die politische und wirtschaftliche Zukunft Deutschlands ließen es zunächst schwer vorstellbar erscheinen, wie es jemals gelingen sollte, einen Bevölkerungszustrom dieser Größenordnung dauerhaft zu integrieren -Unabhängig von diesen grundsätzlichen Unwägbarkeiten der ersten Nachkriegsjahre stand einer raschen Eingliederung aber auch die ungünstige Verteilung der Flüchtlinge im Aufnahmegebiet im Wege. Die Flüchtlinge aus den Ostgebieten hatten nach ihren ungelenkten Wanderungen vorwiegend in den agrarischen Gebieten Mecklenburgs, Schleswig-Holsteins, des östlichen Niedersachsens und in den nordöstlichen Grenzbezirken Bayerns Unterschlupf gefunden Als dann 1946 die organisierten Ausweisungen gemäß den Potsdamer Vereinbarungen einsetzten, wurde diese einseitige Belastung weiter verschärft. Es fehlte nicht allein an einer zentralen Lenkungsinstanz für eine koordinierte Verteilung des Bevölkerungszustroms. Die rasche Abfolge der Transporte und die kategorische Zielsetzung der Besatzungsmächte, eine Segregation der Vertriebenen in Lagern und Massenquartieren gar nicht erst entstehen zu lassen, schlossen eine an den Erfordernissen produktiver Eingliederung orientierte Lenkung schon im Ansatz aus.
Oberstes Kriterium bei der Zuweisung der Transporte in die Aufnahmeräume war die Verfügbarkeit von Einzelquartieren, die aus dem vorhandenen Wohnraum der einheimischen Bevölkerung requiriert wurden. Da sich die kriegsbedingten Wohnraumeinbußen — man schätzte für das Bundesgebiet einen Totalverlust von 2, 5 Millionen Wohneinheiten — vor allem auf die Städte konzentrierten, fielen die industriell-urbanen Gebiete für die Unterbringung von Vertriebenen größtenteils aus. Dementsprechend dichter wurden in den einzelnen Besatzungszonen die vorwiegend agrarischen Länder und innerhalb dieser wiederum die ländlichen Regionen belegt. So fand sich die Hauptmasse der Vertriebenen schließlich dort untergebracht, wo für ihre Eingliederung die Aussichten am ungünstigsten waren: in industriell wenig entwickelten, strukturschwachen Gebieten, in Landgemeinden und Dörfern. Noch 1950 lebten 47 Prozent der Flüchtlinge in Gemeinden mit weniger als 3 000 Einwohnern — zumeist fernab von den Zentren potentiellen Arbeitskräftebedarfs. Während Nordrhein
Westfalen — in seinen Städten zwar vom Bomben-krieg schwer in Mitleidenschaft gezogen, aber wirtschaftlich nach wie vor tragfähig — nur einen Flüchtlingsanteil in Höhe von zehn Prozent der Wohnbevölkerung aufwies, hatte das agrarische Schleswig-Holstein einen solchen von 33 Prozent. In absoluten Zahlen war Bayern, ebenfalls noch, weithin ein Agrarland, mit zwei Millionen Flüchtlingen am stärksten belastet
Der infolge von Geldüberhang und verdeckter Inflation völlig verzerrte Arbeits, markt'erlaubte allerdings zunächst frappierende Eingliederungserfolge. Wie trügerisch diese waren, erwies sich indessen sogleich nach der Währungsreform mit einem, dramatischen Anstieg der Arbeitslosenzahlen. Im Jahre 1950 schließlich, als auch die allgemeine Arbeitslosigkeit einen in der Geschichte der Bundesrepublik erst jüngst — freilich unter gänzlich anderen Rahmenbedingungen — übertroffenen Höchststand erreichte, waren noch — oder wieder — etwa eine halbe Million Vertriebene arbeitslos. Jeder dritte Arbeitslose war ein Vertriebener
Dank einer breiten wirtschaftsgeschichtlichen Forschung weiß man heute, daß der Prozeß jenes beispiellosen wirtschaftlichen Wiederaufstiegs, in dessen Rahmen sich dann auch die Eingliederung der Vertriebenen vollzog, bereits seit 1946/47 im Gange war. Wir kennen, dies ist das Privileg der Späteren und zumal des Historikers, das gute Ende dieser Geschichte. Wer aber damals als Betroffener oder zum Handeln Berufener inmitten der Probleme stand, dem erschienen die Chancen einer baldigen Bewältigung denkbar gering. Selbst ein distanzierter Beobachter wie Alfred Grosser konnte noch im Jahre 1969 das rasche und gründliche Gelingen der Integration nur mit Erstaunen reflektieren. Wer, so lautete seine rhetorische Frage, hätte 1945 oder 1946 vorhersehen können, daß die wirtschaftliche und soziale Eingliederung der Millionen vertriebener Deutscher binnen weniger Jahre vollzogen sein würde? In der Tat war die wirtschaftliche Eingliederung der Vertriebenen — und auf diesen einen, allerdings zentralen, weil für die Integration auf allen anderen Ebenen grundlegenden Aspekt des Gesamtproblems konzentrieren sich die folgenden Überlegungen — Anfang der sechziger Jahre im wesentlichen erreicht. Hält man sich an den Beschäftigungsgrad der Vertriebenen als aussagekräftiges Kriterium des Eingliederungsstandes, so stellt man fest, daß im Jahre 1961 nur mehr 14 000 Vertriebene als arbeitslos registriert waren. Der Anteil der Vertriebenen an der Gesamtzahl der Arbeitslosen war damit binnen eines Jahrzehnts von über 30 Prozent auf rund 14 Prozent gefallen
II.
Das Phänomen der unvermutet raschen und in Anbetracht der ganz außerordentlichen Dimension des Problems auch friktionsarmen Eingliederung der Flüchtlingsbevölkerung in die Wirtschaft und Gesellschaft der Bundesrepublik hat in der Folge recht unterschiedliche Erklärungen und Bewertungen gefunden. Hält man die profiliertesten Positionen gegeneinander, so fällt vor allem ihre Diskrepanz ins Auge. An dieser Beobachtung knüpfen die folgenden Überlegungen an. Sie verstehen sich als Anregung zu weiteren Bemühungen um eine Neubewertung des Integrationsvorganges in seiner Einbindung in die politische, vor allem aber die wirtschaftliche Entwicklung im Nachkriegsdeutschland. Die eine Interpretationsrichtung — und es ist, da mit der lebensweltlichen Kollektiverfahrung in Übereinstimmung, stets die gängigere, gewissermaßen auch die offiziöse Sehweise gewesen — deutet das Gelingen der Integration ganz unter dem Aspekt des Außergewöhnlichen, Unerwarteten, Überraschenden. Als Beispiel hierfür kann das Vorwort zu dem 1979 erschienenen bilanzierenden Sammelband „Aus Trümmern wurden Fundamente“ stehen, in welchem der damalige Staatssekretär im Bundesinnenministerium geradezu von einem „Wunder“ spricht: Die vollständige Integration der vertriebenen Deutschen sei „das eigentliche Wunder unserer Nachkriegsgeschichte“ Auch in einem jüngst erschienenen Band mit zeitgeschichtlichen Beiträgen über die Vertreibung der Deutschen aus dem Osten wirkt dieses Erstaunen noch nach, wenn der Herausgeber in seiner Einleitung die Integration der Vertriebenen als „eines der größten Nachkriegswunder“ bezeichnet
Neuerdings gewinnt jedoch gegenüber dieser Deutung mehr und mehr eine Betrachtungsweise an Boden, die den Anspruch erhebt, die rasche Lösung des Flüchtlingsproblems ganz rational aus ihren Voraussetzungen erklären zu können. Aus der Perspektive der historischen Arbeitsmarktforschung, der Wirtschaftsgeschichtsschreibung und der Migrationsforschung erscheint der Zustrom von Millionen von Vertriebenen nach Westdeutschland letztlich als ein Phänomen, welches sich seiner Funktion nach einpaßt in den säkularen Entwicklungstrend einer Bevölkerungsverschiebung aus dem agrarisch geprägten Osten in die sich immer stärker industrialisierenden und dabei einen anhaltenden Bedarf an Arbeitskräften aufweisenden Gebiete Mittel-und Westdeutschlands. Lasse man die historisch einzigartigen politischen Ursachen der deutschen Zwangswanderungen seit 1945 einmal beiseite, so könnten Flucht und Vertreibung „in ihrer Wirkung als Sonderfall ökonomischer Wanderung interpretiert werden, sie stellen quasi eine . abrupte Lösung'eines sonst kontinuierlichen Prozesses der Ost-West-Wanderung im Rahmen der sektoralen Strukturwandlungen dar“ Das Wanderungsgeschehen der Nachkriegszeit vom Zustrom der Vertriebenen über die Zuwanderung aus der SBZ bzw.der DDR bis hin zur Anwerbung ausländischer Arbeitskräfte in Millionenzahl wäre sonach als eine besonders dynamische und intensivierte Phase einer zwar nicht völlig ungebrochenen, aber letztlich doch einem klar identifizierbaren Trend folgenden Entwicklung vom Auswanderer-zum „Arbeitskräfteeinfuhr“ -Land zu sehen, die in Deutschland mit dem Umschlagen des Wanderungssaldos im letzten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts eingesetzt hat
Es liegt in der Logik dieses Ansatzes, daß der spezifische Problemcharakter des Vertriebenenzu-Stroms als einer Hauptkomponente der deutschen Nachkriegsnot und das millionenfache Leid als dominierender Zug des Flüchtlingsschicksals gerade der ersten Nachkriegsjahre zurücktreten hinter dem Aspekt der positiven ökonomisch Folgen. Von seinen Auswirkungen her betracht gewinnt dieser Bevölkerungszustrom geradezu d Charakter einer quasi notwendigen Voraussetzu für den so überaus günstigen Verlauf der wirtscha liehen Entwicklung in der Bundesrepublik bis in c sechzigerJahre hinein So ist Werner Abelsha ser kürzlich sogar dahin gelangt, das relati Zurückbleiben der französischen Besatzungszoi im wirtschaftlichen Aufschwung der ersten Nac kriegsphase unter anderem aus dem dortigen Fe len einer größeren Zahl von Vertriebenen zu erkl ren Ebenso liegt es in der Konsequenz dies Erklärungsmusters, wenn derselbe Autor eine d Wurzeln der gegenwärtigen Strukturprobien Nordrhein-Westfalens darin sieht, daß diesem Lar wegen seiner zunächst geringen Aufnahmefähigke für Flüchtlinge und Flüchtlingsbetriebe wichti Potentiale und Impulsgeber für eine Modernisi rung und Diversifikation seiner Industriestrukti entgangen seien
Nun ist es nichts grundsätzlich Neues, bei de Bestimmung des Problemstatus des Flüchtlingszi Stroms den Aspekt einer volkswirtschaftlich durcl aus erwünschten, weil eine verstärkte Industrialisit rung und ein beschleunigtes Wachstum sowol erfordernden wie erst ermöglichenden Erweiterun des Arbeitskräftepotentials in den Vordergrund z stellen. Schon die Argumentation des 1951 vor Bundesvertriebenenministerium veröffentlichte sogenannten Sonne-Berichts in dem ein deutsch-amerikanische Expertenkommission ei erstes geschlossenes Eingliederungskonzept enl warf, tendierte implizit in diese Richtung. Bezeich nend ist auch, daß etwa Friedrich Edding, damals Mitarbeiter des Instituts für Weltwirtschaft in Kiel und Verfasser vielbeachteter volkswirtschaftlicher Analysen zum Flüchtlingsproblem, in den fünfziger Jahren wiederholt der von ihm offenbar häufig und vor allem im Ausland beobachteten Neigung glaubte entgegentreten zu müssen, den durch die Zwangswanderungen nach 1945 bewirkten Bevölkerungszuwachs „oft schlechthin als Fortschritt und erhöhte Kraft“ zu werten Edding machte gegen diese Einschätzung eine Reihe von Einwänden geltend, die nicht einfach von der Hand zu weisen sind.
Insgesamt ist aber aus heutiger Kenntnis des weiteren Entwicklungsganges festzustellen, daß die negativen Folgerungen, zu denen Edding gelangte, doch stark den politischen Vorgaben seiner Zeit verhaftet waren und infolgedessen zeitbedingt an Relevanz und Gültigkeit verloren haben. So kommen etwa die positiven Auswirkungen der Zwangs-wanderungen für die Bundesrepublik, die Edding analytisch durchaus angemessen erfaßt, in der bilanzierenden Gewichtung nicht entsprechend zum Tragen, weil Edding die für Westdeutschland günstigen Effekte mit den korrespondierend weniger günstigen für Mittel-und Ostdeutschland saldiert und so zu einem für ganz Deutschland defizitären Ergebnis gelangt bzw. weil er die Aktiva für Westdeutschland unter Verweis auf eine absehbare Wiedervereinigung als temporär relativiert Eddings an sich luzide Analyse kann nicht verleugnen, daß ihr Erkenntnisinteresse primär von der Befürchtung geleitet war, eine indolente oder gar optimistische Einschätzung des deutschen Flüchtlingsproblems durch das westliche Ausland könnte den wirtschaftlichen Aufbaubedingungen der Bundesrepublik ebenso abträglich sein wie dem Anspruch auf die Rückgewinnung der verlorenen Siedlungsgebiete der Deutschen im Osten.
Im vierten Jahrzehnt des Bestehens der Bundesrepublik ist indessen derartiges so wenig mehr zu besorgen wie eine mögliche Beeinträchtigung poli-tischer Vorbehaltspositionen, die nicht ohnehin längst schon von der historischen Entwicklung selbst obsolet gemacht worden wären. Man kann sich daher ohne Befangenheit auf die Frage einlassen, welche Funktion der Flüchtlingszustrom im Bedingungsgeflecht der westdeutschen Nachkriegs-rekonstruktion hatte, und damit, nunmehr aus bereits historischer Distanz und in Kenntnis des Ergebnisses, die Bemühungen wieder aufnehmen, mit denen die zeitgenössische Wissenschaft in bemerkenswerter Eindringlichkeit das Problem analytisch und normativ in den Griff zu bekommen versuchte
Allerdings hat sich die Problemperspektive im Lichte der seither eingetretenen historischen Entwicklung verschoben. Die Frage der frühen fünfziger Jahre, ob sich der Vertriebenenzustrom eher als „Antrieb“ oder als „Belastung“ für die Wirtschaft erweisen würde steht heute nicht mehr im Vordergrund. Vielmehr nehmen die folgenden Überlegungen ihren Ausgang von der Beobachtung, daß sich die Integration der Vertriebenen mit einer quantitativ kaum noch günstiger vorstellbaren wirtschaftlichen Gesamtentwicklung der Bundesrepublik in den ersten fünfzehn Jahren ihres Bestehens mit ihren sowohl im nationalen wie im internationalen Vergleich exzeptionell hohen Wachstumsraten offenbar sehr wohl hat vereinbaren lassen.
Diese Feststellung bleibt auch dann richtig, wenn man die Möglichkeit nicht ganz ausschließen will, daß ein Fehlen der Vertriebenen auf dem bundesdeutschen Arbeitsmarkt ein anderes Einsatzverhältnis der Produktionsfaktoren und damit eine langfristig günstigere wirtschaftliche Strukturverteilung im Sinne stärkerer Rationalisierung, höherer Arbeitsproduktivität und höheren Pro-Kopf-Einkommens zur Folge gehabt hätte
Läßt man sich aber vorderhand einmal auf die These ein, daß der Zustrom der Vertriebenen — unbeschadet seines Willkürcharakters und der mit ihm einhergehenden Not — gewissermaßen im Einklang stand mit langfristig wirksamen Tendenzen des Industrialisierungsprozesses in Deutschland, so führt von dieser Prämisse ein einfacher Umkehrschluß zu der Frage, ob und wieweit dann das rasche Gelingen der Integration als strukturell nachgerade . programmiert'angenommen und mithin als gleichsam selbstläufiger Prozeß betrachtet werden muß, welcher der Beeinflussung durch Maßnahmen der politikgestaltenden Instanzen im wesentlichen entzogen war — ob also, für die Zwecke des Diskurses ein wenig zugespitzt formuliert, das unverhoffte Glück der Integration nicht schlechterdings unausweichlich war.
Auf die grundsätzliche theoretische und methodologische Problematik der Kategorie der Möglichkeit in der Geschichte, die ins Spiel kommt, wenn man einen anderen als den historische Realität gewordenen Verlauf des Geschehens überhaupt in Erwägung zieht, ist an dieser Stelle nicht weiter einzugehen Die Frage nach der strukturellen Bedingtheit des Eingliederungsvorganges versteht sich hier heuristisch und verfolgt das Ziel, mittels einer Analyse der „Ursachenund Bedingungskonstellationen“ den Entscheidungsund Handlungsspielraum der bundesdeutschen Politik auszuloten und so Ort und Valenz des Vertriebenenproblems in der deutschen Nachkriegsgeschichte ein wenig genauer zu bestimmen.
III.
Die neuere wirtschaftsgeschichtliche Forschung arbeitet bisher im wesentlichen mit drei unterschiedlichen Modellen, anhand deren sie „die längerfristige wirtschaftliche Entwicklung Deutschlands im 20. Jahrhundert in einem Gesamtbild zu erfassen“ und zu deuten sucht -Es sind dies die sogenannte „Wellenhypothese“, die sogenannte „Strukturbruchthese“ und die „Rekonstruktionsthese“.
Die „Wellenhypothese“ sieht, ausgehend von den von Kondratieff postulierten langen Konjunktur-zyklen, langfristige Veränderungen der wirtschaftlichen Entwicklungen — und somit auch die unterschiedlichen Phasenbilder der deutschen Wirtschaft bis zum Ersten Weltkrieg, in der Zwischenkriegszeit und nach dem Zweiten Weltkrieg — in der Abfolge von Innovationsschüben begründet. Demgegenüber geht die „Strukturbruch-These“ davon aus, daß die genannten drei Phasen durch je spezifische Trendformen gekennzeichnet und daher grundsätzlich nicht in ein gemeinsames Erklärungskonzept zu integrieren seien.
Am ergiebigsten hinsichtlich seines Erklärungspotentials besonders für die wirtschaftliche Entwicklung in Deutschland seit 1945 scheint sich das dritte Modell zu erweisen, die Rekonstruktionsthese. Dieses Modell basiert — extrem vereinfacht dargestellt — auf der Annahme, daß die Volkswirtschaften von Industrieländern in ihrer Entwicklung im Prinzip einem stetig ansteigenden Wachstumspfad folgen. Krisenbedingte Störungen dieses theoretischen Wachstumsgleichgewichts werden dem Rekonstruktionskonzept zufolge nach Wegfall der Störfaktoren durch beschleunigtes Wachstum aufgeholt, bis auf nunmehr höherer Ebene wieder ein dynamisches Gleichgewicht zwischen dem Kapital-Stock, dem Stand der Technik und der Zahl und Qualifikationsstruktur der verfügbaren Arbeitskräfte hergestellt und damit der gewissermaßen „natürliche“ Wachstumspfad wieder erreicht ist
Nun läßt sich in der Tat durch die (allerdings nicht lückenlos vorliegende) Zeitreihe des realen Sozial-produkts je Einwohner für Deutschland von 1850 bis 1975 eine lineare Trendkurve legen, welche der Vorstellung entspricht, daß ein annähernd kontinuierliches Wirtschaftswachstum, wie es für die Zeit bis 1913 tatsächlich zu beobachten ist, auch in den darauffolgenden fünfbis sechs Jahrzehnten möglich gewesen wäre, hätten nicht exogene Störungen die Realisierung dieses Entwicklungspotentials verhindert Die für das Rekonstruktionsmodell kardinale Prämisse eines „virtuellen Trends“, der den „Pfad der Möglichkeiten“ eines natürlichen Fortschritts oder Wachstums angibt, wird im übrigen auch durch einige andere Indikatoren empirisch gestützt
Für Zeiten normaler Wirtschaftsentwicklung — und als „normal“ gilt für Deutschland die vergleichsweise eng dem linearen Trend folgende Entwicklung der Jahre von 1850 bis 1913 — wird als limitierender Faktor für die Raten des wirtschaftlichen Wachstums die langfristige Produktivitätsentwicklung angesehen, wobei Produktivität als „technischer Fortschritt“ im weitesten, auch die Qualifikationsstruktur des Arbeitskräftepotentials umgreifenden Sinne zu verstehen ist Nach Störungsperioden, in welchen es etwa infolge kriegsbedingter Zerstörungen und/oder verminderter Investitionstätigkeit zu einer relativen Reduzierung des Kapitalstocks kommt, kann sich dieses funktionale Verhältnis indessen umkehren: Nicht mehr das Arbeitskräftepotential und seine Qualifikationsstruktur, sondern die ad hoc verfügbaren Sachkapitalbestände sind dann der das tatsächlich erreichbare Wirtschaftswachstum begrenzende Faktor. Wie rasch und gründlich das in einer solchen Konstellation durch den Überhang an „nutzbarer technischer Qualifikation“ gegebene, aber durch exogene Störungen an der Entfaltung gehinderte Potential zu wirtschaftlichem Wachstum realisiert (und damit die Abweichung vom virtuellen Trend beseitigt) werden kann, hängt dann primär vom Umfang und von der Geschwindigkeit der Kapitalbildung ab
Vergleichen wir nun die theoretische Norm mit der historischen Wirklichkeit der Ausgangskonstellation im Nachkriegsdeutschland, so zeigt sich, ohne daß wir für unsere Zwecke in Einzelheiten zu gehen brauchten, daß sich in dieser Konstellation tatsächlich alle wesentlichen Annahmen des Rekonstruktionsmodells für das Ende einer Störungsphase auffinden lassen. Insbesondere hatte das Arbeitskräftepotential, definiert als die Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter zwischen dem 14. und dem 65. Lebensjahr, im Bundesgebiet gegenüber 1939 trotz aller kriegsbedingten Verluste dank dem Zustrom der Flüchtlinge bis 1948 um 14, 1 Prozent und bis 1950 sogar um 18 Prozent zugenommen. Bringt man ergänzend in Anschlag, daß die Vertriebenenbevölkerung sowohl eine günstigere Alters-wie auch Geschlechtsstruktur aufwies als die einheimische Bevölkerung so wird man schon an dieser Stelle in der Einschätzung der Bedeutung des Flüchtlingszustroms für die wirtschaftlichen Entwicklungschancen der Bundesrepublik zu einer sehr viel positiveren Beurteilung gelangen als etwa Edding Ende der fünfziger Jahre, der seine negative Beurteilung allerdings auf das in diesem Zusammenhang nicht ganz angemessene Kriterium der Erwerbsquote stützte
Des weiteren kann man, auch wenn dieser Gesichtspunkt sich statistischer Erfassung und Verifizierung weitgehend entzieht, davon ausgehen, daß das mit den Vertriebenen der westdeutschen Wirtschaft zugeführte Arbeitskräftepotential auch in qualitativer Hinsicht hohen Anforderungen genügte -Man denke hierbei nur an das hochentwickelte gewerblich-kaufmännische Schulwesen der Deutschen in der Tschechoslowakei und an den günstigen industriellen Entwicklungsstand Schlesiens. Als nach Überwindung der kriegsbedingten Engpaßfaktoren im Bereich der Infrastruktur etwa ab 1947 der Aufschwung in Gang gekommen war und dann, durch Währungsreform und Marshallplan gestützt, durch die Korea-Krise und die zugunsten Westdeutschlands veränderten Weltmarktbedingungen weiter stimuliert, er rasch an Dynamik gewann lag im Vertriebenenzustrom eine Wachstumsreserve, die geradezu nach Ausschöpfung drängte. Daß dies von den Entscheidungsträgem in Wirtschaft und Politik auch frühzeitig erkannt wurde, wird übrigens aus der von Nordrhein-Westfalen eingeschlagenen Linie der Flüchtlingspolitik sehr deutlich
Eine infolge des langen Konsumstaus schier unbegrenzte Nachfrage, die durch den vertreibungsbedingten Bevölkerungszuwachs zusätzliche Impulse erhielt, verhieß Investoren sichere Absatz-und Gewinnchancen. Das strukturelle Überangebot an qualifizierten Arbeitskräften bot alle Voraussetzungen, diese Chancen zu realisieren. Die aus der spezifischen Soziallage der Vertriebenen resultierende, über ihre Sekundäreffekte aber auch die einheimische Bevölkerung erfassende gesteigerte horizontale und vertikale Mobilität trug ebenfalls dazu bei, einzigartig günstige Verwertungsbedingungen für den Produktionsfaktor Kapital zu schaffen, wie sie denn auch in der charakteristisch hohen Kapitalproduktivität der ersten Hälfte der fünfziger Jahre zum Ausdruck kamen
Die hohen Investitionsraten, die für die Anpassung des Kapitalstocks an die erhöhte Nachfrage und das vergrößerte Arbeitskräfteangebot erforderlich waren, wurden, abgesehen von den Maßnahmen zur Investitionshilfe und zum Zwangssparen, steuerlichen Anreizen zur Sparkapitalbildung, Preissteigerungen, dem Einsatz von ERP-Mitteln und einer hohen Reinvestitionsquote, vor allem durch die zurückhaltende Lohnpolitik der Gewerkschaften ermöglicht Diese Zurückhaltung war aber wohl nicht allein in freiwilliger Bescheidung aus Einsicht in gesamtwirtschaftliche Erfordernisse begründet, sondern gleichermaßen in der Tatsache, daß unter den Bedingungen eines strukturellen Arbeitskräfteüberhanges die Marktposition des Faktors Arbeit deutlich geschwächt und das Durchsetzungsvermögen auch einer gut organisierten Arbeiterschaft reduziert war
Die bisher konstatierten Struktureffekte des Ver-triebenenzustroms für die wirtschaftliche Entwicklung Westdeutschlands ergaben sich übrigens auch und sogar in noch stärkerem Maße aus der bis 1961 anhaltenden Zuwanderung aus der SBZ bzw.der DDR. Anders als die Vertreibung, die einen ganzen Bevölkerungsteil schwallartig und mitsamt allen unvermeidlichen demographischen Belastungsfaktoren in das Bundesgebiet geführt hatte, verlief die Zuwanderung aus der DDR vergleichsweise kontinuierlich und vor allem selektiv und kam damit dem Charakter klassischer Arbeitswanderungen sehr viel näher. Die bis zum Bau der Mauer insgesamt etwa drei Millionen aus dem Gebiet der DDR in das Gebiet der Bundesrepublik zugewanderten Deutschen — exakte Zahlenangaben liegen nicht vor — stellten in volkswirtschaftlicher Hinsicht ein außerordentlich wertvolles, weil überdurchschnittlich junges, mobiles und einsatzfreudiges Bevölkerungselement dar Der Transfer an immateriellem Kapital, dessen Wert nach vorsichti-gen Schätzungen auf mindestens 30 Milliarden DM zu beziffern ist, bedeutete für die westdeutsche Wirtschaft in der Konkurrenz mit anderen Industriestaaten einen Aktivposten, der ihr die Fortsetzung hoher Wachstumsraten über die eigentliche Wiederaufbauphase hinaus ermöglichte und den notwendigen wirtschaftlichen Strukturwandel erleichterte
Es ist sicher kein Zufall, daß die Rekrutierung ausländischer Arbeitskräfte in die Bundesrepublik just zu der Zeit intensiviert wurde, als der Zustrom von Deutschen aus der DDR versiegte. Allerdings stellen sich die Zusammenhänge zwischen der zweiten und der dritten Zuwanderungswelle im Nachkriegsdeutschland — die sich im übrigen ja auch zeitlich überschnitten — doch sehr viel komplexer dar, als es eine undifferenzierte Abfolgebeziehung zum Ausdruck zu bringen vermöchte Schließlich darf auch nicht übersehen werden, daß die Ausländer, selbst wenn mit ihrem Einsatz ein gewisser Substitutionseffekt für deutsche Arbeitskräfte aus niedriger in höher qualifizierte Berufe einherging, hinsichtlich ihrer Qualifikationsstruktur keinen adäquaten Ersatz für das inzwischen ausgeschöpfte Arbeitskräftepotential der Vertriebenen und der Zuwanderer bieten konnten.
Auch wenn man andere Faktoren des wirtschaftlichen Wiederaufstiegs Westdeutschlands — wie etwa die Reintegration in den Weltmarkt, die Etablierung eines europäischen Marktes, die Wieder-einsetzung der Marktmechanismen als Hauptelemente der wirtschaftlichen Steuerung, eine orthodoxe Finanz-und Geldpolitik, die Förderung der Investitionen und der Kapitalbildung — nicht wird vernachlässigen dürfen, macht gerade der Vergleich mit anderen europäischen Volkswirtschaften deutlich, daß eine Grundvoraussetzung für das enorme Wachstum der westdeutschen Nachkriegs-wirtschaft „was the elastic labor supply which held down wages and maintained profits and investment“ Die am Rekonstruktionsmodell orientierte Wirtschaftsgeschichtsschreibung vermutet denn auch eben in der Erschöpfung qualifizierter Arbeitskraftreserven die Hauptursache für den grundlegenden Wandel des Wachstumsmusters der westdeutschen Wirtschaft in der zweiten Hälfte der sechziger Jahre. Diese Einschätzung trifft sich interessanterweise mit der Ludwig Erhards, der schon 1965 in seiner Regierungserklärung auf das durch die strukturelle „Beengung des Arbeitsmarktes“ bedingte Ende der Nachkriegszeit mit ihren außergewöhnlich hohen Wachstumsraten hingewiesen hatte
IV.
Fassen wir die bisherigen Überlegungen zusammen: Der Zustrom von Millionen besitzloser Flüchtlinge, die es im besiegten Rumpfdeutschland aufzunehmen und einzugliedern galt, erwies sich zumal in den ersten Nachkriegsjahren als eine hohe Belastung. Eine befriedigende Lösung des Problems erschien, solange als Ziel der Siegermächte die dauerhafte politische und vor allem wirtschaftliche Schwächung Deutschlands angenommen werden mußte, kaum möglich. Mit dem Wandel der globalpolitischen und weltwirtschaftlichen Rahmenbedingungen seit Ende der vierziger Jahre jedoch wurde das in der Vertriebenenbevölkerung liegende Arbeitskräftepotential zu einem strukturellen Wachstumsfaktor für die westdeutsche Wirtschaft. Die umgehende Realisierung dieses Wachstumspotentials entsprach unter den konkreten historischen Bedingungen der zwingenden Logik der Mechanismen eines auf Leistungswettbewerb gegründeten Wirtschaftssystems, wie es im Gebiet der westlichen Besatzungszonen seit 1948 zur Aus-prägung kam In der Tat vollzog sich die Bewältigung des Flüchtlingsproblems in der Bundesrepublik auf der ökonomischen als der ersten und wichtigsten Integrationsstufe über die Absorption des zusätzlichen Arbeitskräftepotentials in einer ab 1950 stark expandierenden Wirtschaft. Flankiert wurde dieser Absorptionsprozeß durch eine Reihe politischer Maßnahmen wie den staatlich gelenkten Umsiedlungsaktionen, Wohnungsbauprogrammen und produktiven Leistungen des Lastenausgleichs Der massive Bevölkerungszuwachs erforderte und förderte eine Beschleunigung und Intensivierung der Industrialisierung und den damit einhergehenden Strukturwandel. Weit davon entfernt, einen demographisch-ökonomischen Einschnitt zu markieren, erscheint der Vertriebenen-Zustrom unter dem Aspekt seiner sozioökonomischen Wirkungen eher als ein im säkularen Trend liegendes Bedingungselement der wirtschaftlichen Entwicklung.
Was folgt daraus für eine Abschätzung der Handlungsspielräume einer staatlichen Flüchtlingspolitik? Hat es zu der Wirklichkeit gewordenen Lösung des Flüchtlingsproblems eine realisierbare Alternative gegeben? Wie hätte eine solche Alternative aussehen können?
Halten wir uns fern aller Spekulation allein an das, was in der zeitgenössischen Öffentlichkeit und in der einschlägigen Literatur tatsächlich an soge-nannten Möglichkeiten diskutiert wurde. 1. Die Möglichkeit einer massenhaften Auswanderung von Deutschen in überseeische Gebiete ist rasch abgehakt. Abgesehen davon, daß es hierfür schon an der Aufnahmebereitschaft der potentiellen Zielländer fehlte, wurde dieser Weg auch von deutscher Seite mehr oder weniger einhellig verworfen, und zwar — dies ist für unsere Frage besonders aufschlußreich — nicht allein aus volkstumspolitischen Gründen, sondern weil man bereits Anfang der fünfziger Jahre von dem damit verbundenen Abzug von Arbeitskräften für die Bundesrepublik nur nachteilige Folgen erwartete
2. Eine andere denkbare Möglichkeit, zu einet Lösung des Flüchtlingsproblems zu gelangen, wäre der Weg einer staatlich dekretierten, eine durchgängige Nivellierung des Lebensstandards bewußt in Kauf nehmenden, egalisierenden Sofort-Partizi-pation der Vertriebenen am gesamten verfügbarer gesellschaftlichen Vermögen gewesen, wie er int Prinzip in der sowjetischen Besatzungszone resp. ir der DDR eingeschlagen wurde. Hierzu freilich bedurfte es substantieller Eingriffe in die wirtschaftlichen und sozialen Besitzstände der eingesessenen Bevölkerung, wie etwa einer durchgreifender Bodenreform, einer zentralen Investitionslenkung und Verteilung bzw. Zuweisung von Arbeitsplätzen sowie einer strikt durchgeführten Rationierung vor Wohnungen und Konsumgütem. Auf niedrigem Gesamtniveau führte dieser Weg über eine relative Annäherung der Lebensverhältnisse der Einheimischen und der Vertriebenen insofern zu einet schnellen Lösung der „Umsiedlerfrage“, als er die Vertriebenen als eine eigene Bevölkerungskategorie mit spezifisch depravierter Sozialcharakteristik rasch aufhob. Allerdings war diese Methode unlösbar mit der Systemfrage verknüpft, und obwoh! man die kurzfristig erzielten Eingliederungserfolge der SBZ/DDR von bundesdeutscher Seite aus nicht ohne eine gewisse Gespanntheit verfolgte lag es doch auf der Hand, daß dieser Weg eines rigorosen Lastenausgleichs unter den verfassungs-, ordnungsund globalpolitischen Rahmenbedingungen dei Bundesrepublik — parlamentarische Demokratie, privatkapitalistisches Wirtschaftssystem und Kaltei Krieg — weder gangbar noch wünschenswert war
3. Bleibt schließlich noch eine dritte Möglichkeit zu erörtern. Sie war unter dem Gesichtspunkt ihrei historischen Realisierungschancen nicht wenigei fiktiv und utopisch als die beiden anderen, sie wai dies eher noch mehr. Wenn sie dennoch öfter und hartnäckiger als jene in die Debatte geworfen wurde, so vermutlich deshalb, weil sie geeignet war, durch ihren düsteren Kontrast das tatsächlich Erreichte in um so hellerem Lichte zu zeigen. Gemeint ist die These, es müsse als Zeugnis besonders hohen Verantwortungsbewußtseins der bundesdeutschen Politik gelten, daß diese sich vorbehaltlos für die Integrationslösung entschieden und nicht der Versuchung nachgegeben habe, etwa nach Art der Palästinenser auch das deutsche Flüchtlingsproblem offenzuhalten, indem man millionenfache Flüchtlingsexistenz in ihrer ganzen Depravation in großen Lagern konservierte und so das Unrecht der Vertreibung und den Anspruch auf Rückkehr als schwärende Wunde inmitten Europas in Permanenz demonstrierte
Wie weit diese Vorstellung einer angeblichen Alternative an allen Realitäten der Lage und Entwicklung des westlichen Deutschlands vorbeiging, dürfte evident sein. Nicht allein hätte der kategorische Integrations-, ja Assimilationsauftrag der Sie-
germächte, die sich in diesem Punkte völlig einig waren, ein solches , Offenhalten von vomeherein ausgeschlossen. Auch war es gerade unter den Bedingungen einer sich dynamisch entwickelnden Marktwirtschaft mit hohem Arbeitskräftebedarf völlig undenkbar, ein Arbeitskräftereservoir dieser Größenordnung und Güte willkürlich und wider alle ökonomische Rationalität von der produktiven Nutzung auszuschließen. Aber auch von der anderen Seite, der der Vertriebenen aus betrachtet, mutet diese Idee schlechthin abwegig an. Der unbändige, schon sehr bald nach der Ankunft in den Aufnahmegebieten wirksam werdende Wille der meisten Flüchtlinge, den diskriminierenden Status des bloßen Objekts karitativer und fürsorgerischer Betreuung schnellstens abzustreifen und sich aktiv ins Erwerbsleben einzuschalten, hat gezeigt, daß es nicht möglich ist, ein großes, konnationales Bevölkerungselement, dessen ganze Mentalität und Werthaltung von einem bestimmten zivilisatorischen, kulturellen und materiellen Lebensniveau geprägt ist, für längere Zeit in stark degradierten Lebensverhältnissen verharren zu lassen, während ringsum alles arbeitet, wirtschaftet und erwirbt.
Anders, als es das in der zeitgenössischen Diskussion zum Topos gewordene Schlagwort von der „Proletarisierung“ der Vertriebenen unterstellte, nahmen diese bei ihrer sozialen Selbsteinstufung nicht ihre situationsbedingte Deklassierung zum Maßstab, sondern die soziale Position, die sie vor der Vertreibung innegehabt hatten Das Streben, ihre aktuelle soziale Lage im Aufnahmeland wieder mit diesem am Status quo ante gewonnenen Selbstbild in Einklang zu bringen oder ihm zumindest so weit wie möglich anzunähem, war beim Gros der Vertriebenen die Haupttriebkraft für ihre beachtliche Aufbauleistung. Keine Regierung hätte es deshalb vermocht, im Interesse einer abstrakten politischen Strategie dieser großen, an Leistung, Bewährung und Geltung orientierten Bevölkerungsgruppe die Teilnahme am Produktionsprozeß und die Wahrnehmung wirtschaftlicher und sozialer Aufstiegschancen zu verwehren. Wenn eine der neuesten Gesamtdarstellungen zur Geschichte der Bundesrepublik feststellen kann, die Alternative eines bewußten Offenhaltens der explosiven Lage, „um von den Deutschland-Mächten mit der Drohung gewaltsamer Konflikte die Rückgabe der Ost-gebiete zu erzwingen“, sei nie auch nur erwogen worden so zeugt dieser Befund mehr noch als von der Moralität der damaligen Politik von deren Realitätsbezug. Denn es hat eine solche Alternative, dies ist deutlich zu machen, angesichts der historischen Gesamtsituation in und um Deutschland nach 1945 zu keiner Zeit gegeben. 4. Aus dem bisher Dargelegten ergibt sich — und damit gelangen wir zur zusammenfassenden These —, daß die in der Bundesrepublik Gestalt gewordene Lösung des Vertriebenenproblems per Absorption des zusätzlichen Arbeitskräftepotentials in einer kraftvoll expandierenden Industriewirtschaft wenn nicht geradezu determiniert, so doch hochgradig präformiert war. Im Gesamtkomplex des Geschehens seit 1950 ist kein Punkt erkennbar, an dem der Prozeß der Eingliederung durch Eingriffe der deutschen politischen Entscheidungsinstanzen in seinem Wesen und seiner Grundtendenz hätte verändert werden können. Was der politischen Steuerung zu tun verblieb, war, den strukturell vorgezeichneten Weg der Entwicklung von akzidentiellen Hemmnissen freizuhalten oder freizumachen und durch flankierende Maßnahmen dafür zu sorgen, daß dieser Prozeß der Absorption sich möglichst reibungsfrei vollziehen konnte Fördernd in diesem Sinne wirkten z. B. die Maßnahmen zur Beseitigung der Fehlverteilung der Arbeitskräfte durch Wiederherstellung der Freizügigkeit, durch staatliche Umsiedlungsprogramme und durch die Schaffung von Wohnraum in der Nähe der Arbeitsplätze. Auch erforderte die Logik des marktwirtschaftlichen Systems im Interesse eines ökonomisch optimalen Einsatzes des vorhandenen Arbeitskräftereservoirs den Verzicht auf eine staatliche Flüchtlingspolitik, die sich, wie es die Vertriebenenverbände forderten, primär am Ziel einer Restauration der Vermögens-, Sozial-und Berufsstruktur in den Vertreibungsgebieten orientieren sollte
Indem es gelang, für den Lastenausgleich gegen die weitergehenden Restitutionsansprüche der Vertriebenen eine Regelung dürchzusetzen, in der das „elastische“ Entschädigungsprinzip über das „quo-tale" dominierte — wenn auch nach Ansicht von Wirtschaftsexperten nicht deutlich genug dominierte — blieb die Möglichkeit erhalten, in Verbindung mit hohen Investitionsraten den mobilisierenden und modernisierenden Effekt des Vertrie-benenzustroms durch den flexiblen Einsatz der verfügbaren Arbeitskräfte nach vorwiegend oder ausschließlich ökonomischen Bedürfnissen weitgehend zur Geltung zu bringen.
Der Erfolg dieser Lösung ist unter rein volkswirtschaftlichen Kriterien unbestreitbar. Eine differenzierte historische Betrachtungsweise kann aber nicht davon absehen, daß diese Lösung ihren sozialen Preis hatte. Da der Flüchtlingszustrom einen strukturellen Arbeitskräfteüberschuß teils schuf, teils verstärkte, wurden schon in der Ausgangslage der westdeutschen Nachkriegsentwicklung die gesellschaftlichen Gewichte zugunsten des Produktionsfaktors Kapital verschoben. Indem die Integration im wesentlichen den Kräften des Marktes überlassen und damit primär unter das Gesetz größtmöglicher ökonomischer Effizienz gestellt wurde, hatten die Kosten vorwiegend jene zu tragen, die über die schwächere Position am Markt verfügten oder die vom Produktionsprozeß ganz ausgeschlossen waren. Die zur Beseitigung der Disparität zwischen Kapitalstock und Arbeitspotential erforderlichen Investitionen — in erster Linie über niedrige Löhne oder /und hohe Preise aufgebracht — führten zu einer verstärkten Konzentration und damit Disparität der Verteilung von Vermögen und Kapital, die sogar Ludwig Erhard als einen „bedenklichen Schönheitsfehler — ja sogar als noch Schädlicheres“ beklagt hat Anzuführen sind auf der Passivseite des Integrationserfolges aber auch die erheblichen Einschränkungen des Lebensstandards derjenigen Bevölkerungsteile sowohl bei Vertriebenen wie bei Einheimischen, denen ihr einstiger, nun nicht mehr gefragter Beruf (man denke beispielsweise an die vertriebenen Bauern) ein besonders hartes persönliches Kriegs-schicksal (Invaliden und Kriegerwitwen) oder ihr fortgeschrittenes Lebensalter schlechte Bedingungen für die Teilnahme am Leistungswettbewerb einer dynamisch sich entwickelnden und wandelnden Wirtschaft zuwiesen Zu erwähnen sind nicht zuletzt auch die massiven Umschichtungen der beruflichen und sozialen Struktur zunächst bei den Vertriebenen, sekundär aber auch bei den Einheimischen, die sich als Anbieter von Arbeitskraft den durch den Bevölkerungszustrom verschärften Konkurrenzbedingungen nur partiell entziehen konnten
Näher zu untersuchen, wieweit alle diese die Gesellschaft der Bundesrepublik nachhaltig prä-genden Folgen und Auswirkungen des Vertriebe-nenzustroms von den einzelnen Sozialgruppen und ihren Organisationen — zu denken wäre dabei vorrangig an die Unternehmer und die Gewerkschaften — je nach Art und Intensität ihrer Betroffenheit erkannt und in ihre Interessenstrategien eingebracht wurden, wäre eine lohnende Aufgabe für die zeitschichtliche Forschung -
Im übrigen aber sei, um allen Mißverständnissen vorzubeugen, das an sich Selbstverständliche noch einmal herausgestellt: Der hier verfolgte Ansatz einer auf die strukturellen Voraussetzungen der wirtschaftlichen Integration konzentrierten Betrachtungsweise erhebt natürlich nicht den Anspruch, das Phänomen der erfolgreichen Eingliederung der Flüchtlingsbevölkerung erschöpfend erklären zu können. Das Problem ist, wie alle historischen Fragen von einiger Bedeutung, zu vielschichtig und komplex für eine monokausale Analyse. Neben der ökonomisch-materiellen Eingliederung als der Grundvoraussetzung gab es eine Vielzahl flankierender Integrationsfaktoren in der Form individueller Leistungs-und Opferbereitschaft auf den verschiedenen Ebenen von Politik und Verwaltung, in Gestalt von Organisationen, Vereinen und Verbänden. Erst aus deren Zusammenwirken konnte die Integration als gesamtgesellschaftlich befriedigende und dauerhafte Lösung hervorgehen.