Am 7. Oktober des Jahres 1788 trat in Warschau der Sejm, das polnische Parlament, zusammen — scheinbar einer der gewöhnlichen Landtage, wie sie in Polen seit dem Ende des 15. Jahrhunderts abgehalten wurden. Dieser Landtag sollte jedoch mit seinem Hauptwerk, der Verabschiedung der „Verfassung vom 3. Mai“, als „Vierjähriger oder Großer Sejm“ in die Geschichte eingehen.
Gemäß einem Gesetz von 1573 trat der Sejm alle zwei Jahre zusammen. Er bestand aus drei „Ständen“: dem König, dem Senat und der Abgeordnetenkammer, die die Schlachta, den Adel, repräsentierte. Die Beratungen des Sejm dauerten normalerweise sechs Wochen. Seit der Mitte des 17. Jahrhunderts wurden sie jedoch immer öfters vorzeitig abgebrochen, was sich daraus erklärt, daß der Beschluß eines Gesetzes die Einstimmigkeit der Abgeordnetenkammer erforderte und die Abgeordneten nicht die unabhängigen Repräsentanten der ganzen Republik, sondern nur die weisungsgebundenen Vertreter der Provinziallandtage waren. Der Abgeordnete wurde von einem Provinziallandtag gewählt und war — unter der Drohung, anderenfalls das Vertrauen seiner Wähler zu verlieren — durch einen Schwur dazu verpflichtet, die Instruktion einzuhalten, die der Provinziallandtag für ihn ausgearbeitet hatte. Der Provinziallandtag wählte einen Abgeordneten, der gegen die Instruktion verstieß, nicht ein zweites Mal. Mit der Zeit entwikkelte sich auf der Grundlage des Prinzips der Einstimmigkeit das sogenannte „liberum veto“ — das Recht des einzelnen Abgeordneten, die Beratungen des Sejm durch seinen Widerspruch abzubrechen.
Die Krise des Parlaments war nur ein Symptom der tiefen wirtschaftlichen und politischen Krise der polnischen Adelsrepublik in der zweiten Hälfte des 17. und zu Beginn des 18. Jahrhunderts. Ob diese Krise eine Konsequenz der polnischen Gesellschaftsordnung war, ist bis heute noch offen. Sicher ist indessen, daß die Charakterisierung der polnischen Gesellschaftsordnung im 16., 17. und 18. Jahrhundert als „Adelsrepublik“ nicht von den zeitgenössischen Historikern stammt, sondern schon im 16. Jahrhundert allgemein im Gebrauch war. Polnische Staatstheoretiker, die die Regierungsform Polens in diesen Jahrhunderten charakterisierten, knüpften mit Vorliebe an Aristoteles und dessen Lehre von den drei Regierungstypen Monarchie, Aristokratie und Demokratie an. Dabei hoben sie hervor, daß sich in Polen eine gemischte Regierungsform, eine Synthese aus allen drei Regierungstypen entwickelte: Polen war eine Monarchie, doch der König wurde gewählt, und man konnte ihn — falls er das Recht brach — absetzen. Der Senat bildete das aristokratische Element, das demokratische hingegen der Adel, der sich auf den Provinziallandtagen versammelte und im Parlament vertreten war. Der Terminus „Adelsrepublik“ erscheint um so treffender, als sich der Adel, der weit stärker und zahlreicher war als in anderen Ländern Europas und nach Schätzungen bis zu 10 % der Gesamtbevölkerung umfaßte, mit der polnischen Nation gleichsetzte. Städter und Bauern, die nichtpriviligierten Untertanen des Königs, des Adels und der Kirche, galten hingegen nicht als Mitglieder der Nation.
Die Krise der polnischen Adelsrepublik begann in der Mitte des 17. Jahrhunderts. Polen wurde von einer „Sintflut“ von Kriegen überzogen: Zu dem Kosakenaufstand in der Ukraine kam der Krieg mit dem russischen Zarenreich, darauf folgten Kriege mit Schweden, Brandenburg und Siebenbürgen. Der polnische Staat, von fremdem Militär überschwemmt und mindestens ebenso geschlagen wie das Deutsche Reich nach dem Dreißigjährigen Krieg, konnte nur mit größter Anstrengung seine Souveränität bewahren. Nach Jahrzehnte dauernden Kriegen — zwischen 1648 und 1748 gab es 70 Jahre Krieg — war er nicht mehr in der Lage, sein Potential wieder aufzubauen. Die Verarmung von Stadt und Land, die Rückständigkeit der Vorwerkswirtschaft, die auf der Fronarbeit leibeigener Bauern beruhte, die Konzentration von Grund und Boden in den Händen der Magnaten zu Ungunsten der Adelsmassen — all das vertiefte nicht nur die ökonomische, sondern auch die gesellschaftliche und politische Krise. Die schwache Macht des Monarchen war nicht imstande, den Prozeß des Verfalls aufzuhalten. Die Erweiterung der Privilegien des Adels führte Polen schließlich an den Rand der Anarchie.
Die geschwächte Republik wurde zudem durch die politischen Entwicklungen in den Nachbarstaaten bedroht. Rußland betrat unter der Regierung des Zaren Peter I. (1682— 1725) den Weg des Absolutismus und der — auch gegen Polen gerichteten — territorialen Expansion. Auch das 1701 gegründete Königreich Preußen, ein Staat, dessen zwei Bestandteile durch das polnische Pommern getrennt wurden, verfolgte eine für Polen bedrohliche Außenpolitik. Sogar Österreich, wo man lange Zeit die Erinnerung an die gemeinsam mit Polen geführten Kämpfe gegen die Türken wachgehalten hatte, begann nach dem Verlust Schlesiens im Jahre 1742, auf Kosten der Republik territorialen Ersatz zu suchen. Die außenpolitische Lage des polnischen Staates verschlechterte sich im 18. Jahrhundert zusehends. In der zweiten Hälfte des Jahrhunderts war sie schließlich hoffnungslos: Das schlecht regierte Polen mit seiner „republikanischen“ Gesellschaftsordnung war umgeben von militärisch starken und nach territorialen Eroberungen strebenden absolutistisch verfaßten Staaten.
Die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts — als Grenzdatum wird das Jahr 1764, d. h. das Ende des letzten Interregnums und die Wahl Stanislaus August Poniatowskis zum König, angenommen — war indes auch die Zeit, in der der polnische Staat begann, sich aus seiner innenpolitischen Krise zu erheben. In der Folge eines gewissen wirtschaftlichen Aufschwungs wurden in der Legislative und in der Exekutive die ersten schüchternen Reformen unternommen. Nach der ersten Teilung Polens im Jahre 1772, die den Verlust eines bedeutenden Teils des Territoriums und eine tödliche Bedrohung für den Bestand des Staates bedeutete, wurde der Reformprozeß intensiviert. Die Verwirklichung von Reformen war nicht einfach: Zum einen gab es Widerstände von Seiten der „altadligen“ Opposition. Zum anderen unterlag die Republik bereits seit der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts einer strengen Kontrolle durch die absolutistischen Nachbarmächte, deren Machtinteressen eine Gesundung des polnischen Staates widersprach. Insbesondere dem zaristischen Rußland war an einer Beibehaltung „goldener adliger Freiheit“ und sogar an einer Vertiefung der Anarchie in Polen gelegen.
Ungeachtet dieser Hindernisse, ja, eigentlich ihnen zum Trotz, setzte sich die Überzeugung durch, daß dem polnischen Staat der unvermeidliche Untergang drohe, falls er seine Schwäche nicht überwinden könne. Die sogenannte patriotische Gruppierung, die insbesondere die Umwandlung des Staates in eine konstitutionelle Monarchie, die Verbesserung der rechtlichen Lage der Städter und den Rechtsschutz für die Bauern anstrebte, gewann zusehends an Stärke. Um den König sammelten sich hingegen gemäßigte Politiker, die nur zu beschränkten Verfassungsänderungen bereit waren. Sie orientierten sich in ihren Zielen an Jean-Jacques Rousseau, der die Polen — ohne profunde Kenntnisse der polnischen Gesellschaftsordnung — zu vorsichtigen Reformen aufgerufen hatte: „Wakkere Polen . . ., verbessert, soweit es möglich, die Fehler eurer Gesellschaftsordnung, mißachtet sie jedoch nicht, denn dank ihr nämlich wurdet ihr zu dem, was ihr seid . . (Considrations sur le gouvemement de la Pologne et sur la röformation pro-jete, 1772).
Die außenpolitische Konstellation in den achtziger Jahren des 18. Jahrhunderts begünstigte die polnischen Reformbestrebungen: Rußland war in einen Krieg mit der Türkei verwickelt. So konnte der Sejm, der im Herbst des Jahres 1788 zusammentrat, „in langer Erfahrung die Fehler unserer Regierung erkennend und gewillt, aus der Zeit Nutzen zu ziehen, in der sich Europa befindet . .den Beschluß fassen, an eine grundsätzliche Reform der Republik heranzugehen. Um diese Reform zu ermöglichen, traf das Parlament gleich zu Beginn seiner Verhandlungen zwei wesentliche Entscheidungen. Die erste bestand darin, daß der Sejm eine Konföderation bildete, d. h. ein zeitweiliges Bündnis des Adels zur Erlangung eines konkreten politischen Ziels. Die Institution der Konföderation rief zwar viel Kritik hervor, weil sie die Zentralmacht schwächte, hatte aber einen entscheidenden Vorzug: Während einer Konföderation galt im Sejm nicht das Prinzip der Einmütigkeit, sondern das der Stimmenmehrheit. Die Beratungen des konföderierten Parlaments konnten also nicht durch das „liberum veto“ eines Abgeordneten zum Abbruch gebracht werden. Der zweite Beschluß betraf die Zeitdauer der Beratungen. Es wurde entschieden, daß das Parlament nicht lediglich sechs Wochen, sondern so lange tagen sollte, bis das Werk der Reform abgeschlossen sein würde. Dabei war sich wohl niemand darüber im klaren, daß die Arbeiten daran vier Jahre dauern würden. Man hoffte vielmehr, die Reform in etwa einem halben Jahr zum Abschluß zu bringen.
Die erste Etappe der Beratungen war ziemlich unergiebig. Es wurde zwar beschlossen, die Stärke der ständigen Armee auf 100 000 Mann zu erhöhen, aber danach entbrannte eine Diskussion über zweitrangige Fragen der Bewaffnung und Uniformierung. Die „altadlige“ Opposition versuchte durch „parlamentarische Obstruktion“, die Diskussion von wichtigen Angelegenheiten zu verhindern.
Im Herbst des Jahres 1790 entstand ein neues Problem: Der Sejm hatte zwar verhindert, daß die Beratungen nach sechswöchiger Dauer abgebrochen wurden, doch hatte er nicht die Bestimmung aufgehoben, daß das Parlament regelmäßig alle zwei Jahre zusammentreten sollte. Es wurden deshalb Stimmen laut, die forderten, daß der Sejm sich auflösen und einem neuen Platz machen sollte. Schließlich wurde entschieden, die Fortdauer der Beratungen nicht zu unterbrechen, sondern Provinziallandtage zu berufen und neue Abgeordnete zu wählen. Dies war ein entscheidender Augenblick: Die Wahlen brachten den Anhängern der Reform einen beachtlichen Erfolg und schwächten die „altadlige“ Opposition. 1790 schien auch die außen-politische Lage für die Arbeiten des Sejm günstiger denn je: In Frankreich hatte die Revolution gesiegt, und man konnte damit rechnen, daß sich auch Östeneich, das sich immer stärker gegen das revolutionäre Frankreich engagierte, vom polnischen Schauplatz zurückziehen würde. Die Beratungen im Sejm gingen nun wesentlich zügiger voran. Im Frühjahr des Jahres 1791 wurden wichtige Gesetze verabschiedet, die u. a. das Wahlrecht regelten — dem grundbesitzlosen Adel wurde das Wahlrecht abgesprochen — und die Rechte der Stadt-bürger beträchtlich erweiterten. Dem Gesetz über die Rechte der Stadtbürger ging eine „schwarze Prozession“ von Delegierten der Städte voraus, die unter den konservativen Magnaten Entsetzen und Assoziationen mit dem Sturm auf die Bastille hervorrief. In der Umgebung des Königs arbeiteten währenddessen aufgeklärte Politiker (u. a. Hugo Kollataj und Ignacy Potocki) an einem Entwurf für eine grundlegende Reform. Sie konnten schließlich am 3. Mai 1791 dem Sejm ein umfangreiches Gesetz zum Beschluß vorlegen, das mit enormer Stimmenmehrheit und unter dem Beifall der Abgeordneten angenommen wurde. Dieses Gesetz ging als „Verfassung vom 3. Mai“ in die Geschichte ein.
In der Geschichte des Konstitutionalismus hat die „Verfassung vom 3. Mai“ einen besonderen Platz, zumal sie — nach der Verfassung der Vereinigten Staaten von Nordamerika vom 17. September 1787, aber noch vor der französischen Verfassung vom 3. September 1791 — das zweite neuzeitliche Verfassungsdokument ihrer Art war. Auch wenn sie nicht lange in Kraft blieb, weil das Ende des polnischen Staates nicht zu verhindern war, so gebührt ihr doch eine besondere Beachtung.
Die „Verfassung vom 3. Mai“ setzte sich aus einer Einleitung, elfArtikeln, einem Schlußteil sowie aus drei ergänzenden Sätzen zusammen. Zwei dieser ergänzenden Sätze hatte der Sejm bereits vor dem 3. Mai 1791 verabschiedet: Es waren dies die erwähnten Gesetze über die Provinziallandtage und über die Rechte der Städte, die in die Verfassung übernommen wurden. Das dritte Ergänzungsgesetz regelte die Beziehungen zwischen Polen und Litauen.
Die elf Artikel der Verfassung waren nach einer klaren Systematik geordnet. Die Artikel I—IV betrafen die Gesellschaftsordnung. Sie bestimmten die Rechte der Kirche und der Geistlichkeit, des grundbesitzenden Adels, der Städte und ihrer Bürger sowie der Bauern. Mit den Artikeln I—IV wurde eine grundlegende Norm des ancien rögime, die Teilung der Gesellschaft in Stände und die Ständehierarchie, aufrechterhalten. Damit blieb die polnische Verfassung sowohl hinter der amerikanischen als auch hinter der französischen zurück. Der Text der „Deklaration der Menschen-und Bürger-rechte“ vom 26. August 1789 war in der intellektuellen und politischen Elite Polens zwar schon gut bekannt, hatte aber keinen Einfluß auf die Gesetzgebung des Vierjährigen Sejms.
Die Artikel V—XI galten der Organisation der Staatsgewalt. Deren Grundlagen wurden in Artikel V charakterisiert: Gestützt auf die Lehre Jean-Jacques Rousseaus, bestimmte Artikel V, daß alle Macht aus dem Willen der Nation hervorgehe. Gemäß Charles-Louis Montesquieu und seinem Werk „De l’esprit des lois“ (1748, erste polnische Ausgabe 1777) wurde zudem festgelegt, daß „aus drei Gewalten sich die Regierung der polnischen Nation zusammensetzen soll, d. h.der gesetzgebenden Gewalt . . ., der höchsten ausübenden Gewalt und der Gerichtsbarkeit“. Artikel VI betraf die Legislative, Artikel VII die Exekutive und Artikel VIII die Gerichtsbehörden, also die Jurisdiktion. Mit diesen acht Artikeln hatte die Verfassung schließen sollen; aber da sich der Artikel VII zu bedeutsamen Ausmaßen auswuchs, wurde die klare Systematik gebrochen: Mit Artikel IX, X und XI wurden besondere Bestimmungen zur Regentschaft, zur Erziehung der königlichen Kinder und zum Heerwesen getroffen.
Wie erwähnt, knüpften die Schöpfer der Verfassung an die Theorie des Gesellschaftsvertrags von Jean-Jacques Rousseau an, wobei allerdings die Lehre Rousseaus auf eigentümliche Weise interpretiert und die Nation mit dem Adel identifiziert wurde. Auch das Montesquieusche Prinzip der Gewaltenteilung wurde von den polnischen Verfassungsvätem auf eine eigene Art und Weise verwertet. Während sich nämlich im Westen Europas diese Theorie gegen den königlichen Absolutismus richtete, indem sie die gesetzgebende und richterliche Gewalt des Monarchen beschränkte, stärkte sie in Polen die schwache königliche Gewalt, indem sie dem König Rechte zuerkannte, die er zuvor nicht besessen hatte. Die Theorie der Montesquieuschen Gewaltenteilung wurde indes in der „Verfassung vom 3. Mai“ nicht präzise verwirklicht: Das Parlament, reformiert und verbessert, blieb die höchste Gewalt in der Republik. Das Parlament bestand nach der Verfassung vom 3. Mai 1791 aus zwei Kammern: erstens aus der Abgeordnetenkammer, in der 204 auf den Provinziallandtagen gewählte adlige Abgeordnete und — als Neuerung — 24 Repräsentanten der Städte ihren Sitz hatten, und zweitens aus dem Haus der Senatoren, das wie in der Zeit vor der Verabschiedung der Verfassung aus 102 weltlichen und geistlichen Würdenträgern zusammengesetzt war. Die Abgeordnetenkammer hatte nicht nur aufgrund ihrer zahlenmäßigen Überlegenheit ein größeres politisches Gewicht. Die von ihr verfaßten Gesetz-entwürfe gingen an den Senat, der sie lediglich annehmen oder ablehnen konnte. Im zweiten Fall wurden die Entwürfe an die Abgeordnetenkammer zurückverwiesen, wo sie, zum zweiten Mal beschlossen, ohne Einwilligung des Senats als Gesetze verabschiedet werden konnten.
Die Verfassung beseitigte das „liberum veto“ und dessen Grundlage, das Prinzip der Einmütigkeit. Gesetze konnten mit Stimmenmehrheit beschlossen werden. Das war kein willkürlicher Akt, denn die Idee, auf der das „liberum veto“ beruhte, hatte schon vor 1791 eine recht spektakuläre Niederlage erlitten. Die Ideologen der „goldenen Freiheit“ betonten, daß das Recht des Individuums auf Widerspruch eine staatspolitische Notwendigkeit sei, da die Republik nicht verloren gehen könne, „so lange sich auch nur ein Gerechter in ihr befindet, der einen schädlichen Beschluß nicht zuläßt“. Der Aristokratismus dieser Anschauung, die voraussetzte, daß sich die adligen Massen aus desorientierten oder böswilligen Individuen zusammensetzten, stand nach ihrer Ansicht nicht im Gegensatz zur polnischen „adligen Demokratie“. Als durch die Ironie der Geschichte tatsächlich eine Situation eintrat, in der das „liberum veto“ seine Berechtigung hätte unter Beweis stellen können, versagte es aber: Im Jahre 1773, nach der ersten Teilung Polens, versuchten die Teilungsmächte den Sejm dazu zu zwingen, die Gebietsverluste Polens als „freiwillige“ territoriale Abtretung zu legitimieren. Terrorisiert durch die Anwesenheit russischen Militärs, war eine große Mehrheit im Parlament bereit, dieser Forderung zu entsprechen. Lediglich ein einzelner Abgeordneter, Tadeusz Rejtan, wollte Polen und dem Sejm diese Schande ersparen und versuchte, die Beratungen mit Hilfe des „liberum veto“ abzubrechen. Sein Protest wurde jedoch (vom Sejm?) unterdrückt. Damit hatte sich erwiesen, daß ein einzelnes Individuum nicht imstande war, die Republik vor einer Niederlage zu schützen.
In der Exekutive stärkte die Verfassung die Position des Königs dadurch, daß sie die „freie Königs-wahl“ abschaffte und die Erbfolge einführte. Als möglichen Nachfolger von Stanislaus August Poniatowski sah man den König von Sachsen, Friedrich August aus der Dynastie der Wettiner. Damit knüpfte man an eine in Polen populäre Tradition an, denn der Urgroßvater Friedrichs war in den Jahren 1697— 1733 als August II. (der Starke) polnischer König gewesen. Ihm war August III. (1733— 1763), der Sohn August des Starken, auf den polnischen Thron gefolgt.
Außer der „freien Königswahl“ wurde durch die Verfassung vom 3. Mai 1791 auch der seit 1573 gültige „articulus de non praestanda oboedientia“ abgeschafft. Dieser Artikel besagte, daß der Adel dem König den Gehorsam verweigern konnte, wenn dieser das Recht brach. Anstelle dieser Bestimmung wurde — in Anlehnung an die englische Verfassung und an William Blackstones in Polen sehr populäre „Commentaries on the Laws of England“ (1765 — 1768) — die Institution der Gegenzeichnung in die Verfassung aufgenommen: Der mit dem König zusammenarbeitende Minister nahm die Regierungsverantwortung auf sich.
Die Gegenzeichnung war nicht die einzige Entlehnung aus der englischen Verfassung. Nicht zufällig gab es in der Exekutive weitere Ähnlichkeiten mit dem kabinettsparlamentarischen System. So wurde dem König die sogenannte „Wache der Rechte“, d. h. eine aus Ministern zusammengesetzte Regierung, zur Seite gestellt. Einige dieser Minister standen Kommissionen vor, die die Aufgaben von Ressorts erfüllten. Die Minister waren dem Parlament, das ein Mißtrauensvotum gegen sie beschließen konnte, verantwortlich. Die Schöpfer der Verfassung vom 3. Mai 1791 versuchten eine Synthese aus der polnischen Gesellschaftsordnung, den politischen Ideen der französischen Aufklärung und den Erfahrungen der englischen Verfassung zu schaffen. Sie waren sich darüber im klaren, daß ihr Werk nicht fehlerlos war. Deshalb traten sie dafür ein, daß alle 25 Jahre ein besonderer „Konstitutioneller Sejm“ zusammentreten sollte, um die Verfassung in Übereinstimmung mit dem Geist der Zeit zu revidieren und zu erneuern. Wie viele andere Vorschriften des 3. Mai 1791 wurde jedoch auch diese nicht mehr verwirklicht.
Von der Verabschiedung der Verfassung am 3. Mai 1791 bis zu ihrer Aufhebung durch den Krieg mit Rußland im Jahre 1792 vergingen 13 Monate. Das Funktionieren des Staatsapparates in dieser Zeit bewies, daß die Verfassung leistungsfähig war und nur in Einzelheiten geringer Korrekturen bedurfte. Es verwundert also nicht, daß die Verfassungen des Herzogtums Warschau (1807) und Kongreßpolens (1815) an die Verfassung vom 3. Mai 1791 anknüpften. Dasselbe gilt — wenn auch im wesentlichen nur aus den Gründen der Rücksicht auf das Bedürfnis verfassungsmäßiger Kontinuität — auch für die sogenannte Märzverfassung aus dem Jahre 1921.
Der Ausgangspunkt der adligen Schöpfer der Verfassung war ein vernünftiger Traditionalismus: das Bestreben, durch die Einführung unvermeidlicher Reformen das zu retten, was gerettet werden konnte oder sollte. „Das Andenken unserer Vorfahren ehrend, . . . sichern wir feierlichst dem Adelsstand . . . alle Freiheiten, Ungebundenheiten, Prärogativen zu.“ Zwar wurden die „freie Königswahl“ und das „liberum veto“ abgeschafft, aber dem Adel blieb die Unantastbarkeit des Eigentums einschließlich des Rechts auf den Frondienst der Bauern (Leibeigenschaft, Abgaben, Zinsen) ebenso erhalten wie das „neminem captivabinus“, die persönliche Unantastbarkeit, die dem polnischen Adel seit dem Beginn des 15. Jahrhunderts zustand. Zu seinem Leidwesen mußte der Adel indes auch auf die völlige Steuerfreiheit verzichten, die er vom 14. bis zur Neige des 18. Jahrhunderts besessen hatte. Der einfache Adlige, der sich mit diesen Bestimmungen bekannt machte, konnte auf den ersten Blick meinen, daß die Verfassung — die Einführung der euphemistisch „Opfer des zehnten Groschens“ genannten Steuer ausgenommen — für ihn keine wichtigen Konsequenzen mit sich bringen würde. In Wirklichkeit jedoch leitete die Verfassung insbesondere für die Lebensbedingungen und die Struktur des unteren polnischen Adels weitgehende Veränderungen ein, die die polnische Gesellschaftsordnung auch nach der Aufhebung der Verfassung und dem Zerfall des polnischen Staates im Jahre 1792 nachhaltig prägen sollten.
In Polen gab es mit dem sogenannten Habenichts-Adel eine in den europäischen Nachbarstaaten unbekannte Adelskategorie. Diese Adligen waren ohne Grundbesitz und nicht seßhaft. Verarmt und ohne jedes Eigentum lebten sie auf Kosten der Aristokratie und des begüterten Bürgertums, indem sie — oft fingierte — Stellungen auf den Gütern der Magnaten einnahmen oder einfach auf den Gutshöfen zu Gast waren. Je mächtiger ein Magnat war, je zahlreicher die Klientel, die von ihm ausgehalten wurde. Für die Magnaten machte sich das aber auf den Provinziallandtagen bezahlt, auf denen sich diese „Habenichtse“ massenhaft einfanden, um den Willen des Magnaten — falls nötig mit Geschrei oder Gewalt — in die Tat umzusetzen.
Der „Vierjährige Sejm“ sprach dem „HabenichtsAdel“ das Recht zur Teilnahme an den Provinziallandtagen ab. Diese Entscheidung, die auf den ersten Blick negativ als eine Beschränkung des Wahlrechts bewertet werden könnte, war nicht gegen den verarmten Adel, sondern gegen das Magnatentum gerichtet, dessen politischer Einfluß geschwächt werden sollte. Letztlich waren aber gerade die verarmten Adligen die Leidtragenden: Ohne Sitz und Stimme in den Provinziallandtagen wurden sie für die Magnaten zu einer unnützen Last. Sie mußten die Gutshöfe verlassen und in die Städte ziehen. In den Städten nahmen die verarmten Adligen nur ungern Beschäftigungen in Handel oder Gewerbe auf. Zwar war die Bestimmung, daß ein Adliger seinen Titel und sein Wappen verlor, wenn er einer bürgerlichen Beschäftigung nachging, durch die Verfassung vom 3. Mai aufgehoben worden, aber die Berufe in Handel und Gewerbe wurden von den Adligen trotzdem noch lange Zeit gemieden. Sie suchten bevorzugt Anstellungen in dem sich entwickelnden Staatsapparat, zumal sie in der Regel nicht nur die Kunst des Schreibens und Lesens beherrschten, sondern aufgrund der Neigung des polnischen Adels, Prozesse zu führen, auch über gewisse Kenntnisse der lateinischen Sprache und des Rechts verfügten. Die verarmten Adligen gingen aber auch in die gegen Ende des 18. Jahrhunderts entstehenden „freien“ Berufe, die nicht von den Zünften kontrolliert und reglementiert wurden und nicht der traditionellen Verachtung des Adels für das Gewerbe unterlagen. Zu diesen Berufen zählten in erster Linie der des Juristen und später auch der des Arztes. Die Umsiedlung des verarmten Adels in die Städte hat die Entwicklung und die Struktur der polnischen Intelligenz nachhaltig beeinflußt: Wissenschaftler, die sich mit der Genese der Intelligenz als gesellschaftlicher Gruppe befassen, unterstreichen einmütig, daß sich die polnische Intelligenz zu einem bedeutenden Prozentsatz aus dem deklassierten Adel rekrutierte. Das intellektuelle Milieu in Polen ist nach ihrer Ansicht maßgebend durch charakteristische Merkmale des Adels geprägt worden.
Die Verfassung vom 3. Mai hatte auch für das städtische Bürgertum weitreichende Konsequenzen. Den städtischen „Prozessoren“ wurde eine Reihe von Vorrechten verliehen. Nach dem französischen Vorbild der „noblesse de robe“ wurde Personen, die in der Verwaltung, im Gerichtswesen oder Militär avancierten, die Erlangung adliger Rechte erleichtert. Die „Prozessoren“ erlangten auch das Recht auf Unantastbarkeit der Person und des Vermögens sowie die Repräsentation im Parlament. Da die Verfassung dem grundbesitzenden Adel und den städtischen „Prozessoren“ Privilegien zusicherte, wurde von nun an das Vermögen zur Grundlage und zum gemeinsamen Nenner der politischen Rechte. Hugo Koilataj, Mitglied des „Vierjährigen Sejms“ und vielgelesener Publizist und Schriftsteller, betonte, daß es das Ziel der Verfassung gewesen sei, „aus dem Bürgerstand die erste Stufe zum Adelsstand zu schaffen, so daß im Laufe von einigen Jahrzehnten der Bürgerstand in den Adelsstand übergehen“ und „die Republik nur Staatsbürger ohne die verhaßten Standesunterschiede“ haben würde. Später wurde diese politische Konzeption, die aufeinem Bündnis des schwächer werdenden Gutsbesitzertums mit der an Kraft zunehmenden Bourgeoisie beruhte, als „preußischer Weg zum Kapitalismus“ bezeichnet.
Die Rechtslage der Bauern wurde nur geringfügig verändert. Die Verfassung schaffte die persönliche Leibeigenschaft nicht ab und milderte auch nicht den Frondienst und die anderen bäuerlichen Pflichten gegenüber dem Adel. In einer später berühmt gewordenen Formulierung kündigte die Verfassung jedoch eine Kontrolle der adligen Herrschaft über die Bauern an: „Das ackerbautreibende Volk, unter dessen Händen die ergiebigste Quelle des Landesreichtums fließt, das die zahlreichste Bevölkerung in der Nation bildet und daher die wackerste Kraft« des Landes ist, wollen wir, geleitet von Gerechtigkeit, Menschlichkeit und Christenpflicht, aber auch in unserem eigenen gut verstandenen Interesse, unter den Schutz der Regierung und des Landes einbeziehen.“ Allerdings wurde keine Behörde geschaffen, die in einem Streit zwischen dem Gutshof und dem Dorf hätte eingreifen und den Schutz der Bauern hätte wahrnehmen können. Fertige Vorbilder dafür waren zur Hand, nämlich in der Gesetzgebung Kaiser Joseph II. von Österreich, die erst kurz zuvor auf das Gebiet Galiziens übertragen worden war und unter dem örtlichen Adel Unruhe hervorgerufen hatte. Schutzbestimmungen der Regierung für die Bauern wurden indes erst — wenn auch nur für kurze Zeit unter Tadeusz Kociuszko während des Aufstandes im Jahre 1794 — durch die Institution der sogenannten Aufseher realisiert.
Die allgemeine Bedeutung der gesellschaftlichen Reformen der Verfassung vom 3. Mai beruhte nicht nur darauf, daß die stufenweise Beseitigung der die einzelnen Stände trennenden Rechtsbarrieren vorbereitet wurde. In der Verfassung wurde vielmehr auch ein neuzeitlicher Begriff der Nation formuliert: ein Nationsbegriff, der nicht allein wie bisher den Adel, sondern alle Stände umfaßte.
Es ist bekannt, daß die Verfassung vom 3. Mai 1791 den polnischen Staat nicht vor dem Verfall retten konnte. Bereits 1792 bildete sich die sogenannte Konföderation von Targowice — eine Adelsopposition, die sich jeglichen Reformen widersetzte. Nachdem russische Truppen zur Unterstützung der Konföderation in Polen einmarschiert waren, wurde die Verfassung aufgehoben. Im Jahre 1793 kam es zur zweiten Teilung Polens durch Preußen und Rußland. Das übriggebliebene Gebiet der Republik blieb weiterhin unter russischer Okkupation. Angesichts dieser Situation brach im Frühjahr 1794 unter der Führung Kosciuszkos ein Aufstand aus. Der Niederschlagung des Aufstandes im Herbst 1794 folgte die dritte Teilung Polens durch Rußland, Preußen und Österreich. Die polnische Republik und damit die polnische Eigenstaatlichkeit wurden vollkommen zerschlagen.
Trotz ihrer kurzen Geltungsdauer fand die Verfassung vom 3. Mai 1791 dennoch internationale Beachtung. Aufgrund der Lage der Dinge erweckte sie in Petersburg, Berlin und Wien sofort großes Interesse. Allerdings kommentierte man hier die Verfassung nur unter außen-bzw. machtpolitischen Aspekten, nämlich unter der Fragestellung, inwieweit die Verfassung Polen stärken könne und ob sie ein Symptom für das Aufflackern eines zweiten revolutionären Brandherdes in Europa sei. Anders die Reaktionen in Großbritannien und in den USA: Edmund Burke und Thomas Paine, von denen letzterer die Grundsätze und Bestimmungen der polnischen Verfassung in seiner Schrift „Rights of Man“ behandelte, zollten den polnischen Verfassungsschöpfern lobende Anerkennung. Auch in der französischen Nationalversammlung reagierte man positiv, wobei die polnische Verfassungjedoch auch hier nicht zuletzt unter utilitaristischen Gesichtspunkten diskutiert wurde. Das französische Interesse galt insbesondere der Frage, inwieweit die „Diversion“ in Polen die verbündeten Kräfte Rußlands, Preußens und Österreichs in Anspruch nehmen und die Verteidigung Frankreichs erleichtern könne. Daneben wurde die Verfassung vom 3. Mai — trotz der Beibehaltung der ständischen Gesellschaftsordnung in Polen — aber auch als ein gelungener Versuch zur Verwirklichung der Gewaltenteilungslehre Montesquieus angesehen und als wichtiger Beitrag zur Schaffung der für den Aufbau des neuzeitlichen Staates unentbehrlichen Grundgesetze bewertet.
Nach der Zerschlagung der polnischen Republik geriet die Verfassung vom 3. Mai bald in Vergessenheit. Ihre Hintergründe, Grundsätze und Bestimmungen waren nach einigen Jahrzehnten kaum mehr bekannt. Bezeichnenderweise räumte der bekannte deutsche Staatsrechtslehrer Georg Jellinek im Jahre 1900 der polnischen Verfassung vom 3. Mai zwar eine Vorrangstellung in Europa ein, unterstrich aber ihren Ständecharakter und vertrat die irrige Meinung, daß sie sich völlig auf die französischen konstitutionellen Gesetze stütze. Im polnischen Nationalbewußtsein nahm und nimmt die Verfassung vom 3. Mai 1791 indes einen hervorragenden Platz ein. Zu einer Zeit, als Polen sein eigenes Staatswesen verlor, spielte sie eine wesent45 liehe Rolle im Prozeß der Nationswerdung. Sie ist zudem ein Zeichen dafür, daß Polen nicht aufgrund der unheilbaren Fehler seiner Gesellschaftsordnung zerfiel, sondern seine Krise aus eigenen Kräften bezwang. Die polnische Niederlage fand erststatt, nachdem die Krise überstanden war, Polen aber nur die Stärke eines nach schwerer Krankheit Genesenden hatte. Aus diesen Gründen war der 3. Mai für die Polen — bis zum Zweiten Weltkrieg — nationaler Feiertag.