Entstehung — Inhalt — Wirkungen
Die 200jährige Kontinuität der amerikanischen Verfassungsordnung hebt sich auf erstaunliche Weise von dem raschen Wandel in allen Lebensbereichen ab, der geradezu zum Inbegriff der Neuzeit geworden ist. Sie fordert insbesondere die Europäer, denen schmerzliche historische Brüche nicht erspart geblieben sind und die nach gemeinsamer Identität suchen, zum kritischen Vergleich und zur Standortbestimmung heraus. Zwischen Mai und September 1787 in Philadelphia entworfen und formuliert, nach gründlicher öffentlicher Ratifikationsdebatte im Juni 1788 in Kraft gesetzt, bis Ende 1791 durch eine Grundrechteerklärung ergänzt und später nur sparsam mit Amendments versehen, stellte die Constitution ofthe United States ofAmerica die fundamentalen Prinzipien und institutioneilen Formen bereit, die den Aufstieg eines locker gefügten, vornehmlich agrarischen Staatenverbundes mit knapp vier Millionen Einwohnern (davon etwa 700 000 Sklaven) zur Supermacht des Atomzeitalters ermöglichten
Die schweren Belastungen, denen die USA durch Bürgerkrieg und Rassenkonflikte, Wirtschaftskrisen, militärische Verwicklungen und politische Skandale periodisch ausgesetzt waren, bewirkten keine Abwendung von der Verfassung, sondern ganz im Gegenteil eine regelmäßige Rückbesinnung und Neuverpflichtung auf ihre first principles sowie pragmatisch-flexible Anpassungen an sich wandelnde innere und äußere Bedingungen. Dieser unzerstörbaren Vitalität ist es zu verdanken, daß die Verfassung zum zentralen Symbol der Zusammengehörigkeit einer religiös und ethnisch vielfach fragmentierten Einwanderergesellschaft wurde. Ihre Entstehungsgeschichte bündelte Grundsatzfragen nach dem Wesen von Souveränität und Regierung, Gewaltenteilung, Repräsentation, Rechtsstaatlichkeit und Föderalismus zu einer großen nationalen Debatte, von der sich Verbindungslinien bis in die Gegenwart ziehen lassen.
Die Beschäftigung mit der amerikanischen Verfassunggebung führt zu den Ursprüngen der neuzeitlichen freiheitlichen Staats-und Gesellschaftsordnung und bedeutet deshalb auch eine Hinwendung zu den Wurzeln unserer eigenen politischen Existenz.
I. Die zwei Ansatzpunkte der Bewegung für eine nationale Regierung
Die in der Revolution geschaffenen Staatenverfassungen und die Articles of Confederation, die 1777 vom Kontinentalkongreß ausgearbeitet worden waren und 1781 nach der Ratifizierung durch sämtliche Staatenparlamente in Kraft traten, galten amerikanischen Patrioten und reformfreudigen Europäern gleichermaßen als die größten Errungenschaften der republikanischen Staatskunst. Auf mustergültige Weise schienen sie den Prinzipienkanon der Unabhängigkeitserklärung und der Virginia Bill of Rights aus dem Jahr 1776 in die konstitutionelle Praxis umzusetzen Auch heute sieht man noch vielfach in der Bundesverfassung von 1787 eine Fortschreibung und Perfektionierung dieser ersten Serie republikanischer Verfassungen. Dagegen gilt es festzuhalten, daß die Bewegung für eine „nationale Regierung“, an deren Spitze sich schon 1780 der energische, ehrgeizige New Yorker Anwalt Alexander Hamilton stellte, in zweifacher Hinsicht eine Abkehr von den konstitutionellen Leitvorstellungen des Jahres 1776 bezweckte. Zum einen hielten immer mehr Amerikaner das Bündnis der dreizehn souveränen Staaten, wie es in den Articles of Confederation verwirklicht worden war, für ungeeignet, die drängenden Probleme der nach-revolutionären Zeit zu bewältigen. Das traf besonders auf den wirtschaftlichen Sektor zu, wo britische Handelsrestriktionen und der aus der improvisierten Finanzierung des Krieges resultierende Währungswirrwarr Mitte der achtziger Jahre des 18. Jahrhunderts zu einer Depression führten, die noch verschlimmert wurde, als sich die Staaten durch protektionistische Maßnahmen gegeneinander abzuschotten begannen. Es galt aber kaum minder für die nationale Sicherheit, die von den Kolonialmächten im Zusammenspiel mit feindlichen Indianerstämmen jederzeit gefährdet werden konnte. All das legte den Gedanken an eine starke Zentralregierung nahe, die mit den erforderlichen wirtschaftlichen, finanziellen und militärischen Kompetenzen, der power of the purse and the sword, ausgerüstet war, um den amerikanischen Interessen daheim und in der Welt Geltung zu verschaffen
Die Bewegung für eine nationale Regierung hatte aber noch eine andere, nach innen gekehrte Komponente. Viele Amerikaner gaben die Hauptschuld an der Misere den Staatenverfassungen, deren Schöpfer das Prinzip der Freiheit zu weit getrieben und dadurch Chaos und Anarchie heraufbeschworen hätten. Anlaß zu solchen Befürchtungen bot die politische Praxis in den achtziger Jahren des 18. Jahrhunderts, die immer stärker in Richtung einer absoluten Parlamentssouveränität tendierte. Als Reaktion auf die Selbstherrlichkeit mancher königlichen Gouverneure der Kolonialzeit richteten die Staatenverfassungen relativ schwache Exekutiven ein, die weitgehend von den Parlamenten abhängig waren. Da zumeist auch die obersten Richter von den Parlamenten bestellt wurden und abberufen werden konnten, stand die Gewaltenteilung nur auf dem Papier. In den allmächtigen Volksvertretungen lebte aber noch der revolutionäre, aktivistische Geist der conventions und committees der siebziger Jahre fort, der besser geeignet war, alte Ordnungen zu überwinden, als neue zu festigen. Hieraus folgten politische Instabilität und Rechtsunsicherheit, die durch die fast überall angewandte Regel der annual elections noch erhöht wurden. Jede neue Assembly ging gewöhnlich erst einmal daran, die Maßnahmen ihrer Vorgängerin zu korrigieren oder aufzuheben.
Nach einjähriger Mitgliedschaft im virginischen Abgeordnetenhaus erklärte James Madison, die unvollkommenen Systeme der Revolutionszeit dürften auf keinen Fall „zur Gewohnheit“ werden. In einer Denkschrift vom Frühjahr 1787 gelangte er zu dem Schluß, die Fehlleistungen und irregulären Verfahrensweisen der Staatenparlamente stellten das fundamentale Prinzip der republikanischen Regierungsform in Frage, „that the majority who rule in such Governments, are the safest Guardians both of public Good and of private rights“. In den Staaten gehe der Schutz der Minderheit verloren, da es praktisch kein Gegengewicht und keine Berufungsinstanz gegen Mehrheitsbeschlüsse gebe. Die Hauptleidtragenden seien im Augenblick noch die Angehörigen der besitzenden Schichten, deren Eigentumsrechte durch staatlich geförderte Papiergeldinflation — am krassesten in Rhode Island — und durch Gesetze zum Schutz der Schuldner gemindert würden. In Zukunft könne dieses Schicksal einer wehrlosen Minderheit aber auch andere Gruppen ereilen. Die Gefahr der Mehrheitstyrannei lasse sich nur abwenden, wenn man die Unionsregierung mit der nötigen coercive authority gegenüber den Staaten versehe. Am zweckmäßigsten erschien Madison ein Vetorecht, das es der Zentralregierung gestattet hätte, ungeeignete Maßnahmen der Staatenparlamente zu anullieren
Diese Sorgen um den inneren Zustand der Staaten trugen mindestens ebensosehr zum Zustandekommen des Philadelphia-Konvents bei, wie die Mängel der Konföderationsverfassung. Auf die Euphorie der Friedensfeiem von 1783 folgte jedenfalls ein fühlbarer Stimmungs-und Mentalitätswandel, den manche Beobachter geradezu als eine „revolution ofsentiments“ empfanden Er äußerte sich in herber Selbstkritik, in der Klage über den Verlust der Bürgertugend (virtue) als der moralischen Grundlage eines republikanischen Gemeinwesens und in der wachsenden Sehnsucht nach Ordnung, Harmonie, Autorität und Berechenbarkeit. Im Winter 1786/87 ließen die Alarmmeldungen von Shays’ Rebellion, einem Aufstand verschuldeter Farmer im Hinterland von Massachusetts, den Eindruck unhaltbarer Zustände weithin zur Gewißheit werden. Erst diese Strömung einer allgemeinen Unzufriedenheit und Reformbereitschaft, die von der Presse und der Geistlichkeit eifrig gefördert wurde, ermöglichte es Hamilton und seinen Freunden, über die Zwischenstation des Annapolis-Konvents, an dem im September 1786 22 Bevollmächtigte von fünf Staaten teilnahmen, den ersehnten nationalen Konvent in Philadelphia zu erreichen
II. Philadelphia: Die Geburt einer neuen Verfassung aus dem Geist des Kompromisses
Der Kongreß machte sich am 21. Februar 1787 die Empfehlungen des Annapolis-Konvents zu eigen und forderte die Staaten auf, Vertreter zu einem allgemeinen Konvent nach Philadelphia zu entsenden, „for the sole and express purpose of revising the Articles of Confederation“ Lediglich das Parlament von Rhode Island verschloß sich dieser Bitte mit der Begründung, es habe kein Recht, Delegierte in ein Gremium zu wählen, das eventuell von den — Einstimmigkeit erfordernden — Amendierungsvorschriften der Articles of Confederation abweichen und den existierenden Compact der Staaten auflösen werde.
Der Konvent trat am 14. Mai 1787 im State House von Philadelphia zusammen, erreichte am 25. Mai das vorgeschriebene Quorum von sieben Staaten und beriet dann bis zum 17. September streng vertraulich unter dem Vorsitz des ehemaligen Oberbefehlshabers George Washington. Von den 74 gewählten Delegierten nahmen 55 teil, von denen wiederum 14 vorzeitig abreisten. New York büßte am 10. Juli das Stimmrecht ein, als John Lansing und Robert Yates den Konvent aus Protest gegen den „nationalen“ Kurs verließen und Hamilton allein zurückblieb
Die Delegierten entstammten zwar allesamt der besitzenden und gebildeten Elite, doch sie verfolgten keineswegs identische Interessen und Ziele Drei Gruppen lassen sich unterscheiden: Die Nationalists um Alexander Hamilton, James Madison und den Philadelphischen Unternehmer und Finanzier Robert Morris; die Anhänger der Staatensouveränität, zu denen Elbridge Gerry aus Massachusetts, Luther Martin aus Maryland und William Paterson aus New Jersey zählten; und schließlich die um Vermittlung Bemühten wie Roger Sherman aus Connecticut, John Dickinson aus Delaware und George Mason aus Virginia. Den Befürwortem einer starken Zentralregierung kam zugute, daß einige der prominentesten populär leaders aus der Revolutionszeit wie der Virginier Patrick Henry und Samuel Adams aus Massachusetts entweder auf eine Kandidatur zum Konvent verzichtet oder ihr Mandat nicht angenommen hatten. Die Delegierten faßten schon früh den folgenschweren Beschluß, den konstitutionellen Rahmen der Articles of Confederation zu verlassen und eine völlig neue Verfassung auszuarbeiten. Als Grundlage nahmen sie die Virginia-Resolutionen, die Gouverneur Edmund Randolph am 29. Mai mit dem Hinweis präsentiert hatte, sie sähen kein „federal government" vor, sondern eine „strong Consolidated union, in which the idea of States should be nearly annihilated" Dieser Konsens geriet noch einmal in Gefahr, als Paterson am 15. Juni einen Alternativplan einbrachte, der die Interessen der kleineren Staaten stärker berücksichtigte und sich mit einer Revision der Konföderationsverfassung zufriedengab. Nach intensiver Debatte lehnte der Konvent diesen Vorschlag jedoch ab und kehrte zu dem modifizierten Virginia-Plan zurück. Er wurde den zögernden Delegierten dadurch schmackhafter gemacht, daß der anstößige Begriff „national government“ generell der neutraleren Formel „the government of the United States“ wich.
Die Diskussion konzentrierte sich aufvier Problem-felder: die Machtverteilung zwischen Union und Staaten, die Balance der Gewalten innerhalb der Zentralregierung, die Repräsentation des Volkes und der Staaten im Kongreß und den Interessenausgleich zwischen Norden und Süden. Der Konvent ließ keinen Zweifel an der übergeordneten Stellung der neuen Unionsregierung. Bundesverfassung, Gesetze und Verträge der Vereinigten Staaten bildeten das „supreme Law of the Land“, an das alle Richter gebunden waren, „any Thing in the Constitution or Laws of any State to the Contrary notwithstanding“ Im Vergleich zum Konföderationskongreß erhielt der Bundeskongreß vier neue wichtige Befugnisse, während die Staaten wesentliche Beschränkungen hinnehmen mußten. Die Zentralregierung durfte fortan in eigener Regie Steuern und Zölle erheben, den Handel zwischen den Staaten und mit dem Ausland regulieren, die Milizender Staaten beaufsichtigen und gegebenenfalls militärisch einsetzen und schließlich alle Gesetze erlassen, die „notwendig und angemessen“ (necessary and proper) waren, um die in der Verfassung enthaltenen Kompetenzen voll auszuschöpfen. Den Staaten wurde dagegen untersagt, Münzgeld zu prägen und Papiergeld auszugeben, in geltende Privat-verträge einzugreifen oder durch rückwirkende Gesetze und Enteignungen Besitzrechte anzutasten. Im Verhältnis von Bundesgewalt und Volk trat damit ein grundsätzlicher Wandel ein: Unter den Articles ofConfederation waren allein die Staaten Ansprechpartner des Kongresses gewesen. Von nun an konnte sich die Bundesregierung ohne Vermittlung der Staaten direkt an jeden einzelnen Bürger wenden. Die sporadisch gezahlten Matrikularbeiträge der Staaten wurden durch ein regelmäßiges Einkommen ersetzt, das die sichere Fundierung der im Unabhängigkeitskrieg aufgelaufenen Staats-schuld und die Freisetzung des dringend benötigten Investitionskapitals ermöglichte. Diese eindeutige Machtverlagerung zugunsten der Zentralregierung erübrigte nach Meinung der Mehrheit das Veto gegen Staatengesetze, das Madison bis zuletzt forderte.
Der als problematisch erkannte Vorrang der Legislative wurde zugunsten einer gleichgewichtigen Position der Exekutive abgeschwächt. Der Präsident sollte nicht vom Kongreß, sondern — unter Zwischenschaltung eines Wahlmännerkollegiums — vom Volk gewählt werden. Er war mit einem suspensiven Veto gegen Gesetzesvorschläge des Kongresses ausgestattet, konnte im Verein mit dem Senat Verträge abschließen und Richter ernennen und fungierte als Oberbefehlshaber der gesamten bewaffneten Macht. Seine Amtszeit betrug vier Jahre, aber er durfte sich unbegrenzt zur Wiederwahl stellen Eine erhebliche Stärkung erfuhr auch die richterliche Gewalt, die nun zum eigenständigen Verfassungsorgan aufrückte. Ausgeübt wurde sie vom Supreme Court und von den (durch den Judiciary Act von 1789 geschaffenen) niederen Bundesgerichten, deren Richter during good behavior, also praktisch auf Lebenszeit, amtierten. Die Frage, ob das Oberste Gericht auch Gesetze des Kongresses für verfassungswidrig erklären dürfe, tauchte bereits auf, fand aber noch keine schlüssige Antwort.
Mit der Teilung der Legislative in Repräsentanten-haus und Senat bestätigte der Konvent das Zweikammersystem, das sich trotz der Vorliebe radikaler Revolutionäre für eine einheitliche Volksvertretung in den meisten Staaten durchgesetzt hatte.
Während das Repräsentantenhaus unter Berücksichtigung der unterschiedlichen Einwohnerzahlen der Staaten vom Volk direkt gewählt wurde, durfte jedes Parlament zwei Vertreter in den Senat entsenden Die Legislaturperiode des Repräsentanten-hauses betrug zwei Jahre, die des Senats sechs Jahre, wobei ein Drittel der Senatoren alle zwei Jahre neu bestimmt werden sollte. Insgesamt betonte der Konvent damit das Element der Kontinuität und Stabilität gegenüber der Wechselhaftigkeit der jährlich gewählten Staatenparlamente. Die gleichmäßige Repräsentation im Senat war auch der Kern des „Connecticut-Kompromisses“, der die Kluft zwischen großen und kleinen Staaten überbrückte.
Der Gegensatz zwischen dem ökonomisch weiter entwickelten Norden und dem rein agrarischen, exportorientierten Süden brachte den Konvent an den Rand des Scheiterns. Drei Fragen verwickelten sich zu einem schier unentwirrbaren Problem-knäuel: der Modus der Repräsentation in der ersten Kammer, die Sklaverei und der Import von Sklaven sowie die Zuständigkeit des Kongresses in Wirtschafts-und Handelsdingen. Schon im Juni kam man überein, sowohl die Zuteilung der Sitze im Repräsentantenhaus als auch die Erhebung direkter Steuern (auf die man in der Praxis vorerst aber noch zugunsten indirekter Finanzierungsquellen verzichten wollte) nach der Bevölkerungszahl vorzunehmen und dabei, als Konzession an den dünner besiedelten Süden, drei Fünftel der unfreien Schwarzen mitzuzählen. Trotz dieses nördlichen Entgegenkommensfürchteten die Delegierten des Südens, die Nord-und Mittelstaaten könnten ihre numerische Überlegenheit im Kongreß zum ökonomischen Vorteil der eigenen Region mißbrauchen. Sie forderten deshalb, daß handelsregulierende Gesetze einer Zwei-Drittel-Mehrheit bedurften und Exportsteuern verboten sein sollten. Die Nord-Vertreter sahen aber voraus, daß der Zustrom an Sklaven und das raschere Bevölkerungswachstum des Südens das Kräfteverhältnis bald umkehren würden. Sie stellten deshalb die Drei-Fünftel-Klausel wieder in Frage und machten sich für eine Besteuerung oder sogar ein Verbot der Sklaveneinfuhr stark. Erst Ende August schmiedete ein eigens gebildetes Komitee den rettenden „Großen Kompromiß“: Die Drei-Fünftel-Klausel und das Verbot von Exportsteuern wurden in den Verfassungsentwurf aufgenommen; der Kongreß konnte den Import von Sklaven mit maximal10 Dollar pro Person besteuern, durfte ihn aber bis zum Jahr 1808 nicht verbieten; dafür reichten einfache Mehrheiten im Kongreß zur Beschlußfassung über handelsregulierende Gesetze und Handelsverträge aus. Als der Konvent diese Formel Ende August mit sieben gegen vier Staaten billigte, war der Durchbruch geschafft. Daß die gefundene Lösung aber nicht jedermann behagte, wurde bei der Schlußabstim-mung am 17.September deutlich. Trotz Benjamin Franklins inständiger Mahnung zur Einmütigkeit verweigerten drei der verbliebenen 41 Delegierten — Randolph und Mason aus Virginia sowie Elbridge Gerry aus Massachusetts — ihre Unterschrift
III. Die Feuerprobe der Verfassung im Prozeß der Ratifikation
Die Öffentlichkeit war auf Reformen vorbereitet gewesen, hatte aber nicht mit einer „revolution in government" gerechnet Statt einhelliger Zustimmung löste der Entwurf von Philadelphia deshalb heftige Kontroversen und eine regelrechte Propagandaschlacht aus. Sie wurde unter Aufbietung aller historisch-staatsrechtlichen Kenntnisse und politischen Erfahrungen mit Zeitungsessays, Leserbriefen, Pamphleten, Flugblättern, Wahlreden, Festumzügen und sogar mit Predigten geführt und hielt die Amerikaner über ein Jahr lang in Atem Die Unterzeichner wußten, daß ihr Werk, wollte es Gültigkeit und Dauer erlangen, auf unanfechtbare Weise von der Mehrheit des Volkes sanktioniert werden mußte Um das Risiko einer Ablehnung zu verringern, hatten sie dem Kongreß empfohlen, die Zustimmung von neun Staaten zum Inkrafttreten der Verfassung hinreichen zu lassen. Auch sollten weder die selbstbewußten Parlamente noch „unberechenbare“ Volksabstimmungen entscheiden, sondern vom Volk in den Staaten gewählte Ratifizierungskonvente. Das erschien als die ideale Verknüpfung des Prinzips der Volkssouveränität mit der Sachkunde unvoreingenommener Repräsentativkörperschaften.
Ganz ließen sich die Parlamente aber nicht umgehen, denn sie mußten — nachdem der Kongreß den Verfassungsentwurf kommentarlos an die Staaten weitergeleitet hatte — für die Einberufung der Ratifizierungskonvente sorgen. Es zeigte sich aber, daß kaum ein Parlamentarier der Forderung öffentlich zu widersprechen wagte, man müsse den Bürgern Gelegenheit geben, durch die Wahl von Konventsdelegierten ihr eigenes Urteil zu fällen. Lediglich Rhode Island blieb seiner Rolle als enfant terrible treu und beraumte statt eines Konvents ein Referendum an, das prompt mit einer klaren Absage an die Verfassung endete. Die Kritiker in den anderen Parlamenten beschränkten sich darauf, die Entscheidung so weit wie möglich hinauszuzögern, in der Hoffnung, die Verfassungskampagne werde bald Schiffbruch erleiden. Letztlich kam diese Taktik aber nur den Verfassungsanhängern zugute, weil die späten Konvente unter dem Druck der bereits erfolgten Ratifikationen beraten mußten und sich nicht mehr völlig frei fühlten Die Spaltung der Bevölkerung in zwei Meinungslager ging auf den die Nachkriegszeit bestimmenden Gegensatz zwischen kommerziell-nationalen und agrarisch-partikularistischen Fraktionen in den Parlamenten zurück Erstere setzten alle Hoffnung auf das Werk von Philadelphia, letztere, die vor allem im Landesinnem und an der Frontier Unterstützung fanden, nahmen geradezu instinktiv eine Abwehrhaltung ein. Die Befürworter des Verfassungsentwurfs nannten sich Federalists, die Opponenten wurden Antifederalists genannt, obwohl sie selbst sich als die Hüter des wahren Föderalismus verstanden. Unablässig beschuldigten die Antifederalists die Gegenseite, die doch für eine „nationale“ oder „konsolidierte“ Regierung kämpfe, mit dem Begriff federal Etikettenschwindel zu betreiben. Erst nach erfolgter Ratifizierung gelang es ihnen, das schädliche Anti-Image durch die attraktivere Bezeichnung Republicans bzw. Democratic Republicans abzustreifen. Der Kampf um Namen und Begriffe gehörte also schon damals zum politischen Geschäft.
Die öffentliche Kritik konzentrierte sich auf vier Punkte: das irreguläre Verfahren des Verfassungswechsels, die zentralistische Tendenz des Verfassungsentwurfs, die innere Unausgewogenheit und Volksfeme der Bundesregierung sowie das Fehlen einer Bill of Rights.
Das Beiseiteschieben der Articles of Confederation verurteilten die Antifederalists als Kompetenzüberschreitung oder sogar als Verfassungsbruch. Ein solches Vorgehen erschüttere das Vertrauen in die konstitutionellen Grundlagen der Union und stelle ein gefährliches Präzedenz für weitere innovations und Revolutionen dar.
Zum zweiten Punkt führten sie immer wieder Montesquieu ins Feld, der im De L’Esprit Des Lois eine Konföderation souveräner Republiken als ideal bezeichnet hatte, weil sie die inneren Vorzüge kleiner freiheitlicher Gemeinwesen mit den äußeren Vorteilen eines mächtigen Reiches verbinde. Würde der Zusammenschluß aber zu eng, dann entstünde ein „konsolidiertes Reich“, das notwendigerweise vom Zentrum aus mit harter Hand regiert werden müßte. Genau das sahen die Antifederalist voraus: Mit ihren höchst dehnbaren Befugnissen werde die Zentralgewalt die Unabhängigkeit und Eigenverantwortlichkeit der Staaten immer mehr aushöhlen, bis diese eines Tages ganz in einem autoritär regierten und bürokratisch verwalteten American Empire aufgingen.
Hinsichtlich der künftigen Bundesregierung monierten die Antifederalists mangelhafte Gewaltenteilung und unzulängliche Repräsentation. Präsident und Senat übten sowohl exekutive als auch legislative Aufgaben aus und schienen gemeinsam stark genug, das Repräsentantenhaus jederzeit zu beherrschen. Eine angemessene demokratische Repräsentation der Gesamtbevölkerung der Union hielten die Verfassungsgegner ohnehin für illusorisch. Die Interessen der Staaten, Regionen und gesellschaftlichen Gruppen seien so vielfältig, daß sie sich kaum in den Staatenparlamenten, geschweige denn in dem zunächst auf 65 Sitze berechneten Repräsentantenhaus artikulieren könnten. Die Mandate in den großen Wahlkreisen drohten allesamt an Angehörige der Oberschicht zu fallen, die über kurz oder lang mit dem Präsidenten, den Senatoren und den Richtern gemeinsame Sache gegen die breite Masse des Volkes machen würden. Das Abgleiten in Aristokratie oder Monarchie lasse sich um so weniger aufhalten, als nicht einmal eine Grundrechteerklärung vorgesehen sei, die den einzelnen vor staatlicher Willkür schütze. Dieser Umstand ängstigte auch viele von denen, die den Verfassungsentwurf ansonsten billigten
In den Nord-und Mittelstaaten übten die Antifederalists vehemente Kritik an den Sklavereibestimmungen der Verfassung. Ihr religiös-moralischer Rigorismus wirkte aber nicht überzeugend, weil die Gesinnungsfreunde im Süden gerade umgekehrt die Gefahr an die Wand malten, eine nördliche Kongreßmehrheit könnte eines Tages die Sklaven-befreiung beschließen. Das erleichterte es den Federalists, den Kompromißcharakter der Verfassung hervorzuheben und die Drei-Fünftel-Regelung als wichtigen Schritt zu einer endgültigen Lösung der Sklavereifrage anzupreisen.
In ihrer Verteidigung und Erläuterung des Verfassungsentwurfs suchten die Federalists nachzuweisen, daß eine starke Bundesregierung sowohl mit dem föderativen Prinzip als auch mit der Wahrung der Freiheit vereinbar war. Die Verfassung errichte kein zentralistisches Staatswesen, sondern eine neuartige, teils nationale, teils föderative Ordnung, die ebensoweit von den bekannten Staatenbünden entfernt sei wie von der durch Jahrhunderte gewachsenen, einstmals vorbildlichen, nun aber hoffnungslos korrumpierten British Constitution. Bundesregierung und Staatenregierungen würden in zwei weitgehend getrennten Sphären operieren, wobei der Bund für die nationalen und zwischenstaatlichen Belange, die Staaten weiterhin für ihre inneren Angelegenheiten Verantwortung trügen. Gefahr könne von der Bundesregierung schon deshalb nicht ausgehen, weil alle ihre wesentlichen Organe nach dem Prinzip der representative democracy durch direkte oder indirekte Wahl aus dem Volk hervorgingen und unter seiner steten Aufsicht blieben. Erhöht werde die Sicherheit durch die innere Struktur der Regierung selbst, deren Gewalten sich gegenseitig ausbalancierten und kontrollierten. Diese hohe Komplexität brauche sie keineswegs zu behindern, sondern könne ihre Effizienz — nach Madisons Devise „ambition must be made to counteract ambition“ — sogar noch steigern. Indem die Bundesregierung kraftvoll für Ordnung und Sicherheit sorge, verbürge sie die Freiheit der Individuen und die Rechte der Minderheiten.
In den Essays, die er zusammen mit Alexander Hamilton und John Jay unter dem Pseudonym Publius in New Yorker Zeitungen veröffentlichte und die 1788 als The Federalist auch in Buchform erschienen entwickelte Madison zwei weitere wichtige Gedanken. Ein zahlenmäßig kleines Bundesparlament erachtete er sehr wohl für geeignet, die Belange der Union und ihrer Bürger zu vertreten. Wer Abgeordneter oder Senator werden wolle, müsse einen Filterungs-oder Ausleseprozeß von der lokalen bis zur nationalen Ebene durchlaufen, der nur die Fähigsten ans Ziel kommen lasse. Im Kongreß sollten die Abgeordneten und Senatoren dann gerade nicht bedingungslos die Interessen ihrer jeweiligen Klientel verfechten, sondern das Wohl des Ganzen im Auge behalten und zu Kompromissen fähig bleiben. Das Montesquieu-Zitat stellte Madison geradezu auf den Kopf. Die Geschichte lehre, daß ein lockerer Bund kleiner Republiken auf längere Sicht stets den in ihm wirkenden zentrifugalen und selbstzerstörerischen Kräften zum Opfer falle. Erst die Festigung der zentralen Autorität und die territoriale Ausdehnung könnten einer federal republic Stabilität und Stärke geben. Je vielfältiger und differenzierter nämlich die Interessen der einzelnen Regionen und Bevölkerungsgruppen würden, desto schwieriger sei eine homogene und potentiell tyrannische Mehrheit zusammenzubekommen. Vielmehr hielten sich die einzelnen Interessengruppen und Parteien in der Gesamtgesellschaft gegenseitig die Waage und bildeten dadurch ein zusätzliches Element der Gewaltenteilung. Diese Balance ermögliche es auch, den privaten Egoismus in Bahnen zu lenken, in denen er dem Gemeinwohl nicht schädlich, sondern förderlich sein werde.
Mit besonderem Nachdruck strichen die Federalists die sicherheits-und wirtschaftspolitischen Vorteile des Bundesstaates heraus. Den Begriff des American Empire, mit dem ihre Gegner Ruhmsucht und kostspielige Kriege verbanden, gebrauchten sie im positiven Sinne eines den ganzen Kontinent umgreifenden, Landwirtschaft, Handel und Industrie stetig entwickelnden Friedensreiches. Die Amerikaner dürften sich nicht an der kleinen Schweiz mit ihren selbstgenügsamen Bürgern messen, sondern müßten den Blick in eine Zukunft richten, in der Amerika dem britischen Empire den Rang ablaufen und den anderen Mächten das Gesetz des Handelns diktieren werde. Nur so könne das Land dem Rest der Welt als Hoffnung und als das „Asyl der Frei-heit“ erhalten bleiben. Diese bisweilen religiös gefärbte Vision von Prosperität, kultureller Blüte und uneigennütziger nationaler Größe beflügelte insbesondere die Phantasie der städtischen Mittel-und Unterschichten, verfehlte ihre Wirkung aber auch nicht bei Teilen der ländlichen Bevölkerung. Alle Überzeugungskraft und aller Propagandaaufwand konnten jedoch nicht verhindern, daß die Konventswahlen, an denen sich etwa 160 000 Bürger (d. h. ungefähr jeder vierte erwachsene Weiße) beteiligten, in so wichtigen Staaten wie Massachusetts und New York oppositionelle Mehrheiten erbrachten Die ganze Mühe wäre wohl umsonst gewesen, wenn sich die Federalists nicht im entscheidenden Augenblick zu einem bedeutsamen Zugeständnis durchgerungen hätten. Als die Ratifizierung von Massachusetts Anfang Februar 1788 im Bostoner Konvent am seidenen Faden hing, versprachen sie der Opposition, sie würden sich nach Annahme der Verfassung im neuen Kongreß für Korrekturen und Ergänzungen, insbesondere für eine Verankerung der Grundrechte und eine Bestandsgarantie der Geschworenengerichte (jury trial), einsetzen. Diese Übereinkunft ermöglichte nicht nur den erfolgreichen Abschluß des Bostoner Konvents, sondern diente auch den meisten nachfolgenden Staaten als Modell. New Hampshire schmückte sich am 21. Juni 1788, dicht gefolgt von Virginia und New York, mit der Ehre des „neunten Staates“. Dagegen benötigten North Carolina und Rhode Island zwei Anläufe, bevor sie im November 1789 bzw. Juni 1790 die neue Union vervollständigten. Durch den klaren Sieg in der ersten Bundeswahl bestätigt, lösten die Federalists im Sommer 1789 ihr Versprechen ein und brachten im Kongreß zwölf Amendments zur Annahme. Zehn erreichten die nötige Ratifizierungsmehrheit von Drei Vierteln der Staaten und traten im Dezember 1791 als Bill ofRights in Kraft Wenngleich die radikalen Antifederalists mißtrauisch blieben, verlieh dieser versöhnliche Ausklang der Neuordnung insgesamt den Charakter einer gemeinsamen Anstrengung. Die Verfassung war, so formulierte rückblickend ein Festredner, „emerged from the fiery ordeal of discussion . . . with additional purity and lustre“ Daraus erwuchsen ihr in hohem Maße Legitimität und Integrationskraft, die für den Zusammenhalt der jungen Republik von unschätzbarem Wert waren. Obwohl der Parteienstreit bald wieder auflebte und sogar heftige Formen annahm, wurden die Verbindlichkeit und die zentralen Prinzipien der Verfassung fortan nicht mehr in Zweifel gezogen. Auch die sozialen Proteste späterer Zeiten richteten sich selten gegen die Verfassung als solche, sondern bezogen ihre Kraft gerade aus der Konfrontation der Unabhängigkeits-und Verfassungsideale mit den realen gesellschaftlichen Mißständen. Für die zunächst vom politischen Leben ausgeschlossenen Gruppen — Besitzlose, Schwarze, Frauen, Indianer — erwies sich die Berufung auf ihre constitutionalrights oft als die wirksamste Waffe in dem mühsamen Kampf um Gleichberechtigung.
IV. Eigenheiten und Entwicklungsstadien des amerikanischen Verfassungssystems
Die Verfassungsdebatte von 1787/88 markiert den Beginn eines fortdauernden Dialogs über die Grundlagen und die Zukunft der amerikanischen Republik. Mit ihrer Argumentation legten Federalists und Antifederalists einen ideologischen und mentalitätsmäßigen Zwiespalt bloß, der die gesamte Geschichte der Vereinigten Staaten durchzieht. Die Verfassungsgegner standen noch im Bann der aus England übernommenen Country-Ideologie, die sich in der Revolution durchgesetzt und ihren konstitutionellen Niederschlag in den ersten Staatenverfassungen und den Articles of Confederation gefunden hatte Aus dieser Perspektive mußten die Pläne der Federalists als Angriff auf geheiligte Prinzipien wie jährliche Wahlen, Ämterrotation, volksnahe Repräsentation und Gerichtsbarkeit, Vorrang der Miliz vor einem stehenden Heer und Übergewicht der Legislative im Regierungssystem erscheinen. Tatsächlich stießen die Federalists in Neuland vor und entwarfen nicht nur eine bislang unbekannte Staatsform, die Bundesrepublik, sondern auch eine modernere Version des Republikanismus. Den Mangel an Bürgertugend, dem die Antifederalists mit moralischen Appellen beizukommen suchten, wollten sie durch institutionelle Vorkehrungen ausgleichen. Während die Country-Ideo\ogie auf verhältnismäßig kleine, agrarische und egalitäre Gemeinwesen zugeschnitten war, trug ihr Konzept stärker nationale, zentralistische und elitäre Züge. Einerseits war es in seiner Betonung von Ordnung, Stabilität und Hierarchie konservativer, andererseits entsprach es eher den Bedürfnissen der aufkommenden kommerziellen, an individualistischen Wertvorstellungen ausgerichteten Gesellschaft. Dieses Gespür für das Zeitgemäße erlaubte es den Federalists, den Nationalstaat zu gründen und ihn auf eine sichere ökonomische Basis zu stellen.
Country-Ueologie und Federalism wurden aber, wie der geregelte Ablauf der Verfassungsdebatte bewies, von einem tieferliegenden republikanischen Grundkonsens zusammengehalten. Der Erfolg der Federalists bedeutete deshalb auch nicht, daß alle Werte, denen sich ihre Widersacher verpflichtet fühlten, aus dem öffentlichen Bewußtsein verschwanden. Dazu gehörten die Mitverantwortung und Mitbestimmung jedes Bürgers, die strikte Kontrolle der Mandatsträger und die Hochschätzung von republikanischer Schlichtheit und Volks-bildung. Wichtig waren auch das Mißtrauen gegen Zentralismus und Bürokratie, die Ablehnung ungehemmten nationalen Machtstrebens und die Verteidigung der Grund-und Freiheitsrechte. All dies trat nach 1800 im Republikanismus Jeffersons wieder deutlicher hervor, blieb auch später als notwendiges Korrektiv erhalten und wurde Teil der politischen Kultur der Vereinigten Staaten In jüngster Zeit hat die „kommunalistische" (communitarian) Betrachtungsweise, die den einzelnen weniger als autonomes Individuum denn als Teilnehmer am Gemeinschaftsleben sieht, in der politischen Theorie und der Rechtsprechung sogar wieder deutlich an Boden gewonnen. Überschaut man die zurückliegenden 200 Jahre, dann sind manche der kühnen Verheißungen der Verfassungsväter in Erfüllung gegangen, aber ebenso haben sich einige der von den Antifederalists geäußerten Befürchtungen bewahrheitet. Der Aufstieg zur Weltmacht hat materielle und moralische Neben-und Folgekosten gezeitigt, die den Glanz des Bildes partiell trüben. Die USA sind von inneren Krisen, Machtmißbrauch und Korruption nicht verschont geblieben. Niemals erlangten jedoch destruktive Kräfte die Oberhand, sondern stets wurden Selbstheilungsmechanismen wirksam und brachten die Dinge wieder ins Lot. Der tiefere Grund hierfür liegt darin, daß die Verfassung keine statische Ordnung errichtete, sondern ein dynamisches, auf Wettbewerb angelegtes System, das flexibel genug ist, um auch extremen Herausforderungen gerecht zu werden. Mochte die Stellung der Gewalten zueinander auch Schwankungen unterliegen, so trat doch niemals ein politisches Vakuum ein, das demokratisch nicht legitimierte Kräfte an die Macht gezogen hätte
Die Bedeutung der Verfassung war in Philadelphia und in den Ratifizierungskonventen nicht ein für allemal fixiert worden, sondern wurde und wird im Spannungsfeld von Regierungshandeln, Gesetzgebung, Rechtsprechung und öffentlicher Meinung immer wieder neu definiert. Um die Entwicklungslinien des amerikanischen Regierungssystems zu erkennen, muß man das Verhältnis zwischen Bund und Staaten, zwischen Präsident, Kongreß und Oberstem Gericht und schließlich zwischen Staat und Gesellschaft überhaupt in den Blick nehmen. Die Staaten wahrten bis weit ins 19. Jahrhundert hinein eine starke Position gegenüber der Zentral-gewalt. Manche von ihnen leisteten sogar Schrittmacherdienste in Bereichen wie der Industriepolitik und der Sozialgesetzgebung. Dieser dezentrale Weg geriet aber in Verruf, als sich die Doktrin der States’ Rights mit der Verteidigung der Sklaverei verband und die Union zu sprengen drohte. Nach dem Bürgerkrieg und der endgültigen Beseitigung des Sklaverei-Systems durch die Amendments 13 bis 15 nahm der Einfluß der Staaten ab, doch erst als in der Großen Depression der dreißiger Jahre dieses Jahrhunderts die einzelstaatliche Krisenbekämpfung versagte, eroberte sich die Bundesregierung eine überragende Stellung. Die Politik des New Deal schlug ihr eine Bresche, durch die sie ordnend und regulierend in immer weitere Bereiche des wirtschaftlichen und sozialen Lebens vordringen konnte Der fortschreitende Bedeutungsverlust der nunmehr 50 Staaten und die Vermischung einzel-und bundesstaatlicher Kompetenzen hat in den beiden letzten Jahrzehnten Gegenstimmen auf den Plan gerufen, die eine Wiederbelebung des föderativen Elements propagieren. Bislang ist aber noch kaum abzusehen, ob der viel beschworene new federalism tatsächlich Initiativen und schöpferische Kräfte auf der lokalen Ebene freizusetzen vermag, oder ob das Schlagwort lediglich dazu dient, den Rückzug des Staates aus der sozialen Verantwortung zu kaschieren
Das Präsidentenamt war auf seinen ersten Inhaber, den absolut vertrauenswürdigen und selbst vom politischen Gegner geachteten George Washington zugeschnitten und wurde von ihm auch in mancher Hinsicht dauerhaft geprägt. Seine Nachfolger bis zu John Quincy Adams wahrten die herausgehobene Stellung des Präsidenten, ohne daß die Bindung an das Kabinett und das Gegengewicht des Kongresses verloren gingen. Das änderte sich unter Andrew Jackson (1829— 1837), der die Popularität des Kriegshelden dazu nutzte, immer mehr Entscheidungsgewalt in seiner Person zu vereinen. Die Überlegenheit der Exekutive erreichte ihren Höhepunkt im Bürgerkrieg, als Abraham Lincoln zum charismatischen Retter der Nation emporstieg, dem nahezu unbeschränkte Vollmachten zugebilligt wurden. Nach seiner Ermordung 1865 schlug das Pendel in die entgegengesetzte Richtung aus, und bis zur Jahrhundertwende dominierte der Kongreß über eine Reihe von schwachen Präsidenten. Die mächtigen Parlamentsausschüsse wurden zu Anlaufstellen für die Interessenvertreter des big business, so daß der Begriff congressional government fast schon synonym mit Korruption war.
Die Kritiker dieser Auswüchse erhofften sich Abhilfe von einer energischen Exekutive, wie sie dann in Gestalt von Theodore Roosevelt und später der großen Reform-und Kriegspräsidenten Woodrow Wilson und Franklin D. Roosevelt in Erscheinung trat. Seit Wilson sah man im Präsidenten nicht mehr nur den Staats-und Regierungschef, sondern zugleich auch den Parteiführer, den Chef-Diplomaten und den Vollstrecker des Volkswillens. Die aktive Mitwirkung der Exekutive an den Planungsund Lenkungsprozessen des modernen Industrie-staates spiegelte sich — beginnend in den zwanziger Jahren dieses Jahrhunderts — im forcierten Ausbau der zentralen Bundesverwaltung mit ihren Ministerien und unabhängigen Exekutivbehörden, deren Koordinierung und Kontrolle bald schwerwiegende, bis heute nicht befriedigend gelöste Fragen aufwarfen. Der Zweite Weltkrieg und das globale Engagement der USA im Zeichen des Kalten Krieges bürdeten dem Präsidenten zusätzliche Verantwortung auf, die in den Begriff der imperialpresidency gefaßt wurde. Wie zuvor schon der Innen-und Wirtschaftspolitik, sollte er nun auch der Weltpolitik die Richtung weisen Damit wuchs die Neigung der Amtsinhaber, die Regierungsgeschäfte vorwiegend unter dem Gesichtspunkt der nationalsecurity zu sehen und sich in kritischen Zeiten Sonderbefugnisse herauszunehmen.
Andererseits engten die Kompliziertheit und Mannigfaltigkeit der Entscheidungsprozesse im 20. Jahrhundert den persönlichen Einfluß des Präsidenten eher ein. Deshalb wechselten starke Präsidentschaften auch immer wieder mit Phasen ab, in denen der Kongreß die Zügel der Kontrolle anzog und seine Machtbefugnisse — etwa mit der Neutralitätsgesetzgebung in den dreißiger Jahren und dem War Powers Act nach dem Vietnam-Krieg — besser zur Geltung brachte. Die volle Entfaltung des von den Verfassungsvätern beabsichtigten Systems der checks and balances scheint also ein ständiges Tauziehen zwischen Präsident und Kongreß zur Folge zu haben, bei dem die öffentliche Meinung und der Supreme Court Schiedsrichter und Zünglein an der Waage spielen. Für die Durchsetzungsfähigkeit des Präsidenten ist es dabei von wesentlicher Bedeutung, ob seine Partei über Mehrheiten im Kongreß verfügt oder ob er sich von Fall zu Fall der Unterstützung der Öffentlichkeit versichern muß, um gegen eine oder sogar beide Kammern anzuregieren. Der Kongreß wiederum kann nur dann führen, wenn er einen einheitlichen Willen und ein konsistentes Programm entwickelt. Das erfordert entweder eine handlungsfähige Mehrheit oder einen bipartisan approach. Da die beiden großen Parteien in sich vielfältig zersplittert sind — was durchaus den Intentionen Madisons entspricht und in der amerikanischen Geschichte wiederholt vorkam —, ist unter normalen Umständen weder das eine noch das andere leicht zu bewerkstelligen. Das „kompe-titive System“ der Gegenwart birgt also die Gefahr einer Diffusion der Macht und der Verwischung von Verantwortlichkeiten, wie man sie seit einiger Zeit vor allem im schwerfälligen Budget-Verfahren konstatiert und beklagt
Der Supreme Court hat dem Kongreß gegenüber schon 1803 das Gesetzesprüfungsrecht beansprucht, es aber zunächst nur äußerst sparsam angewendet. Als das 14. Amendment 1868 diese Kontrollbefugnis auf die Staatengesetzgebung ausweitete, ließen sich die Richter ebenfalls lange Zeit, bevor sie legislative Akte für verfassungswidrig erklärten. Im 20. Jahrhundert wurde die Doktrin der judicial review dann aber zur scharfen Waffe, mit der sich die Judikative gegen die anderen Gewalten behauptete und im Volk Respekt verschaffte. Mittlerweile sind schon über hundert Kongreßgesetze und noch weit mehr Staatengesetze vom Supreme Court nach Prüfung im Einzelfall verworfen worden. Zugleich erwies sich die judicial review als das am besten geeignete Instrument des Verfassungswandels. Die Modernisierung und Aktualisierung des Verfassungsverständnisses erfolgte weniger auf dem schwierigen Weg der Amendierung als durch die richtungweisenden Interpretationen des Supreme Court.
Die Rechtsprechung des Obersten Gerichts wirkte zu Beginn — vor allem unter Chief Justice John Marshall (1801 — 1835) — „national“ und zentralisierend. Danach trug sie bis weit ins 20. Jahrhundert hinein dezidiert konservative und reformfeindliche Züge, was in erster Linie der unbehinderten Entfaltung des Industriekapitalismus zugutekam. Unter dem New Deal vollzog sich jedoch ein beinahe schon revolutionärer Umschwung, als die bisherige Minderheitsposition, zumeist vertreten durch die Richter Oliver Wendell Holmes und Louis Brandeis, plötzlich mehrheitsfähig wurde. Nun entfaltete der Supreme Court einen judicial activism, der die liberale Reformgesetzgebung stützte und förderte. In den fünfziger und sechziger Jahren gab der Warren Court (nach Chief Justice Earl Warren, der von brillanten Richtern wie Felix Frankfurter und Hugo Black tatkräftig unterstützt wurde) durch seine egalitäre Interpretation der Grundrechte wichtige Anstöße zum Abbau der Rassenschranken und zum Schutz von Minderheiten. Seither erlegt sich das Gericht wieder mehr Selbstbeschränkung auf, ohne daß bislang ein ein- deutig konservativer oder gar reaktionärer Trend erkennbar geworden wäre. Aus eigener Kraft kann der Supreme Court, wie schon Hamilton feststellte, keine Politik betreiben Ebensowenig ist er immun gegen öffentliche Kritik und das vorherrschende Meinungsklima. Da ihm aber niemand ernsthaft die Funktion eines letztinstanzlichen Interpreten und Wächters der Verfassung streitig macht, wird seine Stimme in der stark verrechtlichten Gesellschaft der USA auch in Zukunft großes Gewicht haben
In den Bereich der politischen Philosophie führt die Frage nach dem Wechselverhältnis von Staat und Gesellschaft. Das ganze 19. Jahrhundert hindurch hielt sich die Regierungstätigkeit auf allen Ebenen noch in einem relativ engen Rahmen. Mit dem Wachstum des Industrie-und Finanzkapitalismus nahmen aber auch die Regelungsbedürfnisse und die staatlichen Interventionsmöglichkeiten zu. Die Periode des „liberalen Konsens“ von Franklin D. Roosevelt bis Ende der siebziger Jahre war gekennzeichnet von einer enormen Ausweitung bundes-wie einzelstaatlicher Aktivitäten auf den verschiedensten Gebieten. Das Ideal der sozialen Gerechtigkeit blieb dennoch in weiter Feme. Hier setzte die neokonservative Kritik an, die den Wohlfahrtsstaat mit seiner lähmenden Bürokratie für die Stagnation in Wirtschaft und Gesellschaft verantwortlich machte. Diese ideologische Position läßt Anklänge an das Gedankengut der Antifederalists erkennen, die eine starke Regierung eher als Belastung empfanden und den Bürgern die Fähigkeit zur Selbstverwaltung zutrauten. Andererseits waren die Antifederalists aber, wie ihre Regierungspraxis in den achtziger Jahren des 18. Jahrhunderts beweist, staatlichen Interventionen zugunsten der Mittel-und Unterschichten keineswegs abgeneigt. Ihre Polemik zielte vornehmlich gegen die sozial Privilegierten, die nicht recht in das der Country-Ideologie zugrundeliegende Idealbild einer homogenen und egalitären Agrargesellschaft paßten. Der Gedanke, den gesellschaftlichen Kräften völlig freies Spiel zu lassen, war ihnen ebenso fremd wie den Federalists. Dieser Hinweis mag als Warnung dienen, das herkömmliche Vokabular und die Erfahrungen der Verfassungsväter allzu unvermittelt in die Gegenwart zu übertragen.
V. Der amerikanische Beitrag zur Theorie und Praxis des modernen Verfassungsstaätes
Das spezifisch amerikanische Modell der federal republic und der Präsidialdemokratie ist nirgendwo auf der Welt vollständig kopiert worden. Einzelne Formelemente wurden in alle Erdteile verpflanzt, aber sie funktionierten in dem neuen Arrangement häufig anders als im Regierungssystem der Vereinigten Staaten. Die meisten europäischen Staaten richteten sich eher am Parlamentarismus englischer Prägung aus, mit dem die Federalists 1787 bewußt gebrochen hatten. Die Einsicht, daß ihre Verfassung unter ganz spezifischen historischen Bedingungen entstanden war, hielt die Amerikaner auch davon ab, dieses Modell in toto zu „exportieren“. Nach dem Zweiten Weltkrieg beeinflußten sie zwar die Verfassunggebung in den besiegten Ländern, nahmen aber — in Europa mehr noch als in Asien — Rücksicht auf nationale Eigenheiten und Traditionen -Universale Wirkung entfalteten dafür einige grundlegende staatsgestaltende Prinzipien, die das gemeinsame Vermächtnis der amerikanischen Gründergeneration sind. An erster Stelle steht die Anerkennung der verfassunggebenden Gewalt des Volkes und ihre Verbindung mit der repräsentativen Demokratie, wie sie im Ratifizierungsprozeß bereits praktiziert wurde. Das Volk allein ist befugt, das Fundamentalrecht des Staates zu setzen und Herrschaft zu legitimieren. Aus der Quelle der Volkssouveränität steigen alle staatlichen Befugnisse hervor, und hier verbleibt auch die letzte Entscheidung über die Rechtmäßigkeit des gesamten Regierungssystems. Dafür regiert sich das Volk nicht selbst, sondern betraut damit auf Zeit Abgeordnete und Amtsträger, die als seine Treuhänder fungieren und für das „größte Glück der größten Zahl“ zu sorgen haben.
Des weiteren bekräftigte das Ratifikationsverfahren den Vorrang der geschriebenen Verfassung und die Zusammengehörigkeit von Verfassung und Grundrechten. Als vom Volk selbst geschlossener Compact steht die Verfassung über den legislativen Akten und darf auch nicht durch Parlamentsbeschluß, sondern nur in einem besonderen, erschwerten Verfahren geändert werden. Der Staat verkörpert sich nicht mehr in einem Herrscherhaus oder in bestimmten, durch Tradition geheiligten Institutionen, sondern zuerst und vor allem in seiner Verfassungsurkunde. Die Verfassung strukturiert und gestaltet den Staat, und sie gibt ihm Grundwerte und einen Sinnzusammenhang vor. Dieses aus der amerikanischen Revolution erwachsene moderne Konzept der Verfassung und die neue „konstitutionalistische“ Denkweise übten in der Folgezeit eine unwiderstehliche Anziehungskraft auf alle fortschrittlich-reformerischen Bewegungen aus.
Die Forderung nach einer rule of laws, not of men besagt, daß die Staatsgewalt die von der Verfassung gezogenen Grenzen nicht überschreiten darf und die unveräußerlichen Rechte der Individuen wahren muß. Die Grundrechte sind ein integraler Teil der Verfassung und können von jedem Bürger vor Gericht eingeklagt werden, was ihnen eine außerordentlich große praktische Bedeutung verleiht. Die Bürger selbst erlegten sich aber — im Geiste einer säkularisierten puritanischen Ethik — ebenfalls Beschränkungen ihrer natural liberty auf, um in den Genuß der civil liberty, der staatlich gewährleisteten Ordnung und Sicherheit zu kommen. Beschränkung der Macht und Selbstbeschränkung der Regierten gelten als notwendig und vernünftig. Der moderne Verfassungsstaat entsteht also aus der Vereinigung von Verfassung und Grundrechten, und er vollendet sich in der Verfassungsgerichtsbarkeit, die inzwischen fast alle demokratischen Staaten — mit den verschiedensten Modifikationen — in ihr Regierungssystem eingeführt haben
Die Architekten der Verfassung wußten, daß ein republikanisches Gemeinwesen vielfach gefährdet ist: Durch den mächtigen Regierungsapparat, durch die Herrschsucht eines einzelnen, durch hemmungslose Cliquen-und Parteienkämpfe und nicht zuletzt auch durch die Mehrheit der Volksvertretung selbst, die sich, kurzfristigen Interessen und Stimmungen folgend, über die Rechte der Minderheit hinwegsetzt. Dieses Wissen veranlaßte sie zur Suche nach „republikanischen Heilmitteln für die Gebrechen der Republik“ nach konstitutionellen Techniken also, mit denen sich ein Ausgleich zwischen der notwendigen Autorität der Regierung und der Freiheit der Bürger herstellen ließ. Eine, starke Regierung schien ihnen unentbehrlich, aber sie warnur akzeptabel, wenn sich ihre Institutionen durch checks and balances gegenseitig kontrollierten und in der Waage hielten. Die absolute Gewaltenteilung erachteten sie weder für möglich noch für wünschenswert, weil die Regierungszweige ja gerade im Streit um ihre Kompetenzen Zusammenarbeiten sollten Das ganze System mußte aber so konstruiert sein, daß Gesetze und Entscheidungen erst nach sorgfältigster Prüfung zustande kamen und verfassungskonform waren.
Zu dieser horizontalen Teilung und Verschränkung der Gewalten in der Zentralregierung trat die vertikale in Form des neuartigen nationalen Föderalismus. Während die Antifederalists das Dilemma des Imperium in imperio nicht zu lösen vermochten und sich eine Koexistenz von Bundesregierung und Staatenregierungen nicht recht vorstellen konnten, erkannten die Federalists das amerikanische Volk als den alleinigen Souverän an. In seinem Belieben stand es, den einen Teil der Machtbefugnisse an den Bund, den anderen Teil an die Staaten zu delegieren, um damit beide zur Konkurrenz und wechselseitigen Kontrolle anzuhalten. Das erst eröffnete die Möglichkeit, eine praktisch unbegrenzte Zahl von Gebieten mit unterschiedlichen Interessen und Traditionen ohne Gleichmacherei und Abtötung lokaler Initiative in das größere Ganze der Nation einzubinden. Diese eher beiläufig „erfundene“ und in ihrer ganzen Tragweite zunächst nur von wenigen verstandene zweifache Gewaltenteilung rühmte Madison 1792 als „the best legacy ever left by lawgivers to their country, and the best lesson ever given to the world by its benefactors“ In der Tat bietet diese Konstruktion eine vorzügliche Handhabe, der alles einebnenden Kraft des bürokratischen Zentralismus ebenso beizukommen wie dem engstirnigen Staatenpartikularismus. Deshalb dürfte sie in Zukunft gerade auch für die Gestaltung des europäischen Kontinents noch größere Bedeutung erlangen.
Die Verfassungsväter setzten auch insofern Maßstäbe des demokratischen politischen Handelns, als sie die Begrenzung der Regierungsmacht und die Bindung aller an das Recht durch die Tolerierung einer Opposition ergänzten, die Alternativen zum Kurs der Mehrheit aufzeigt und mit allen erlaubten Mitteln für die Verwirklichung ihrer Ziele kämpft. Der Streit um die Verfassung verlor dadurch an Sprengkraft, daß die Federalists den legitimen Bedürfnissen der Minderheit durch die Anfügung der Bill ofRights Rechnung trugen, und im Gegenzug die Opposition die Gültigkeit der getroffenen Entscheidung unzweideutig anerkannte. Das geschah aber wohl nur deshalb, weil die Diskussion über den Verfassungsentwurf öffentlich und ohne wesentliche Behinderungen geführt werden konnte. Es bestand Einvernehmen darüber, daß die repräsentative Demokratie vom freien Fluß der Ideen und Informationen lebt. Folgerichtig verbürgte das erste Amendment neben der Religionsfreiheit auch die Rede-, Presse-und Versammlungsfreiheit als unverzichtbare Voraussetzungen für einen offenen demokratischen Willensbildungsund Entscheidungsprozeß
Die Federalists richteten ihr Hauptaugenmerk auf die funktionelle Absicherung des republikanischen Regierungssystems. Sie gaben sich aber nicht der Illusion hin, die virtue könne durch institutionelle Mechanismen vollständig ersetzt werden. Im letzten waren sie mit ihren Kontrahenten einig, daß der Geist der Freiheit und der Mitverantwortung für das Staatsganze, der Patrick Henry zufolge am reinsten in den Schweizer Kantonen wehte, auch unter der neuen Verfassung nicht fehlen durfte. Wenn ein Volk seine moralische Standfestigkeit einbüßt und die Elite das Gemeinwohl aus den Augen verliert, erstarrt die beste aller denkbaren Verfassungen zur leeren Form Auch das gilt es anläßlich des amerikanischen Verfassungsjubiläums zu bedenken.