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Das Menschenbild und das Problem der „Werte“ in der Sicht der Politischen Philosophie | APuZ 28/1987 | bpb.de

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APuZ 28/1987 Das Menschenbild und das Problem der „Werte“ in der Sicht der Politischen Philosophie Die Idee einer rationalen Gesellschaft Kritische Theorie und Wissenschaft Fesseln für Prometheus? Normen und Werte für Naturwissenschaft und Technik

Das Menschenbild und das Problem der „Werte“ in der Sicht der Politischen Philosophie

Günther Maluschke

/ 31 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Es wird die These vertreten und begründet, daß in einer Zeit, in der ein altes Ethos nicht mehr zu tragen scheint, die Politische Philosophie sich keine Kompetenz einer Sinn-und Wertbegründung für Staat und Gesellschaft anmaßen kann, daß ihr also nur die bescheidenere Rolle bleibt, im Bedarfsfall reflektivanregende Funktionen für die politische Urteilskraft der Repräsentanten des Staates wahrzunehmen. Eine ihrer vorrangigen Aufgaben ist es, in der Analyse der Bedingungen des politischen Zusammenlebens zu einer klaren und logisch einwandfreien Begrifflichkeit beizutragen. Im Rückgriff auf Hobbes’, Rousseaus und Pufendorfs Theorien wird gezeigt, daß in der Frage der unterschiedlichen Menschenbilder eine Wahl mit rationalen Gründen möglich ist. Die Frage des Menschenbildes spielt in der Politischen Philosophie eine Rolle in einem Reflexionsgang, in dem die Notwendigkeit des Staates zur Debatte steht. Dies macht es erforderlich, die Möglichkeit der Nicht-Existenz des Staates in einem Denkexperiment vorauszusetzen. In einem hypothetischen Naturzustand ist auf die Moralität der Mitmenschen kein Verlaß. In diesem Fall ist es rational, sich auf die schlimmsten Möglichkeiten einzustellen. Der Staat erweist sich als notwendig zum Schutz vor den Mitmenschen, als ein Mittel der menschlichen Selbsterhaltung. Auch Kant, der den Staat pflichtenethisch begründet, kann in der Erörterung der Staatspraxis nicht umhin, die Zwangsbefugnisse des Staates klar hervorzuheben. Auf der Basis dieser klassischen Bestimmung des Politischen müssen die modernen Versuche, das politische Zusammenleben nicht in Normbegriffen, sondern in Wertbegriffen zu denken, als problematisch erscheinen. Es zeigt sich, daß die „Grundwerte“, sofern damit die Verfassungsprinzipien unseres Staates gemeint sind, nichts anderes sind als besonders qualifizierte Rechtsnormen. Wenn darüber hinaus aber von im Staat geltenden „Werten“ gesprochen wird, denen ein „freier Konsens“ zugrunde liegt, dann verläßt man nicht nur den Pfad klarer Begrifflichkeit, sondern man kommt einem Begriff des Staates als Gesinnungsgemeinschaft sehr nahe. Hier ist die klassisch-politische Einsicht angebracht, daß der Staat in erster Linie eine Einrichtung zum Schutz des Menschen gegen seine Mitmenschen ist. Diesen Schutz zu garantieren. ist auch heute noch seine vornehmste Aufgabe. Hier ist der gegenwärtige Staat besonders herausgefordert, wenn individuelle Freiräume durch gesellschaftliche Machtgruppierungen gefährdet werden.

I. Einleitung

Unser Zeitalter befindet sich in einer „Wertekrise“, so lautet ein weitverbreitetes Urteil. Es ist die Rede von Wertwandel, Wertunsicherheit, Wertkonflikten, Wertzerfall, Wertverlust, und es wird vielfach die Gefahr eines „Wertnihilismus“ bzw. eines „Wertumsturzes“ beschworen. Man meint, daß die herkömmlichen Werte, Glaubensüberzeugungen und Leitbilder ihre regulative Funktion für das Handeln verlieren und neue, nicht bewährte, ja äußerst problematische Werthaltungen an deren Stelle treten. Als Indikatoren dieser Werte-oder Sinnkrise gelten im politischen Bereich Alternativ-bewegungen, Protestgruppen und die Subkulturen der Aussteiger, durch die die „Grundwerte“ unserer politischen Kultur in Frage gestellt werden. Den Extremfall stellen die Terroristen dar, die nicht nur unsere politischen „Grundwerte“, sondern die Institution des Staates selbst mit kriminellen Mitteln bekämpfen. In dieser Situation stellt sich ein großer Bedarf an moralischer Stabilisierung und Selbstvergewisserung ein, und nicht nur Priester und Prediger, sondern auch Philosophen und Wissenschaftler werden aufgerufen, Wege zur Über-windung dieser Krisensituation zu weisen und zur Entwicklung und Pflege eines gutartigen Wertbewußtseins ihren Beitrag zu leisten.

Was kann sinnvollerweise von der Philosophie, insbesondere der Politischen Philosophie, erwartet werden? Kann sie in einer Zeit des Wertrelativismus oder gar des Wertnihilismus neue Wertmaßstäbe begründen oder zur Neubegründung alter, aber verschmähter Werthaltungen beitragen? Erwartet wird nicht selten von der Philosophie die Entfaltung eines überzeugenden „Menschenbildes“, und auf dessen Grundlage erhoffen sich einige dann eine Philosophie der Werte, die als Orientierungsrahmen auch der Politik maßgeblich sein sollte. Hat die Philosophie in diesem Sinne eine Kompetenz der Sinn-und Wertstiftung für Staat und Gesellschaft, oder muß sie sich mit dem bescheideneren Anspruch begnügen, im Bedarfsfall als Reflexionswissenschaft mäeutische (anregende) Funktionen für die politische Urteilskraft der Repräsentanten des Staates wahrzunehmen?

Im folgenden möchte ich einige Argumente entwikkeln, die den bescheideneren Anspruch der Politischen Philosophie rechtfertigen. Schon bezüglich der Frage, ob die Philosophie in der Lage ist, Sollensaussagen, Normen und Werte zu begründen, scheiden sich innerhalb der Philosophie die Geister. Es ist daher unzweckmäßig, von der Politischen Philosophie zu erwarten, daß sie in dem unentschiedenen Schulstreit zwischen Ethikem und Kritikern für die Ethik Partei ergreift. Außerdem würde eine derartige Parteinahme keine erheblichen und wirklich differenzierenden Gesichtspunkte für die Behandlung der spezifischen Fragestellungen der Politischen Philosophie erbringen. Weit mehr als die Frage der theoretischen Begründung und Rechtfertigung von Normen und Werten ist nämlich für die Politische Philosophie die Frage der praktischen Durchsetzung und Inkraftsetzung von Werten und Normen in Staat und Gesellschaft von Interesse. Und wenn mit dem Begriff der „Werte“ die Vorstellung subjektiver Wertungen und eines subjektiven Wertbewußtseins verbunden sein soll, dann kann eine so verstandene Wertproblematik nicht im Zentrum des Interesses der Politischen Philosophie liegen; denn vorrangig muß sie an der äußeren Befolgung jener staatlichen Normen interessiert sein, die ein friedliches und freiheitliches Zusammenleben der Menschen ermöglicht. Die individual-oder sozialpsychologische Frage der subjektiven Motivation der Normenbefolgung ist für die Politische Philosophie wenn nicht gleichgültig, so doch aufjeden Fall zweitrangig. Denn angesichts der Vielheit der Wertüberzeugungen in einer pluralistischen Gesellschaft ist es ein Gebot der politischen Vernunft, den einzelnen die Befolgung staatlicher Normen unabhängig von ihren individuellen Werthaltungen zuzumuten, und zwar mit Rücksicht auf das Allgemeininteresse, das die Aufrechterhaltung der Rechtsgrundsätze gebietet. Auch gegenüber den moralischen Bewußtseinsformen muß das Interesse an einer vernünftigerweise zumutbaren äußeren Normenkonformität den Vorrang haben; denn es sind nicht selten Spezialformen eines subjektiven moralischen Bewußtseins, die gerade zu Übertretungen staatlicher Rechtsnormen motivieren. Was die Abgrenzung berechtigter moralischer Vorbehalte von moralischem Fanatismus betrifft, so stehen dafür in einem Rechtsstaat keine anderen Kriterien zur Verfügung als die Rechts-und Verfassungsprinzipien dieses Staates selbst, von denen aus die Beurteilung des Maßes der Gemeinwohlwidrigkeit von Normenverletzungen erfolgen muß.

In diesem Zusammenhang liegt es nahe, auf dem Umweg über eine philosophische Anthropologie das Wert-und Normenproblem erneut in Angriff zu nehmen. Kann auf der Basis eines überzeugenden „Menschenbildes“ gezeigt werden, von welcher Art die äußere Normenkonformität sein muß, die dem Menschen im Zusammenleben mit seinen Mitmenschen vernünftigerweise abverlangt werden muß? Alle politischen Philosophien gehen von anthropologischen Prämissen aus; die anthropologischen Grundauffassungen präjudizieren in hohem Maße die politischen Prinzipien einer Philosophie der Politik. Allem Anschein nach wird durch die Wahl des „Menschenbildes“ auch mitentschieden, welche Art von Normbefolgung dem Menschen vernünftigerweise zumutbar ist.

Sowohl hinsichtlich der Wahl des „Menschenbildes“ als auch hinsichtlich des weiteren Reflexionsganges, in dem dann das Normen-und Wertproblem näher erörtert wird, wähle ich eine Minimal-strategie. Aus methodischen Gründen scheint es mir ratsam zu sein, in beiden Diskursen möglichst „schwache“ Annahmen zu machen, die Skepsis und Selbstkritik also möglichst weit zu treiben. Diese Strategie hat den Vorteil, daß dadurch ein Dogmatismus, der mit unbeweisbaren Behauptungen operiert, weitgehend vermieden wird.

Was die für politisch-philosophische Erörterungen unerläßlichen anthropologischen GrundVorstellungen betrifft, so müssen die älteren kosmologischen und theologischen Spekulationen von vornherein ausgeschieden werden, jene Vorstellungen, wonach der Mensch ein Mikrokosmos in einer dauerhaften Naturordnung ist und eine sinnvolle Existenz führt, wenn er auf eine „naturgemäße Lebensweise“ achtet oder — als Geschöpf Gottes — den göttlichen Geboten gemäß lebt. Durch die Abstraktion von derartigen Vorstellungsinhalten sollen insbesondere die auch heute noch von vielen Menschen akzeptierten und geglaubten theologischen Denkweisen keineswegs abgewertet werden. Es handelt sich dabei jedoch um Vorstellungsweisen, deren Beurteilung sich der Kompetenz einer genuin philosophischen Reflexion entzieht. Philosophisch-anthropologische Aussagen können heute nicht mehr Sache einer theologischen Dogmatik sein, sondern sie sind eine Angelegenheit der Erfahrung, die durch die Philosophie im Sinne einer methodisch durchgeführten Selbst-und Fremdbeobachtung zu einer wissenschaftlichen Menschenkunde gestaltet wird. Da es sich hierbei — wie bei allen Erfahrungsaussagen — nicht um unumstößliche letzte Wahrheiten handeln kann, sondern um mehr oder weniger plausible Annahmen, die keine Generalisierungen zulassen, muß von anthropologischen Prämissen — wie gesagt — ein möglichst zurückhaltender Gebrauch gemacht werden. Insbesondere ist eine Beschränkung auf solche anthropologische Aussagen geboten, die in einem funktionalen Zusammenhang mit Gedanken über die politische Existenz des Menschen stehen, das heißt auf Aussagen, die das Zusammenleben der Menschen in Staat und Gesellschaft betreffen.

II. Der Mensch als ein der Politik bedürftiges Wesen

Welches sind die vorherrschenden Menschenbilder und für welches kann man sich mit philosophischen Gründen im Hinblick auf die Gestaltung der politischen Lebensform des Menschen entscheiden? 1793 schreibt August Ludwig Schlözer: „Zwei oder mehrere erwachsene vollbürtige (= volljährige, G. M.) Menschen begegnen sich zum ersten Mal: Was werden, was dürfen sie miteinander anfangen? Quid facient? Sie werden sich balgen (Hobbes). Sie werden kalt, ohne Notiznehmung voneinander vorübergehen (Rousseau). Sie werden sich auf der Stelle freundlich zusammengesellen (Pufendorf).“ Die drei Positionen, die Schlözer hier nebeneinanderstellt, beinhalten grundverschiedene Annahmen über die Natur des Menschen. Bedauerlicherweise wird ausgerechnet die Auffassung des Thomas Hobbes, der für den weiteren Gedankengang besondere Bedeutung zukommt, völlig unzutreffend dargestellt. Ein halbes Jahrhundert später schreibt Schopenhauer ganz ähnlich wie Schlözer (vielleicht hat er die zitierte Passage als Quelle benutzt): „Man hat die Frage aufgeworfen, was zwei Menschen, die in der Wildnis, jeder ganz einsam, aufgewachsen wären und sich zum ersten Mal begegneten, tun würden: Hobbes, Pufendorf, Rousseau haben sie entgegengesetzt beantwortet. Pufendorf glaubte, sie würden sich liebevoll entgegenkommen; Hobbes hingegen, feindlich; Rousseau, sich schweigend vorübergehen.“

Schopenhauer trifft die Hobbessche Auffassung weit besser als Schlözer: Die Feindseligkeit unter den Menschen muß keineswegs bei jedem Treffen in ein „Sich-Balgen“ ausarten. Außerdem wird gegenüber den generalisierenden Aussagen Schlözers in Schopenhauers Ausdrucksweise eine Präzisierung eingeführt: Die unterschiedlichen Aussagen von Hobbes, Rousseau und Pufendorf über die menschliche Natur werden hier dargestellt als Spekulationen über eine hypothetische Situation, daß nämlich Menschen ganz einsam in der Wildnis aufgewachsen sind. In einer solchen Ausnahmesituation käme also die „wahre Natur“ des Menschen zum Ausdruck, und bezüglich dieser menschlichen Natur, die sich keineswegs in jeder Lage manifestieren muß, unterscheiden sich die Ansichten der angeführten Autoritäten fundamental. Es handelt sich um Annahmen, die verstehbar sind als ein auf die hypothetische Grenzsituation einer solitären Lebensweise zugespitztes, aus Selbst-und Fremd-beobachtung gewonnenes jeweils unterschiedliches Fazit. Was die Verschiedenartigkeit der Vorstellungen betrifft, so ist nicht auszuschließen, daß die spezifischen Annahmen entscheidend mitbestimmt sind durch die jeweils dominanten Affekte der aufgeführten Autoren, das heißt ihre Neigungen zu Furcht, Geselligkeit oder Ungeselligkeit; es ist also durchaus möglich, daß die Selbstbeobachtung eines Philosophen eine ausschlaggebende Bedeutung für sein Menschenbild hat. In einer philosophischen Erörterung darf jedoch die Präferenz für das eine oder andere Menschenbild nicht von einer individuellen affektiven Gestimmtheit abhängig sein; vielmehr muß die Wahl des Menschenbildes — wie noch im einzelnen dargetan wird — aufgrund von vernünftigen Gründen erfolgen, die gegenüber individuellen Seelenlagen autonom sind.

Schopenhauer hat die gegensätzlichen anthropologischen Auffassungen von Hobbes, Pufendorf und Rousseau kritisiert. In der Fortsetzung des obigen Zitates sagt er: „Alle drei haben Recht und Unrecht: gerade da (das heißt in der angenommenen Ausnahmesituation, G. M.) würde sich die unermeßliche Verschiedenheit angeborener moralischer Dispositionen der Individuen in so hellem Licht zeigen, daß hier gleichsam der Maßstab und Gradmesser derselben wäre. Denn Menschen gibt es, in denen der Anblick des Menschen sogleich ein feindliches Gefühl aufregt, indem ihr Innerstes den Ausspruch tut: , Nicht-Ich! ‘ — Und andere gibt es, bei welchenjener Anblick sogleich freundliche Teilnahme erregt; ihr Inneres sagt: , Ich noch einmal! 1 — Dazwischen liegen unzählige Grade.“ Schopenhauer relativiert die vorgeschlagenen Menschenbilder. Im Fortgang seines Aphorismus spricht er die Vermutung aus, moralpsychologische Eigenschaften seien väterlicherseits erblich; er macht also genetische und individual-psychologische Gesichtspunkte geltend. Die verschiedenen Annahmen über die „Natur“ des Menschen erweitert Schopenhauer durch seine eigene Auffassung, durch die die Idee eines „Wesens“ des Menschen gänzlich relativiert wird.

Angesichts dieser Differenzen muß sich der Eindruck verschärfen, daß wir nicht mit wissenschaftlich abgesicherten Erkenntnissen, sondern mit Meinungen konfrontiert sind, die nur im Kontext mit anderen Meinungen mehr oder weniger plausibel sind. Hier braucht uns die Frage nicht weiter zu beschäftigen, bis zu welchem Ausmaß von Wissenschaftlichkeit es eine philosophische Menschen-kunde bringen kann. Wichtiger ist es, Klarheit zu erlangen, in welchem theoretischen Kontext und mit welchen Gründen im Rahmen der Politischen Philosophie von anthropologischen Annahmen Gebrauch gemacht wird.

Die drei genannten Autoren — Hobbes, Pufendorf und Rousseau — sind Repräsentanten der „Sozialvertragstheorie“. Ihre anthropologischen Theorien stehen in einer logischen Beziehung zu ihren Staats-theorien; ihre Konzeptionen über das wahrscheinliche Verhalten der Menschen in einem vorstaatlichen Zustand — dem sogenannten Naturzustand — sind Propädeutiken zu ihren politischen Theorien. Der Naturzustand, der aufgrund des Fehlens von politischen Institutionen als ein Zustand allgemeiner Rechtsunsicherheit gedacht wird, ist konzipiert als eine ausgesprochene Grenzsituation der menschlichen Existenz, als eine Existenzweise, die der Mensch auf Dauer nicht beibehalten kann, sondern die er durch Gründung eines Staates, das heißt durch den Sozialvertrag, überwinden muß.

Wie würden die Menschen, des Schutzes durch staatliche Institutionen beraubt und in ihrem Selbsterhaltungsstreben allein auf sich selbst gestellt, miteinander ümgehen? Wenn die Erfahrung uns keine sicheren Erkenntnisse über das „Wesen“ des Menschen und seine moralischen Dispositionen ermög-licht, von welchen Annahmen sollten wir dann vernünftigerweise ausgehen, von möglichst pessimistischen oder von möglichst optimistischen? Ist es sinnvoll, eine freundliche Zuneigung des Menschen zu seinesgleichen anzunehmen, oder ist eine Skepsis bezüglich der Verläßlichkeit der Moralität der Mitmenschen vernünftiger? Wäre Vertrauen angebracht, oder wäre in einer solchen Extremsituation Mißtrauen die rationalere Einstellung?

Hier liegt der klassische Fall einer Entscheidung unter Bedingungen extremer Unsicherheit vor. Die Individuen können aufgrund der Ungewißheit der Erfahrungserkenntnis im Bereich des menschlichen Seelenlebens nicht wissen, ob die Mitmenschen, mit denen sie zu tun haben, ihnen freundlich oder feindselig begegnen werden. Hinzukommt — und dies ist entscheidend —, daß sie im Naturzustand, das heißt unter Bedingungen allgemeiner Rechtsunsicherheit, auch nicht auf ein durch Rechtsregeln gezügeltes Verhalten der anderen vertrauen können; denn in der vorstaatlich-vorrechtlichen Situation kann Furcht vor Strafen für keines der Individuen ein Verhaltensmotiv sein. Daher ist — solange diese Lage andauert — ein generelles Mißtrauen und ein stetes Auf-der-Hut-Sein vor Übergriffen durch die Mitmenschen die denkbar rationalste Einstellung. Nur eine solche Einstellung ermöglicht es dem einzelnen, Angriffe auf seine Person im rechten Augenblick abzuwehren oder ihnen sogar zuvorzukommen.

Unter den Bedingungen des Naturzustandes müßte also die Wahl des „Menschenbildes“, wenn sie nach rationalen Gesichtspunkten erfolgte, zugunsten der Position des Thomas Hobbes ausfallen. Ja, diese Art von pragmatischer Rationalität wäre sogar lebenswichtig; Individuen, die über eine psychische Anlage der Menschenliebe und des Vertrauens in die Mitmenschen verfügen, müßten im Interesse ihrer Selbsterhaltung dieser ihrer menschenfreundlichen Gesinnung zuwiderhandeln; denn unter den beschriebenen Bedingungen wären Vertrauen und eine moralische Disposition lebensgefährlich. Von den von Schopenhauer angenommenen unterschiedlichen, angeborenen und erblichen moralischen Anlagen hätten die gutartigen die schlechtesten Entfaltungschancen. In einer derartigen Extremsituation wären solche Einstellungen von kurzer Dauer; die einzelnen würden nämlich, wenn ihnen dazu noch die Gelegenheit verbleibt, aus Schaden klug werden, oder aber die moralischen und mit der Moralität der anderen rechnenden Individuen würden von den Skrupellosen über kurz oder lang ausgerottet.

Sogar von Rousseau und Pufendorf wird die Rationalität eines pragmatischen und prophylaktischen Mißtrauens unter den Menschen im vorstaatlichen Zustand bestätigt. Das von Schlözer und Schopenhauer Rousseau zugeschriebene „Menschenbild“ bezieht sich nur auf jenen vorgeschichtlichen Urmenschen, den Rousseau in seiner Abhandlung „Über den Ursprung der Ungleichheit unter den Menschen“ beschrieben hat. Von diesem Urmenschen vermutet Rousseau, er habe in völliger Harmonie mit sich selbst und der Natur gelebt, allerdings als solitäres, sprachloses und reflexionsloses Wesen, das gleichgültig gegen seinesgleichen gewesen sei; es habe weder Liebe noch Haß noch irgendeine Verpflichtung gegen seine Artgenossen verspürt. Das Leben des Urmenschen, das Rousseau hier beschreibt, ist ein Leben jenseits von Gut und Böse. — Erst in einer zweiten Phase des Naturzustandes ist es nach Rousseaus Meinung zur Vergesellschaftung des Menschen gekommen; erst auf diesem Entwicklungsniveau haben die Menschen die Fähigkeit der Reflexion entwickelt, die Sprache erfunden, Eigentum erworben; und erst jetzt sind sie in der Lage, sich einer mit dem anderen zu vergleichen, die Gefühle der Liebe, des Hasses und des Neides zu entwickeln. Erst auf dieser Stufe sind sie Menschen im eigentlichen Wortsinn; und für diese Menschen gilt nun genau das, was Hobbes behauptet hatte: Solange keine staatliche Autorität eine Rechtsordnung garantiert, besteht ein Zustand allgemeiner Rechtsunsicherheit, in dem wechselseitiges Mißtrauen die rational gebotene Einstellung ist.

Was schließlich den Pufendorfschen Begriff des Sozialtriebs betrifft, so ist er kaum in einem antihobbesianischen Sinn, sondern allenfalls als eine Modifikation des Hobbesschen Individualismus zu verstehen. Viel eher könnte man diesen Gedanken aufgrund seines sachlichen Gehalts als eine antirousseauistische Position begreifen. Denn die „gesellige Natur“ des Menschen manifestiert sich nach Pufendorf in den partikulären Gesellschaften der Ehe, der Familie und der Hausgemeinschaft; es kann also von einer solitären Existenzweise des Menschen im Sinne Rousseaus nicht die Rede sein. Die Gründung der bürgerlichen Gesellschaft bzw.des Staates führt Pufendorf jedoch keineswegs auf jenes Sozialitätsprinzip zurück, das für diese urtümlichen Gemeinschaft^formen des Menschen, die heutzutage zumeist als „Primärgruppen“ bezeichnet werden, maßgeblich ist. Die familiären und häuslichen Vertrauensbeziehungen und ihre spezifische Sittlichkeit sind nach Pufendorf gerade nicht die Konstitutionsbedingungen des Staates. An diesem Punkt argumentiert er ganz im Sinne des Tho- mas Hobbes; wie dieser legt er — den Geselligkeitstrieb nun als für den politischen Zweck untauglich ignorierend — den Nachdruck auf die Selbsterhaltung als Prinzip der Staatenbildung. Nach Pufendorf sind es die Familienoberhäupter, die sich entschließen, den Naturzustand zu verlassen und die bürgerliche Gesellschaft zu errichten. Dem Motiv des Mißtrauens, das hierbei wirksam ist, verleiht Pufendorf einen durchaus drastischen Ausdruck: „Denn wie die Menschen von niemand, nächst Gott, mehr Gutes zu erwarten haben als von ihresgleichen, gibt es auch nichts, was dem Menschen mehr Unheil zufügen kann als der Mensch selber. Das findet seinen treffenden Ausdruck in dem Gemeinspruch, der zugleich den Nutzen und die Notwendigkeit der bürgerlichen Gesellschaft erkennen läßt: Wenn es keine Gerichte gäbe, würde man sich gegenseitig auffressen.

Hobbes und Pufendorf stimmen an diesem Punkt überein: Der Staat ist in einem rationalen Nutzen-kalkül im Dienst der Selbsterhaltung des Menschen begründet. Wie Hobbes sieht auch Pufendorf, daß der Mensch der schlimmste Feind des Menschen ist, so daß der Staat als eine Institution zum Schutz des Menschen gegen seine Mitmenschen notwendig ist. Allem Anschein nach sind die oben zitierten Ausführungen nichts anderes als eine Paraphrase des berühmten Ausspruchs des Thomas Hobbes: „Der Mensch ist ein Wolf für den Menschen.“ Daß diesem Satz der andere voransteht: „Der Mensch ist ein Gott für den Menschen“ wird von vielen Hobbes-Kritikern unterschlagen. Beide Gedanken nimmt Pufendorf auf: Einerseits kann der Mensch von niemand, nächst Gott, mehr Gutes erwarten als von seinesgleichen; andererseits kann aber auch nicht geleugnet werden, daß der Mensch für seinesgleichen eine tödliche Bedrohung darstellt. Diese auf Erfahrung gegründete rationale Einsicht ist unabhängig von der moralischen Haltung und psychischen Disposition dessen, der ihrer fähig ist. Eine weitverbreitete moralistische und polemische Auseinandersetzung mit Hobbes, die eine von Vorurteilen geprägte „Wertung“ an die Stelle einer rationalen Analyse setzt und Hobbes als ein „moralisches Ungeheuer“ diffamiert, leistet bedauerlicherweise einen Beitrag dazu, diese Einsicht — die Pufendorf und Rousseau mit Hobbes teilen — immer wieder zu verdunkeln.

Die bedeutenderen unter den Theoretikern der Politik haben sich dem rationalen Zwang des Hobbesschen Arguments nicht entzogen. So sei denn sein theoretischer Grundgedanke hier knapp zusammengefaßt. Ohne staatliche Rechtsordnung befinden sich die Menschen in der Situation gegenseitigen Mißtrauens, und es gibt „für niemand einen anderen Weg, sich selbst zu sichern, der so vernünftig wäre wie Vorbeugung, das heißt, mit Gewalt oder List nach Kräften jedermann zu unterwerfen, und zwar so lange, bis er keine Macht mehr sieht, die groß genug wäre, ihn zu gefährden“ Es ist die Todesfurcht, die jeden treibt, seine Machtpotentiale zu erweitern. Die Todesfurcht und die Macht-begierde müssen sich jedoch ins Maßlose steigern; denn jeder einzelne ist gezwungen, mit den sich vergrößernden Machtpotentialen der anderen Schritt zu halten. Die instrumentelle Rationalität, durch die die Individuen ihre Selbsterhaltung zu optimieren suchen, steigert zugleich das Inferno des Schreckens, das den Naturzustand ausmacht. Aber es ist auch eben diese instrumentelle Rationalität, die aus dem Naturzustand herauszuführen vermag. Die rationale Antwort auf die Unerträglichkeit der vorstaatlichen Rechtsunsicherheit ist der Sozialvertrag, oder genauer: der Staatsgründungsvertrag, durch den alle auf das Faustrecht und auf Eigen-macht verzichten und einem institutionalisierten staatlichen Souverän die Rechtsregelungsbefugnis für alle übertragen. Dieser Staatsgründungsvertrag ist nicht als ein historisches Ereignis zu verstehen; er ist vielmehr bei Hobbes ein rationales Konstrukt, durch das die Nützlichkeit und Notwendigkeit des Staates begründet werden. Das Leben als das erste Gut (primum bonum) des Menschen ist durch die Triebteleologie, die der Mensch mit allen Lebewesen gemeinsam hat, vorgegeben; als Vemunftwesen ist der Mensch der Kalkulator der Mittel, die diesem Triebziel dienlich sind, und das Optimum, das durch vernünftiges Kalkulieren erreichbar ist, ist die Sicherung des Lebens unter der Souveränität des Staates. Der fundamentale Zweck des Staates ist also die Sicherung des Lebens seiner Bürger Man mißversteht das Hobbessche „Menschenbild“, wenn man meint, Hobbes gehe von dem Dogma einer abgrundtiefen Bosheit des Menschen aus Der für die hobbesianische Theorie des Politischen systematisch entscheidende Punkt des hier dargestellten Menschenbildes ist, daß Hobbes — wie übrigens auch Pufendorf — die Verläßlichkeit der sozialen Impulse bestreitet. Am allerwenigsten kann auf die sozialen Impulse der Mitmenschen gebaut werden in einer vorstaatlich-vorrechtlichen Situation, die ein Zustand der Bedrohtheit eines jeden durch alle anderen, ein Krieg ohne Fronten und Regeln, ist. Daß es Menschen gibt, die ihr Handeln an hohen und höchsten moralischen Zielen orientieren, kann Hobbes ohne weiteres zugestehen. Er bestreitet jedoch, daß ein moralischer Perfektionismus, zum Beispiel ein universeller Altruismus, Grundlage des Staates sein könnte. Dies ist unmöglich, weil der Altruismus nicht bei jedermann vorausgesetzt werden kann. Rational begründbar ist der Staat nur in einem auf das Selbsterhaltungsstreben bezogenen Interessenkalkül der Menschen.

III. Der Staat und die „höheren Werte“

Die von den meisten Sozialvertragstheoretikern vertretene Lehre, der Staat sei in dem Interessen-kalkül der auf ihre Selbsterhaltung bedachten Individuen begründet, ist nicht unbestritten geblieben. Nicht eine ausdrücklich formulierte Kritik, wohl aber eine deutlich abweichende Position hat Kant vertreten — obwohl er den Sozialvertragstheoretikem zuzurechnen ist —, und es ist wohl nicht ganz abwegig, die kantische Sonderform der Sozialvertragstheorie auch als Ausdruck einer Kritik an seinen Vorgängern zu verstehen.

Der Naturzustand ist ein Zustand entfesselter menschlicher Leidenschaften. Nun ist der Mensch, wie alle Sozialvertragstheoretiker zugestehen, nicht nur ein durch Leidenschaften bestimmtes Wesen, sondern er ist darüber hinaus Vemunftwesen. Die Vernunft steht hier allerdings im Dienst der Grund-leidenschaft des Menschen, sein Leben zu erhalten und, wie Hobbes meistens hinzufügt, ein angenehmes Leben zu führen. Die Vernunft spielt also die Rolle eines Mittels im Dienst einer egoistischen, utilitaristischen Grundeinstellung des Menschen. Und wenn es der Vernunft schließlich gelingt, die* Leidenschaften zu zähmen und durch den Sozial-vertrag das Zähmungsorgan Staat einzurichten, auch in diesem Fall behält der Selbsterhaltungstrieb des Menschen die Führungsrolle; die Vernunft steht ihm zu Diensten, In der kantischen Sichtweise ist ein so begründeter Staat ein Mittel in den Zielsetzungen ausschließlich des „empirischen Menschen“, des homo phaenomenon, das heißt er ist nichts als eine Ausdrucksform der menschlichen Neigungen. Das bedeutet für Kant: Er ist nicht im eigentlichen Sinn vernunftbegründet; er ist nicht als eine Leistung des homo noumenon begriffen; oder anders gesagt: er ist nicht begründet auf der Ebene der Bestimmung des Menschen, sich in seinem Handeln selbst zu bestimmen von den Prinzipien des Sittengesetzes, dessen Bewußtsein Kant ein „Faktum der Vernunft“ nennt.

Kant bestreitet ausdrücklich die These, nur die Bösartigkeit der Menschen mache den öffentlichen gesetzlichen Zwang des Staates notwendig; sollten die Menschen auch noch so gutartig und rechtsliebend gedacht werden, so liege es doch „a priori in der Vernunftidee" eines nicht-rechtlichen Zustandes, daß „vereinzelte Menschen, Völker und Staaten niemals vor Gewalttätigkeiten gegeneinander sicher sein können“, ehe nicht ein öffentlich-gesetzlicher Zustand errichtet sei. Der Grund dieser prinzipiellen Rechtsunsicherheit ist, daß im Naturzustand jeder das Recht hat, „zu tun, was ihm recht und gut dünkt“, ohne hierin von der Meinung des anderen abzuhängen. In dieser Situation obliegt es dem einzelnen, „wenn er nicht allen Rechtsbegriffen entsagen will“, den Grundsatz zu beschließen: „man müsse aus dem Naturzustande, in welchem jeder seinem eigenen Kopfe folgt, herausgehen und sich mit allen anderen (mit denen in Wechselwirkung zu geraten er nicht vermeiden kann) dahin vereinigen, sich einem öffentlich gesetzlichen äußeren Zwange zu unterwerfen“, das heißt in einen staatsbürgerlichen Zustand zu treten

Die Form eines hypothetischen Imperativs, in der Kant hier seinen Gedanken formuliert (man müsse aus dem Naturzustand heraustreten, wenn man nicht allen Rechtsbegriffen entsagen wolle), wird seiner eigentlichen Theorie nicht gerecht. In Wahrheit ist die Aufforderung, den Naturzustand zu beenden, von Kant als kategorischer Imperativ gedacht; denn allen Rechtsbegriffen zu entsagen, wäre nach Kant Unrecht. Die These der übrigen Sozialvertragstheoretiker, das Verbleiben im Naturzustand sei selbstmörderisch, kann auf der kantischen Reflexionsebene nicht mehr Thema sein; auf dieser Ebene gilt: das Verbleiben im Naturzustand ist rechtswidrig Die Pflicht zum Staat und das Recht auf Staat, die dem Staatsgründungsvertrag vorausgehen, sind für Kant allein maßgeblich; in diesen pflichtenethischen Gedankengang paßt es nicht hinein, auch noch darauf zu reflektieren, ob der Staatsgründungsakt auch im Interesse am eigenen Wohlergehen derer liegt, die diesen Akt vollziehen. Ein apriorisches Vernunft-gebot verlangt, die geeigneten Vorkehrungen zu treffen, durch die die Menschen vor Gewalttätigkeiten durch ihre Mitmenschen geschützt werden. Der Sozialvertrag ist die Erfüllung dieser sittlich-rechtlichen Pflicht Nicht in einem egoistischen Interessenkalkül der Individuen — ihrem Streben nach Selbsterhaltung — sieht Kant die Notwendigkeit des Staates begründet, sondern in einer sittlichen Pflicht, die unbedingte Geltung hat.

Statt des Überlebenskalküls also eine unbedingt geltende sittliche Pflicht! Impliziert diese Begründung des Staates in der „höheren Sphäre“ des Sittengesetzes eine Optimierung der Realisierungschance der Staatsgründung und als Folge davon eine Stärkung der Staatsvertragstreue, das heißt der Loyalität der Bürger gegenüber der von ihnen selbst — pflichtgemäß und aus Pflicht — begründeten Autorität des Staates? Was ist politisch wirksamer: ein moralisches Gebot oder das Lebensinteresse der Menschen?

Kant ist weit davon entfernt, sich auf die praktisch-politische Wirksamkeit moralischer Grundsätze zu verlassen. Nicht genug damit, daß er den bereits etablierten Staat als Zwangsrechtsordnung begreift; auch für die erfolgreiche Beendigung des Naturzustandes macht er eine Zwangsbefugnis geltend: Da jeder im Naturzustand ein Recht a priori auf den Status civilis hat, ist auch jeder berechtigt, jeden Widerstrebenden zum Eintritt in den Staat zu zwingen. Durch Zwang wird eine Einwirkung nicht auf die menschliche Vernunft, sondern auf den Menschen in seiner Eigenschaft als Sinnenwesen ausgeübt. Damit wird deutlich: Als Bestandsgarantie für den Staat reicht das Pflichtgesetz zum Staat nicht aus; als Komplement bedarf es dazu des Selbstinteresses des Menschen als Sinnenwesen.

Problematisch an dieser Theorie ist, daß hier das Selbstinteresse nicht der eigentliche Grund der Staatsbejahung ist, daß die Koinzidenz von individuellem Selbstinteresse und Staatsbejahung nicht der Normalfall ist. Dem Selbstinteresse des einzelnen kommt eine Lückenbüßerfunktion zu: Es scheint eine Rolle zu spielen erst im Falle staatsbürgerlicher Pflichtwidrigkeit und angesichts der dann zu erwartenden Reaktion des Staates als Zwangsgewalt. Wird das individuelle Selbstinteresse in erster Linie als ein Kalkül angesichts möglicher staatlicher Strafandrohung bestimmt, dann wird — übrigens völlig zu Recht — mit einer Reservewirkung des Interesses der einzelnen am eigenen Wohlergehen gerechnet, falls die zivile Pflichtgesinnung versagt; der Egoismus der Vielen wird dann jedoch nicht mehr affirmativ als Fundament des Staates begriffen; er wird nicht als ein von ethischen Gesinnungen im engeren Sinne unabhängiger Interessenkalkül verstanden, der den allseitigen Vorteil äußerlich geregelter Normenkonformität zum Inhalt hat. Es stellt sich jedoch die Frage, ob eine derartige Staats-theorie, die den rationalen staatspolitischen Pragmatismus zugunsten des . höheren Wertes* einer ethischen Staatsbegründung abwertet, einen Staat, der seine Praxis nach einer solchen Theorie ausrichtet, nicht seines zuverlässigsten Bundesgenossen beraubt.

Es spricht für den politischen Realismus Kants, daß er seinen ethischen Idealismus auf die theoretische Begründung des Staates beschränkt, während er rationalen pragmatischen Überlegungen den Vorzug gibt, wenn es darum geht, die Prinzipien der Rechtspraxis des Staates zu bestimmen. Ausdrücklich lehnt Kant eine auf ethische Zwecke gerichtete Gesetzgebung — das heißt eine Gesetzgebung, die sich nicht mit einer äußeren Normenkonformität begnügt, sondern eine Pflichtgesinnung vorschreibt — als unrechtmäßig und unzweckmäßig ab: „Weh aber dem Gesetzgeber, der eine auf ethische Zwecke gerichtete Verfassung durch Zwang bewirken wollte! Denn er würde dadurch nicht nur das Gegenteil der ethischen bewirken, sondern seine politische untergraben und unsicher machen.“ Eine juridische Reglementierung der inneren Freiheit, das heißt der subjektiven Wertsetzungen, hätte einen Gesinnungsstaat und inquisitorische Gesinnungskontrollen zur Folge Das Recht ist nichts anderes als der „Inbegriff der Bedingungen, unter denen die Willkür des einen mit der Willkür des anderen nach einem allgemeinen Gesetz der Freiheit zusammen vereinigt werden kann“ Nach diesem kantischen Rechtsstaatsprinzip soll der Staat das Verhalten der Bürger nur insoweit normieren, als er sich orientiert an dem formalen Prinzip der Kompatibilität inhaltlich differenter Freiheitssphären. Der Staat hat also die Befugnis der Bürger zu eigenverantwortlicher Lebensführung zu respektieren und dafür die formalrechtlichen Bedingungen zu schaffen durch Gesetze, vor denen jeder gleich ist. Ein so verstandener Staat regelt also nur das äußere Verhalten der in ihrer Privatsphäre freien Personen.

Trotz seiner — wenn man so will, auf einer , hohen Wertstufe'angesetzten — pflichtenethischen Staatsbegründung ist auch für Kant die eigentliche Aufgabe des Staates keine ethische, sondern eine rechtspolitische, nämlich die Garantie einer äußeren Normenkonformität der Bürger, durch die die Vereinbarkeit der inhaltlich differenten individuellen Freiheitssphären garantiert wird. In diesem Sinne kann man auch Rousseaus Ausspruch verstehen (wenngleich Rousseau in diesem Kontext an individueller Freiheit nicht interessiert ist): „Wer dem Gemeinwillen den Gehorsam verweigert, muß durch den ganzen (politischen) Körper dazu gezwungen werden. Das heißt nichts anderes, als daß man ihn dazu zwingt, frei zu sein.“ Was der Staat zu leisten hat — darin sind sich Kant und Rousseau einig —, ist die Herstellung der objektiven Bedingungen pluraler Freiheit, gegen die derjenige verstößt, der die staatlichen Gesetze übertritt. Dieser bei den klassischen politischen Philosophen vorhandene staatspolitische Realismus ist heute durchaus nicht mehr selbstverständlich. Dies zeigt sich in manchen — sicher gutgemeinten, aber unbedachtsamen — Formulierungen in dem noch andauernden Streit um die „Grundwerte“. Wie oft hört man doch, der Staat sei bezogen auf hohe und höchste „Werte“, sei ihnen gegenüber verpflichtet und von ihnen abhängig. So ist es für Helmut Kuhn eine „überzeugende Erkenntnis: daß der Staat bei all seiner souveränen Machtfülle abhängig (sic!) ist von obersten Prinzipien, die er nicht geschaffen hat und über die er nicht verfügt, sondern die er vorfindet.“ Kuhn fährt fort: „Ein ungeschriebenes Gesetz begründet den Primat der Fundamental-prinzipien religiös-moralischer Natur gegenüber aller positiven staatlichen Gesetzgebung, auch gegenüber dem Grundgesetz.“

Nun, die modernen demokratischen Staaten — und auch unser Grundgesetz — garantieren die Religionsfreiheit. Damit macht sich der Staat jedoch gerade unabhängig von jenen in den verschiedenen Religionen und Konfessionen durchaus different gedachten „Fundamentalprinzipien“. Auf keinen Fall kann der Staat — will er seine Aufgabe, den inneren Frieden zu garantieren, nicht verfehlen — den Primat solcher pluraler und möglicherweise inhomogener religiös-moralischer Fundamental-prinzipien gegenüber seiner eigenen positiven staatlichen Gesetzgebung anerkennen. Dies wäre ein Rückfall hinter den von Kant erreichten Erkenntnisstand; denn damit würde ja durch moralische Prinzipien die Kompetenz der Staatsgesetzgebung für die Normenregelung des äußeren Zusammenlebens der Menschen wieder relatiert. Der moderne Staat garantiert nicht einen rechtspolitisch relevanten Primat religiös-moralischer Prinzipien, sondern er garantiert den Gruppen, die sich zu diesen Prinzipien bekennen, den Schutz ihres religiösen Eigenlebens. Diese staatliche Garantie der Religionsfreiheit kann jedoch keine absolute sein; sie unterliegt dem Vorbehalt, daß die Religionsausübung den innerstaatlichen Frieden nicht gefährdet Gegen einen religiös motivierten politischen Fanatismus, durch den die innere Ordnung des Staatslebens in Frage gestellt würde, müßte der Staat mit Zwangsmitteln einschreiten, und zwar gerade nicht im Namen „oberster Prinzipien“ religiös-moralischer Natur, sondern schlicht und einfach zur Wahrung des Rechtsfriedens.

Wenn die Rede ist von einer vorgeordneten Sphäre religiöser Prinzipien, die für den Staat verbindlich sein soll, dann bezieht man sich zumeist auf „Werte“, die dem Leben übergeordnet sind. Doch diese religiöse Wertsphäre steht so grundsätzlich außerhalb des Verfügungsraumes des Staates, daß dieser dazu nicht einmal in einer Verpflichtungsbeziehung stehen kann. Der moderne, Religionsfreiheit gewährende Staat ist gekennzeichnet durch seine Weltlichkeit; denn er ist Staat nicht nur der Katholiken, Protestanten, Juden, Moslems, sondern auch der Atheisten und Agnostiker. Aufgrund seiner Weltlichkeit ist er auch weltanschaulich neu-tral. Die Lehre vom weltanschaulich neutralen Staat hält Kuhn jedoch für blaß, unrealistisch und unvereinbar mit dem Grundgesetz, das sich „zur Idee eines in Freiheit vereinigten Deutschland bekennt“ Angesichts der geistigen und territorialen Expansionspolitik, die im Namen der marxistisch-kommunistischen Doktrin betrieben wird, stellt Kuhn fest: „Neutralität ist für uns Selbstmord.“ Das ist richtig. Aber Kuhn hat nun den Weltanschauungsbegriff erheblich ausgedehnt. Mit dem Begriff der weltanschaulichen Neutralität wird normalerweise die Weltlichkeit des Staates assoziiert. Daß der Staat sein eigenes Ethos, wie es in den Prinzipien seiner Verfassung dokumentiert ist, zu verteidigen bereit sein muß, versteht sich im Grunde von selbst.

Mit der Verpflichtung des Staates auf höhere und höchste Werte soll vor allem der Gefahr seiner Pervertierung in einen Unrechtsstaat begegnet werden. Ist der Versuch einer derartigen Wertbindung des Staates ein taugliches Mittel für diesen angestrebten Zweck? Hier sind Zweifel angebracht. Ungeheure Verbrechen sind unter Berufung auf angeblich höchste Werte begangen worden. Im Namen eines „germanischen Naturrechts“ wurden Menschenleben als „lebensunwert“ deklariert und vernichtet. In seiner Abhandlung „Das Handeln im Sinne des höchsten Zieles“ beschreibt Hugo Dingler eine „ethische Volksgemeinschaft“, in der eine Führungspersönlichkeit nur sein kann, wer „eine so hohe Vorstellung von den ethischen Zielen seines Amtes hat, und von der Schwere seiner Verantwortung, daß er innerlich stets schlicht, und vor seiner Aufgabe und dem obersten Ziel demütig bleibt.“ Und dann die peinliche Hymne auf Adolf Hitler als den würdigen Repräsentanten des , neuen Deutschland 1: „Dieser große und schlichte Mann hat mit absoluter Sicherheit des Empfindens diejenigen Linien gezeichnet, auf denen eine Volksgemeinschaft sich bewegen muß, wenn sie eine ethische, eine Volksgemeinschaft sein will.“ Eine Pervertierung und Korrumpierung eines Ethos sind offenbar auf jeder „Wertstufe“ möglich.

IV. Demokratischer Rechtsstaat: Wertegemeinschaft oder Normengemeinschaft?

Die heute selbstverständlich gewordene Akzentuierung der Wertbindung des Staates zielt darauf, der jeder Rechtsordnung innewohnenden Gefahr des Abgleitens in eine bloße Machtordnung entgegenzusteuern. Nach der überwiegenden Meinung der deutschen Staatsrechtslehre und der Verfassungsauslegung durch das Bundesverfassungsgericht wird den „Grundwerten“, wie sie im Grundgesetz niedergelegt sind, diese Steuerungsfunktion zugeschrieben. Dabei wird betont, daß das Grundgesetz eine Wertordnung zum Ausdruck bringt. Eine besonders deutliche Formulierung hat diese Auffassung in einem Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 25. Februar 1975 erfahren: „Dem Grundgesetz liegen Prinzipien der Staatsgestaltung zugrunde, die sich nur aus der geschichtlichen Erfahrung und der geistig-sittlichen Auseinandersetzung mit dem vorangegangenen System des Nationalsozialismus erklären lassen. Gegenüber der Allmacht des totalitären Staates, der schrankenlose Herrschaft über alle Bereiche des sozialen Lebens für sich beanspruchte und dem bei der Verfolgung seiner Staatsziele die Rücksicht auch auf das Leben des einzelnen nichts bedeutete, hat das Grundgesetz eine wertgebundene Ordnung aufgerichtet, die den einzelnen Menschen und seine Würde in den Mittelpunkt aller seiner Regelungen stellt. Dem liegt, wie das Bundesverfassungsgericht bereits früh ausgesprochen hat (BVerfGE 2, 1 [12]), die Vorstellung zugrunde, daß der Mensch in der Schöpfungsordnung einen eigenen selbständigen Wert besitzt.“ Es wird deutlich, daß die „Grundwerte“ offenbar in der Anerkennung der „Grundrechte“ des Menschen ihren präzisen Ausdruck finden. Die im Grundgesetz vorliegende staatliche Verfassung wird nicht einfach als konstitutionelles Normensystem bestimmt, sondern als „wertgebundene Ordnung“, um diese Ordnungsvorstellung von andersartigen Normensystemen — insbesondere den totalitären — abzuheben. Besonders akzentuiert wird das Prinzip der Würde des Menschen, und in den Verfassungsauslegungen wird üblicherweise die in Art. 1 GG garantierte Würde des Menschen als „oberster Wert“ herausgestellt. Den Grundwerten oder Prinzipien der Staatsgestaltung des Grundgesetzes wird aber durchaus die objektive normative Gültigkeit zuerkannt, die juridischen Normen normalerweise zukommt, das heißt die hier entworfene „Wertordnung“ gilt nicht als abhängig von subjektiven Wertvorstellungen und ist auch nicht allen Schwankungen und Wandlungen der subjektiven Wertvorstellungen in der Bevölkerung unterworfen. So hat das Bundesverfassungsgericht in dem soeben zitierten grundrechtsrelevanten Urteil vom 25. Februar 1975 festgestellt: „Auch ein allgemeiner Wandel der hierüber in der Bevölkerung herrschencn Anschauungen — falls er überhaupt festzustellen wäre — würde daran nichts ändern können. “

Wenn nun dem Artikel 1 GG der Status einer „naturrechtlichen Vorordnung“ zuerkannt wird, oder wenn man, wie zum Beispiel Konrad Hesse, betont, die Inhalte der Verfassung seien geprägt „durch grundlegende, der positiven Rechtsordnung vorausliegende Werte, die sich ... in den Entscheidungen des Verfassungsgesetzgebers zu einer Wertordnung verbunden haben und ein Staatswesen konstituieren, das weltanschaulich neutral, aber nicht wertneutral ist“ so soll damit vor allem der unantastbare Kern der Verfassung betont werden. Zugleich leisten derartige Formulierungen aber auch dem möglichen Mißverständnis Vorschub, die obersten Verfassungsprinzipien seien als Verfassungsprinzipien auch nur Werte, die der Verfassung vorausliegen. Dagegen ist zu betonen, daß sie als Grundsätze der Verfassung Teile der positiven Rechtsordnung geworden sind, also auch positiv-rechtlicheGültigkeit haben. Sie sind daher auch als juridische Normen begreifbar.

Diese Einsicht in die objektive Gültigkeit der „Grundwerte“ und obersten Verfassungsprinzipien als „Grundnormen“ wird jedoch verdunkelt durch die nicht eben glückliche Redeweise von „Wertkonsens“, „Grundkonsens“ usw. Diese Redeweise — verbunden mit der Vorstellung, der grundlegende Konsens sei brüchig geworden — suggeriert, es gebe objektive Kriterien, einen solchen Konsens (oder Dissens) bezüglich der in einem Staat geltenden Werte festzustellen. Diese Sichtweise eröffnet wieder das weite Feld subjektiver Wertungen und Bekenntnisse. So betont Hans Maier: „Daß in einem Staat Werte gelten, setzt einen freien Konsens in einer offenen Gesellschaft voraus. Ohne Wertengagement des einzelnen keine objektivierte öffentliche Moral.“

Als ein realer Vorgang ist ein „freier Konsens in einer offenen Gesellschaft“ — wenn die Gesellschaft die Größenordnung eines modernen Staates annimmt — gar nicht denkbar; daher entzieht sich diese Aussage jeder Überprüfung. In einer freien Gesellschaft stellt sich alles mögliche ein, zum Beispiel auch die ungehinderte Verbreitung von Pornographie in den verschiedensten Formen. Soll man sagen, in diesem Fall handle es sich um einen „Unwertkonsens“? Die hier gewählte Ausdrucksweise eignet sich offenbar nicht dazu, die nichtgeregelten — also anarchischen — Prozesse in einer offenen Gesellschaft auf den Begriff zu bringen. Doch lassen wir einmal allen Realismus beiseite und stellen uns vor, Prozesse des Konsentierens, die normalerweise nur in überschaubaren Gruppen stattfmden, seien in einer offenen Gesellschaft auch im öffentlichen Rahmen möglich: sollte etwa auch unsere Verfassung, der Grundrechtsteil als ihr unantastbarer Kem eingeschlossen, Gegenstand eines öffentlichen Konsenses sein? Dies wäre völlig absurd. Eine solche Vorstellung ist daher nicht einmal von Ideologen zur Debatte gestellt worden, die an Strategien eines langfristigen Verfassungsumsturzes laborieren. Es ist nicht nur — gemäß den Ideen Maiers — „Wertkonsens als Werk der Freiheit“ denkbar, sondern ebenso ist auch Wertdissens eine Frucht der Freiheit. Die Verfassungsprinzipien zum Gegenstand eines öffentlichen Zustimmungsprozesses zu machen hieße, den Rechtsstaat aufs Spiel zu setzen.

Es ist offenbar nicht möglich, den Rechtsstaat ohne Rückgriff auf den Begriff der Rechtsnorm zu den-ken. Es ist nicht möglich, ihn als Wertegemeinschaft, das heißt als Gemeinschaft von an den gleichen Werten orientierten Menschen, zu denken, ohne damit den Begriff der Rechtsnorm wieder in Frage zu stellen.

Was im öffentlichen Bereich vor allem nottut, ist Verfassungsloyalität. Deren Ausdruck ist die Bereitschaft der Bürger, nicht nur die Vorteile eines freiheitlichen und sozialen Rechtsstaats in Anspruch zu nehmen, sondern auch die Pflichten als Staatsbürger zu erfüllen. Die subjektiven Wert-haltungen können dabei durchaus differieren. Eine religiöse Glaubensvorstellung, eine humanistisch geprägte Pflichtgesinnung oder auch das pragmatische rationale Interesse am Bestand einer Verfassungsordnung, die allen individuelle Freiheiten gewährt, können die je differenten zugrundeliegenden Werthaltungen sein. Diese sind als „innere Handlungen“ verborgen; die Verfassungsloyalität realisiert sich als „äußeres Handeln“.

Der Aufgabe, dieses Ethos bei den Bürgern zu fördern, sollte der Staat sich nicht entziehen. Indem er als Wohlfahrts-, Absicherungs-und Sicherheitsstaat die Menschen vor den Lebensrisiken verschiedenster Art sichert, fördert er zwar eine relativ breite Gehorsamsbereitschaft; soweit diese jedoch vorwiegend in passivem Verhalten besteht, kann sie noch nicht als Verfassungsloyalität bezeichnet werden. Langfristig kann der Staat auf Verfassungsloyalität vor allem dann rechnen, wenn er seinem eigenen Ethos treu bleibt und in Unabhängigkeit von gesellschaftlichen Gruppen — dem Druck organisierter Interessen und organisierter Meinungsmacher standhaltend — für inneren Frieden, öffentliche Ordnung und Wohlfahrt sorgt. Wenn es dem Staat gelingt, seine Souveränität gegenüber gesellschaftlicher Gruppenmacht zu bewahren, dann ist Staatsloyalität allein aus pragmatischer Vernunft für viele wieder möglich. Doch gerade angesichts des Druckes organisierter Interessen scheint der Staat in seinem eigenen Ethos überfordert zu sein.

Die Grundeinsicht der klassischen Politischen Philosophie, daß der Staat eine Einrichtung zum Schutz der Menschen gegen seine Mitmenschen ist, hat eine aufklärerische Funktion gegen die politischen Wunschvorstellungen von einem Staat, der sich die Aura einer laisierten Kirche gibt, in der ein gemeinsamer Glaube zelebriert wird. Dieser Versuchung sollte der Staat nicht erliegen. Die Erinnerung an diese politische Grundeinsicht kann aber auch nachdenklich machen gerade angesichts eines Staates mit besonders hoher Rechtskultur. Steht er nicht in Gefahr, jene Machtmittel zu verlieren, derer er bedarf, um die rechtlich geschützten Freiräume des einzelnen auch gegenüber gesellschaftlicher Gruppenmacht zu verteidigen? Wir brauchen den Staat zum Schutz vor unseren Mitmenschen. Der Staat kann, wie wir aus unserer Geschichte wissen, zu einem menschenfressenden Moloch pervertieren. Darum müssen wir den Staat an die Kette rechtlicher Bindungen legen. Wenn die Rechtsfesseln den Staat jedoch zu sehr einengen, ist er in seiner Handlungsfähigkeit beschnitten. Wir sind nun vor dem Staat geschützt. Doch wer schützt uns vor den Mitmenschen und den Machtgruppen in der Gesellschaft? Um hier das rechte Maß zu treffen, dazu bedarf es des Augenmaßes und der politischen Urteilskraft in Gesetzgebung, Rechtsprechung und staatlicher Eingriffsverwaltung.

Fussnoten

Fußnoten

  1. August Ludwig Schlözer, Allgemeines Staatsrecht, 1793, § 8. Die Orthographie in Titel und Zitat ist modernisiert.

  2. Arthur Schopenhauer, Parerga und Paralipomena, Bd. 2,

  3. Ebd. Auch die Schopenhauer-Zitate werden in modernisierter Orthographie wiedergegeben.

  4. Natürlich nicht in einem historischen Sinne; denn Pufendorf konnte die um fast ein ganzes Jahrhundert später entstandene Theorie Rousseaus nicht kennen.

  5. Die deutsche Übersetzung des Pufendorf-Textes ist zitiert nach Ernst Reibstein, Volkssouveränität und Freiheitslehre, Freiburg-München 1982, Bd. II, S. 114. Im letzten Satz ist eine Korrektur vorgenommen worden. Die falsche und sinn-entstellende deutsche Übersetzung lautet: „Wenn es keine Gerechtigkeit gäbe . . .“ Im lateinischen Original findet sich jedoch nicht . justitia 1, sondern judicia’. In der englischen Übersetzung heißt es völlig korrekt: „If there were no courts, one man would devour another“ (Samuel von Pufendorf. De Officio Hominis et Civis, Translation by Frank Gardner Moore. New York-London. Reprint 1967, S. 104).

  6. Samuel Pufendorf, De Officio Hominis et Civis, Basel 1793, II, 5, § 7.

  7. Thomas Hobbes, Vom Menschen. Vom Bürger, hrsg. von Günther Gawlick, Hamburg 1959, S. 59.

  8. Thomas Hobbes, Leviathan, hrsg. von Iring Fetscher, Frankfurt 1984, S. 95.

  9. Man könnte auch vom „ersten Wert“ des Menschen sprechen,. wenn man die heute übliche (hier aber doch etwas befremdliche) Wertterminologie vorzieht.

  10. Zur Hobbesschen Theorie vgl. Günther Maluschke, Philosophische Grundlagen des demokratischen Verfassungsstaates, Freiburg-München 1982, S. 23 ff.

  11. Einige Moralisten haben unter Zugrundelegung dieser fehlerhaften Prämisse „geschlossen“, Hobbes habe seine eigene Bosheit auf alle anderen projiziert.

  12. Pufendorf weiß, daß selbst die durch die Religion erzeugte Furcht vor göttlichen Strafen nicht zu einer verläßlichen Zügelung des menschlichen Verhaltens führt: „Die Furcht vor einer Gottheit und die natürlichen Regungen des Gewissens bilden freilich im Herzen der Menschen eine ziemlich starke Überzeugung von den Strafen, die diejenigen zu erwarten haben, welche einem anderen entgegen dem Verbot des natürlichen Rechts Unrecht zufügen. Aber dies ist auch nicht ein Zügel, mit dem alle Arten von Menschen im Zaum zu halten sind. Denn die Erziehung und die Gewohnheit ersticken im Geiste vieler die reinsten Einsichten der Vernunft, so daß sie, ganz mit der Gegenwart beschäftigt, fast gar nicht an die Zukunft denken und allein von dem Sinnfälligen berührt, ihre Blicke nicht höher richten.“ Pufendorf (Anm. 6), II, 5, § 9.

  13. Immanuel Kant. Metaphysik der Sitten, Akademie-Ausgabe VI, S. 312.

  14. Vgl. Wolfgang Kersting, Wohlgeordnete Freiheit. Immanuel Kants Rechts-und Staatsphilosophie, Berlin-New York 1984, S. 219.

  15. Vgl. Maluschke (Anm. 10), S. 117ff.

  16. Kant (Anm. 13). S. 96.

  17. Vgl. Maluschke (Anm. 10), S. 114f.

  18. Kant (Anm. 13), S. 230.

  19. Jean-Jacques Rousseau. Contract Social I, 7.

  20. Helmut Kuhn, Der Streit um die Grundwerte, in: ders.. Ideologie — Hydra der Staatenwelt, Köln 1985, S. 464.

  21. Eine gegenteilige Auslegung des Artikels 4 GG wäre jedenfalls aus der Perspektive der Politischen Philosophie grundsätzlich zu kritisieren.

  22. Kuhn (Anm. 20), S. 468.

  23. Ebd.

  24. Hugo Dingler. Das Handeln im Sinne des höchsten Zieles. München 1935. S. 155.

  25. Ebd., S. 157.

  26. BVerfGE 39, 67. Dieser Interpretation des Grundgesetzes durch die Bundesverfassungsrichter folgend, wendet sich Otto Kimminich gegen diejenigen, die behaupten, „das Grundgesetz lege sich weder auf eine Wertordnung noch auf ein Menschenbild fest“. Kimminich fährt fort: „Das Gegenteil ist der Fall. Das Grundgesetz entwirft sehr wohl ein Menschenbild, und zwar ein christliches. Diese Tatsache ist nicht erstaunlich, sondern eher eine Selbstverständlichkeit. Denn die verfassungsgebende Gewalt, die das Grundgesetz geschaffen hat, liegt bei einem Volk, das seit Jahrhunderten ein christliches Volk gewesen ist und deshalb in einer Tradition steht, die nicht so leicht zu überwinden wäre, selbst wenn man das wollte. Daß die Schöpfer des Grundgesetzes das nicht gewollt haben, sondern nach der unseligen Unterbrechung deutscher Rechtstraditionen durch den Nationalsozialismus bewußt an das alte Kulturerbe des deutschen Volkes anknüpfen wollten, ist eine unbestreitbare Tatsache.“ (Otto Kimminich, Die Entwicklung des öffentlichen Wertbewußtseins und die Verantwortung des Staates, hrsg. vom Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz. Bonn 1980, S. 11.) Dieser Feststellung ist jedoch eine einschränkende Bemerkung hinzuzufügen. Die alte christliche Kultur des deutschen Volkes, die bereits durch die Aufklärung und den deutschen Idealismus Säkularisierungsprozessen unterworfen war, kann für den Verfassungsgesetzgeber nur in säkularisierter Gestalt maßgeblich gewesen sein. Der Wille des Verfassungsgebers ist doch wohl vor allem als Entscheidung zu verstehen, an den älteren Rechtsprinzipien anzuknüpfen, die sich in der Realität des menschlichen Zusammenlebens bewährt haben, ohne daß damit zugleich einer Orthodoxie genuin christlicher Wertvorstellungen das Wort geredet würde.

  27. BVerfGE 39, 67. Zitiert nach O. Kimminich (Anm. 26).

  28. Konrad Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Karlsruhe 197911. S. 4.

  29. Hans Maier. Zur Frage der Grundwerte, in: ders., Anstöße. Beiträge zur Kultur-und Verfassungspolitik, Stuttgart 1978, S. 182.

  30. Ebd., S. 190 als Zwischenüberschrift.

Weitere Inhalte

Günther Maluschke, Dr. phil., geb. 1934; Studium der evangelischen Theologie; kirchliches Examen sowie Studium der Philosophie, Soziologie und Politischen Wissenschaft; Promotion in Philosophie in Bonn; Habilitation für das Fach Philosophie in Tübingen; seit 1984 apl. Professor für Philosophie in Tübingen. Veröffentlichungen u. a.: Kritik und absolute Methode in Hegels Dialektik, Hegel-Studien Beiheft 13, Bonn 1974, 2. Aufl. 1984; Philosophische Grundlagen des demokratischen Verfassungsstaates, Freiburg-München 1982; zahlreiche Aufsätze in Fachzeitschriften, besonders auf dem Gebiet der Politischen Philosophie.