Meine Merkliste Geteilte Merkliste PDF oder EPUB erstellen

Demokratiezufriedenheit und demokratische Einstellungen in der Bundesrepublik Deutschland | APuZ 22/1987 | bpb.de

Archiv Ausgaben ab 1953

APuZ 22/1987 Artikel 1 Die Weimarer Republik in der zeitgeschichtlichen Perspektive der Bundesrepublik Deutschland Traditionen, Problemstellungen und Entwicklungslinien NS-Interpretationen und Zeitklima Zum Wandel in der Aufarbeitung der jüngsten Vergangenheit Demokratiezufriedenheit und demokratische Einstellungen in der Bundesrepublik Deutschland

Demokratiezufriedenheit und demokratische Einstellungen in der Bundesrepublik Deutschland

Oscar W. Gabriel

/ 30 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Nach der Gründung eines demokratischen Staates im Jahre 1949 wurden die Zukunftsaussichten der Demokratie in der Bundesrepublik überwiegend skeptisch eingeschätzt. Wie Meinungsumfragen aus den fünfziger Jahren zeigen, identifizierten sich die Bundesbürger zunächst auch nur sehr begrenzt mit dem demokratischen Staat. Autoritäre Ordnungsmodelle fanden nach wie vor eine beachtliche Zustimmung in der Bevölkerung. Nicht zuletzt das „Wirtschaftswunder“ und die gesellschaftliche Modernisierung der Bundesrepublik trugen dazu bei, daß sich im Laufe der Zeit ein zunehmendes Verständnis für demokratische Spielregeln und eine zunehmende Akzeptanz demokratischer Wertvorstellungen herausbildete. Allerdings gibt es in der Bundesrepublik, wie in anderen westlichen Demokratien, eine Lücke zwischen der allgemeinen Zustimmung zu demokratischen Prinzipien und der Fähigkeit bzw. Bereitschaft, diese Prinzipien in konkreten Situationen zu praktizieren. Die Zufriedenheit mit dem Funktionieren der Demokratie ist in der Bundesrepublik höher entwickelt als in den meisten westlichen Demokratien. Sie wurde durch die wirtschaftlichen Schwierigkeiten der vergangenen Jahre nicht nennenswert beeinträchtigt und ist bei allen gesellschaftlichen Teilgruppen annähernd gleich hoch. Befürchtungen, die Bundesrepublik sei eine „Schönwetter-Demokratie“, haben, sich bislang nicht bestätigt.

I. Demokratische Kontinuität und Stabilität. Anmerkungen zur politischen Entwicklung Deutschlands in demokratie-theoretischer Perspektive

Abbildung 1: Demokratische Einstellungen und Demokratieakzeptanz in der Bundesrepublik Deutschland 1950 bis 1978 Zustimmung

Wenn die Annahme zutrifft, daß eine kontinuierliche und schrittweise Entwicklung demokratischer Institutionen das Entstehen einer stabilen und funktionsfähigen Demokratie am besten gewährleistet dann sind die historischen Ausgangsbedingungen für den Bestand einer demokratischen Ordnung in der Bundesrepublik denkbar schlecht. Kaum ein anderer Staat durchlief nämlich in seiner jüngsten Vergangenheit eine ähnlich turbulente politische Entwicklung wie Deutschland. Im Zeitraum zwischen 1871 und 1949 lösten sich vier einander völlig unterschiedlich verfaßte politische Regime ab. Zwei verlorene Kriege, der Verlust großer Teile des Staatsgebietes und die nationale Teilung veranlaßten Almond und Verba dazu, die neuere deutsche Geschichte als „bitter und trauma-tisch“ zu bezeichnen

Die nationale Einigung, die in Deutschland relativ spät erfolgte, ging nicht mit der Errichtung eines liberalen Verfassungsstaates einher. Das politische System des Kaiserreichs war ein autoritärer Wohlfahrtsstaat, der seinen Bürgern eine gewisse rechtliche und soziale Sicherheit gewährte, ihnen aber die für den Aufbau einer Demokratie maßgeblichen politischen Artikulations-und Beteiligungsrechte vorenthielt. Die Verfassung des kaiserlichen Deutschland enthielt lediglich Grundsätze für die Staatsorganisation; ein Grundrechtskatalog fehlte in ihr.

Mit der Weimarer Reichsverfassung gaben sich die Deutschen eine der modernsten Verfassungen der damaligen Zeit. Die in ihr enthaltene Kombination parlamentarischer, plebiszitärer und präsidentieller Elemente entsprach weitgehend den Vorstellungen von einer gemischten Verfassung, die in der Tradition des westlichen Denkens in besonders hohem Ansehen stand. Neben umfassenden politischen, wirtschaftlichen und sozialen Grundrechten sah die Verfassung ein Wahlsystem vor, das eine relativ genaue Umsetzung von Wählerstimmen in Parlamentsmandate garantierte. Ohne Frage verdient die Weimarer Verfassung das Attribut „demokratisch“. Dennoch hielt das demokratische Experiment von Weimar der Belastung durch die Weltwirtschaftskrise nicht stand. Die demokratische Koalition aus Sozialdemokraten, katholischem Zentrum und Liberalen verlor bei der Reichstagswahl 1928 die parlamentarische Mehrheit, seit 1932 wäre sie auch mit Hilfe der Rechtskonservativen und kleinerer Regionalparteien nicht mehr zur Bildung einer mehrheitsfähigen Regierung in der Lage gewesen, denn die Kommunisten und die Nationalsozialisten kontrollierten gemeinsam mehr als die Hälfte der Reichstagsmandate

Am 30. Januar 1933 wurde Hitler zum Reichskanzler ernannt. Er bildete ein nationalsozialistisch-konservatives Koalitionskabinett und ging auf der Grundlage des Ermächtigungsgesetzes vom März 1933 daran, die Weimarer Demokratie schrittweise zu liquidieren. Die NS-Herrschaft dauerte bekanntlich zwölf Jahre. Dem kurzen Zwischenspiel einer Militärregierung durch die Alliierten folgte in der heutigen DDR ein kommunistisch dirigiertes Einparteienregime, in den drei Westzonen kam es zur Gründung einer parlamentarischen Demokratie auf föderativer Grundlage. Damit hatte sich in Deutschland innerhalb von nur 78 Jahren der vierte Regimewechsel vollzogen.

Es ist kaum möglich, die in der Literatur verbreiteten Urteile über die demokratische Stabilität der Bundesrepublik und über das Demokratieverständnis ihrer Bürger losgelöst von dieser Vorgeschichte zu verstehen. Die meisten Mitglieder des Parlamentarischen Rates hatten die gesamte politische Entwicklung Deutschlands seit der Jahrhundertwende bewußt miterlebt. Sie verfolgten bei der Verabschiedung des Grundgesetzes das Ziel, einerseits an die demokratischen Errungenschaften der Weimarer Verfassung anzuknüpfen, andererseits aber die tatsächlichen oder vermeintlichen Konstruktionsmängel des Weimarer Systems zu beseitigen. Im Mittelpunkt ihrer Überlegungen standen das Verhältnis von Parlament, Regierung und Staatsoberhaupt, die Beziehungen zwischen dem Gesamtstaat und den Gliedstaaten, die plebiszitären Verfassungselemente und die Möglichkeiten zum Mißbrauch demokratischer Grundrechte durch Verfassungsfeinde

Bei der Auseinandersetzung mit den institutionellen Mängeln der Weimarer Republik kam es allerdings zu einer unzutreffenden Gewichtung der einzelnen Determinanten demokratischer Stabilität. Wie u. a. Robert A. Dahl zeigte, hängt die Funktionsfähigkeit einer Demokratie in erster Linie von sozialen und kulturellen Faktoren ab, weniger dagegen von der konkreten Ausgestaltung des politischen Institutionensystems Gerade im Vergleich der Weimarer Republik mit den politischen Systemen anderer Länder zeigt sich die Richtigkeit der Annahme Dahls. Unter den von Lipset als stabil klassifizierten Demokratien befinden sich Staaten mit ganz unterschiedlichen institutionellen Arrangements -In den USA sind beispielsweise die präsidentiellen, in der Schweiz die plebiszitären Elemente stärker ausgeprägt als im Deutschland der Weimarer Republik. In der britischen Staatsorganisation fehlte bis vor kurzem das föderative Element. Die Zersplitterung des niederländischen oder des dänischen Parteiensystems steht noch heute den kritisierten Weimarer Verhältnissen nicht nach. In keinem dieser Länder kam es jedoch während der Weltwirtschaftskrise zu einem Regimewechsel, Veränderungen wurden systemimmanent durchgeführt.

Nicht einmal das Zusammenspiel sämtlicher vermeintlicher Strukturdefekte hätte wohl ausgereicht, um den Zusammenbruch der Weimarer Demokratie herbeizuführen, wenn die wirklich entscheidende Voraussetzung für ihren Fortbestand vorgelegen hätte: die Akzeptanz der Demokratie, ihrer Spielregeln und Grundwerte durch die Bevölkerung wie durch das politische Führungspersonal. Weil es hieran fehlte, war die Weimarer Republik eine Formaldemokratie — ein demokratisch verfaßtes Institutionensystem, dem die Mehrheit der Bevölkerung ablehnend oder indifferent gegenüberstand.

Lipset zählt daher die Weimarer Republik zu den politischen Systemen, in denen die Demokratie wegen einer unzulänglich entwickelten System-akzeptanz in einer Leistungskrise des politischen Systems zusammenbrach In ihrer detaillierten Untersuchung der politischen Ordnungsvorstellungen der Weimarer Republik kommt Helge Pross zu einem ähnlichen Ergebnis: „Zusammen erhielten die gegen die parlamentarische Demokratie gerichteten politischen Parteien in den Reichstagswahlen vom Juli 1932 fast zwei Drittel der Stimmen: 60 %.

Die Wahl war damit ein Plebiszit gegen die repräsentative Demokratie . . . Auch die beiden großen Parteien, die die Weimarer Demokratie unterstützten und im Sommer 1932 eine beträchtliche Anzahl der Stimmen erhielten (Zentrum und SPD, OWG), waren nicht frei von autoritären Zügen.“

Die bei der Mehrheit der Wähler vorherrschenden autoritären Neigungen beschreibt Helge Pross folgendermaßen

1. Es wird ein autoritäres politisches System bevorzugt, das die Rechte kollektiver Mächte — z. B.des Staates oder einer Partei — den Rechten des einzelnen Bürgers überordnet: „Nach dieser Auffassung hat der einzelne hinter dem Kollektiv zurückzustehen und sich den im Namen des Kollektivs gefällten Entscheidungen unterzuordnen, auch wenn er weder direkt noch indirekt an der Entscheidungsfindung beteiligt war.“

2. Soziale Tugenden wie Gehorsam, Disziplin und Unterordnung genießen Vorrang vor individueller Selbstbestimmung. Sie dienen nicht bloß als Mittel, die das reibungslose Funktionieren der Gesellschaft garantieren, sondern sie werden zu Selbstzwecken überhöht.

3. Im Mittelpunkt des Gesellschaftsbildes steht die Idee der Ordnung. Sie garantiert dem einzelnen Sicherheit und Verläßlichkeit und trägt dazu bei, daß die Gesellschaft planmäßig und effektiv arbeitet.

4. Toleranz gegenüber anderen besitzt einen geringen Stellenwert. Die politischen Beziehungen zwischen den Menschen sind vom Freund-Feind-Den-ken bestimmt: „Überall waren Feinde: Liberale, Demokraten, Juden, die westlichen Länder. Auf die Umzingelung reagiert man mit Schutzgemeinschäften.“ Deren Aufgabe bestand darin, die politischen Gegner als Feinde zu bekämpfen, nicht aber darin, sich politisch mit ihnen auseinanderzusetzen. 5. Kritik an der eigenen Position ist unerwünscht: „Wer Deutschland kritisierte, beschmutzte das eigene Nest.“

Die empirische Gültigkeit dieser Beschreibung der politischen Wertvorstellungen in Deutschland „am Vorabend des Nationalsozialismus“ läßt sich mit Daten nicht direkt belegen. Die heute noch feststellbaren Unterschiede im Demokratie-und Politikverständnis der gegenwärtig in der Bundesrepublik lebenden Generationen sprechen aber dagegen, daß diese Annahmen aus der Luft gegriffen sind.

Der politische „Sonderweg“ Deutschlands unter den hochentwickelten Industrienationen der westlichen Welt zeigt den Einfluß der politischen Orientierungen der Bevölkerung und der politischen Führungsgruppen auf die Überlebens-und Funktionsfähigkeit eines demokratisch verfaßten politischen Systems. Zutreffend bezeichnet denn auch Ralf Dahrendorf die konstitutionelle, nicht die nationale Frage als das eigentlich gravierende Problem in der politischen Tradition Deutschlands. Eine ähnliche Auffassung vertritt auch Habermas im gegenwärtigen deutschen Historikerstreit. Nach Dahrendorf muß man die deutsche Frage wie folgt formulieren: „Warum hat das Prinzip der liberalen Demokratie in Deutschland so wenige Freunde gefunden? . . . Was muß geschehen, damit auch Deutschland ein Land liberaler Demokratie werden kann?“

In dieser Perspektive war auch die nationalsozialistische Machtergreifung kein historischer Betriebsunfall, vielmehr sind „die Ereignisse von 1933 das hervorstechende Symptom der Malaise des liberalen Prinzips in Deutschland“

II. Demokratieunterstützung und Demokratieverständnis in der Entstehungsphase der Bundesrepublik

Tabelle 1: -rage: Zufriedenheit mit dem Funktionieren der Demokratie in den Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaft 1973 bis 1985 Sind Sie mit der Art und Weise, wie die Demokratie in . . . funktioniert*), alles in allem gesehen sehr zufrieden, ziemlich zufrieden, ziemlich unzufrieden oder völlig unzufrieden? (Im folgenden die Angaben über sehr/ziemlich zufrieden [in Prozentpunkten]) 0 f Belgien Dänemark Bundesrepublik Deutschland Frankreich Griechenland Großbritannien Irland Italien Luxemburgꄠ߯?

Vor dem Hintergrund dieses Verlaufs der neueren deutschen Geschichte überrascht es nicht, daß die Chancen der Demokratie in der Bundesrepublik anfangs überaus skeptisch eingeschätzt wurden. Mit dem Aufbau eines demokratischen Institutionensystems wurden die autoritären Traditionen nicht automatisch beseitigt. Wie berechtigt die anfänglichen Zweifel an den demokratischen Überzeugungen der Bundesbürger waren, zeigt sich an Umfragedaten aus der Entstehungsphase der Bundesrepublik: Nach David P. Conradt sprach sich im Jahre 1950 nur eine knappe Mehrheit der Bundesbürger, nämlich 53%, für ein Mehrparteiensystem aus. 25 % der Befragten gaben einem Einparteienstaat den Vorzug, der Rest war unentschieden. In einer direkten Frage nach der bevorzugten Staatsform votierten 1953 zwar 57 % für die Demokratie, aber immerhin noch 19 % für eine Monarchie oder ein autoritäres Regime. Wiederum gab es auch eine große Restgruppe von Unentschiedenen. In der Einschätzung des Rechts auf freie Meinungsäußerung waren ähnliche Strukturen zu erkennen.

Etwas mehr als die Hälfte der Bundesbürger vertrat die Auffassung, man könne seine politische Meinung in der Öffentlichkeit frei äußern, ungefähr ein Drittel erklärte, es sei besser, vorsichtig zu sein

Aus diesen Antworten läßt sich zwar keine mehrheitliche Ablehnung der Demokratie durch die Bundesbürger ablesen, aber auch keine besonders starke Zustimmung. Insbesondere wenn man bedenkt, daß soziale Erwünschtheitseffekte das Antwortverhalten beeinflußten, werden beträchtliche Reserven der Deutschen gegenüber der neugeschaffenen Demokratie erkennbar. Die wenigen uns verfügbaren internationalen Querschnittsdaten zeigen dies noch deutlicher. Auf die Frage, auf welche nationalen Errungenschaften sie besonders stolz seien, gaben nach Almond und Verba nur 8 % der Bundesbürger die politischen Institutionen an. In den USA belief sich dieser Anteil auf 85 %, in Großbritannien auf 46%. Bei aller berechtigten Kritik an der angloamerikanischen Färbung des Erhebungsinstruments ist es doch bemerkenswert, in welchem Maße der Nationalstolz der Deutschen durch die Volkseigenschaften (36%), die wirt-schaftlichen Leistungen (33 %) und den Beitrag zur Kunst und Wissenschaft (23%) geprägt war und welche geringe Bedeutung hierbei den demokratischen Institutionen zukam Aus der Entste-hungsphase der Bundesrepublik liegen zahlreiche weitere Belege für die unveränderte Wirksamkeit autoritär-obrigkeitsstaatlicher Orientierungen vor

III. Die Entwicklung der Systemakzeptanz in der Bundesrepublik

I l l i Tabelle 2: Legitimitätsüberzeugungen und Systemzufriedenheit in der Bundesrepublik Deutschland 1980 und 1982/83 (Angaben in Prozentpunkten) Wie sehr entspricht unsere politische Ordnung und Demokratie dem, was Sie in der Politik für gut und richtig halten? Das politische System der Bundesrepublik ist gerecht und fair Das politische System der Bundesrepublik schützt die grundlegenden Freiheiten der Bürger Im politischen System der Bundesrepublik wird nur das Wohl einiger weniger Interessengruppen bꄠ߯?

Bei der Interpretation von Umfragedaten stellt sich stets die Frage, ob die verwendeten Instrumente tatsächlich diejenigen Größen messen, auf die sie abzielen. Eine zufriedenstellende Klärung dieser Frage ist außerordentlich schwierig. Dennoch ergibt sich in unserem Falle aus dem Zusammenspiel der einzelnen Indikatoren ein recht klares Bild: Die Zustimmung der Bundesbürger zur neuen politischen Ordnung fiel in den Anfangsjahren der Bundesrepublik nicht gerade überwältigend aus. Ein anderes Ergebnis war allerdings nach Lage der Dinge kaum zu erwarten. Nach dem kriegsbedingten Zusammenbruch der wirtschaftlichen und sozialen Ordnung war es für den überwiegenden Teil der Bevölkerung vorrangig, zunächst einmal die persönlichen Probleme zu regeln. Auf der nationalen Ebene konzentrierte sich das öffentliche Interesse auf den wirtschaftlichen Wiederaufbau; die Politik wurde für viele zur Nebensache.

Die anfänglich verbreitete „Ohne-mich-Haltung" der Bevölkerung stellte sicherlich auch eine verständliche Reaktion auf die von den Nationalsozialisten betriebene Massenmobilisierung und politische Infiltration aller Sozialbeziehungen dar. Die Entnazifizierungspolitik der Alliierten wirkte zumindest zum Teil kontraproduktiv. Sie machte die Bevölkerung nicht für demokratische Wertvorstellungen empfänglich, sondern sie verstärkte die Abwehrhaltungen gegenüber jeder Form von Politik.

Trotz dieser ungünstigen Ausgangslage stellte sich der Wandel in der Systemakzeptanz überraschend schnell ein. Bereits im Jahre 1955 befürworteten drei Viertel der Bundesbürger ein Mehrparteiensystem. Der Demokratie gaben 70 % den Vorzug vor einer Monarchie oder einem autoritären Regime. Entsprechend nahm die Identifikation mit den politischen Symbolen der Vergangenheit ab. Immer seltener wurden Hitler und Bismarck zu den größten deutschen Staatsmännern gezählt; die Opposition gegen eine mögliche Neugründung einer nationalsozialistischen Partei wuchs Mit dem politischen und gesellschaftlichen Status quo verbanden sich zunehmend positive Bewertungen (vgl. auch Abbildung 1).

Am Ende der Ära Adenauer akzeptierten die Bundesbürger nach allen verfügbaren Daten die Demokratie als die brauchbarste Form des politischen Zusammenlebens. Die Große Koalition trug zu einer festeren Einbindung der SPD-Anhänger ins politische System bei; der Wechsel von der CDU/CSU zur SPD als führender Regierungspartei führte nicht zu einem Rückgang der Systemunterstützung. Allerdings traten immer wieder situationsbedingte Akzeptanzschwierigkeiten auf, so in der Präsidentschaftskrise 1958/59, in der Spiegel-krise 1962 und in der Rezession 1966/67. Ungeachtet solcher kurzfristigen Einbrüche bewerten Baker, Dalton und Hildebrandt die Entwicklung der Systemunterstützung im Nachkriegsdeutschland uneingeschränkt positiv: „The longitudinal trends and Contemporary opinion measures suggest that support for the political System has now permeated the Contemporary political culture of the Federal Republic." Nach Conradt trifft diese Aussage für alle gesellschaftlichen Gruppen in annähernd gleichem Maße zu. Es gab am Beginn der siebziger Jahre in der Bundesrepublik kein zahlenmäßig bedeutsames systemkritisches Potential

Die meisten in der Literatur präsentierten Daten enden vor der Wirtschaftskrise der siebziger Jahre oder sie erfassen die folgende Periode nur lückenhaft. Sieht man von der aus heutiger Sicht belanglosen Rezession der Jahre 1966/67 ab, dann stand die Demokratie in der Bundesrepublik eigentlich erst in den vergangenen fünfzehn Jahren vor einer ernsthaften Bewährungsprobe. Seit der Erdölkrise konnte das politische System nicht mehr mit den stabilisierenden Effekten eines ungestörten wirtschaftlichen Aufschwunges rechnen. Die Ver-schlechterung der Wirtschaftslage mußte um so mehr Anlaß zu politischen Befürchtungen geben, als sie einer Phase geradezu beispielloser wirtschaftlicher Prosperität folgte, die man völlig zu Recht als das deutsche Wirtschaftswunder bezeichnet. Bekanntlich bildet sich unter solch günstigen Bedingungen in der Bevölkerung ein hohes Anspruchsniveau heraus. Wird dieser Status nicht gehalten, dann treten Enttäuschungseffekte auf. Da die Öffentlichkeit das politische System zunehmend für die wirtschaftliche Entwicklung verantwortlich macht, kann unter verschlechterten wirtschaftlichen Rahmenbedingungen eine Erosion der Systemzufriedenheit auftreten. Entsprechende Befürchtungen wurden seit der Gründung der Bundesrepublik immer wieder geäußert

Die für die zweite Hälfte der siebziger Jahre vorliegenden Resultate der empirischen Forschung widersprechen jedoch dieser Einschätzung

Zwar stimmen die in den einzelnen Studien ermittelten Daten zur Systemzufriedenheit in der Bundesrepublik nicht vollständig überein, doch läßt sich keiner der vorliegenden Untersuchungen ein Hinweis auf eine Akzeptanzkrise der bundesdeutschen Demokratie entnehmen. Lediglich in einer Erhebung, dem European Community Survey von 1973, erklärte eine knappe Mehrheit unter den Befragten, mit dem Funktionieren der Demokratie in der Bundesrepublik unzufrieden zu sein. In allen übrigen Erhebungen gab es mehr Zufriedene als Unzufriedene. Zwischen dem April 1977 und dem September 1986 führte die Forschungsgruppe Wahlen e. V. Mannheim insgesamt 58 Erhebungen durch, in denen durchschnittlich 73 Prozent der Befragten eine positive Einstellung zum politischen System erkennen ließen. Der höchste Wert wurde im Februar 1980 gemessen (86%), der niedrigste im Februar 1982 (54%). Eine ähnliche Konstellation ergibt sich aus den von anderen Forschergruppen bzw. Instituten durchgeführten Umfragen, deren Erhebungsfragen von denen der Forschungsgruppe Wahlen abweichen Selbst unter den schwierigen wirtschaftlichen Bedingungen, die seit dem Beginn der achtziger Jahre in der Bundesrepublik herrschen, übertraf der Anteil der mit dem politischen System Zufriedenen stets mehr oder minder deutlich den der politisch Unzufriedenen. Im Aggregat nahm zwar parallel mit der Verschlechterung der Wirtschaftslage die Systemzufriedenheit ab, Analysen individueller Einstellungsdaten lassen jedoch gerade auf dem Höhepunkt der Wirtschaftskrise — im Spätjahr 1982 — nur einen schwachen Zusammenhang zwischen der Bewertung der Wirtschaftslage und der Systemzufriedenheit erkennen

Insbesondere im Vergleich mit anderen westeuropäischen Staaten, die während des untersuchten Zeitraumes vor ähnlichen wirtschaftlichen Schwierigkeiten standen wie die Bundesrepublik, ist die bundesdeutsche Bevölkerung mit dem politischen System außerordentlich zufrieden. Nach den von der EG-Kommission durchgeführten Erhebungen liegt die Demokratiezufriedenheit in der Bundesrepublik im Durchschnitt der Jahre 1973 bis 1985 bei 67 Prozent und übertrifft damit z. B.den in Großbritannien ermittelten Wert um elf Prozentpunkte. Lediglich in Dänemark und in Luxemburg wurde ein vergleichbar hohes Akzeptanzniveau festgestellt (vgl. Tabelle 1). Entgegen einer weitverbreiteten Auffassung beeinflußt auch eine kritische Wirtschaftslage die Systemzufriedenheit der Bundesbürger nicht überdurchschnittlich stark. Diese beiden Größen hängen in der Bundesrepublik nicht wesentlich enger miteinander zusammen als in den anderen Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaft Darüber hinaus gab es im untersuchten Zeitraum keine gesellschaftliche Teilgruppe, in der ständig oder auch nur überwiegend negative Einstellungen zur Demokratie vorherrschten.

Zugegebenermaßen haben wir in der Demokratie-zufriedenheit nur einen groben Indikator der Systemunterstützung zur Verfügung, doch liefern differenziertere Fragen kein grundsätzlich anderes Bild. In der Wahlstudie 1980 wurde — in ziemlich wortgetreuer Umsetzung von Eastons Konzept politischer Legitimitätsüberzeugungen — ermittelt, inwieweit die politische Ordnung der Bundesrepublik dem entspreche, was der Befragte in der Politik für gut und richtig halte. Sieben von zehn Bundesbürgern gaben hierauf die Alternativen „sehr stark“ und „stark“ an. Als Legitimitätsindikatoren kann man zwei weitere, in neueren empirischen Studien eingesetzte Testfragen ansehen, in denen die „Gerechtigkeit“ und „Fairneß“ des politischen Systems beziehungsweise dessen Bereitschaft zu bewerten ist, die grundlegenden Freiheiten der Bürger zu schützen. 1980 und 1982 sprach nur eine Minderheit dem politischen System der Bundesrepublik diese Eigenschaften ab (vgl. Tabelle 2).

Deutlich kritischer bewertete die bundesdeutsche Öffentlichkeit demgegenüber die Offenheit des politischen Systems für die Mitwirkung der Bevölkerung und seine Aufnahmefähigkeit für die Interessen einzelner gesellschaftlicher Gruppen (vgl. Tabelle 2). So widersprach 1980 nur eine knappe Mehrheit der Befragten der Auffassung, das politische System der Bundesrepublik berücksichtige primär die Belange einiger weniger Interessengruppen. Noch größere Vorbehalte waren hinsichtlich der für den Durchschnittsbürger verfügbaren Partizipationschancen erkennbar. In dieser Hinsicht hielten positive und negative Einstellungen einander die Waage. Diese Daten stützen ältere Untersuchungsergebnisse des Instituts für Demoskopie in Allenbach 27), nach denen die Merkmale demokratischer Regierungsweise in den Augen der Bevölkerung in der Bundesrepublik in sehr unterschiedlichem Maße institutionalisiert sind. Auch in dieser Erhebung wurden vor allem bei den partizipativegalitären Zielen Lücken zwischen dem Wunschbild und der Wirklichkeit festgestellt. Wie bei der Frage nach der Demokratiezufriedenheit traten bei den Versuchen, die Systemorientierungen der Bundesbürger differenzierter zu erfassen, keine bemerkens nach denen die Merkmale demokratischer Regierungsweise in den Augen der Bevölkerung in der Bundesrepublik in sehr unterschiedlichem Maße institutionalisiert sind. Auch in dieser Erhebung wurden vor allem bei den partizipativegalitären Zielen Lücken zwischen dem Wunschbild und der Wirklichkeit festgestellt. Wie bei der Frage nach der Demokratiezufriedenheit traten bei den Versuchen, die Systemorientierungen der Bundesbürger differenzierter zu erfassen, keine bemerkenswerten gruppenspezifischen Besonderheiten auf.

Eine Akzeptanz-oder gar eine Legitimitätskrise des politischen Systems der Bundesrepublik läßt sich durch die verfügbaren Daten nicht belegen vielmehr bekundet die Mehrzahl unter den Bundesbürgern auch in kritischen Situationen Zustimmung zur bestehenden politischen Ordnung. Dieses Einverständnis wird allerdings nicht bedingungslos erteilt. Die Bevölkerung reagiert negativ auf eine Verschlechterung der objektiven Rahmenbedingungen, ohne jedoch dem politischen System mehrheitlich die Unterstützung zu entziehen. Einzelne Eigenschaften des politischen Regimes werden in der Öffentlichkeit unterschiedlich bewertet, und schließlich zeigen die in Tabelle 2 enthaltenen Daten sehr deutlich, daß nicht eine vorbehaltlose, sondern eher eine moderate Zustimmung zum politischen System vorherrscht. Dies geht mit einer Balance zwischen reformistischen und auf die Verteidigung des Status quo ausgerichteten Einstellungen einher 29). Bei einer systematischen Würdigung dieser Einzelbefunde erscheint es angemessen, die in der Bundesrepublik überwiegenden Systemorientierungen als „balanced judgement“ zu beschreiben, das Sniderman zutreffend als Funktionsbedingung demokratischer Politik ansieht. Seiner Auffassung nach ist die blinde Loyalität der Bevölkerung zum Staat ein Merkmal des Obrigkeitsstaates, während eine funktionsfähige Demokratie von einer ausgewogenen Mischung von Vertrauen und Kritik lebt: „What seems in order is not blind loyalty but balanced judgement: an awareness that a democratic order, whatever its virtues, will have shortcomings.“ 30)

IV. Das Demokratieverständnis der Bevölkerung in der Bundesrepublik Deutschland

Tabelle 3: Die Akzeptanz demokratischer Prinzipien in der Bundesrepublik 1968, 1979 und 1982 (die Angaben [in Prozentpunkten] beinhalten die „demokratisch“ ausgerichteten Antworten) Jeder sollte das Recht haben, für seine Meinung einzutreten, auch wenn die Mehrheit anderer Meinung ist (+) Jede demokratische Partei sollte grundsätzlich die gleiche Chance haben, an die Regierung zu kommen (+) Eine lebensfähige Demokratie ist ohne politische Opposition nicht denkbar (+) Jeder Bürger hat das Recht, für seine Üꄠ߯?

Die bislang präsentierten Daten belegen eher eine ausgeprägte Zustimmung der Bevölkerung zum politischen System der Bundesrepublik als eine Krise der politischen Ordnung. Insofern unterscheiden sich die Verhältnisse der Nachkriegszeit grundlegend von jenen in der Weimarer Republik. Nicht einmal in deren Blütezeit — in den Jahren zwischen 1924 und 1928 — dürfte sie auch nur annähernd über einen ähnlichen Rückhalt in der Öffentlichkeit verfügt haben wie die Bundesrepublik. Jedenfalls lassen die Wahlergebnisse eine solche Vermutung plausibel erscheinen.

Dennoch berechtigen die bisher vorgelegten Befunde nicht unbedingt zu der Schlußfolgerung, die demokratischen Werte und Normen seien nunmehr im Einstellungssystem der Bundesbürger fest verankert. Weder enthalten die Daten Hinweise hierauf, noch ist diese Annahme in Anbetracht der politischen Entwicklung Deutschlands in den vergangenen hundert Jahren ohne weiteres begründet. Wie Almond und Verba aufzeigten, herrschte in der Bundesrepublik noch am Ende der fünfziger Jahre der Typus einer Untertanen-kultur vor, die eher den politischen Strukturen des Obrigkeitsstaates als denen der Demokratie entsprach 31) -Es ist demnach keineswegs auszuschließen, daß zwar der Staat der Bundesrepublik von der Bevölkerung akzeptiert wird, nicht aber notwendigerweise dessen spezifisch demokratische Prägung.

Um einen Teil der empirischen Befunde zum Demokratieverständnis der Deutschen gleich vorwegzunehmen: Der „Untertan“ definiert nach Almond und Verba sein Verhältnis zur Politik in erster Linie über die Exekutivinstitutionen und über deren Leistungen 32) — gouvernemental, wie es Manfred Koch ausdrückt 33). Wenn allerdings unter den schwierigen wirt-schaftlichen Bedingungen, wie wir sie gegenwärtig vorfinden, die Systemakzeptanz auf hohem Niveau bleibt, dann sind neben diesen , Output‘-Orientierungen wohl noch andere stabilisierende Faktoren im Spiel.

Die in der Mitte der sechziger Jahre eingetretenen Veränderungen im Beteiligungsverhalten der Deutschen, die zu Recht als „partizipative Revolution“ charakterisiert wurden deuten auf einen Wandel der , Input‘-Orientierungen, d. h.der Einstellungen zur Notwendigkeit und zu den Erfolgsaussichten politischer Beteiligung, zu den Wahlen, den Parteien und den Interessenverbänden hin. Dadurch wurden die demokratisch-partizipativen Komponenten der politischen Kultur der Bundesrepublik verstärkt und Elemente der Untertanenkultur abgebaut. Die von Pross und änderen beschriebene autoritäre Konzeption der wünschenswerten Gesellschaft mit den für sie typischen Leitwerten des Kollektivismus, der Ordnung, der Anpassung und der Disziplin scheint in der Bundesrepublik so sehr an Attraktivität verloren zu haben, daß einzelne Forscher schon wieder einen Zerfall bürgerlicher Akzeptanz-, Pflicht-und Leistungswerte beklagen Insofern muß man die von Dahrendorf aufgeworfene Frage nach den Chancen liberaler Demokratie heute wohl anders beantworten als noch vor 35 Jahren

Das Demokratieverständnis der Deutschen wurde zwar in der unmittelbaren Nachkriegszeit intensiv untersucht aber dabei kam es nicht zu einer systematischen Verbindung zwischen der empirischen Forschung und der Demokratietheorie. Mittlerweile liegen einige Publikationen sowie unausgewertete Daten vor, in denen Theorie und Empirie besser miteinander verknüpft sind. In einer Arbeit aus dem Jahre 1971 versuchte Max Kaase, das Demokratieverständnis der Bundesbürger empirisch zu erfassen Er lehnte sich dabei an die Annahmen über die Merkmale demokratischer Regierungsweise an, wie wir sie beispielsweise in den einschlägigen demokratietheoretischen Arbeiten von Dahl und anderen finden Auf dieser Grundlage verwendet er fünf konstitutive Merkmale der Demokratie als Ausgangsgrößen für seine empirische Analyse des Demokratieverständnisses der Deutschen: 1. die Garantie individueller Beteiligungsrechte einschließlich des Schutzes von Minderheitenrechten;

2. die öffentliche Kontrolle politischer Herrschaft, die vor allem durch regelmäßige Wahlen mit der realen Chance des Machtwechsels erreicht wird;

3. die Anerkennung der Legitimität von Konflikten über die Ziele und Mittel .der Gesellschaftsgestaltung; 4. die Ablehnung der Gewalt als Mittel zur Realisierung politischer Ziele; 5.den Konsens über demokratische Grundwerte, der den friedlichen Konflikt über Einzelfragen erst ermöglicht. Die Zustimmung der Bevölkerung zu den ersten vier Prinzipien wurde durch eine Serie von Einstellungsfragen erfaßt (vgl. Tabelle 3); das Ausmaß des Konsenses ergibt sich aus dem Anteil an Zustimmung zu den einzelnen Aussagen. Wie man leicht feststellen kann, stehen die von Kaase untersuchten Elemente des demokratischen Überzeugungssystems in einem klaren Gegensatz zu der zuvor beschriebenen autoritären Konzeption einer politischen Ordnung. An der Zustimmung zu diesen Prinzipien läßt sich mithin ablesen, in welchem Maße sich die politischen Wertvorstellungen der Deutschen von autoritären Vorstellungsmustern entfernt und entsprechend demokratischen Prinzipien angenähert haben. Die vorgeschlagene Operationalisierung des demokratischen Bewußtseins ist auch deshalb interessant, weil sie einerseits die Einstellung zu den genannten abstrakten Prinzipien erfaßte, andererseits aber auch die Bereitschaft, diesen Prinzipien in politischen Konfliktsituationen den Vorrang vor der autoritären Option für Ordnung, Anpassung und Konfliktvermeidung einzuräumen.

Auf den ersten Blick erscheinen die von Kaase vorgelegten Ergebnisse aus dem Jahre 1968 entmutigend. So ergab sich zwar eine hohe Zustimmung zu den abstrakten Prinzipien der Meinungs-und der Demonstrationsfreiheit, des Parteienpluralismus und der Funktionalität politischer Opposition in der Demokratie. Sobald es aber um die Umsetzung dieser Grundsätze in konkretere Verhaltensnormen ging, waren nur noch bei einer Minderheit demokratische Überzeugungen anzutreffen. Zwei Beispiele belegen dies: 93% der Befragten stimmten der Aussage zu, „jeder sollte das Recht haben, für seine Meinung einzutreten, auch wenn die Mehrheit anderer Meinung ist“. Immerhin 74% gestanden dem Bürger das Recht zu, für seine Meinung notfalls auf die Straße zu gehen. Diese breite Mehrheit schmolz auf ganze 30% zusammen, sobald durch die Ausübung des Demonstrationsrechtes die öffentliche Ordnung beeinträchtigt zu werden drohte. Ähnlich ambivalent war die Einstellung zur Opposition: 89% der Befragten vertraten die Meinung, eine lebensfähige Demokratie sei ohne Opposition nicht denkbar, aber nur 28 % wiesen die These zurück, die Aufgabe der Opposition bestehe darin, die Regierung in ihrer Arbeit zu unterstützen, nicht darin, sie zu kritisieren. Auf der Ebene der Verhaltensnormen schien die „autoritäre Konzeption vom wünschenswerten Typ politischer Ordnung“ noch eine beträchtliche Anziehungskraft auszuüben.

Wiederholungsbefragungen aus den Jahren 1979 und 1982 ließen zwar insgesamt eine breitere Zustimmung zu den demokratischen Prinzipien erkennen, das Spannungsverhältnis zwischen dem abstrakten Bekenntnis zu den Funktionsprinzipien der Demokratie und dem unzulänglichen Verständnis für die damit verbundenen Verhaltensimplikationen bestand aber weiter fort.

Mit Hilfe anderer Testfragen kam Wolfgang Adrian zu einem ähnlichen Ergebnis Er faßt seine Befunde in der Feststellung zusammen, „daß für einen beachtlichen Teil der Bevölkerung Parteien, Konkurrenz und Pluralismus, vor allem aber Kritik und Opposition noch immer eher als Gefährdung des vermeintlich vorgegebenen, in Wahrheit meist elitär definierten Gemeinwohls gelten, statt sie als Garant bzw. Vehikel für Freiheit, Gleichheit und Demokratie zu begreifen und zu bejahen. Damit wird deutlich, wie wenig Einsicht in demokratische Prozeduren, die notwendig Konflikt und Kontroversen implizieren, in der sozialen Realität der Bundesrepublik verbreitet ist.“

Adrians Urteil fällt zu pessimistisch aus, insbesondere wenn man die einschlägigen Befunde in die internationale Forschung einordnet und die langfristigen historischen Entwicklungsprozesse berücksichtigt. Der angeblich typisch deutsche Autoritarismus tritt nämlich auch in anderen westlichen Staaten, selbst in „klassischen“ Demokratien wie in den USA oder in Großbritannien, auf. Lipset widmet in seinem „Political Man“ dem Unterschicht-Autoritarismus ein ganzes Kapitel, in dem er zahlreiche empirische Belege für die geringe Akzeptanz demokratischer Prinzipien in der Arbeiterschaft, der unteren Mittelschicht und der bäuerlichen Bevölkerung westlicher Staaten liefert. Schichtfaktoren beeinflussen das Verständnis für die Werte und Normen liberaler Demokratie in einem solchen Maße, daß es naheliegt, sie neben den nationalen Traditionen als einen wesentlichen, wenn nicht sogar gleichberechtigten Bestimmungsfaktor des Demokratieverständnisses zu behandeln

Amerikanische Studien belegen die Richtigkeit dieser Feststellung. Sie lassen ähnliche Strukturen erkennen, wie sie Kaase für die Bundesrepublik Deutschland ermittelte: „general consensus was found on the idea of democracy itself and on the broad principles of majority rule and minority rights, but it disappeared when these principles were put in more specific form“

Die Behauptung, im Demokratieverständnis der Deutschen habe sich letztlich nicht viel geändert, es bestehe nach wie vor ein „Mangel an politischer Kultur“ ist mit den vorhandenen empirischen Daten nicht zu belegen. Allerdings fehlen auch die zu ihrer eindeutigen Widerlegung benötigten Langzeitdaten über die demokratischen Einstellungen der deutschen Bevölkerung. Schließt man sich mangels brauchbarer Alternativen dem Vorgehen von Pross an und verwendet die Wahlergebnisse als Verhaltenskorrelate politischer Einstellungen dann sind erhebliche Zweifel angebracht, ob selbst das abstrakte Bekenntnis zur Meinungsfreiheit und zum Parteienpluralismus in früheren Phasen der politischen Entwicklung Deutschlands eine ähnlich hohe Zustimmung gefunden hätte, wie wir es in der Bundesrepublik feststellen konnten.

Die Malaise der deutschen Demokratie war in der Vergangenheit vornehmlich eine Malaise der politischen und gesellschaftlichen Führungsgruppen, die — anders als in etablierten Demokratien — demokratische Wertvorstellungen nur unzulänglich verinnerlicht hatten und statt dessen einen politischen Sonder-weg Deutschlands favorisierten. Noch Almond und Verba stellten in „The Civic Culture" ein besonders distanziertes Verhältnis des Bildungsbürgertums zur.

deutschen Nachkriegsdemokratie fest In dieser Hinsicht haben sich die Verhältnisse grundlegend verändert: demokratische Wertvorstellungen sind unter den besser gebildeten Bundesbürgern überdurchschnittlich weit verbreitet Die vorliegenden Elite-studien enthalten keine Hinweise auf ein überdurchschnittlich ausgeprägtes antidemokratisches Potential in den bundesdeutschen Führungsgruppen Soweit sie Vergleichsdaten über die Akzeptanz demokratischer Prinzipien in der Bevölkerung und bei den politischen Eliten präsentieren, bestätigen sie die aus den Vereinigten Staaten bekannten Befunde: Es sind vor allem die politischen Führungsgruppen, die sich in besonderem Maße demokratischen Prinzipien verpflichtet fühlen Auch in dieser Hinsicht scheinen sich die politischen Verhältnisse in der Bundesrepublik denen in anderen westlichen Demokratien angenähert zu haben.

V. Bedingungen des veränderten Demokratieverständnisses in der Bundesrepublik Deutschland

Jahresbände 1986 Bundeszentrale > für politische Bildung zuzügl. Versandspesen pro Jahrgang qeV Bestell-DAS PARLAMENT, Adresse: Fleischstraße 62-65, Auslieferung nach Fertigstellung und Bestelleingang Vertriebsabteilung D-55OO Trier Aus Politik und Zeitgeschichte mit komplettem Inhaltsverzeichnis nur 25, — DM Jetzt bestellen! Noch begrenzt vorrätig (Preise w. o.) Jahrgänge: 1983 -1984 -1985

Die empirische Analyse des Demokratieverständnisses und der Demokratieunterstützung in der Bundesrepublik Deutschland gewinnt ihre Aussagekraft nur im Rahmen einer Aufarbeitung des politisch-kulturellen Wandels in westlichen Demokratien. In eine solche Betrachtung sind nicht nur historische Entwicklungsprozesse, sondern auch Veränderungen in anderen Bereichen der politischen Kultur und in den politischen Verhaltensmustern der Bürger einzubeziehen.

Weitere Maßstäbe zur Beurteilung liefert der Vergleich mit anderen demokratisch verfaßten Staaten. Berücksichtigt man diesen Interpretationshinter-grund, dann verweisen sämtliche verfügbaren Indikatoren auf einen Umbruch im Demokratieverständnis der Deutschen und auf eine „Normalisierung“ ihrer Beziehungen zum demokratischen Staat. Die Institutionalisierung einer demokratischen Ordnung blieb in der Bundesrepublik nicht auf die formale, verfassungsrechtliche Ebene beschränkt; sie vollzog sich auch im politischen Bewußtsein der Bevölkerung. Brüche und Inkonsistenzen im Demokratieverständnis sind weniger Ausprägungen der „typisch deutschen“ Untertanenkultur als vielmehr Merkmale einer noch nicht abgeschlossenen Diffusion demokratischer Werte und Normen in der Öffentlichkeit, wie wir sie auch in anderen Demokratien finden.

Die kaum bestreitbaren Veränderungen im Demokratieverständnis der Deutschen legen die Frage nach den Ursachen dieses Wandels nahe. Der Aufbau eines demokratischen Institutionensystems stellt nach den Erfahrungen von Weimar lediglich eine notwendige, aber keinesfalls eine hinreichende Bedingung für die Ausbildung demokratischer Einstellungen dar. Baker, Dalton und Hildebrandt führen die Demokratisierung in Deutschland vor allem auf drei Faktorenkomplexe zurück auf das Wirtschaftswunder, auf den Intergenerationenwandel und auf die Aktivitäten der politischen Führung.

Aus meiner Sicht ist als vierter Komplex die sozioökonomische Modernisierung der Bundesrepublik zu nennen. Alle vier Phänomene wurden in der Literatur so ausgiebig erörtert, daß hier nur einige kurze Bemerkungen erforderlich sind. 1. Die politischen Folgen des deutschen Wirtschaftswunders Wirtschaftlicher Wohlstand und politische Demokratie werden in der Literatur als zwei eng miteinander verbundene Phänomene angesehen. So behauptet Lipset: „Perhaps the most common generalization linking political Systems to other aspects of society has been that democracy is related to the state of economic development. The more well-to-do a nation, the greater the chances that it will sustain democracy.“

Die Bundesrepublik stellt geradezu ein Musterbeispiel für die Fähigkeit eines politischen Systems dar, durch den Aufbau einer funktionsfähigen Wirtschaft, die Verbreitung von Massenwohlstand und die Etablierung eines umfassenden Systems sozialer Sicherheit die Unterstützung der Bevölkerung zu gewinnen. Nach anfänglicher Zurückhaltung akzeptierten die Bundesbürger den von der Regierung eingeschlagenen Kurs der „Sozialen Marktwirtschaft“, der mit einem raschen und spürbaren wirtschaftlichen Aufschwung verbunden war. Die Bundestagswahlen 1953 und 1957 ließen erkennen, daß es der amtierenden Regierung gelungen war, ihre zunächst schmale Wählerbasis auszuweiten und sich ein breites Reservoir an spezifischer politischer Unterstützung zu sichern. Deren Umwandlung in Systemvertrauen oder in diffuse Unterstützung wurde durch das anhaltend hohe ökonomische Leistungsniveau, aber auch durch den zunehmenden politischen Konsens zwischen den großen Parteien und durch die Bildung der Großen Koalition im Jahre 1966 erleichtert. Nach ihrem Eintritt in die Regierung erhielt die SPD die Gelegenheit, ihre Kompetenz auf wirtschaftspolitischem Gebiet unter Beweis zu stellen. Die rasche Überwindung der Rezession von 1966/67 wurde nicht zuletzt dem sozialdemokratischen Wirtschaftsminister Schiller zugeschrieben. Nach der Bildung der sozial-liberalen Koalition im Jahre 1969 konnte die Bundesrepublik ihre Stellung als eine der führenden Wirtschaftsmächte weiter ausbauen. Für die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit der Bundesrepublik war es unmaßgeblich, welche Partei in Bonn regierte, wie sich an der Bewertung der wirtschaftspolitischen Kompetenz von CDU/CSU und SPD zeigt. Sie wird von situativen Faktoren beeinflußt, aber nicht mehr grundsätzlich unterschiedlich beurteilt.

Bereits vor der Wirtschaftskrise der Jahre 1973/1976 war eine so weitgehende Generalisierung politischer Unterstützung erreicht, daß eine Verschlechterung der Wirtschaftslage die Systemzufriedenheit allenfalls graduell beeinträchtigte: „The decline in support for the government during the recessions of 1966— 1967 and especially 1974— 1976, for example, had little discernible effect on the trend of increased support for liberal democracy.“ 2. Die Konsequenzen des Generationenwandels Die politischen Effekte des Wirtschaftswunders wird man in erster Linie im Bereich der Demokratieunter-Stützung suchen können. Veränderungen im Staats-und Demokratieverständnis sind dagegen stärker mit dem Generationenwandel verbunden. Wie Baker, Dalton und Hildebrandt zeigen, hatten im Jahre 1953 lediglich 12 % der Bundesbürger ihre politische Sozialisation nach der Gründung der Bundesrepublik erhalten Ein Drittel hatte sein politisches Wertesystem in der Weimarer Republik ausgebildet. Alle übrigen waren in ihrer formativen Phase den autoritären politischen Symbolen des kaiserlichen Deutschlands beziehungsweise den totalitären Einflüssen des nationalsozialistischen Regimes ausgesetzt. Die Annahme, man könne die autoritären Dispositionen des größten Teils der deutschen Vorkriegsgeneration kurzfristig durch eine Reeducation-Politik abbauen, war naiv; denn die in der Jugend erworbenen politischen Überzeugungen sind nur langfristig veränderbar. Dies trifft insbesondere dann zu, wenn sie durch autoritäre Strukturen in anderen Sozialbereichen wie in der Familie, im Bildungssystem, am Arbeitsplatz und so weiter abgestützt werden. Die deutsche Untertanenkultur der Vorkriegszeit beschränkte sich keineswegs auf den politischen Bereich, sie durchzog das gesamte Sozialleben.

Die Nachkriegsentwicklung brachte neben einer Demokratisierung des politischen Systems eine Liberalisierung der Erziehungsziele, einen partnerschaftlichen Entscheidungsstil in den Familien und in Teilen der Arbeitswelt sowie eine Reform der Bildungsinstitutionen Die mittelbaren politischen Konsequenzen dieser Veränderungen liegen auf der Hand: Die in der Politik sich ausbreitenden partizipativ-liberalen Wertvorstellungen wurden durch ähnliche Entwicklungen in anderen Lebensbereichen abgestützt, die Demokratisierung des politischen Lebens wurde durch den sozialen Wandel stabilisiert. 3. Die Politik der Eliten Die politischen Konfliktstrukturen in der Bundesrepublik unterschieden sich von Anfang an grundsätzlich von jenen der Weimarer Republik. Trotz der heftigen Polarisierung der frühen fünfziger Jahre und der Periode nach der Bildung der sozialliberalen Koalition waren die Verfassungsprinzipien, die Spielregeln und die wertmäßigen Grundlagen des politischen Zusammenlebens niemals Gegenstand ernsthafter politischer Kontroversen zwischen den großen Parteien. Alle Parteien hatten, von Meinungsverschiedenheiten über die Ausgestaltung der föderativen Ordnung abgesehen, die verfassungspolitischen Grundentscheidungen des Parlamentarischen Rates mitgetragen. Innerhalb des von der Verfassung vorgegebenen Rahmens versuchten die verschiedenen politischen Gruppierungen, ihre Konzeption einer wünschenswerten Gesellschaft politisch mehrheitsfähig zu machen. Dies gelang für sämtliche politische Richtungsentscheidungen wie die Westintegration und die Marktwirtschaft, die Ostpolitik und die Politik der Inneren Reformen. Selbst die spektakulären und scheinbar grundlegenden politischen Veränderungen durch die Politik der sozialliberalen Koalition (1969) vollzogen sich bei genauerem Hinsehen gradualistisch. Sie waren in ihren Grundzügen bereits von der Großen Koalition eingeleitet worden. Die von den bundesdeutschen Parteien praktizierten Konfliktstrategien tragen nur für den oberflächlichen Beobachter stark antagonistische Züge. In der politischen Praxis ist die Balance zwischen Konsens und Konflikt keineswegs einseitig zur konfliktären Seite hin verschoben. Dieses Verhalten der politischen Führungsgruppen entspricht dem nach wie vor harmonistischen Politikverständnis der Deutschen. Es bleibt allerdings abzuwarten, ob das Auftreten der GRÜNEN zu einer erneuten Ausbildung einer Lagermentalität führt.

Nicht nur in prozeduraler, auch in inhaltlicher Hinsicht entspricht die Politik der Eliten in der Bundesrepublik weitgehend den Erwartungen der Öffentlichkeit. Baker, Dalton und Hildebrandt bescheinigen dem Führungspersonal der Bundesrepublik eine stark ausgeprägte Verantwortlichkeit gegenüber der Bevölkerung. Durch ihre moderate, responsive Politik hätten sie einen wesentlichen Beitrag zur Institutionalisierung einer demokratischen, von der Bevölkerung unterstützten Regierungsstruktur geleistet: „Whether elites have simply reacted to public moods or have actually influenced mass opinion, decisions taken by the leadership of the major parties have eased the acceptance of a democratic polity, accelerated the decline of a cleavage-based political System and hastened the transition toward an advanced industrial society.“ 4. Die Modernisierung der deutschen Gesellschaft Der Begriff „fortgeschrittene Industriegesellschaft“ überschreibt einen breiten Variabienkomplex, den Baker, Dalton und Hildebrandt in Unterschätzung seiner eigenständigen Rolle lediglich als einen Teilaspekt des Wirtschaftswunders behandeln Unter den Indikatoren der sozialen Modernisierung der Bundesrepublik verdienen drei eine besondere Beachtung als Bestimmungsfaktoren der Demokratieakzeptanz und des Abbaus der Untertanenkultur, nämlich die Verstädterung, die Veränderung der Beschäftigungsstruktur und die Öffnung des Bildungssystems.

Im Bezugsrahmen der Lipsetschen Demokratietheorie besitzt jede dieser Variablen einen eigenständigen Einfluß auf die Ausbreitung demokratischer Werte und Normen in ihrem Zusammenwirken dürften sie einen starken politischen Veränderungsschub ausgelöst haben. Zumindest für das Bildungsniveau der Bevölkerung läßt sich dies empirisch nachweisen

VI. Abschließende Bemerkung

Die Akzeptanz demokratischer Prinzipien und die Zustimmung zum demokratischen Regime in einem Lande ist nur im internationalen und im historischen Kontext angemessen zu beurteilen. Verhältnismäßig unergiebig erscheint mir dagegen die bei deutschen Politikwissenschaftlern überaus beliebte Praxis, den bestehenden Zustand an mehr oder weniger subjektiven politischen Normvorstellungen zu messen; denn im Vergleich mit solchen Idealmodellen nimmt sich die politische Wirklichkeit im Regelfall ziemlich unbefriedigend aus.

Nach den vorliegenden Daten stoßen demokratische Wertvorstellungen und Verfahrensprinzipien in der Bundesrepublik auf keine größeren Akzeptanzprobleme als in anderen westlichen Demokratien. Im Vergleich mit der Nachkriegszeit ist eine Festigung der Demokratie im Bewußtsein der Öffentlichkeit zu konstatieren. Dabei sollte man jedoch bedenkliche Einzelerscheinungen nicht übersehen, so etwa den deutlichen Rückgang in der Wahrnehmung eines uneingeschränkten Rechtes zur freien Meinungsäußerung oder die unterdurchschnittliche Demokratiezufriedenheit unter den Jugendlichen. Insgesamt aber läßt sich in international vergleichender Perspektive die These von den besonderen Demokratiedefiziten der politischen Kultur der Bundesrepublik nicht aufrechterhalten. Die Systemakzeptanz bleibt von wirtschaftlichen Krisen nicht unbeeinflußt, sie liegt aber selbst unter ungünstigen Voraussetzungen über dem in den meisten anderen westeuropäischen Staaten erreichten Niveau. Insofern haben sich die politischen Einstellungen der Deutschen weitgehend den Erfordernissen einer funktionsfähigen Demokratie angepaßt. Es besteht kein Anlaß, über den Fortbestand einer Untertanenkultur zu lamentieren, es ist aber im Lichte der Daten ebenfalls unangebracht, das „Modell Deutschland“ zu propagieren.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. Robert A. Dahl. Polyarchy. Participation and Opposition. New Haven-London 1971. S. 33 ff.

  2. Vgl. u. a. Gabriel A. Almond/Sidney Verba. The Civic Culture. Political Attitudes and Democracy in Five Nations, Boston 1965. S. 312.

  3. Die Literatur über das Scheitern der Weimarer Republik ist kaum zu überschauen. Eine knappe und prägnante soziologische Analyse dieses Vorganges enthält die Arbeit von Helge Pross, Was ist heute deutsch? Wertorientierungen in der Bundesrepublik, Reinbek 1982. S. 21 ff.

  4. Vgl. hierzu ausführlich Friedrich Karl Fromme, Von der Weimarer Reichsverfassung zum Bonner Grundgesetz. Die verfassungspolitischen Folgerungen des Parlamentarischen Rates aus Weimarer Republik und nationalsozialistischer Diktatur, Tübingen 19622.

  5. Robert A. Dahl, A Preface to Democratic Theory, Chicago 1956, S. 75 ff., bes. S. 83; ders., Dilemmas of Pluralist Democracy, New Haven-London 1982, S. 138 ff.

  6. Seymour Martin Lipset, Political Man. The Social Bases of Politics, Baltimore 1981, S. 32, Abb. 1.

  7. Vgl. ebda., S. 69.

  8. H. Pross (Anm. 3), S. 29 f.

  9. Ebda., S. 32ff.

  10. Ebda., S. 32f.

  11. Ebda., S. 35.

  12. Ebda.. S. 36.

  13. Ralf Dahrendorf, Gesellschaft und Demokratie in Deutschland, Neuauflage, München 1971. S. 22f.

  14. Ebda., S. 23; vgl. zu diesem Problem ausführlich Fritz Stern, The Failure of Illiberalism. Essays on the Political Culture of Modem Germany, New York 1972.

  15. David P. Conradt. West Germany: A Remade Political Culture. Some Evidence from Survey Archives, in: Comparative Political Studies. (1974) 7, S. 222-238. S. 227. Tabelle 1.

  16. Vgl. G. A. Almond/S. Verba (Anm. 2). S. 64.

  17. Vgl. David P. Conradt, Changing German Political Culture. in: Gabriel A. Almond/Sidney Verba (Hrsg.), The Civic Culture Revisited. An Analytic Study, Boston 1980, S. 212— 272, sowie Kendall L. Baker/Russel J. Dalton/Kai Hildebrandt, Germany Transformed: Political Culture and the New Politics, Cambridge (Mass.) —London 1981, S. 22 ff.

  18. Vgl. K. L. Baker/R. J. Dalton/K. Hildebrandt (Anm. 17), S. 23, bes. Abb. 1-1.

  19. Vgl. ebda., S. 27.

  20. Vgl. D. P. Conradt (Anm. 15), S. 230ff.

  21. Vgl. z. B. Kurt Sontheimer. Grundzüge des politischen Systems der Bundesrepublik Deutschland, München 198510. S. 118. Auf die im Vergleich mit anderen westlichen Demokratien atypisch starke Effizienzabhängigkeit der Systemorientierungen der Bundesbürger verweisen auch Manfred Berger u. a.. Legitimierung des Regierungswechsels. Eine Analyse der Bundestagswahl 1983, in: Hans-Dieter Klingemann/Max Kaase (Hrsg.), Wahlen und politischer Prozeß. Analysen aus Anlaß der Bundestagswahl 1983, Opladen 1986, S. 251— 288, S. 287.

  22. Vgl. hierzu und zu folgenden Angaben über die Demokratiezufriedenheit: Max Kaase. Systemakzeptanz in den westlichen Demokratien, in: Ulrich Matz (Hrsg.), Aktuelle Herausforderungen der repräsentativen Demokratie, Köln 1985, S. 99— 125; Oscar W. Gabriel, Politische Kultur, Postmaterialismus und Materialismus in der Bundesrepublik Deutschland, Opladen 1986, S. 279ff.; Suzanne S. Schüttemeyer, Bundestag und Bürger im Spiegel der Demoskopie. Eine Sekundäranalyse zur Parlamentarismusperzeption in der Bundesrepublik, Opladen 1986, S. 61 ff.; Dieter Fuchs, Trends politischer Unterstützung in der Bundesrepublik Deutschland, unv. Manuskript, erscheint in: Dirk Berg-Schlosser/Jakob Schissler (Hrsg.), Politische Kultur in Deutschland. Opladen 1987.

  23. Vgl. die Zusammenstellung bei Schüttemeyer (Anm. 22), S. 61 ff.

  24. Vgl. ausführlicher: Oscar W. Gabriel, Wirtschaftslage und Systemakzeptanz in der Bundesrepublik Deutschland. Papier, vorgelegt auf der Tagung der Arbeitsgruppe Wahl-und Einstellungsforschung der Deutschen Vereinigung für Politische Wissenschaft am 29. /30. April 1987 in Bamberg, S. 15ff., bes. Tabellen 3— 5.

  25. Vgl. ebda., S. 26ff., bes. Tabelle 7.

  26. Vgl. David Easton, A Systems Analysis of Political Life, New York 1965, S. 278 ff.

  27. Institut für Demoskopie Allensbach, Demokratieverankerung in der Bundesrepublik Deutschland, Allensbach 1979, S. 43.

  28. So bereits Max Kaase, Legitimitätskrise in westlichen demokratischen Industriegesellschaften: Mythos oder Realität?, in: Helmut Klages/Peter Kmieciak (Hrsg.), Wertwandel und gesellschaftlicher Wandel, Frankfurt — New York 1979, S. 328— 350.

  29. Vgl. Max Kaase, Partizipatorische Revolution — Ende der Parteien?, in: Joachim Raschke (Hrsg.), Bürger und Parteien. Ansichten und Analysen einer schwierigen Beziehung, Opladen 1982, S. 173-189.

  30. H. Pross (Anm. 3). S. 32ff.; R. Dahrendorf (Anm. 13), S. 345 ff.

  31. Vgl. vor allem Elisabeth Noelle-Neumann, Werden wir alle Proletarier? Wertewandel in unserer Gesellschaft, Zürich 1978; Helmut Klages, Wertorientierungen im Wandel. Rückblick, Gegenwartsanalyse, Prognosen, Frankfurt-New York 1984, bes. S. 17 ff.

  32. Vgl. R. Dahrendorf (Anm. 13), S. 11 ff.

  33. Vgl. vor allem Anna J. Merritt/Richard Merritt, Public Opinion in Occupied Germany, Urbana, 111., 1970; dies., Public Opinion in Semisovereign Germany, Urbana, 111., 1980.

  34. Max Kaase, Demokratische Einstellung in der Bundesrepublik Deutschland, in: Sozialwissenschaftliches Jahrbuch für Politik, Bd. 2, 1970, S. 119-326.

  35. Vgl. R. A. Dahl (Anm. 5), S. 63ff.; ders. (Anm. 1), S. 1 ff.; S. M. Lipset (Anm. 6), S. 27f.; G. Bingham Powell, Contemporary Democracies. Participation, Stability, and Violence, Cambridge (Mass.) -London 1982, S. 2 ff.

  36. Wolfgang Adrian, Demokratie als Partizipation. Versuch einer Wert-und Einstellungsanalyse, Meisenheim am Glan 1977, S. 132 ff.

  37. Ebda., S. 169.

  38. S. M. Lipset (Anm. 6), S. 87 ff.

  39. Vgl. James Prothro/Charles M. Grigg, Fundamental Principles of Democracy: Bases of Agreement and Disagreement, in: Charles F. Cnudde/Deane E. Neubauer (Hrsg.), Empirical Democratic Theory, Chicago 1969, S. 236— 252, S. 248 ff.

  40. So die These bei Peter Reichel, Politische Kultur der Bundesrepublik, Opladen 1981, S. 11.

  41. H. Pross (Anm. 3), S. 21 ff.

  42. G. A. Almond/S. Verba (Anm. 2), S. 67f., S. 81 ff.

  43. Vgl. M. Kaase (Anm. 39), S. 218f.; W. Adrian (Anm. 41), S. 253 ff.

  44. Vgl. Dieter Roth. Zum Demokratieverständnis von Eliten in der Bundesrepublik Deutschland, Frankfurt 1973; Ursula Hoffmann-Lange, Politische Einstellungsmuster in der westdeutschen Führungsschicht, Phil. Diss., Mannheim 1976; dies., Eliten und Demokratie in der Bundesrepublik, in: Max Kaase (Hrsg.), Politische Wissenschaft und politische Ordnung. Ansätze zur Theorie und Empirie demokratischer Regierungsweise. Festschrift zum 65. Geburtstag von Rudolf Wildenmann, Opladen 1986, S. 318-338, bes. 332 ff.

  45. Vgl. U. Hoffmann-Lange (Anm. 49), S. 332ff., bes S. 334, Tabelle 5.

  46. Vgl. K. L. Baker/R. J. Dalton/K. Hildebrandt (Anm. 17), S. 11 ff., S. 45ff.; ähnlich D. P. Conradt (Anm. 15), S. 256ff.

  47. S. M. Lipset (Anm. 6), S. 31.

  48. D. P. Conradt (Anm. 17), S. 263; O. W. Gabriel (Anm. 24), bes. S. 12 ff.

  49. Vgl. K. L. Baker/R. J. Dalton/K. Hildebrandt (Anm. 17), S. 12 f., 309.

  50. Näheres bei H. Klages (Anm. 36), S. 17ff., sowie: Peter Kmieciak, Wertstrukturen und Wertwandel in der Bundesrepublik. Grundlagen einer interdisziplinären empirischen Wertforschung mit einer Sekundäranalyse von Umfragedaten; Göttingen 1976.

  51. Vgl. K. L. Baker/R. J. Dalton/K. Hildebrandt (Anm. 17), S 81

  52. Ebda., S. 10.

  53. Vgl. S. M. Lipset (Anm. 6). S. 59ff., 87ff.

  54. Vgl. die Hinweise in Anm. 47.

Weitere Inhalte

Oscar W. Gabriel, Dr. rer. pol., geb. 1947; Studium der Sozialwissenschaften an den Universitäten Mainz und Hamburg; 1983 Habilitation für das Fach Politikwissenschaft an der Universität Mainz; Privatdozent und Akad. Oberrat am Institut für Politikwissenschaft der Universität Mainz. Arbeitsgebiete: Theorien und Methoden der empirischen Politikwissenschaft; Politische Soziologie westlicher Demokratien; Kommunalpolitik. Veröffentlichungen u. a.: (Hrsg.) Grundkurs Politische Theorie, Köln-Wien 1978; (Hrsg.) Bürgerbeteiligung und kommunale Demokratie, München 1983; Politische Kultur, Postmaterialismus und Materialismus in der Bundesrepublik Deutschland, Opladen 1986.