I. Ein Jahr nach Tschernobyl
Die Kontrolle des technischen Fortschritts durch den Deutschen Bundestag ist ein Mythos. Das Parlament steht der weiteren Technisierung der Gesellschaft eher stumm und passiv gegenüber. Als Gesetzgeber „hinkt“ es der technischen Entwicklung nach. Noch gibt es keine rechtliche Prüfung der Verträglichkeit neuer Technologien mit den Zielen des Grundgesetzes, auch wenn nun die Erhaltung der Umwelt als eine weitere Staatszielbestimmung in das Grundgesetz aufgenommen werden soll.
Die technischen Katastrophen des Jahres 1986 wie Challenger-Absturz, Tschernobyl und Rheinvergiftung haben einmal mehr deutlich gemacht, daß das naturwissenschaftlich-technische Fortschrittsmodell in einer Krise steckt — und das Parlament ist bislang ohnmächtig, aktiv einen Beitrag zur (Wieder) Aneignung der sozialen Dimensionen der Technikentwicklung zu leisten. Bislang gibt es kein politisches Signal, daß das demokratisch gewählte Parlament bereit und in der Lage wäre, die vielfältigen, nach den Ereignissen von Tschernobyl formulierten Nachdenklichkeiten auch durch konkrete neue Wege — jenseits der immer bezweifelbarer werdenden Trampelpfade — zu beschreiten. Zweifelsohne wird aber das Parlament an Kompetenz und Glaubwürdigkeit hinzu gewinnen müssen, will es einen Beitrag zur notwendigen Weiterentwicklung und Aufrechterhaltung der parlamentarischen Demokratie leisten angesichts neuer, vor allem technisch bedingter Anforderungen. Noch aber hat das Parlament nicht nachgewiesen, daß es bereit und in der Lage ist, den gemeinsamen politischen Willen aufzubringen, seine politische Verantwortung bei der Gestaltung der Zukunft angesichts der Risiken des weiteren Weges in einer von Großtechnologien abhängigen Gesellschaft konkret wahrzunehmen. Einen richtungsweisenden Beitrag auch des Deutschen Bundestages zur politischen, wirtschaftlichen, rechtlichen und sittlichen Orientierungsdiskussion dieser Zeit gibt es noch nicht. Das demokratisch gewählte Parlament zeichnet sich in der aufgebrochenen Diskussion über die ethische Orientierungskrise der westlichen Zivilisation vorerst noch vornehmlich durch Schweigen aus. Die weit verbreitete und sicherlich noch zunehmende Infragestellung der behaupteten Identität von technischem Fortschritt und menschlich-individuellem Glück bedarf auch einer parlamentarischen Antwort. Noch stets wurden technische Visionen — wie z. B. die „friedliche“ Nutzung der Kernenergie oder jetzt der forciert vorangetriebene Einstieg in eine vernetzte, computerisierte Informationsgesellschaft — ausschließlich nach technischen Machbarkeitskriterien beurteilt, auf den betriebs-oder volkswirtschaftlichen Nutzen hin optimiert und finanziell vom Staat gefördert. Bislang sind keine ernsthaften Ansätze zu erkennen, die diesen eingefahrenen, verengten politisch-administrativen Entscheidungsprozeß auf eine öffentlich transparente Basis stellen, um die ökologischen, sozialen, ja auch die individuell-emotionalen Folgen großtechnischer Entscheidungen frühzeitig abzuschätzen und angemessen zu berücksichtigen. Die anhaltende Krise des technischen Fortschritts entlarvt sich immer mehr als Krise eines mechanistischen Weltbildes, eines ritualisierten Entscheidungsprozesses, der tendenziell zu einer Abkoppelung von gesellschaftlichen Bedürfnissen neigt.
Zu fragen bleibt, ob das Ereignis von Tschernobyl — das soviel Nachdenklichkeit ausgelöst hat und jetzt ein Jahr zurückliegt — aus heutiger Sicht als Chance interpretiert werden kann, tatsächlich zu einer qualitativ neuen Art des politischen Umgangs von Wissenschaft, Technik, Politik und Öffentlichkeit zu kommen, um so konsensfähiger wieder Wege zu einem sozial eingebetteten technischen Fortschritt zu erschließen. An den auch bei uns aufgebrochenen Diskussionen um die Notwendigkeit einer Abschätzung der Technikfolgen soll dies im folgenden untersucht werden.
II. Risse im Weltbild
Wir leben in einer Zeit der erstaunlichsten Gleichzeitigkeiten, was sich an unserem Umgang mit der Natur deutlich ablesen läßt. — Industrielles Wachstum ist in weiten Teilen ein Wachstum auf Kosten der Natur, also in Wirklichkeit — wegen der Ausbeutung der Umwelt, des Artenrückganges, des Verlustes an genetischer Vielfalt — ein existentieller Substanzverlust Das Industriewachstum wird kontraproduktiv weil es keine „ökologische Buchhaltung“ kennt, die die ökologischen Belastungen, die industrielle Aktivitäten hervorrufen, systematisch erfaßt und betriebswirtschaftlich transparent macht. — Die Bedeutung des Umweltschutzes wird immer mehr anerkannt, das Wissen über die Umweltgefährdungen und die Bereitschaft zur Verhaltensänderung im Interesse des Schutzes der natürlichen Umwelt ist — zumindest bei uns — auf einem hohen Stand; tendenziell ist eine weitere Stärkung des Umweltbewußtseins zu erwarten Im krassen Gegensatz dazu findet in der politischen Arena die . weitverbreitete Forderung nach einem umweltbewußten Handeln des Staates keine Resonanz in Formen, die wesentlich über den rhetorisch verbrämten Laisser-faire-Politiktyp qualitativ und instrumentell hinausgehen. Es dominiert ein weiterhin konventionell operierendes Umweltmanagement in Staat, Industrie und großen Teilen der etablierten Wissenschaften — und dies angesichts einer objektiv zunehmenden Umweltdestabilisierung — Die Umweltschutzindustrie hilft einerseits durch sogenannte „end-of-the-pipe“ -Technologien mit, daß die Umweltqualität verbessert oder vorübergehend — z. B. Luftverschmutzung — stabilisiert wird Diese prinzipiell nur nachsorgende Umweltschutzindustrie ist allerdings auch ein Beispiel der Verschleuderung von volkswirtschaftlichen Ressourcen, die eingesetzt werden müssen, um etwas wieder zu erlangen, was früher selbstverständlich war.
Hätten wir — wie bei ökologischen Systemen — auch in den anthropogen erzeugten technisch-ökonomischen Systemen den natürlichen Grundsatz der „Null-Emission“ begriffen und auch technikgestaltend umgesetzt, brauchten wir heute und in unmittelbarer Zukunft keine Schuld für den bisherigen umweltbelastenden Entwicklungspfad der Industriekultur abzutragen
Offensichtlich weisen diese Beispiele unseres Umgangs mit der natürlichen Mitwelt durchgängig auf konzeptionelle Defizite hin, die — seitdem die Bedrohung unserer Lebensgrundlagen zum öffentlichen Thema geworden ist — von vielen nicht mehr länger als hinzunehmende Konsequenz des technisch-industriell geprägten Wirtschaftsprozesses angesehen wird. Zu vermuten ist, daß sich mit gleicher Logik und Qualität auch in unserem Verhältnis zur Technologie und den Prozessen der Technisierung unserer Gesellschaft mehr und mehr Unbehagen artikuliert und sich in Formen des Widerstandes manifestiert die viel damit zu tun haben, daß der allein technisch definierte Fortschrittstyp immer rascher seines Mythos entschleiert wird. Beschleunigt wird diese schon seit längerem zu beobachtende Demaskierung und Entideologisierung eines einseitigen Fortschrittsmodells durch technische Katastrophen, wie sie allein 1986 auftraten durch die Challenger-Explosion, den beinahe Super-Unfall von Tschernobyl, die chemische Vergiftung des Rheins — um nur die großen, sichtbar gewordenen technischen Zusammenbrüche anzuführen Die weitverbreitete Wissenschaftsgläubigkeit und der unkritische Technikoptimismus haben an bislang pauschal unterstellter Lösungskompetenz zweifelsohne eingebüßt. Das Konzept der „Moderne“, der jahrzehntelang beschworene Mythos eines human und ökologisch verträglichen wissenschaftlich-technischen Fortschritts steht somit auf dem Prüfstand.
Die dominierende Rationalität eines Denkens in „geschlossenen Systemen“, mithin die Tatsache eines spezifisch zersplitterten Wissenschaftssystems verhindert die Entwicklung „ganzheitlich“ angelegter Politikkonzepte Das moderne Wissensgebäude zeigt sich offensichtlich immer unfähiger, auf systemisch erzeugte Querschnittsprobleme wie Umwelt, Energie und Technikfolgen angemessen zu reagieren.
Im Rahmen des parlamentarisch-politischen Prozesses gehört die Einsetzung von Enquete-Kommissionen zu den eher traditionellen Beratungsinstrumenten, die — was zu beweisen wäre — keine neue Qualität in den rituellen Prozeß der politischen Planung bzw.der politischen Steuerungsleistungen des Parlaments einzubringen vermögen. Oder doch? Die Enquete-Kommission „Chancen und Risiken der Gentechnologie“ widmet dem Thema Technologiefolgen-Abschätzung immerhin ein eigenes Kapitel und begründet darin ihre Ansicht, „daß die in der Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages vorgesehene Institution der , Enquete-Kommission*günstige Voraussetzungen dafür bietet, parlamentseigene Technikfolgen-Abschätzung und -Bewertung durchzuführen“ Die eigens vom Deutschen Bundestag am 14. März 1985 eingesetzte Enquete-Kommission „Einschätzung und Bewertung von Technikfolgen; Gestaltung von Rahmenbedingungen der technischen Entwicklung“ empfiehlt jedoch, „dem Deutschen Bundestag die Einrichtung einer ständigen Beratungskapazität zur vorausschauenden Analyse und Bewertung von Technikfolgen“ gibt also einer festen Institutionalisierung den Vorzug gegenüber den von Fall zu Fall zu bildenden Enquete-Kommissionen. Im folgenden soll die Frage erörtert werden, ob und wieweit eine ständige Einrichtung zur vorausschauenden Analyse und Bewertung von Technikfolgen beim Deutschen Bundestag qualitativ neuartige Elemente aufweisen wird, die über das konventionelle Instrumentarium der Enquete-Kommission hinausgehen.
III. Technikfolgen und Parlamentsreform
Es gehört zu den Auffälligkeiten des Katastrophen-jahres 1986, daß — besonders nach Tschernobyl — die vielstimmig artikulierten Nachdenklichkeiten und Aufforderungen zum „Umdenken“ bislang folgenlos blieben. Diese Aussage gilt auch angesichts der Überraschung, daß es immerhin eine Enquete-Kommission des Bundestages war, welche im Sommer 1986 — also kurz nach Tschernobyl — einen mit konkreten Empfehlungen begründeten Vorschlag „Zur Institutionalisierung einer Beratungskapazität für Technikfolgen-Abschätzung und -Bewertung beim Deutschen Bundestag“ zur Entscheidung vorlegte. Ein positives Signal oder — in bezug zur aufgebrochenen Orientierungsdebatte im Zeitalter der Risiken großtechnischer Entwicklungen — nur ein zeitlich synchroner Zufall? Wohl eher letzteres! Noch im alten Jahr lehnte der 10. Deutsche Bundestag — trotz einer schon 14 Jahre dauernden parlamentarischen Debatte über die Notwendigkeit zur Steigerung seiner technologischen Kompetenzen — die ständige Einrichtung einer Analyse-und Bewertungskapazität für technische Entwicklungen beim deutschen Parlament erst einmal ab. Die Lektion aus den technischen Katastrophen des Jahres 1986 wurde also bislang nicht gelernt, wenn diese u. a. in einer Verbesserung der parlamentarischen Kompetenzen in Fragen der Technikentwicklung und -gestaltung besteht. Es wird aber wohl dem neuen Deutschen Bundestag nicht erspart bleiben, seine politischen Instrumente bezüglich technikbezogener Fragestellungen zu überprüfen, denn offensichtlich ist das bislang zur Verfügung stehende Instrument der Enquete-Kommissionen nicht ausreichend, um die notwendige Stärkung der programmatischen Gestaltungs-und Steuerungsfunktionen des Parlaments zu ermöglichen.
Im folgenden soll, in aller Kürze, die bisherige Praxis technikbezogener Enquete-Kommissionen an zwei Beispielen dahingehend untersucht werden, ob und wieweit etwaige organisatorische oder verfahrensmäßige Defizite bestehen, die ursächlich dafür sein könnten, daß das Parlament bislang nicht zu einer verbesserten Wahrnehmung seiner Kontroll-und Gestaltungskompetenzen gerade hinsichtlich der technischen Entwicklungen und deren Konsequenzen gekommen ist. Diese Mängelanalyse technikbezogener Enquete-Kommissionen erfolgt vor dem Hintergrund eines „idealtypischen“ Konzeptes von Technologiefolgen-Abschätzung (im folgenden: TA). 1. Postulate der Technikfolgen-Abschätzung „Technologiefolgen-Abschätzung“ oder „Technikfolgen-Abschätzung“, als Übersetzung von TechnologyAssessment, zielt darauf ab, — die Bedingungen und (potentiellen) Auswirkungen der Einführung und (verbreiteten) Anwendung von Technologien systematisch zu erforschen und zu bewerten, — gesellschaftliche Konfliktfelder, die durch Technikeinsatz entstehen können, zu identifizieren und zu analysieren sowie — Handlungsmöglichkeiten zur Verbesserung der jeweiligen Technologie bzw. ihrer Anwendungsmodalitäten aufzuzeigen und zu überprüfen.
Die TA soll also das verfügbare Wissen (unter Nachweis der Wissenslücken) über die Realisierungsbedingungen und Wirkungen von Technologien möglichst antizipativ, in einer tendenziell umfassenden Gesamtbilanz sowie entscheidungsorientiert darstellen. Die Betrachtungsweise ist sozusagen „querschnittlich"
TA ist keine „Behinderungsstrategie“ zur Erschwerung der Markteinführung neuer Technologien; TA ist aber auch kein Instrument einer „Durchsetzungsstrategie“ für technologische Entwicklungen. Es ist vielmehr eine Hauptaufgabe von TA, die Aufmerksamkeit auf solche potentiellen Gefahren des Einsatzes von Technologien zu lenken, „die bei herkömmlichen Planungs-und Bewertungsverfahren, z. B. Investitionsrechnungen, meist unbeachtet bleiben. Dahinter steht die Überlegung, daß das Ignorieren oder Verschweigen möglicher Nachteile und Gefahren einer Technik sich letztlich weit negativer auf die Akzeptanzbereitschaft der Bevölkerung auswirken als das frühzeitige Offenlegen potentieller Bedrohungen, die ja doch früher oder später aufgedeckt werden.“ Das „Idealkonzept“ der TA basiert auf folgenden Postulaten:
Postulat 1: Technikfolgen-Abschätzungen sollen die Realisierungsbedingungen und potentiellen Folgewirkungen der Einführung und Anwendung neuer (oder sogar noch in der Entwicklung befindlicher) bzw.der verstärkten oder modifizierten Anwendung bekannter Technologien antizipieren und damit der „Frühwarnung“ dienen. „Früherkennung“ oder „Frühwarnung“ wäre also der programmatische Kern zumindest der soge-nannten „technologie-induzierten“ TA-Untersuchungen Da die „Früherkennung“ problematisch werdender Entwicklungslinien erhebliche Prognoseprobleme mit sich bringt, ist es nicht verwunderlich, daß heute in den meisten TA-Analysen dem Entwurf von alternativen Zukünften, also von plausiblen — oder auch wünschbaren — Szenarien als Basis für Auswirkungsanalysen eine zentrale Rolle zukommt. Unter TA-Praktikern hat sich inzwischen weitgehend die Auffassung durchgesetzt, daß eine wesentliche Reduktion der „Prognoselast“ nur erreicht werden kann, wenn TA-Untersuchungen nicht als „einmalige Angelegenheit“, sondern als eine Folge wiederholter Analysen und Bewertungen — gleichsam als „Prozeß“ — konzipiert werden, jedenfalls wenn es um die Entwicklung und den Einsatz sehr weitreichender Technologien geht.
Postulat 2: Das Spektrum der Auswirkungen, die im Rahmen von TA-Analysen zu identifizieren, abzuschätzen und zu bewerten sind, soll „umfassend“ sein.
Tatsache ist, daß „umfassende“ TA-Untersuchungen aus praktischen Gründen (Zeit-und Mittelaufwand) meist undurchführbar sind. Einen gewissen Ausweg bietet hier das Konzept der „Partialanalysen“, das darauf hinausläuft, zunächst in einer Kurzstudie („Mini-TA“) dominierende und besonders analysebedürftige Auswirkungsbereiche der zu betrachtenden Technologie zu identifizieren, um anschließend diese Bereiche partiell abschätzen zu lassen.
Postulat 3: Technikfolgen-Abschätzungen sollen „partizipatorisch“ sein. Das heißt, daß eine breite Beteiligung der von den Folgen der Technologieanwendungen betroffenen gesellschaftlichen Gruppen angestrebt werden soll.
Diese Forderung zielt ab auf die Nutzbarmachung des Wissens von Betroffenen als eine unerläßliche Voraussetzung für realistische TA-Analysen. Hinzu kommt, daß bestimmte Auswirkungen einer Technologieanwendung dann ernst vielfach erst genommen werden, wenn eine Gruppe von Betroffenen auf ihrer Thematisierung besteht. Auch ist es sicherlich richtig, daß der Gefahr der Manipulation durch bestimmte Interessen am besten durch die aktive Beteiligung vieler betroffener Gruppen und Personen entgegengewirkt werden kann.
Postulat 4: Technikfolgen-Abschätzungen sollen „entscheidungsorientiert“ sein, d. h. sie sollen durch das Einbringen von problemorientiertem Wissen über technische Entwicklungen und Programme in Prozesse der Entscheidungsfindung das Reflexionsund Rationalitätsniveau von Entscheidungsträgern erhöhen. Sie sollen alternative Maßnahmen oder Maßnahmebündel (Handlungsoptionen) aufzeigen und überprüfen.
Deutlich rückt hiermit die Dimension der „Umsetzung“ oder, konkreter, der organisierten Interaktion zwischen den wechselnden Informationsbedürfnissen des Parlaments und dem wissenschaftlicher Rationalität gehorchendem Abschätzungsprozeß in den Vordergrund. Gerade wenn es um die Unterstützung der Legislative geht, hat über die Vermittlung von Orientierungswissen eine Steigerung des Problembewußtseins im Vordergrund zu stehen, was mittelbar wohl zu der gewünschten Verbesserung der Problemlösungskompetenz des Parlaments führen sollte. Notwendig wäre also ein wissenschaftlich abgestütztes Informations-bzw. Wissensmanagement beim Deutschen Bundestag.
Die Erfahrungen in den USA zeigen, daß diese Interaktion zwischen Parlamentariern und parlamentseigenen TA-Analytikern nicht erst nach Vorlage eines umfangreichen Abschlußberichtes sinnvollerweise zu beginnen hat, sondern als kontinuierlicher Diskussionsprozeß organisiert werden müßte. Das heißt, es stellt sich stets die Aufgabe, die Verknüpfung zwischen den wissenschaftlichen Analyseprozessen der TA und den politischen Entscheidungsprozessen angesichts beträchtlicher Hindernisse — z. B.der unterschiedlichen Zeitperspektiven, Sprachebenen von Wissenschaft und Entscheidungsträgern — effektiv zu gestalten, ohne daß sich die Grenzen verwischen. Das Funktionieren dieser Interaktion ist eine wichtige Voraussetzung für die Erfüllung des Postulates der Entscheidungsorientierung von Technologiefolgen-Abschätzungen. 2. Zur Analyse technikbezogener Enquete-Kommissionen Enquete-Kommissionen sind ein allgemeines Beratungsinstrument des Parlamentes für die Behandlung umfassender Themen-und Aufgabenkomplexe und damit keine für Technologiefolgen-Abschätzungen spezialisierte Beratungseinrichtungen; sie haben sich in den letzten Jahren aber zur Spezialform parlamentarischer Beschäftigung mit Fragen der Gestaltung des technischen Wandels und seiner ökonomischen, sozialen und zum Teil auch ökologischen Folgen entwickelt. Von den seit 1979 eingesetzten fünf Enquete-Kommissionen sind vier technikbezogen. Diese Kommissionen sind: — Zukünftige Kernenergie-Politik (1979— 1980), (1981-1983); — Informations-und Kommunikationstechniken (1981-1983); — Gentechnologie (1984— 1986); — Technologiefolgen-Abschätzung (1985— 1986).
Allein schon die Häufung technikbezogener Aufgabenstellungen von Enquete-Kommissionen in den letzten drei Jahren scheint einen offenbar gewachsenen Beratungsbedarf des Parlaments hinsichtlich dieses Themenkomplexes anzuzeigen, der im Rahmen des normalen „Parlamentsbetriebes“ nicht mehr zu befriedigen ist, sondern die Nutzung des Instruments „Enquete-Kommission“ nahelegt. Die Häufung der technikbezogenen Enquete-Themen ist ferner als Indikator einer gestiegenen parlamentarischen Bereitschaft zu interpretieren, sich mit längerfristig ausgerichteten Gestaltungs-und Kontrollmöglichkeiten technischer Entwicklungen zu befassen
Nicht zu leugnen ist, daß technikbezogene Enquete-Kommissionen des Deutschen Bundestages u. a. wohl auch als parlamentarischer Reflex der in den Jahren nach 1975 entstandenen außer-parlamentarischen Bewegung verstanden werden können. Gerade die Einsetzung der Enquete-Kommission „Kernenergie“ dürfte stark von dem Wunsche des Parlaments bestimmt gewesen sein, die „auf der Straße“ stattfindende öffentliche „Volksdiskussion“ über das Pro und Contra einer „friedlichen“ Nutzung der Kernenergie ins Parlament zurückzuholen, um damit wieder mehr Kompetenz und Glaubwürdigkeit bei großen technologie-politisehen Entscheidungen demonstrieren zu können
Bislang ist dieser Wunsch nicht in Erfüllung gegangen. Auch weitere technikbezogene Enquete-Kommissionen haben das Anwachsen der außerparlamentarischen Opposition nicht verhindern können. Bislang wird dem Parlament offenbar nicht zugemutet, als Anwalt sozialer Bedürfnisse gestaltend in technokratische Entscheidungsprozesse, in die weitere Technisierung der Gesellschaft einzugreifen. Der durch Parlamentsinitiativen nicht beeinflußte rasante Einstieg in die computerisierte Gesellschaft ist ein erneuter Beleg dafür. Erneut wird offensichtlich nur den Meinungen von Experten aus Industrie, Wissenschaft und Exekutive gefolgt. Zweifelsohne vorhandenes Folgewissen über die sozialen und individuellen Konsequenzen einer Informatisierung der Gesellschaft sind für die Zwecke des Parlaments nicht aufbereitet und gezielt abrufbar
Im folgenden sollen beispielhaft die Enquete-Kommissionen „Zukünftige Kernenergie-Politik“ und „Gentechnologie“ bezüglich ihrer TA-Relevanz, aber vor allem im Hinblick auf ihre Nutzbarkeit zur Stärkung von parlamentarischen Gestaltungskompetenzen analysiert werden.
Die Enquete-Kommission „Zukünftige Kernenergie-Politik“ wurde am März 1979 vom Deutschen Bundestag eingesetzt und hatte u. a. „den Auftrag zu untersuchen, darzustellen und zu bewerten, ob die langfristige Nutzung der Kernenergie eine Notwendigkeit ist oder ob auch die Möglichkeit besteht bzw. geschaffen werden kann, ggf. ohne Kernenergie zu leben“ 29).
Die Enquete-Kommission „Gentechnologie“ wurde am 29. Juni 1984 eingesetzt, u. a. mit dem Ziel, „gentechnologische und damit im Zusammenhang stehend neue biotechnologische Forschungen in ihrer sich zur Zeit abzeichnenden schwerpunktmäßigen Anwendung vor allem in den Bereichen Gesundheit, Ernährung, Rohstoff-, Energiegewin-nung und Umweltschutz in ihren Chancen und Risiken darzustellen“
Aus den Berichten beider Enquete-Kommissionen läßt sich ablesen, daß es im Rahmen der Informationsgewinnungs-, Abschätzungs-und Bewertungsprozesse von Enquete-Kommissionen möglich ist, die o. a. TA-Postulate nur mehr oder weniger vollständig zu erfüllen:
Postulat 1: Antizipation der Realisierungsbedingungen und Folgewirkungen neuer bzw. alternativer Technologien
Zeichnet sich die Enquete-Kommission „Kernenergie“ durch das beispielhafte Aufzeigen und Durchrechnen alternativer Energiepfade aus, so muß sich die Enquete-Kommission „Gentechnologie“ entgegenhalten lassen, keine Alternativen darüber aufzuzeigen, ob es nicht doch zu dem prinzipiellen Einverständnis in das Verfügungsrecht des Menschen zum Eingriff in die Natur andere — eben alternative — Verhaltens-und Orientierungsmuster mit — eben auch anderen — politischen Handlungsempfehlungen gibt.
Gemeinsam ist aber beiden Enquete-Kommissionen, daß der von ihnen analysierte technische Prozeß nur ausschnittsweise, d. h. für die begrenzte Dauer der Einsetzung der Enquete-Kommission betrachtet wurde. Von einem ständigen „Monitoring“, also einer ständigen weiteren Beobachtung und Bewertung der technologischen Dynamik in beiden Technikfeldern kann so lange nicht gesprochen werden, als es nicht erneut themenspezifische Enquete-Kommissionen hierzu gibt.
Fazit: Enquete-Kommissionen sind ihrer Bestimmung nach prinzipiell ungeeignet, legislaturperiodenübergreifende technische Entwicklungsprozesse einem permanenten Analyse-und Bewertungsverfahren zu unterziehen. Sie sind instrumentell relativ ungeeignet, als „Frühwarn-Indikatoren“ eingesetzt zu werden, wenn die Maxime gilt, daß sich vor allem auch die Gesetzgebung flexibel, d. h. gemäß den sich stetig verändernden technologischen Prozessen wandeln müßte, will sie nicht weiter diesen Entwicklungen nachhinken. Im Rahmen der Tätigkeiten von Enquete-Kommissionen ist die Erarbeitung alternativer Zukünfte und darauf jeweils abzielender alternativer Handlungsoptionen möglich.
Postulat 2: Umfassende Technikfolgen-Abschätzung Der Abschlußbericht der Enquete-Kommission „Kernenergie“ kann — bei strenger Auslegung der Auflage „umfassende Analyse“ — nicht als Auswirkungsstudie betrachtet werden. Der Schwerpunkt der Kommissionsaufgabe konzentrierte sich darauf, „die künftigen Entscheidungsmöglichkeiten und -notwendigkeiten der Energiepolitik unter ökologischen, ökonomischen und Sicherheitsgesichtspunkten . . . darzustellen, um Empfehlungen für entsprechende Entscheidungen zu erarbeiten"
Ausdrücklich versteht sich dagegen der Abschlußbericht der Enquete-Kommission „Gentechnologie“ als Beitrag zur Technikfolgen-Abschätzung. Diese Kommission hat sich bemüht, die Diskussion der wahrscheinlichen Folgen der Anwendung der Gentechnologie in den vom Parlament vorgegebenen Auswirkungsfeldern zu führen (z. B. Gesundheit, Ernährung, Umwelt) und im Hinblick auf ökonomische, ökologische, rechtliche und gesellschaftliche Auswirkungen abzuschätzen.
Fazit:'Im Rahmen von technikbezogenen Enquete-Kommissionen ist es möglich, „umfassende Analysen der Auswirkungen“ zu erarbeiten.
Postulat 3: Technikfolgen-Abschätzungen sollen partizipatorisch sein Grundsätzlich läßt sich das Postulat einer partizipatorischen TA-Analyse aufteilen in — die Beteiligung von Betroffenen bzw. von Sachverständigen betroffener gesellschaftlicher Gruppen und — die Beteiligung der Öffentlichkeit im Sinne einer stetigen Transparenz des TA-Prozesses.
Beide Enquete-Kommissionen sind nachweislich ihrer Beratungspraxis diesem Anliegen nur bezüglich der Beteiligung von Sachverständigen spezifisch ausgewählter betroffener gesellschaftlicher Gruppen nachgekommen.
Fazit: Der Anspruch des Postulates der Partizipation von betroffenen gesellschaftlichen Gruppen bzw. von potentiellen Folgen neuer Technologien Betroffener und der öffentlichen Transparenz des Bewertungsprozesses wird von beiden Enquete-Kommissionen nicht erfüllt. Dieses Ergebnis ist nicht zuletzt Reflex unserer politischen Kultur, die die „sachliche“ Diskussion hinter „verschlossenen Türen“ der Einbeziehung des zum Teil auch emotionalen Engagements von Betroffenen vorzieht. Insofern also kein Spezifikum parlamentarischer Enquete-Kommissionen.
Postulat 4: Technikfolgen-Abschätzungen sollen entscheidungsorientiert sein Enquete-Kommissionen legen ihre umfangreichen Abschlußberichte mit mehr oder weniger konkreten politisch nutzbaren Empfehlungen zumeist am Ende der Wahlperiode auf den Tisch des Parlaments — um sich dann aufzulösen. Das konkrete Aufgreifen für wichtig gehaltener Ergebnisse in der nächsten Wahlperiode bleibt vorrangig politischen „Einzelkämpfern“ überlassen, die mit persönlichem Interesse und Engagement die „Sache“ weiter verfolgen.
In organisierter Form geschieht dies durch formale Überweisung an fachlich betroffene BT-Ausschüsse. Da es im Parlament kein politisches Management bei der Behandlung von „querschnittlichen“, also vernetzten Problemlagen gibt, bleibt die organisierte Einbringung und Nutzung der Empfehlungen von Enquete-Kommissionen für die parlamentarische Gestaltung spezifischer Politikintentionen wieder bei einzelnen Parlamentariern „hängen“, die in der Regel kaum mehr als das Aufgabenprofil „ihres“ Ausschusses kompetent wahrnehmen können. Was in welchen Ausschüssen zu welchem Zeitpunkt beraten werden soll, ist auf der Ebene der einzelnen Ausschüsse festgelegt worden, ist aber auf jeden Fall abgelöst von den Intentionen und Planungsvorstellungen anderer, sachlich mit-beratender Ausschüsse. Bei politisch brisanten Themen diktiert — über die Mehrheitsfraktion — sogar die Exekutive die Reihenfolge der Beratungsgegenstände. Dies bedeutet letztlich, daß eigentlich nur „ganzheitlich“ definierbare und zu steuernde bzw. zu lösende Zusammenhänge — wie z. B. die Technikfolgen — gemäß den nach klassischem Muster eindimensional-fachlich strukturierten Fachausschußprinzipien des Parlaments abgearbeitet bzw. in „Einzelpakete“ aufgelöst werden.
So wird vorübergehend angehäufte Komplexität wieder reduziert — eine Tatsache, die die Einsetzung von Enquete-Kommissionen eigentlich wieder ad absurdum führt, sollen diese doch vorrangig komplexes — auch alternatives — Wissen strukturieren, um so einen Beitrag zur Lösung eben zumeist querschnittlicher technikbezogener Problemlagen zu liefern. Daß die Ergebnisse von Enquete-Kommissionen indirekt doch ihre Wirkungen haben, zeigt sich darin, daß es vor allem die Exekutive ist, die sich das parlamentarisch erarbeitete Wissen für ihre Argumentationen und Begründungen zunutze macht. Die eigentliche Absicht des Parlaments, seine Kontroll-und Gestaltungskompetenz aktiv auf der Grundlage spezifischer Empfehlungen in einem konkreten Politikfeld gegenüber der Exekutive wahrzunehmen, wird so jedoch nicht erreicht.
Fazit und Gesamtbilanz Enquete-Kommissionen sind kein ausreichendes instrumentelles Medium zur Verbesserung der politischen Problemlösungskapazitäten des Parlaments; sie sind ein bislang unvollständig gebliebener Ansatz, die parlamentarischen Kompetenzen bei technikbezogenen Fragestellungen zu erhöhen.
Enquete-Kommissionen sind Hilfsinstrumente zur Strukturierung vorhandenen Wissens und liefern einen Beitrag zur Aufklärung der Grundlagen und Gestaltungsansätze für technische Entwicklungen.
Sie können deshalb — zeitlich begrenzt — öffentliche Aufmerksamkeit erreichen; sie können durchaus Impulse für weitere Forschungsarbeiten liefern;
ihre Ergebnisse können zur Grundlage von politischen Diskussionen in Parteien und in der politischen Bildung werden. Sie haben aber auf die „Diffusität“ des politischen Prozesses — vom Typ „Durchwursteln“ — keinen Einfluß. In welche Richtung die politische Suche nach Lösungswegen letztlich geht, folgt eher vielfältigen anderen Faktoren denn der Rationalität der Argumente in abgeschlossenen Enquete-Berichten. Es fehlt eine „Verlebendigung“ geschriebener Empfehlungen im Sinne dessen, daß diese in Form von Anhörungen, Vorträgen, Seminaren und vertraulichen Gesprächen den Mitgliedern spezifisch davon betroffener Fachausschüsse vermittelt werden könnten. Die Empfehlungen von Enquete-Kommissionen bleiben politisch „steril“, da es im parlamentarischen Prozeß des Deutschen Bundestages leider nur wenige Möglichkeiten gibt, zu einem parteiunabhängigen, loyalen und vertrauensvollen Gedankenaustausch zu kommen.
Die Gründe dafür sind auch in strukturellen Defiziten der politisch-parlamentarischen Problembearbeitungs-und Beratungspraxis zu vermuten.
Solange die prozeduralen Formen der Politikformulierung des Parlaments — d. h. vorrangig wegen seiner ressort-und nicht problemorientierten Arbeits-und Organisationsprinzipien — keine Änderungen im Hinblick auf ein „komplexeres“ politisches Problemumfeld akzeptieren, so lange werden auch die Intentionen von (technikbezogenen) Enquete-Kommissionen nicht wirklich aufgegriffen werden können.
Es ist weiterhin vorrangig die Exekutive und eine einschlägig interessierte Öffentlichkeit, die sich die für die Zwecke des Parlaments erarbeiteten Ergebnisse nutzbar macht. Von einem ursprünglich beabsichtigten Zugewinn an rechtlicher Gestaltungskompetenz des Gesetzgebers auf der Grundlage intensiver und stetiger Abschätzungsprozesse kann keine Rede sein. Angesichts dieses Befundes bietet es sich an, den Vorschlag zur Einrichtung einer ständigen Analysekapazität für Technikfolgen beim Parlament als strukturell notwendigen Unterbau zur Praxis von Enquete-Kommissionen zu begreifen, um dies als neuen wichtigen Teil der Diskussionen über eine notwendige Reform des Parlaments zu bewerten.
IV. Technikfolgen-Abschätzung-ein Instrument der Parlamentsreform
Das Parlament hat sich bislang nur zögernd und nicht selbstbewußt und konsequent von obrigkeitsstaatlichen Strukturen befreit. Viele halten es in unserer politischen Kultur immer noch für selbstverständlich, daß Gesetzesentwürfe überwiegend von der Exekutive und nicht vom eigentlichen Gesetzgeber kommen Die 1984 im Deutschen Bundestag gegründete „Ad-hoc-Kommission Parlamentsreform“ sieht ein vorrangiges Krisensymptom des heutigen Parlamentarismus in dem „Übergewicht von Regierung und Exekutive gegenüber dem Parlament infolge unzureichender Kontroll-und Informationsmöglichkeiten, unzulänglicher Ausstattung des Parlaments und Verreglementierung der parlamentarischen Abläufe“ Hinter der Aufforderung „Eine Parlamentarisierung der Parlamente tut not!“ (H. Hamm-Brücher) steckt denn auch wohl das Unbehagen vieler Abgeordneter, daß es „keine persönliche Mitverantwortung für das Gesetzgebungsverfahren bei der politischen Willensbildung und bei der Kontrolle der Regierung und Exekutive“ gibt
Den manifesten Tendenzen zur politischen Anonymisierung der einzelnen Abgeordneten soll mit einer Stärkung der „Position der Legislative gegenüber der Exekutive“ begegnet werden. Mit einer Reihe praktischer Verbesserungsvorschläge versucht die Kommission Parlamentsreform die öffentliche Wirksamkeit des Parlaments zu erhöhen. Dabei handelt es sich um allgemeine, das gesamte Parlament betreffende Vorschläge, die u. a. auf das Rederecht, die Berichterstattung aus Kabinettsitzungen oder auf den Zugang zu Entscheidungsgrundlagen der Regierung abzielen In spezifischer Weise — nämlich bezüglich einer Stärkung der gesamtparlamentarischen Verantwortung im Umgang mit Fragen des technisch-gesellschaftlichen Wandels — zielen aber auch die Vorschläge der Enquete-Kommission „Technikfolgen-Abschätzung“ in die gleiche Richtung. Beiden parlamentarischen Kommissionen geht es um ein identisches Anliegen: Die Glaubwürdigkeit des Parlaments bei der Wahrnehmung seines Kontroll-und Gestaltungsauftrages — insbesondere durch die Bewältigung oder vorbeugende Berücksichtigung der Folgen des technischen Fortschritts — zu erhöhen.
Seit 1973 diskutiert der Deutsche Bundestag schon das Pro und Kontra einer parlamentarischen Einrichtung für Technikfolgen-Abschätzung — nach amerikanischem Vorbild und übertragen auf unsere Verhältnisse. Stets war es die CDU/CSU — als Oppositionspartei —, die sich zunächst sogar für ein „Amt zur Bewertung technischer Entwicklungen“ einsetzte; stets waren es Abgeordnete der damaligen Regierungsfraktionen, die solche Anträge ablehnten Der heutige Bundesminister für Forschung und Technologie, Heinz Riesenhuber, setzte sich als damaliger Oppositionspolitiker eindeutig für eine Stärkung der parlamentarischen technologieorientierten Beratungskompetenzen ein: „Das Parlament und sein Forschungsausschuß haben ein Sekretariat mit zwei Mitarbeitern; im wissenschaftlichen Dienst helfen uns fünf Mitarbeiter, in den Fraktionen je ein Referent auf diesem Gebiet. Demgegenüber steht das Bundesministerium für Forschung und Technologie mit 1 300 Mitarbeitern im eigenen Haus und bei den Projektträgern, demgegenüber steht der umfassende Sachverstand der Großforschungseinrichtungen, der Forschungseinrichtungen an den Universitäten, der Max-Planck-Institute und andere“, was dazu führe, daß der „Ausschuß für Forschung und Technologie dem Herrschaftswissen der Exekutive nahezu waffenlos ausgeliefert“ sei
In der kürzlich zu Ende gegangenen 10. Wahlperiode gab es immerhin eine neue Variante, das Thema Technikfolgen-Abschätzung beim Deutschen Bundestag aktuell zu halten: Am 14. März 1985 setzte das Parlament eine Enquete-Kommission „Einschätzung und Bewertung von Technikfolgen; Gestaltung von Rahmenbedingungen der technischen Entwicklung“ ein, die — bis zum Ende der Wahlperiode und zumal noch im Wahlkampfjahr 1986 — folgende Aufgaben gleichzeitig lösen sollte:
Arbeitsfeld 1: Erarbeitung eines Vorschlages, in welcher Form die Aufgabe der Abschätzung und Bewertung von Technikfolgen beim Deutschen Bundestag weiterhin erfüllt werden soll;
Arbeitsfeld 2: Untersuchung beispielhafter technikbezogener Problemfelder;
Arbeitsfeld 3: Sammlung von Vorschlägen für bestimmte Techniken und Problemfelder, deren vorausschauende Analyse und Bewertung erste Aufgabe einer zukünftigen Einrichtung für Technikfolgen-Abschätzung und -Bewertung beim Parlament sein könnte.
Es wundert nicht, daß sich die Kommission vorrangig mit dem Arbeitsfeld 1 befaßte und am 14. Juli 1986 den schon erwähnten Vorschlag „Zur Institutionalisierung einer Beratungskapazität für Technikfolgen-Abschätzung und -Bewertung beim Deutschen Bundestag“ vorlegte Eingezwängt zwischen dem weiten Anspruch des Auftrages und den zeitlich eng begrenzten Möglichkeiten gab die Kommission in ihrem am 21. Januar 1986 vorgelegten „Zwischenbericht: Zum Stand der Arbeit“ zu erkennen, daß erst eine im 11. Deutschen Bundestag neu einzusetzende Enquete-Kommission in der Lage sein könne, insbesondere das Arbeitsfeld 2 in angemessener Weise einzulösen; d. h., erst in der jetzt angelaufenen neuen Wahlperiode wird Gelegenheit sein, das „Herzstück“ einer ständigen Beratungskapazität zur Technikfolgen-Abschätzung und -Bewertung beim Parlament mit Leben zu füllen, nämlich nach Kommunikations-und Koordinationsformen zum inhaltlichen Transfer von erarbeitetem Wissen ins Parlament zu suchen — wobei die Erfahrungen in den USA Vorbild sein dürften.
An diesem Punkt nun verläuft exakt die Nahtstelle zur Einbettung der Intentionen einer parlamentarischen technologischen Beratungskapazität mit dem Anliegen der Parlamentsreform, womit im besonderen auch das oft so problematische Verhältnis von Wissenschaft und Politik angesprochen ist. So schlüssig wie sozialwissenschaftliche Analysen belegen, daß es eine „strukturelle Diskrepanz zwischen wissenschaftlicher und politischer Rationalität gibt“ und in demokratischen Gesellschaften ein vielfach gebrochener und vermittelter Wirkungsund Entscheidungsprozeß die Realität ist so sicher ist allerdings auch, daß im Spannungsverhältnis zwischen dem „Primat der Politik“ und dem „Primat der Wissenschaft“ eine institutionell abgesicherte Technikfolgen-Abschätzung beim Parlament nur dann eine Chance hat, als instrumentelle Unterstützung der Parlamentsreform akzeptiert zu werden, wenn gesichert ist, daß neben der Notwendigkeit „zur kommunikativen Annäherung von Wissenschaft und Politik keine Verwischung der Grenzen zwischen wissenschaftlicher Wahrheitsorientierung und politischem Informationsinteresse auftritt: ein, wie die Technikfolgen-Abschätzung
Praxis zeigt, nicht immer leichtes, gleichzeitig aber notwendiges Unterfangen“ Aus diesem Grundsatz sind organisierbare Lehren zu ziehen, gerade auch im Hinblick auf die Fähigkeiten des Parlaments, seine Kompetenzen in der Behandlung technikbezogener Fragestellungen — über die Möglichkeiten von Enquete-Kommissionen hinaus, aber auf jeden Fall unter dem Dach der Parlamentsreform — strukturell zu verbessern. Angesichts des parlamentarischen Defizits an Orientierungswissen wird deshalb im Parlament auch die Möglichkeit zum Rückgriff auf weltweite Datenbanken, der sich abzeichnende Einsatz von „Parlakom“ eine effektivere Nutzung der parlamentarischen Anhörungen sowie eine Professionalisierung des Managements von Enquete-Kommissionen nicht verhindern können, daß Lücken bleiben, die den Bedarf nach wissenschaftlich fundierter Technikfolgen-Abschätzung wecken. Diese Lücken sind durch die bloße Zusammenstellung des Wissensbestandes — wie dies der wissenschaftliche Dienst leistet — keineswegs zu schließen. Vielmehr bedürfen die vorhandenen Daten und Informationen vielfältiger Verknüpfungsschritte in doppelter Hinsicht: Technikfolgen-Abschätzung beim Deutschen Bundestag hat in enger Kooperation mit einem wissenschaftlichen Netzwerk von Forschungsstätten, Normenausschüssen usw. das Produkt — den Abschätzungs-Prozeß — zu initiieren, zu begleiten, und dies in stetigem Kontakt mit den parlamentarischen Ausschußsekretariaten, den Fraktionsmitarbeitern, vielleicht sogar mit einzelnen am Thema interessierten Abgeordneten. Technikfolgen-Abschätzung im Deutschen Bundestag hätte ferner die Aufgabe, politische Handlungsmöglichkeiten zu untersuchen und den abgeschätzten Auswirkungen der jeweiligen Technik so zuzuordnen, daß den politischen Entscheidungsträgern die damit erreichbaren Optionen präsentiert werden können.
Es wird sich dabei sicherlich sehr bald zeigen, ob und wieweit die gegenwärtigen Forschungsstrukturen überhaupt geeignet sind, diesen Anforderungen des politischen Prozesses zu genügen. Ebenso wird sich zeigen, ob und wieweit die den parlamentarischen Beratungsprozeß stützende Infrastruktur des Deutschen Bundestages und der Fraktionen ausrei-chen wird, zu einer notwendigen Frühkoordinierung der politischen Aufgabenplanung, zu einer systematischen Berücksichtigung von Folge-und Gestaltungswissen bei den Beratungsgegenständen zu kommen. Die Ermittlung prozeduraler Formen, wie der „Politikbereich“ des Parlaments (Ausschußsekretariate, Fraktionen und Abgeordnete) in den Prozeß der Erarbeitung von Abschätzungswissen so eingebunden werden kann, daß es zu einem flexiblen Transfer von Informationen und Wissen aus dem wissenschaftlichen in den politischen Prozeß kommt, wird die eigentliche Anstrengung werden. Daß dieser Transfer nur durch eine ständige Beratungskapazität im Deutschen Bundestag zu leisten sein wird, hat die Enquete-Kommission Technikfolgen-Abschätzung erkannt und begründet.
Wenn sich das Parlament nunmehr prinzipiell auch den Technikfolgen und nicht nur wie bisher der „blinden“ Technikförderung zuwenden will, wird es letztlich nicht umhin kommen, aus den mittlerweile fruchtbaren Erfahrungen in den USA zu lernen. Eine mittelbare Konsequenz könnte dann sein, daß die daraus folgende institutionalisierte Form einer Technikfolgen-Abschätzung und -Bewertung von ihren innerparlamentarischen Wirkungen her auch die darüber liegenden Intentionen der Parlamentsreform vorantreiben wird.
V. Ausblick
Nur auf den ersten Blick stimmt es nachdenklich, daß sich jetzt auch führende Vertreter der deutschen Industrie ausdrücklich für die Einrichtung einer Beratungskapazität für Technikfolgen beim Deutschen Bundestag einsetzen. Der Vorstandsvorsitzende der Daimler-Benz-AG plädierte z. B. dafür, „daß sich die deutsche Wirtschaft der politischen Initiative, wie sie sich im Deutschen Bundestag zur Technikfolgen-Abschätzung abbildet, nicht verweigern darf“ Skeptiker werden mit diesem Wunsch vielleicht die Schlußfolgerung verbinden, Technikfolgen-Abschätzung im politischen Raum solle letztlich doch wohl nur ein legitimationsstabilisierendes „Schmiermittel“ sein, um die gesellschaftliche Akzeptanz neuer Technologien — jetzt versehen mit einem parlamentarischen Gütesiegel — zu erhöhen. Aber es gibt auch eine eher pragmatisch als ideologisch anmutende Interpretation: Könnte es nicht vielmehr sein, daß bei weitblickenden Industrieführern — gerade nach Tschernobyl — die Botschaft angekommen ist, daß der absehbare Wandel unserer industriellen Zivilisation in Richtung „Hochtechnologie-Gesellschaft“ nicht gegen den Widerstand aus der Bevölkerung durchgesetzt werden kann?
Die Erhaltung der politischen Handlungsfähigkeit in einer demokratischen Gesellschaft setzt Lernfähigkeit voraus. Nur eine sozial-und verfassungsverträgliche Technikgestaltung bietet eine Chance, zu Konsensformen zu kommen, die die Gegensätze unterschiedlicher gesellschaftlicher Interessenlagen dort wieder versucht zu bündeln, wo sie seit Beginn der industriellen Revolution beschleunigt auseinander drifteten: Nämlich dort, wo sich zwischen Mensch und Mitwelt eine „fremde und heimatlose“ (Ernst Bloch) verwissenschaftlichte Technik schob, die in ihren Produkten so hilfreich sein kann wie sie in ihren Voraussetzungen und Folgen problematisch ist.
Die Technikentwicklung muß wieder „hereingeholt“, eingebettet und eingeformt werden in Maßstäbe und Kriterien, die aus einem Konsens im Vorfeld von politischen Entscheidungen hervorgehen und nicht zum Kampf über die eingetretenen Folgen nicht mehr rückholbarer Technologien führen. Nur in einer solchen Gestaltungsperspektive liegt eine Chance für die Zukunft, als Kulturnation die nächsten technischen Katastrophen — wer möchte bestreiten, daß nur das Jahr 1986 davon bestimmt sein wird? — zu bestehen.