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Technikfolgen und Verantwortung der Politik | APuZ 19-20/1987 | bpb.de

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APuZ 19-20/1987 Technikfolgen und Verantwortung der Politik Technikfolgen und Parlamentsreform. Plädoyer für mehr parlamentarische Kompetenz bei der Technikgestaltung Technikfolgen-Abschätzung und -Bewertung beim amerikanischen Kongreß Das Office of Technology Assessment

Technikfolgen und Verantwortung der Politik

Carl Bohret

/ 31 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Der technische Fortschritt ist ins Gerede gekommen, weil er auch solche Fragen produziert, die aktuell gefährlich erscheinen oder in ihrer langfristigen Wirkung nicht abschätzbar sind (z. B.der Folgentyp der „schleichenden Katastrophen“). Wer kann für die neuartigen Technikfolgen noch die Verantwortung übernehmen? Ethisch begründete Appelle sind wichtig, aber sie stoßen in pluralistischen Demokratien an erlernte und anerkannte Verhaltensweisen und Rationalitäten, die individuelle Verantwortungsübernahme (z. B. „neue Askese“) einer generellen Nutzenmaximierung („gesunder Egoismus“) vorziehen. Trotz vergleichbarer Nutzenkalküle der politischen Individuen muß vom politischen System eine Art institutioneller Verpflichtung (mit Moderatorfunktionen) erwartet und organisiert werden, womit eine Art „kollektiver Rationalität“ für langfristige Folgen zustande kommen kann. Für die Wahrnehmung dieser „institutionellen Verantwortung“ werden Technikfolgenanalysen als Konzept und Hilfsmittel benötigt. Diese Folgenanalysen müssen aber ihrerseits institutionalisiert werden. Nach langen Diskussionen wurde in der Bundesrepublik beim Bundestag eine Enquete-Kommission eingesetzt; eine dauerhafte Lösung (parlamentarische Kommission o. ä.) wird angestrebt. Diese „kleine Lösung“ ist ein akzeptabler Weg in einem politischen System, dessen Willensbildungsprozesse und dessen vorsichtige Verfahrensweisen dem Modell des Inkrementalismus („kleine Schritte“, gegenseitige Anpassung, hoher „Abstimmungsaufwand“) nahekommen. An die potentielle „Kommission“ werden einige Anforderungen zu stellen sein, damit sie zwischen wachsendem Technikfolgenbewußtsein und institutioneller Politikverantwortung mit sozial akzeptablen Empfehlungen und Warnungen eine Vermittlungsposition einnehmen kann.

I. Leitgrößenwechsel: Vom „technischen Fortschritt“ zu „Technikfolgen“

Die Kemenergietechnik ist längst vor dem Reaktor-unglück in Tschernobyl beispielhaft geworden für den beginnenden Ausstieg aus der Technikfaszination des 19. und 20. Jahrhunderts. Gerade weil diese Technologie für die meisten abstrakt und anonym blieb, erscheint sie bedrohlich, angstmachend und bösartig. Die Gewalt des Geschehens von Tschernobyl vor einem Jahr entblößte zugleich die Mängel der Folgenbewältigungskapazität der Politik wie der Verwaltung.

Es schien sie nun wirklich zu geben, die in Umfragen benannten „ratlosen“ Politiker und Administratoren, die gegen Technikfolgen kein Rezept haben, obwohl doch gerade sie im „Ernstfall“ verantwortlich handeln sollen. Wußten sie eigentlich auch nicht mehr als andere, hätten sie informierter sein sollen? Wie werden sie wohl bei einem „gentechnischen Unfall“ reagieren? Wie werden sie sich angesichts des „Folgen-Netzes“ aus Emissionen, Ozonloch und Waldsterben oder bei vergleichbaren „schleichenden Katastrophen“ verhalten?

Wer kann denn überhaupt noch verantwortlich mit Technik umgehen? Was bedeutet dann solche Verantwortung: Für was und für wen, für welche Zeiten kann sie übernommen werden, mit welchen Konsequenzen? Kann man etwas „Grenzenloses“ überhaupt verantworten?

Walther Zimmerli hat auf den Qualitätssprung der Verantwortung nach Tschernobyl aufmerksam gemacht: Wer kann für diese Folgelast und für die über Generationen (noch nicht Geborener) reichende Folgedauer noch verantwortlich sein, verantwortlich gemacht werden? Der Verantwortungsbegriff wird durch das Gewicht der Folgen „erdrückt“. „Eine Handlung, für die niemand (auch nicht in der Politik) die Verantwortung übernehmen kann, gilt nach den Kriterien einer Verantwortungsethik als ethisch nicht legitimierbar. Wir hätten nie gedurft, was wir da tun . . . (Denn:) kein . . . menschliches Wesen (kann) die Verantwortung für etwas übernehmen . . ., dessen Handlungsfolgen überhaupt erst von seinen Nachkommen . . . getragen werden müssen.“ Da gibt es eine direkte Verbindung zu der absoluten Aussage Albert Schweitzers: „Eine Technik, die nicht versagen darf, kann nicht verantwortet werden.“ Da ist es fast schon unredlich, über ein Restrisiko zu sinnieren, das sich mit jenem Versagen einstellt. Angesichts der Gewalt mancher Technikfolgen müssen diese Appelle an die Verantwortbarkeit zumindest als Leitsätze ernstgenommen werden: Der technische Fortschritt kann kritische Schwellen überschreiten, die dann existenzgefährdend sind. Dabei gibt es weiterhin Technikfolgen, die wir positiv bewerten, weil sie sogar angstmachende Probleme beseitigen helfen. Auch sind Technologien zu entwickeln, die den Umstieg in ungefährlichere Technik ermöglichen. Beide Phänomene erzwingen das Nachdenken und das Vordenken. Aus dem Jahre 2000 zurückbetrachtet, wird man die Zeit ab 1986 dann möglicherweise als die Epoche des folgenbewußten Ausstiegs aus dem (traditionellen) „technischen Fortschritt“ bezeichnen.

Erinnern und verständigen wir uns: Die Welt des 20. Jahrhunderts ist eine Resultante aus technischem Fortschritt und ökonomischer Verwertung.

Historisch betrachtet ist dieser technische Fortschritt eng mit der kapitalistischen Produktionsweise verbunden. Es handelt sich um den kumulativ fortschreitenden Prozeß technologischer Innovationen in einem sie unterstützenden gesellschaftlichen Bedingungs-und Wirkungsfeld. Solche Basisinnovationen ermöglichten in den alten Industriegesellschaften einen bislang einmaligen materiellen Lebensstandard. Dies alles war möglich, weil die Verheißungen des Fortschritts allen galten: den Unternehmern, die ökonomisch sofort und direkt profitierten, aber auch den Arbeitern, die aus dem technischen Fortschritt ihre ökonomische und soziale Befreiung erhoffen durften. Kommenden Generationen eröffneten sich gewaltige Chancen.

Persönliche Opfer schienen tragbar, angesichts der besseren Zukunft gar vernünftig.

Auch die Bedeutung außertechnischer Steuerungssysteme nahm zu: Die Politik — durch den Staat wie durch gesellschaftliche Kräfte — übernahm es, auch aus nationalen Interessen den technischen Fortschritt zu fördern und zugleich die vorübergehenden sozialen „Opfer“ erträglich zu gestalten. Die Triebkraft einer ganzen Epoche hieß „technischer Fortschritt“; bis weit in die siebziger Jahre hinein war dies ein positiv besetztes Schlüsselwort in der Ersten und in der Zweiten Welt: Die Systemkonkurrenz von Spätkapitalismus und Realsozialismus basierte darauf. Auch das Hineinwachsen in Fami3 lie und Gesellschaft, die individuelle Sozialisation, war und ist noch deutlich geprägt von technischer Sozialisation; das Alltagsleben und die kulturellen Entäußerungen spiegeln das wissenschaftlich-technische Zeitalter — den „Industrialismus“ — wider. Technischer Fortschritt wurde schließlich auch zum Hilfs-wie zum Nachahmungsangebot an die Dritte Welt.

Dieser so lange fraglos akzeptierte technische Fortschritt kam dann ins Gerede: Er hinterläßt unerwünschte Folgen, die sichtbar, dauerhaft spürbar und die gefährlich scheinen. In der abgefragten Meinung über die bisher so erwünschten Segnungen der Technik werden Vorbehalte laut. Die Frage nach dem Sinn und nach der Kontrollierbarkeit des technischen Fortschritts wird derzeit jedenfalls von einer größeren Anzahl Menschen häufiger gestellt als früher und hat einfach deshalb politische Relevanz, auch dort, wo noch nicht weitreichende Akzeptanzschwierigkeiten auftreten. Technischer Fortschritt ist für viele nicht mehr a priori unverzichtbar, nicht länger nur nutzenstiftend; der weitere Beitrag des technischen Wandels zum Wohlstand ist umstritten: Für manche ist er gar „beweispflichtig“ geworden.

Wird aber der technische Fortschritt als Leitgröße der Industriegesellschaft verabschiedet, dann wird diese selbst (im Wortsinne) „fragwürdig“: Was kommt danach — wie sieht eine „transindustrielle Gesellschaft“ aus?

Es läßt sich immer wieder feststellen, daß begriffliche Veränderungen (oder das „Besetzen neuer Begriffe“) ein äußerlicher Ausdruck gesellschaftlichen Wandels sind. Ich meine, zwei solcher Vorgänge zu entdecken: — Zum einen wird in jüngerer Zeit der so lange mit positivem Gehalt besetzte Begriff des „technischen Fortschritts“ immer mehr neutralistisch durch „technische Entwicklung“ oder „technischen Wandel“ ersetzt. — Zum anderen drängt sich der Begriff der „Technikfolgen“in den Vordergrund. Er verspricht zu einer neuen, jetzt eher mit negativem Gehalt besetzten Leitgröße der gesellschaftlichen Diskussion zu werden. Der Industrialismus muß sich an dieser Größe messen lassen; er wird ihr gegenüber verantwortlich gemacht.

IL Die neuen Technikfolgen

Was sind „Technikfolgen“ und was folgt aus diesen; welche Folgen haben also Technikfolgen? Folgen, das sind Ergebnisse vorgängiger Ereignisse: Sie ergeben sich zum einen aus dem (natürlichen, kosmischen) Geschehen, also ohne unser Zutun. Folgen entstehen zum anderen — und zunehmend — aus menschlichem Tun. Fast überall sind wir tätig, zumeist, indem wir Technik einsetzen. Irgendwo hatten und haben wir unsere Finger im Spiel: Die Unberührtheit unserer Umwelt tendiert nach Null. Der Bereich des hinzunehmenden „Geschehens“ ist dabei immer kleiner geworden. Je größer der Interventionsbereich wurde, desto mehr traten auch störende Nebenfolgen auf. Aber kurative und präventive Folgenbewältigung (oft mittels neuer Technologien) war die bis jetzt prinzipiell erfolgreiche Antwort. Letztlich half der technische Fortschritt, unliebsame Folgen des technischen Fortschritts zu beherrschen oder zu „verschieben“. Man wußte, was man tat, man schien es tun zu dürfen. Es schien, als ob wir sogar die Mephisto-Regel des Folgen-Sachzwangs aus Goethes Faust vernachlässigen könnten: „Das erste steht uns frei, beim zweiten sind wir Knechte.“ Wir schienen auch das „zweite“ zu beherrschen.

Weil die Folgen übersehbar, handhabbar, reduzierbar und deshalb vertretbar blieben, gab es wohl Gefahren, aber keine Gefährdungen. Es war eigentlich nichts Wesentliches „zu verantworten“.

Weil weiterhin die „normale“ Technikentwicklung stattfindet, gibt es auch weiterhin jenen traditionellen Typ der Technikfolgen:

— Innovative Basistechnologien induzieren weitere Techniken, die — oft versehen mit Umweltauflagen — ökonomisch verwertet werden, — dabei ändern sich Arbeitswelten, woraus — weitere soziale und humane Folgen entstehen, — die über geregelte Konflikte — insbesondere der Tarifparteien — auszugleichen versucht werden. Dies gilt beispielsweise für die potentiellen Auswirkungen bei der Erweiterung von Maschinenintelligenz im Entwicklungs-und Produktionsbereich zum „maschinellen Organismus“ (Günter Spur) oder für die sozialen Folgen einer generellen Einführung von Kommunikationstechniken in die Verwaltung. In beiden Fällen wird überwiegend körperliche oder routinisierte Arbeit durch „höherwertige“ Technik ersetzt. Das ähnelt den Dequalifizierungs-und Freisetzungsprozessen des frühen Industrialismus und manch späterer Phase: Arbeit wird quantitativ reduziert und qualitativ umgeschichtet. Es ist schlimm, welche Umstellungen vielen Menschen zugemutet werden. Aber sie werden in sozia- len Netzen aufgefangen und — falls nötig — psycho-sozial stabilisiert. Die Techniksozialisation funktioniert über Sozialpolitik und flankierende Hilfen. Es mag zynisch klingen: Diese Technikfolgen sind als Bestandteil des Industrialismus nichts Neues. Sie sind auch zu reparieren. Es gibt dabei Einzelschicksale und Opfer, aber keine (sozialen) Katastrophen. Oder anders: Nicht jede Technik-folge drängt auf eine Umkehr oder einen Ausstieg aus dem traditionellen Folgenbewußtsein.

Die neue Verunsicherung entstammt der allmählichen Wahrnehmung einer potentiell alle betreffenden Folgelast aus einigen Technologien, die nicht mehr hinreichend beherrschbar erscheinen, womit aus handhabbaren Gefahren unbegrenzte Gefährdungen werden könnten. Es sind nämlich zwei Beanspruchungen aus den Technikfolgen hinzugekommen: — spätere Generationen müssen die Folgen heutigen Handelns erdulden (wir konnten noch von den Segnungen der Technik profitieren); — heutige Handlungen beschneiden die Chancen der belebten und unbelebten Natur: Emissionen lassen Bäume und Steine sterben. Früher hat sich die Natur wieder aufgerappelt.

Noch haben wir die meisten dieser neuartigen und ungewöhnlichen Folgearten nicht im Griff. Sie sind deshalb die eigentlichen Gefährdungen, die uns am technischen Fortschritt zweifeln lassen müssen, die uns den partiellen Ausstieg aus ihm nahelegen könnten, weil wir jetzt selbst zur Disposition zu stehen scheinen. Bedenklich und kritisch zu beobachten sind also vor allem zwei Folgearten: — Technikfolgen, die auf den „biologischen“ Menschen und seine natürliche Umwelt einwirken: Es handelt sich dabei um die ökologische Dimension. — Technikfolgen, die auf den Menschen als „Person“ einwirken: Es handelt sich hier um die anthropologische Dimension — um Veränderungen des Menschenbildes (wie es Hans Jonas umschreibt

Alfred Weber hat schon 1953 auf die Verbindung von Anthropologie und Ökologie verwiesen Die anthropologisch relevante Ausprägung von Technikfolgen deutet sich erst an, beispielsweise in der Humananwendung der Gentechnologie oder in der Totalverbreitung der Informationstechnik mit der Gefahr der „Informationsverschmutzung“. Dagegen wird die ökologisch relevante Ausprägung der Technikfolgen in einigen Bereichen bereits auf dramatische Weise sichtbar.

Es lassen sich neuartige Dimensionen von Technik-folgen identifizieren, die einen ziemlich hohen Gefährdungsgrad enthalten. Ich bezeichne diese neuen Problemtypen als „schleichende Katastrophen“. Es handelt sich um Ereignisfolgen, deren Wirkungsgefüge oder deren Entwicklungsparameter ganz oder teilweise unbekannt sind, und deren Ausdehnungen epidemischer oder chaotischer Art sind. Deren Vernetzungsgrad und deren Zeitliche Bedeutung nimmt zu, weswegen auch die Ungewißheit der Auswirkungen wächst: Wirkungen treten irgendwo und irgendwann auf. Die Technikfolgen verstecken sich gewissermaßen, um dann mit zeitlicher Verzögerung, vielleicht an unvermuteter Stelle mit unbeherrschbaren Auswirkungen aufzutreten. Vor allem: Jeder kann dann betroffen sein, wenn auch nicht alle. Einige Beispiele dieser „schleichenden Katastrophen“: — die Spätfolgen des extremen Ereignisses „Reaktorunfall“ in Form noch unbekannter Auswirkungen von Strahlenbelastungen; — die unbeherrschbaren Gefährdungen epidemischen Typs, wie sie beim Artensterben, begleitet vom Versagen ökologischer Selbsthilfe, auftreten können, aber auch aus der sich „fortpflanzenden Vernetzung von Informationen“; — schließlich verdeckt-langsame Gefährdungen der belebten wie der unbelebten Natur, die dann plötzlich oder zufällig sichtbar werden wie beim Bodenkollaps, beim Waldsterben oder beim Steine-sterben: Auch Denkmäler, Kirchen und Beton-Universitäten gehen neuerdings an „schlechter Luft“ zugrunde.

Es ist nicht auszuschließen, daß es zwischen den Erscheinungsformen der „schleichenden Katastrophe“ zukünftige Verbindungen gibt. Denn die Extremsituation des größten anzunehmenden Unfalls — der die größtmögliche Betroffenheit einschließt — gibt es nicht nur für Kernkraftwerke. Es gibt auch den GAU für die „schleichende Katastrophe“, möglicherweise für das kaum mehr vorstellbare Zusammentreffen von Ozon-Loch, ozeanischer Kapazitätsgrenze und abgestorbenen Wäldern. Sollten wir nun gar — auf höherer Stufenleiter — zunehmend wieder dem nicht mehr beeinflußbaren „Geschehen“ ausgeliefert werden, das wir ursächlich erzeugten? Werden wir in die Rolle des Zauberlehrlings zurückverwiesen? Doch andererseits: Wenn wir die Möglichkeiten der Gentechnologie und der Kernfusionstechnik antizipieren, dann ließe sich sogar sagen, daß wir erstmals in den der Schöpfung und der Apokalypse vorbehaltenen Bereich eingreifen könnten (also „Gott ins Hand-5 werk pfuschen“). Aber es bleibt uns weiterhin ver- was daraus wird — auch mit uns selbst, Deshalb wissen wir nicht so recht, was noch verantborgen, werden kann.

III. Verantwortung versus Nutzenkalkül

Die Möglichkeit, etwas verantworten zu können, hängt offensichtlich davon ab, daß man für Folgen einstehen kann. Auch für solche, die noch nicht erkennbar und zurechenbar sind? Die Verantwortung ist eine genuin menschliche Eigenschaft. Die Folgen des eigenen Tuns, das aus freiem Willen unternommen wurde, werden diesem Tun zugerechnet und vom Individuum oder von Gruppen auf sich genommen. Verantwortungsbewußtsein muß erworben werden. Es ist Teil der allgemeinen Sozialisation des Individuums. Bis zur „Verantwortungsreifeii — in der das Spannungsverhältnis von Autonomie und Gebundenheit erkannt und angenommen wird — its es oft ein langer Weg.

Die Verantwortungs„frage“ wird eigentlich immer (neu) gestellt, wenn sich etwas Schwerwiegendes ereignet hat oder etwas Unbeherrschbares aufzutreten scheint. Immer wenn sich in einer Gesellschaft etwas Folgenschweres einstellt, wird nach Verursachung und Schuld gesucht. Immer wenn etwas künftig (oder anhaltend) als bedrohlich erscheint, treten Warner auf, die Vorkehrungen und Verhaltensänderungen fordern.

Diese Rolle übernahmen die alttestamentarischen Propheten mit gleicher Beredtheit wie es gegenwärtig bedeutende Technikphilosophen tun. An der Art ihres Auftretens und Mahnens — „Siehe, das Ende der Welt ist nahe“ — hat sich prinzipiell nichts verändert (wir müssen wohl immer wieder zur Verantwortung gerufen werden). Auch der Tenor ihrer moralischen Aussage ist neuerdings wieder modern: Hört auf mit eurem verantwortungslosen Tun, bescheidet euch, übt Askese, sonst führt euer Handeln ins Verderben. Hans Jonas beispielsweise fordert „Selbstdisziplin“ und neue Bescheidenheit und Carl Friedrich von Weizsäkker fordert mit Blick auf Technikfolgen die „Selbstbeherrschung gegenüber dem Machbaren“: „Erwachsener Gebrauch der Technik verlangt die Fähigkeit, auf technisch Mögliches zu verzichten, wenn es dem Zweck nicht dient . . . Technik ist als Kulturfaktor nicht möglich ohne die Fähigkeit zur technischen Askese.“ Auch die Kirchen betonen die „Kultur des Verzichts und der Askese“, um so die Demontage des Überlebensraums zu vermeiden. Der Mensch ist für die Schöpfung verantwortlich; er darf nicht damit machen, was er will (Schlembach)

Fassen wir die moralischen Leitsätze zusammen: Wir sind verantwortlich für die Mitwelt und Umwelt wie für die Geschichte, die wir machen (und die jetzt noch Zukunft ist). Diese Mitverantwortung ist wegen der neuen Technikfolgen global geworden. Für diejenigen Techniken, die versagen könnten und die deswegen nicht-abschätzbare Risiko-Reste für Mensch und Natur enthalten, kann im Grunde niemand einstehen und deshalb eigentlich auch nicht von Verantwortung reden. Technische Askese ist anzuempfehlen, wenn die Technikfolgen unbeherrschbar sein könnten.

Angesichts der neuen, gewichtigen Technikfolgen ist es gewiß wichtig, auf diese absolute Verantwortung und die dahinterstehende „Zukunftsethik“ immer wieder aufmerksam zu machen. Zugleich ergeben sich aber einige Schwierigkeiten für die Zumessung von Konsequenzen, für die Realisierung der Verantwortlichkeit. 1. Eine allgemeine Verantwortung, die auf alle abgeladen und damit gleichverteilt wird, wirkt schon wieder harmlos. Der einzelne ist zwar gemeint, aber zugleich ist er „aus dem Schneider“: Für Tschernobyl wie für gentechnische Unfälle ist er nicht „dingfest“ zu machen. 2. Appelle sind wichtig, und Askese-Forderungen klingen angesichts der neuen Herausforderungen durchaus überzeugend. Aber sie sind nur erfolgreich, wenn die eingeschliffenen und bisher nicht in Frage gestellten Verhaltensweisen und Rationalitäten dem nicht entgegenstehen: Wir alle haben gelernt, daß es gut ist, nicht asketisch zu leben, soziale Interessen zu verfolgen oder sich politisch durchzusetzen. Unsere Sozialisation ist eher hedonistisch und vorteilsuchend als asketisch und gemeinschaftsbezogen. 3. Arnold Künzli hat darauf aufmerksam gemacht, daß es auch eine „strukturelle Verantwortungslosigkeit“ geben kann, daß also die individuelle Absicht, sich für Technikfolgen verantwortlich zu fühlen, bedeutungslos bleibt gegenüber den „Strukturparametern des Systems“ — gegenüber der historischen Art und Weise zu produzieren, zu konsumieren und zusammenzuleben

Ich möchte die genannten Schwierigkeiten exemplarisch belegen und dann — bezüglich der Verantwortlichkeit — einige Folgerungen ziehen. Zunächst sollen zwei generelle Bereiche untersucht werden, in denen jeder von uns sich bewegt: Wirtschaft und Soziales System, danach zwei speziellere Bereiche, von deren Tätigkeit jeder betroffen ist: Wissenschaft und Politik.

Wirtschaft Wir haben gelernt, uns wirtschaftlich zu verhalten, unsere Ziele mit geringster Mühe zu erreichen. Unternehmer und Konsumenten erstreben den höchsten Nutzen als Gewinn oder als Bedürfnisbefriedigung. Dafür werden neue Technologien entwickelt und eingesetzt. Technische Askese ist systemwidrig. Zwar ist der einzelne darin frei, sich einer bestimmten Technik nicht zu bedienen, aber er hat dann auch die Nachteile zu tragen. Allerdings kann es Präferenzänderungen geben. Wenn beispielsweise die „Umwelt“ (z. B. saubere Luft) zum ökonomischen Gut wird, also einen Preis erzielt, dann wird die Beseitigung von diesbezüglichen Technikfolgen ökonomisch relevant. Die Umwelt-technik des geregelten Katalysators ist eine bereichsrationale Lösung. Der asketische Verzicht auf das Auto ist dies nicht.

Soziales System Wir haben gelernt, innerhalb der Gesellschaft unsere Interessen zu vertreten und möglichst durchzusetzen sowie dabei die Nachteile zu minimieren. In der pluralistischen Gesellschaft bedarf es dazu einer organisierten Interessenwahrnehmung — wir delegieren an Verbände. Es ist rational, Vorteile in konfliktreichen Auseinandersetzungen auszuhandeln oder Nachteile auszugleichen. Gewerkschaften müssen „im Interesse“ ihrer Mitglieder skeptisch gegenüber dem voraussetzungslosen Ausstieg aus der Kernenergie sein. Der ADAC muß sich heftig gegen Sanktionen für Autofahrer wenden. Aus der Sicht beider „Interessenten“ ist jedoch das Waldsterben eine von ihnen nicht zu verantwortende Technikfolge.

Gewiß, es gibt auch Interessenentwicklungen. Neuartige Technikfolgen — gerade solche der anonymen, nicht durchschaubaren Technologien — lassen auch neue Interessen entstehen. Beispielsweise wurden solche Interessen im Gefolge der Kernenergietechnik oder bei Umweltschäden manifest. Der Ausgleich solcher Interessen ist die Rationalität des Systems (trotz Tschernobyl scheint das labile* Gleichgewicht erhalten zu bleiben: nach der Strahlenentwarnung normalisierte sich das Interessen-feld schnell).

Auch für die Rationalität des „gesellschaftlichen Interesses“ gilt also, daß zwar einzelne betroffen reagieren, sogar „aussteigen“ — aber viele andere nicht. Das pluralistische Interessensystem erklärt sich gegenüberTechnikfolgen (gemäß der ihm eigenen Rationalität) „für nicht verantwortlich“.

Wissenschaft Die Herausbildung der modernen Naturwissenschaft (die heute Technologie inkorporiert) hatte direkt zu tun mit der Lostrennung von ethischen Prinzipien. Vereinfacht: „Wahr oder falsch“ und nicht „gut oder böse“ lautet das zentrale Erkenntnisinteresse. Dies hat einige Folgen, beispielsweise: — Die (wie auch immer zu definierende) Verantwortung kann nicht vor den Forschungsprozeß selbst gelegt werden. Sie kann nicht für etwas übernommen werden, was noch gar nicht da ist, erst noch entdeckt oder erfunden werden muß, von dem noch gar nicht bekannt ist, wie es wirken kann.

— Es ist zwar immer abzuwägen zwischen besseren und risikoärmeren Möglichkeiten, aber für den Risiko-Rest kann kein Forscher und Technologe verantwortlich sein, solange überhaupt noch kreativ geforscht und entwickelt werden soll.

— Eine Instanz, die den wissenschaftsimmanenten Prozeß der Invention bewerten oder gar aufhalten könnte, ist ohnehin nicht zu finden.

— Die Verantwortung für Technikfolgen läßt sich aus systemrationalen Gründen der Wissenschaft nicht zuschieben. Das hat noch nie funktioniert. Was erdacht, entdeckt, entwickelt werden kann, das wird auch bestimmt versucht — trotz Ethik-kommissionen, Standesregeln oder staatlicher Steuerungsversuche.

Es mag Bereichsethiken einzelner Disziplinen geben (wie etwa den'„hippokratischen Eid“). Auch lassen sich technische Normen erarbeiten, die die Spanne zwischen Risiko und Chance reduzieren. Aber es ist nicht darauf zu vertrauen, daß das Wissenschaftssystem die potentiellen Folgen des eigenen Handelns bewußter reflektierte, also verantwortete, als beispielsweise die Politik oder der Bürger.

— Es kommt zwar immer wieder vor, daß einzelne Wissenschaftler ein kritisches Folgenbewußtsein entwickeln oder gar Skrupel haben — wie etwa Robert Oppenheimer. Aber das gilt nicht für die Rationalität der Wissenschaft als Ganzes. Auch Heinz Maier-Leibniz erkennt nur die „nicht-wissenschaftliche" und (damit) nicht-rationale (!) „Möglichkeit der Teilnahme an der gesellschaftlichen Diskussion über Technikfolgen als „neue Verant7 wortung“ (1986) Sie steht folglich außerhalb der Systemrationalität.

Politik Auf der weiteren Suche nach denjenigen, die nicht nur ganz allgemein, sondern zumeßbar verantwortlich für Technikfolgen sein könnten, kommt schließlich noch „die Politik“ ins Blickfeld: Kann sie Zumutbares und Gefährdendes unterscheiden und bewerten? Auch in diesem Feld gibt es erhebliche Schwierigkeiten mit einer recht speziellen Rationalität, die ebenfalls auf einem Nutzenkalkül aufbaut. Es ist politisch rational, alles zu tun, um an die Macht zu kommen und diese dann zu erhalten; erst dann ist überhaupt Handeln möglich. Es werden ständig unterschiedliche Handlungsprogramme bezüglich ihres Nutzens für diese Machterhaltung abgewogen, und Handlungschancen werden möglichst lange offen gelassen. Dies gilt auch für die Technikfolgen. Es ist politisch rational, die ökonomischen und sozialen Nutzenkalküle nicht zu durchkreuzen, solange dies nicht ausdrücklich von dort gefordert wird. Aber auch dann ist Offenhalten, Verhandeln und Ausgleichen zweckmäßiger als Regeln oder Sanktionieren.

Die spezifische Verantwortung für Technikfolgen besteht hauptsächlich darin, überlebensbedrohende Auswirkungen (für das Gemeinwesen insgesamt) abzufangen, und zwar mit Hilfe von Programmen, die verhandlungs-und kompromißfähig sind, damit die Machterhaltungsmaxime nicht gefährdet wird. Auch hier gilt: Der einzelne Politiker (oder eine Gruppierung) mag durchaus ein hohes Folgenbewußtsein oder auch alternative Handlungsvorschläge entwickeln. Er mag — hier greife ich auf die Begriffe Max Webers zurück — als Gesinnungsethiker mit aller Kraft den technischen Fortschritt propagieren. Oder er mag aber um jeden Preis den Ausstieg aus bestimmten Technologien fordern. Oder er mag schließlich als Verantwortungsethiker die Risiken einer Technologie gegen ihre Chancen abwägen, die Folgen kalkulieren und dafür sich verantwortlich fühlen wollen (oder eben nicht).

Dennoch: Wenn das in Handlungsprogramme zu übersetzende Folgenbewußtsein merklich die gesellschaftlichen oder ökonomischen Nutzenkalküle tangiert, dann setzt sich die politische System-rationalität des „Überlebens im Amt“, der Macht-sicherung durch. Potentielle Folgen in späterer Zeit treten dann an die zweite Stelle.

Als Zwischenergebnis läßt sich also feststellen: 1. Wir sind zu Nutzenmaximierern erzogen worden. Als Produzent, als Konsument genau so wie als Mitglied eines Interessenverbandes oder als Politiker. Die eigentliche Ethik ist der „gesunde Egoismus“ (im Rahmen des gesicherten Überlebens). 2. Wir sind alle Gefangene der erworbenen Rationalitäten, aus denen ein Ausbrechen (z. B. als „innerweltliche Askese“ durch Verzicht auf bestimmte Techniken) nur um den Preis der „Ausgrenzung“ möglich ist.

Wenn aber der Vorrang der Nutzenmaximierung gilt, ergibt sich schon so etwas wie eine „strukturelle Verantwortungslosigkeit“. In den Worten von Georg Picht: „Je mehr partikuläre Rationalität in unserer Weltordnung eingeführt wird, desto mehr steigert sich die Irrationalität des Gesamtzustandes.“ Alle Beschwörungen von allgemeiner Verantwortungsreife sind eben in Gesellschaften, die hohe Freiheitsgrade für den einzelnen und für Gruppen zulassen, nur zufällig erfolgreich. Die Verantwortung verflüchtigt sich, weil keiner so recht zur „Verantwortung gezogen“ werden kann.

IV. Verantwortungstransfer: die institutioneile Verpflichtung der Politik

Dieses Ergebnis bleibt angesichts der wachsenden (negativen) Bedeutung von Technikfolgen recht unbefriedigend. Zwar mag für die einzelnen Bereiche (wie Wirtschaft oder organisierte Gesellschaft) das Nutzenkalkül die anerkannte Leitgröße sein. Aber gilt dies auch in gleicher Weise für die Politik? Ist nicht sogar aus deren spezifischer Rationalität der Überlebenssicherung wie der Machterhaltungsmaxime eine verallgemeinernde Übertragung der im einzelnen nicht (ausreichend) wahrgenommenen Verantwortlichkeit angelegt? Ich meine, daß dies so ist — notwendigerweise. Zumindest die Überlebenssicherung des Gesamtsystems (also die Chanceneröffnung für alle Gesellschaftsmitglieder) kann nicht den einzelnen Bereichen überlassen werden, die wegen ihrer spezifischen Rationalitäten für diese Aufgabe weder geeignet sind noch so etwas übernehmen wollen.

Die Aufgabe der Politik besteht dann darin, die Nutzenmaximierung aller Bereiche zu ermöglichen — ohne dabei das Gemeinwesen zu gefährden. Dazu muß es dann gehören, negative Technikfolgen zu verhindern oder zu reduzieren, positive Folgen aber zu fördern. Dabei entsteht eine herausgeB hobene Verantwortung aus funktionalen Gründen — in Form einer verallgemeinerten Zuständigkeit, die aus den einzelnen Bereichen an die Politik übertragen wird. Diese Übertragung erfolgt nicht, weil unterstellt wird, die Politik kenne ein übergeordnetes (materielles) Gemeinwohl; sie allein wisse (deshalb), welche Technikfolgen nicht mehr hingenommen werden könnten, woraus sie gar Interventionen ableiten dürfe. Diese höhere Einsicht existiert nicht. Wohl aber der Auftrag, das Zusammenspiel vieler Handlungen und Einsichten zu organisieren und hierbei zu einem mehrheitsfähigen Willen zu verknüpfen. Die Politik wirkt hier gewissermaßen als „Moderator“ und stellt „strukturell angelegte Unverantwortlichkeiten“ zur Diskussion, aus der sich dann Maßnahmen zur Verhinderung oder Behandlung unerwünschter Technikfolgen ergeben bzw. aus der diese vereinbart werden können. Bisher war zumeist nur allgemein von Politik (oder auch vom Politiker) die Rede. Aber Politik findet in einem institutioneilen Zusammenhang statt: im politischen System. Sie folgt dabei bestimmten Regeln und hat Verfahren entwickelt, mit denen sie zugleich formelle Verantwortlichkeiten festlegt. Diese — im politischen System angelegten — Wahrnehmungs-, Verarbeitungs-und Legitimationsmechanismen können gegenüber den Herausforderungen aus den Technikfolgen genutzt und gestärkt werden. Angesichts der neuartigen Technologien, ihrer Zeiten-und grenzüberschreitenden Wirkungen, aber auch angesichts der logischen Schwierigkeit, individuelle Willensfreiheit wegen übernationaler Ereignisse (wie dem Ozonloch oder der Tschernobyl-Folgen) zu realisieren, ist es geboten, zusätzlich zur personalen Verantwortung auch eine institutioneile Verantwortung der Politik zu begründen oder zu aktivieren. Das politische System selbst ist mit Verantwortlichkeit für bedrohende Technikfolgen zu betrauen.

Institutionen sind länger in Verantwortung zu nehmen als austauschbare Politiker; sie können Verantwortung speichern und sind als solche auch noch dann als Schuldner festzustellen, wenn eine Technikfolge sehr spät und mit unvorhergesehenen Wirkungen eintritt. Allerdings ist es schwierig, die Konsequenzen eines „politischen Konkurses“

— also das materielle Scheitern institutioneller Verantwortung — zu ahnden. Wer soll eine Institution wie den Staat oder einen Wirtschaftsverband „zur Rechenschaft“ ziehen? Das Urteil der Geschichte nützt den Opfern abrupter oder schleichender Katastrophen nichts. Dennoch sollte die Verantwortung von politischen Institutionen für Technikfolgen nicht ausgeklammert werden. Letztlich gründet das politische System auf der ausgewogenen Zuteilung und Prüfung von Verantwortung (auch wenn die einzelnen Institutionen selten die direkten Konsequenzen tragen). Erst auf der institutioneilen Ebene kann das höhere Gewicht der politischen Verantwortung für Technikfolgen entstehen und wirken.

Wenn das Parlament oder der Forschungs-und Technologieausschuß sich zu einem Folgeproblem äußern, dann ist das eben gewichtiger als wenn ein Abgeordneter oder auch ein Verband dies tut. Ich will es aber nochmals betonen: Das heißt nicht Beendigung der individuellen Verantwortung, keine Absolution auch für den einzelnen Abgeordneten; er bleibt schon durch die Verfassung gebunden. Vielmehr integriert die institutionelle Verantwortung die personale.

Bedenken gegen die „institutionelle Verantwortung“ müssen durchaus beachtet werden, beispielsweise — daß sich die Risikobereitschaft in Kollektiven fälschlich und sträflich erhöht, — daß sich der einzelne hinter der Institution „verstecken“ kann, anstatt sich mit ihr und in ihr verantwortlich zu fühlen, — daß der Hang zur Routinisierung und zu Geschäftsordnungen die materielle Verantwortung verdrängt.

Ich meine, daß die Vorteile dennoch überwiegen. Im Unterschied zu den kurzfristigen und individualistischen Bereichsrationalitäten sind Institutionen (und nur diese) in der Lage, längerfristige, hierarchische (kollektive) Rationalitäten zu entwickeln, sobald ein Problem als dringlich und — langfristig betrachtet — als destabilisierend wahrgenommen wird. Es mag lange dauern, bis jener Punkt erreicht ist, aber dann wird reagiert, gehandelt, auch unter längerer Perspektive. Übrigens mag es Bewertungen geben, die solche Stabilisierungen aus system-verneinender Position verdammen und lieber auf die mangelnde persönliche Handlungsfähigkeit vertrauen. Diese Argumentationskette soll hier jedoch nicht weiter verfolgt werden.

Wenn es wegen der spezifischen Rationalitäten der gesellschaftlichen Bereiche nicht möglich erscheint, spezielle Verantwortlichkeiten gegenüber Technik-folgen auszumachen (und deshalb die Verantwortung auf die Politik übertragen wird), dann kommt die Politik irgendwann in den Zugzwang, zur Realisierung ihrer Verantwortung den einzelnen Bereichen Mitverantwortlichkeiten zuzuschieben. Sie muß zumindest allgemeine Bedingungen setzen, durch die Technikfolgen früher thematisiert, erträglicher gestaltet werden können oder überhaupt nicht mehr auftreten. Nur so kann sie auch die Definition von Verantwortung erfüllen: daß aus eigenem Antrieb im Bewußtsein der Folgen gehandelt wird. In pluralistischen Demokratien — mit den von uns erwünschten hohen Freiheitsgraden — erfordert dies ein Minimum an Verallgemeinerungsfähigkeit. Es muß deutlich werden, daß in kritischen Situationen (und nur dann) die Zuständig-9 keit für die übergeordneten Interessen des Überlebens von Natur und Mensch wie für die Erhaltung des Menschenbildes bei der Politik liegt (die hierfür „institutioneile Verantwortung“ übernehmen muß).

Um diese übertragene Verantwortung besser wahrnehmen zu können, ist es allerdings erforderlich, daß sich das politische System angemessen ausrüstet, um jene kritischen Technikfolgen rechtzeitig und adäquat abschätzen und beurteilen zu können. Um diese übertragenen Funktionen hinsichtlich der Technikfolgen besser erfüllen zu können, benötigt die Politik vor allem Technikfolgenanalysen als Problematisierungshilfe. Letzteres auch für jene Fälle, in denen Rahmenbedingungen für neue Technologien (gemeinsam mit den Betroffenen) entwickelt und dann gesetzt werden müssen.

V. Technikfolgenabschätzung als Hilfe bei der Verantwortungsübernahme

Der sonst wenig geschätzte Nicolo Machiavelli hat es uns in den „Discorsi“ vorgesagt: „Gegen ungewöhnliche Zufälle gibt es keine Mittel. Aber man muß Berechnungen anstellen, was alles für Zufälle eintreten könnten, und dann ihnen gegenüber um Abhilfe besorgt sein.“

Der aus der institutioneilen Verantwortungsethik abzuleitende Auftrag heißt: Wie und durch was können die zunehmend auch negativ spürbaren Technikfolgen frühzeitig festgestellt, analysiert und bewertet werden? Insbesondere in den USA wurde hierfür das Konzept und das Instrumentarium des Technology Assessment — die Technikfolgenabschätzung und -bewertung entwickelt. John H. Gibbons, der Leiter des Office of Technology Assessment (OTA), hat die kürzeste und vielleicht treffendste Beschreibung dazu gefunden: Technikfolgenabschätzung ist „sorgfältiges Nachdenken über eine Technologie, insoweit diese gesellschaftliche Vorzüge und Nachteile bewirken kann“

Man geht von einem breiten Technologieverständnis aus, mit dem das Spektrum potentieller Untersuchungsobjekte umfaßt werden kann: — technische (physikalische und biologische) Technologien als Artefakte und Verfahrensweisen sowie — nicht-technische (auch „soziale“) Technologien, z. B. in Form von sozialen Neuerungen oder von „Denkzeugen“ (wie Computersoftware).

Instrumentell betrachtet handelt es sich vor allem um wirkungsbezogene Systemanalysen, die auf den Gegenstand „Technikfolgen" angewendet werden. Andere Methoden, wie die Umwelt-, Raum-oder Sozialverträglichkeitsprüfungen, oder Risiko-und Produktfolgenanalysen, können — oder sollten — integriert werden. Die sich abzeichnende Bevorzugung der einfachen „Verträglichkeitsprüfungen“ beeinträchtigt allerdings den umfassenderen und komplizierten Ansatz der Technikfolgenabschätzung. Das zentrale Anliegen der Technikfolgenabschätzung ist es, die politischen Entscheidungsträger und auch gesellschaftliche Kräfte darüber zu informieren, welche Folgen in allen Bereichen des Daseins aus der Entwicklung von Technologien, bei der Nutzung neuer wie bekannter Techniken bereits spürbar werden oder wahrscheinlich zu erwarten sind. Außerdem soll auf Ursachen und Zusammenhänge technikinduzierter Wirkungen aufmerksam gemacht werden. Neben technologischen Informationen sind ökonomische, soziale, politische, ökologische, rechtliche, aber auch anthropologische, kulturelle „Berührungen“ oder Auswirkungen rechtzeitig zu ermitteln und in ihrem Zusammenhang (also am Querschnitt) wie in ihren zukünftigen Dimensionen (also im Längsschnitt) zu untersuchen. Die Technikfolgenabschätzung ist Verstärker für ein schon vorhandenes Problembewußtsein, sie kann auch an dessen Erzeugung beteiligt sein. In einem weiteren — im Grunde nicht isolierbaren — Schritt sind Optionen zu entwickeln und die potentiellen Konsequenzen der Technologien und Technikanwendungen zu bewerten — und zwar auf der Grundlage expliziter Kriterien (z. B. ökologischer odersozialer Schutzkalküle). Diese Kriterien könnten von übergeordneten oder gesetzten Zielen abgeleitet werden wie — Erhaltung und Steigerung der wissenschaftlich-technischen und ökonomischen Leistungsfähigkeit oder — Erhaltung und Verbesserung der Lebens-, Arbeits-und Umweltbedingungen, also der „Lebensqualität“, oder — Verbesserung des politischen Entscheidungsvermögens angesichts neuartiger Technikfolgen und Entwicklung einer adäquaten Technologiepolitik.

Ich will nur einige Vorbehalte gegen die Technikfolgenanalysen in Erinnerung rufen. Sie reichen vom Vorwurf, ein zu anspruchsvolles Konzept zu sein, bis zur Gefahr der ökonomischen Entwicklungsbremse, von Bürokratiebedenken gegenüber einem neuen Apparat bis zur Feigenblattfunktion und zum Beschwichtigungsinstrument bei drohenden Akzeptanzverlusten. Jeder Kritikpunkt ist ernst zu nehmen; im Grunde aber ist noch keiner nachgewiesen, denn für jeden gibt es Gegenargumente.

Daß es so vielfältige Einwände gibt, verweist darauf, — daß das Konzept und die Methode der Technikfolgenabschätzung nicht unbedeutend sind und als Informations-und Analyseansatz beachtet werden; aber auch — daß durch dieses Instrument offenkundig Interessen berührt werden. Damit jedoch ist es in einer pluralistischen Gesellschaft erst so richtig geeignet.

Wenn ich alle bisherigen Erfahrungen und kritischen Einwände — auch die internationale Beschäftigung mit dem Thema — zusammennehme, dann meine ich schon, daß die Technikfolgenabschätzung ein geeignetes, wenngleich verbesserungswürdiges Konzept ist, daß sie für die Politik die bemerkenswerte Chance eröffnet, sich verantwortungsbewußt mit aktuellen und potentiellen Technikfolgen zu beschäftigen. Wir werden durch dieses Instrumentarium noch mehr zum Vordenken gezwungen in einer Sache, in der das Nachdenken zu spät kommen kann oder sozial nichts mehr nützt.

VI. Institutionalisierung der Technikfolgenabschätzung

Deshalb ist es bedeutungsvoll zu prüfen, wie denn ein solches Konzept in die politische und gesellschaftliche Wirklichkeit transferiert werden kann. Das heißt:

— Wer soll für die Auswahl, Herstellung und Umsetzung dieser Technikfolgenanalysen verantwortlich sein?

— Wie ist es zu bewerkstelligen, daß auch der Transfer in das Gemeinwesen hinein zustande kommt? Auf diese Weise ließen sich wiederum die einzelnen Verantwortlichkeiten verallgemeinern und „erhöhen“.

Ein Blick in andere Länder und ein Rückblick auf die Institutionalisierungsdebatte in der Bundesrepublik zeigt, daß es sehr unterschiedliche Antworten gibt. Sie reichen von der engen Anbindung der Technikfolgenabschätzung an ein Fachministerium über eine gesonderte Organisationseinheit bei der Legislative bis zu der „großen Lösung“ einer alle gesellschaftlichen Kräfte repräsentativ einbindenden Institution (mit dem Gewicht einer dritten Kammer) und schließlich bis zum offenen Folgenabschätzungsprozeß in lockeren Netzen der Forschungs-und Beratungsinstitutionen, also einer Nicht-Institutionalisierung im staatlichen Bereich. Je nach nationaler Eigenart und je nach dem traditionellen Institutionengefüge verändert sich offensichtlich die politische Einbindung der Technikfolgen. Ich darf an den „Leidensweg der Technikfolgenabschätzung“ in der Bundesrepublik erinnern, an die Stationen seit der ersten Initiative der damals oppositionellen CDU/CSU-Fraktion im Jahre 1973, ein Amt zur Bewertung technologischer Entwicklungen beim Deutschen Bundestag einzurichten. Es ging also immer um Lösungen beim Parlament. Die Exekutive verließ sich auf ihr eigenes Beratungsnetz. Bis 1981 folgten mehrere Vorschläge, die kleinere Lösungen wie Arbeitsgruppen oder eine Lenkungsgruppe beim Ausschuß für Forschung und Technologie vorsahen. Auf dem Bonner Internationalen Symposium zur Rolle der Technikfolgenabschätzung im Entscheidungsprozeß von 1982 wurden die Institutionalisierungschancen nochmals erörtert.

Ab Dezember 1983 schlug die nun oppositionelle SPD die Bildung eines „Untersuchungsausschusses Technikanalyse und -bewertung“ vor. Auch die Grünen schlossen sich diesem Vorschlag an. Sie erweiterten den Antrag, indem ferner eine unabhängige und rechtsfähige „Stiftung Technologiefolgenabschätzung“ zu gründen sei (Frühjahr 1984). Aber diese Vorschläge verloren sich zunächst in den Ausschußberatungen. Im Oktober 1984 sprachen sich aber dann alle Fraktionen im Ausschuß für Forschung und Technologie für die Einrichtung einer Enquete-Kommission aus; ein gemeinsamer Antrag schuf im Frühjahr 1985 die Voraussetzungen für die Errichtung dieser Enquete-Kommission zur „Einschätzung und Bewertung von Technikfolgen, Gestaltung von Rahmenbedingungen der technischen Entwicklung“, die sich derzeit aus neun Abgeordneten und acht Sachverständigen zusammensetzt.

Die Enquete-Kommission hatte zugleich den Auftrag, den Wissensstand des Bundestags über wesentliche technische Entwicklungslinien zu verbessern, aber auch Vorschläge zu erarbeiten, wie es denn — wenn überhaupt — weitergehen soll. Aus dem Auftrag, quasi über sich selbst nachzudenken, entstand schließlich der Vorschlag zu einer parlamentarischen Lösung besonderer Art: Es soll eine ständige Beratungskapazität zur vorausschauenden Analyse und Bewertung von Technikfolgen in Form einer parlamentarischen „Kommission“ und einer — ihr zugehörigen — wissenschaftlichen Einrichtung bei der Bundestagsverwaltung geschaffen werden. Ad-hoc-Beiräte können die Service-Leistung ergänzen.

VII. Warum gab es nur eine „kleine Lösung“? Ist sie akzeptabel?

Gemessen an den vorher diskutierten oder anderweitig realisierten Institutionalisierungen handelt es sich bei dem vorliegenden Vorschlag zweifellos nur um eine kleine Lösung. Viele, die angesichts der Bedeutung der Technikfolgen einen großen Sprung erwarteten — etwa ein „richtiges Amt“ für Technikfolgenanalysen oder eine unabhängige Deutsche Gesellschaft für Technikbewertung —, mögen enttäuscht sein. Es scheint mir deshalb schon wichtig, danach zu fragen, warum nun „bloß“ diese Lösung herausgekommen ist und ob dieser Versuch denn das Verantwortungsgebot erfüllen kann.

Ausgangspunkt ist die Feststellung, daß so wichtige Konzepte wie die Technikfolgenabschätzung in einer pluralistischen Demokratie nicht beliebig installiert werden können, sondern erstens sehr eng an den politischen Prozeß und die gesellschaftlichen Strukturen gebunden bleiben und zweitens eine hinreichende gesellschaftliche Problematisierung von Technikfolgen gegeben sein muß.

Daß die Technikfolgenabschätzung überhaupt in den politischen Prozeß geriet, liegt zum beträchtlichen Teil an der eingangs geschilderten Wende von der prinzipiell positiven Bewertung des technischen Fortschritts zur eher skeptischen Wahrnehmung seiner Folgen. Aber mit der Problematisierung der Technikfolgen ist die Form der Lösung und der Prozeß zu ihr hin noch nicht hinreichend erklärt. Es muß also noch andere Gründe für das Ergebnis geben. Ich meine, daß man diesen spezifischen Transfer des (gesellschaftlich) wahrgenommenen Problemdrucks von Technikfolgen vor allem aus wenigen „systemischen“ Faktoren erklären kann.

Die jeweils erreichbare Lösung muß der „herrschenden Meinung“ über die Rahmenbedingungen des politischen und gesellschaftlichen Systems der Bundesrepublik angemessen sein. Die herrschende Meinung gibt zwar nicht unbedingt die empirische Realität wieder, wohl aber bestimmt sie jene „zweite Wirklichkeit“ mit, in der sich Normatives, Verlautbartes und Vorfindbares zu einer politisch relevanten Realität vermischen. Anders ausgedrückt: Das neue Vorhaben darf nicht nur Dringlichkeitbeanspruchen, es muß auch grob mit dieser „zweiten Wirklichkeit“ korrespondieren. Dann — und nur dann — ist es einpflanzbar.

Nun kann man hinsichtlich der neuen Technikfolgen einwenden, daß die Gewalt der Ereignisse zu einer Abkehr von der Vielfalt der Meinungs-und Willensbildung führen müsse. Aber — einmal abgesehen von akuten Katastrophen, bei denen einfache Zuständigkeiten und eindeutige Koordinationsmechanismen angebracht sind — welche „geballte Instanz“ weiß denn mit Technikfolgen besonders erfolgreich und richtig umzugehen? Das Bundesministerium für Forschung und Technologie? Der Bundesverband der Deutschen Industrie? Eine Gewerkschaft? Oder etwa ein Beratungsinstitut? Die Klugheit der Vielen ist vielleicht doch größer als die Schlauheit der Einfalt.

In pluralistischen Demokratien folgt staatliches Handeln (und damit die Verantwortungsübernahme) dem Prinzip der „kleinen Schritte“ (dem sogenannten „Inkrementalismus“). Es werden nur kleine Verbesserungen erstrebt und schrittweise zu realisieren versucht. Eine Vielzahl von Entscheidungsträgern wirkt mit — in der Sache unkoordiniert. Aber in einem Prozeß gegenseitiger Anpassung werden sie über Verfahren dann doch zu Kompromissen geführt; übrigens auch ein Vorzug des Föderalismus. Auf diese Weise werden politische Risiken vermieden; die Entscheidungen sind fast immer akzeptabel oder „tragfähig“, weil sie sich nicht zu weit von den fiktiven Einigungspunkten entfernen. Einigung auf eine bestimmte Politik ist der einzig brauchbare Test für ihre Richtigkeit. Auch das Parlament ist Teil dieses vorsichtigen Verfahrens.

Das Parlament ist auch nicht dazu da, selbst zu regieren oder die Aufgaben der Exekutive „nachzumodellieren“; bestenfalls kann es als Mehrheit „Resonanzboden des Zumutbaren“ (Steffani) sein oder — als Opposition — eine ständige Alternative zur Regierung darstellen, insoweit auch kontrollieren. Es geht vor allem darum, unterschiedliche politische Positionen und grundsätzliche Problemwahrnehmungen zu artikulieren, transparent zu machen und „Denkanstöße“ weiterzugeben. Das bedeutet zugleich: Übernahme von politischer Verantwortung als Institution. Genau an dieser Funktion legitimiert sich parlamentarische Beschäftigung mit den herausfordernden Technikfolgen.

Um jene unterschiedlichen Positionen artikulieren und vertreten zu können, benötigt das Parlament auch ursprüngliche und ihm eigentümliche Informationen (z. B. über die Meinungen der von der Exekutive nicht explizit berücksichtigten Interessen). Es braucht eigenständige Beurteilungs-und Anregungskompetenz sowie die Möglichkeit zur informierten „Stichprobenkontrolle“ in der Sache. Das bedeutet aber: Das Parlament muß sich eine eigene, seiner Konstruktion und Arbeitsweise gemäße Kapazität zur Abschätzung und Bewertung von gesellschaftlich relevanten Technikfolgen schaffen — unabhängig vom Handeln anderer Politikorgane und unter Berücksichtigung der besonderen Anforderungen des Sachverhalts.

Werden nun diese generellen Rahmenbedingungen für eine institutionelle Lösung berücksichtigt und wird zugleich die Adäquanz des inkrementalen Politikmodells für die verantwortungsbewußte Willensbildung zumindest in schwierigen Bereichen wie der Technikfolgenanalyse akzeptiert, dann ist die von der Enquete-Kommission gefundene Lösung durchaus vertretbar.

Das Parlament hat angesichts der Herausforderungen gewichtiger Technikfolgen seine Verantwortungsfähigkeit erkannt und auf eine Weise umgesetzt, die dem politischen System und der pluralistischen Gesellschaft bei der derzeitigen Höhe des Problemdrucks in etwa entspricht.

Damit können Erfahrungen gewonnen werden — mit dem Konzept und dem Instrumentarium der Technikfolgenabschätzung, — mit dem Funktionieren eines Mischmodells von Politik, gesellschaftlichen Kräften und Wissenschaft auf einem reduzierten Erwartungsniveau, und — mit den vorgesehenen Ad-hoc-Beiräten läßt sich sogar eine nicht-vereinnahmende Öffnung zu den „Alternativen“ ermöglichen.

Durch die organisatorische „Auslagerung“ in eine Kommission bleibt das Parlament wie sein Forschungs-und Technologie-Ausschuß sachlich entlastet.

VIII. Anforderungen an die neue „Kommission“

Es wird nun einiges davon abhängen, wie und für welche Objekte das neue Instrumentarium eingesetzt wird und welche Konsequenzen aus den „Analysen“ folgen.

— Die Kommission wird zeigen müssen, daß sie auch gerade die „heißen Eisen“ anpackt. Dazu gehören die Folgenanalysen des „Waldsterbens“ und des Aus-oder Umstiegs aus der Kernenergie-technik. Dazu gehört aber auch das Abwägen zwischen den Vorteilen und Gefahren der angewandten Gentechnologien, von Problemen bei der Einführung des Kabelfernsehens, beim Flughafenausbau, bei extraterristischen Fabriken usw.

— Die Kommission wird zu beweisen haben, daß der breit angelegte Sachverstand der Exekutive und ihrer Gutachter der spezifischen Ergänzung und inhaltlichen Kontrolle aus der Legislative bedarf. Ich kann mir gut vorstellen, daß die von der Kommission veranlaßten und begleiteten Folgenabschätzungen von einer erweiterten Problemanalyse ausgehen und so der breiter angelegten personalen und institutionellen Verantwortung gerecht werden.

— Die Kommission wird verdeutlichen müssen, daß sie in erster Linie kein Oppositionsinstrument ist. Ich kann mir vorstellen, daß die Gewalt einiger Technikfolgen oder die generelle Bedeutung neuer Technologien die Kommission dazu zwingt, sich zuallererst als Repräsentant aller Strahlenbelasteten und aller Informationsverschmutzter zu erkennen. Hier geht es darum, Verfahrens-und Daten-konsens zu erzielen und die weiterhin konfligierenden Bewertungen offenzulegen. Die daraus folgenden Handlungsprogramme werden dann zwischen Opposition und Mehrheit differieren — sie sollen es sogar. — Die Kommission wird nachweisen müssen, daß sie auch ohne einen großen Apparat die wirklich wichtigen Objekte für die Folgenanalysen auswählen, betreuen und schließlich mit bewerteten Empfehlungen an das Parlament und an die Öffentlichkeit weitergeben kann. Aber sie braucht ganz gewiß einen sachverständigen, innovativen Stab, der mit externen Folgeanalytikern umgehen kann und der die Brücke zum politischen Sachverstand in der Kommission mühelos zu schlagen versteht.

Und sie braucht sicherlich viele kompetente Gesprächspartner. Das vorgesehene Instrument der Ad-hoc-Beiräte ist hierfür gewiß hilfreich. Das alles wird auch Geld kosten. Aber wenn es ertragreich ist, dann ist die Kosten-Nutzen-Rate besonders positiv — ganz sicher bei langfristiger Bewertung. — Die Kommission wird schließlich zeigen müssen, daß sie mit ihrer schwierigen Aufgabe einen wichtigen Beitrag zur politischen Verantwortung mittlerer Reichweite gegenüber den Technikfolgen zu leisten vermag. Sie kann die dafür unabdingbare Transparenz herstellen und den Dialog zwischen allen Beteiligten — nicht zuletzt zu den Medien — fördern. Sie muß sich selbst der Öffentlichkeit zugänglich machen, z. B. gelegentlich durch Beratungssitzungen und vor allem durch Foren.

Auf diese Weise wird eine Chance eröffnet, angesichts gefährdender Technikfolgen auch gegenüber den Rationalitäten der gesellschaftlichen Bereiche das Problembewußtsein zu erhöhen und zugleich zu verallgemeinern. Dies ist dann auch ein Stück „Parlamentsreform“.

IX. Eine Wertung

1. Technikfolgenabschätzungen werden für die Zukunft unverzichtbar sein. Sie sind derzeit der fortschrittlichste Ansatz, mit dem den Entscheidungsträgern und bei genügender Transparenz uns allen ein — immer noch bescheidenes — Erkenntnismittel verfügbar gemacht wird.

2. Die Kombination von breit angelegtem Technikfolgenbewußtsein sowie von personaler und institutionalisierter politischer Verantwortung kann uns aus gefährlichen Situationen befreien. Die Verantwortung für Technikfolgen muß angesichts der drohenden und noch unbekannten Gefährdungen, aber auch wegen der sozialen Verunsicherungen, von der Politik übernommen werden — auch und mitrangig vom Parlament.

3. Was jeweils noch zu „verantworten“ ist, kann nur im politischen Prozeß herausgefunden werden. Für das, was die Menschheit als Gattung zu gefährden vermag, kann zwar logisch keine Verantwortung übernommen werden; politisch muß es dennoch passieren. Dies muß auch „Selbstbeschränkung“ heißen können, selbst wenn das aus bisherigen Erfahrungen noch „utopisch“ klingen mag. 4. Dereinst wird man uns alle danach beurteilen, ob wir heute das richtige, zukunftsverträgliche Maß zwischen Förderung und abgeschätzter Zurückhaltung gegenüber neuen Technologien und ihrer Verwertung gefunden haben. Vielleicht wird man dann wenigstens anerkennen, daß wir uns ernsthaft bemühten, unsere Beurteilungskapazität zu erhöhen, die Verantwortung für Technikfolgen ernst zu nehmen und — weil wir egoistisch an unser Überleben dachten — auch einen Beitrag für das Überleben der Kommenden geleistet zu haben. Bertold Brecht hat diese große Spannung zwischen der Bindung an Gewordenes, dem Blick auf die Zukunft und der Forderung des Tages eindringlich beschrieben: „Der den großen Sprung machen will, muß einige Schritte zurückgehen.

Das Heute geht gespeist durch das Gestern in das Morgen.

Die Geschichte macht vielleicht reinen Tisch, aber sie scheut den leeren.“

Fussnoten

Fußnoten

  1. Walther C. Zimmerli, Ausstieg aus der Ethik?, in: Der Spiegel, Nr. 24 vom 9. 6. 1986, S. 48.

  2. Günter Spur. Über intelligente Maschinen und die Zukunft der Fabrik, in: Forschung. Mitteilungen der DFG, (1984) 3, S. I—VIII.

  3. Vgl. Hans Jonas, Das Prinzip Verantwortung. Versuch einer Ethik für die technologische Zivilisation, Frankfurt 1979, S. 8f., 33 und passim.

  4. Vgl. Alfred Weber. Der Dritte oder der Vierte Mensch. Vom Sinn des geschichtlichen Daseins, München 1953, S. 16 ff. und passim.

  5. Vgl. Hans Jonas, Das Prinzip Verantwortung — Zur Grundlegung einer Zukunftsethik, in: Th. Meyer/S. Miller (Hrsg.), Zukunftsethik und Industriegesellschaft, München 1986, S. 11 und passim.

  6. Carl Friedrich von Weizsäcker, Deutlichkeit. Beiträge zu politischen und religiösen Gegenwartsfragen, München-Wien 1981, S. 69.

  7. Vgl. Anton Schlembach. Die Erde — in unsere Hand gegeben (= Predigt Diözesan-Katholikentag 15. Juni 1986), Sonderdruck, S. 5 und passim.

  8. Arnold Künzli, Strukturelle Verantwortungslosigkeit, in: Th. Meyer/S. Miller (Anm. 5), S. 139 — 148, insbes. S. 145.

  9. Heinz Meier-Leibniz, Wissenschaft in der öffentlichen Auseinandersetzung. Herausforderungen der energiepolitischen Diskussion. Vortrag vor dem Energiepolitischen Fachkongreß der CDU am 27. 8. 1986, vervielf. Typoskript, insbes. passim. S. 2

  10. Georg Picht, Technik und Utopie, in: Hier und Jetzt, Band 2, Stuttgart 1981, S. 337.

  11. John H. Gibbons, Einführende Stellungnahme zu dem Internationalen Symposium „Die Rolle der Technikfolgenabschätzung im Entscheidungsprozeß“, in: Technologien auf dem Prüfstand, hrsg. vom Umweltbundesamt Berlin, Köln u. a. 1983, S. 11.

Weitere Inhalte

Carl Bohret, Dipl. -Pol., Dr. rer. pol., geb. 1933; 1971 — 1974 o. Prof, für Politikwissenschaft/Pol. Wir schaftslehre an der Freien Universität Berlin; seitdem Lehrstuhl für Politikwissenschaft an der nachun versitären Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer; dort zugleich Geschäftsführender Direkte des Forschungsinstituts für öffentliche Verwaltung. Zahlreiche politik-und verwaltungswissenschaftliche Veröffentlichungen; in jüngerer Zeit auch zum Ver hältnis von Technik und Politik sowie zur Technikfolgenabschätzung; Lehrbuch „Innenpolitik und poli tische Theorie“ (zus. mit W. Jann und E. Kronenwett), 19873.