I.
Für die Entwicklung des europäischen Staatensystems haben die Vereinigten Staaten von Amerika seit Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts eine ständig zunehmende Bedeutung erlangt. Vor allem die amerikanische militärische Intervention in zwei Weltkriegen hat diesem Tatbestand sichtbaren Ausdruck verliehen. So markiert der Erste Weltkrieg unwiderruflich den Übergang von der „europäischen zur globalen Weltgeschichte“ und den Aufstieg der Vereinigten Staaten von Amerika zur Weltmacht. Angesichts des mit dem Machtzuwachs der USA einhergehenden Gewichtsverlusts Europas und der von der neueren Forschung immer deutlicher herausgearbeiteten Abhängigkeit zahlreicher europäischer Staaten von den USA sind auch die Möglichkeiten und Grenzen europäischer Integrationsbestrebungen nur im Kontext der außenpolitischen Zielsetzungen Washingtons hinreichend zu beurteilen. Am Beispiel des als Marshallplan bekanntgewordenen amerikanischen Hilfsprogramms für das im Zweiten Weltkrieg bis in die Grundfesten erschütterte Europa soll im folgenden die Frage nach integrationspolitischen Zielsetzungen und Wirkungen der amerikanischen Europapolitik diskutiert werden. Da Deutschland ähnlich wie nach dem Ersten Weltkrieg auch in der zweiten Hälfte der vierziger Jahre zum Kernstück amerikanischer Stabilisierungspolitik in Europa wurde, soll dem Deutschlandproblem im Hinblick auf Genesis, Durchführbarkeit und namentlich integrationspolitische Wirkungen besondere Aufmerksamkeit geschenkt werden. Abschließend werden einige Elemente von Kontinuität und Diskontinuität in der amerikanischen Europapolitik nach beiden Weltkriegen skizziert, um die integrationspolitischen Impulse des Marshallplans in einer längerfristigen historischen Perspektive zu würdigen. Zunächst sei jedoch an einige Grundtendenzen der amerikanischen Außenpolitik erinnert.
II.
Die Geschichte der USA ist von Anfang an von einer kontinuierlichen, zunächst kontinentalen und dann überseeischen Expansion gekennzeichnet Expansion ist gewissermaßen das Leitmotiv der amerikanischen Geschichte, wobei der Entwicklung einer wirtschaftlichen Dynamik zentrale Bedeutung zukommt. Wirtschaftlicher Wohlstand als Voraussetzung für die Stabilisierung des gesam-ten Gesellschaftssystems scheint nur bei anhaltender — vor allem kommerzieller — Expansion gesichert. Diesen schon von den Gründervätern des „New Empire of America“ betonten funktionalen Zusammenhang zwischen Systemerhaltung und Expansion haben die Führungseliten der USA bis zur Gegenwart als politisches Axiom betrachtet. Im Unterschied zur europäischen Entwicklung zielte die amerikanische überseeische Expansion jedoch nicht Beherrschung primär auf die formelle überseeischer Territorien, sondern auf eine indirekt-informelle Einflußnahme mittels wirtschaftlicher Durchdringung.
Die wohl wichtigste Strategie zur Realisierung dieser Zielsetzung ist die langfristig angelegte, um die Jahrhundertwende formalisierte Open Door Policy. Diese Politik der Offenen Tür sollte zunächst die Voraussetzung der für die innenpolitische Stabilität als notwendig erachteten Absatzmärkte ermöglichen. Überdies lag ihr die Annahme zugrunde, daß sich der amerikanische Handel aufgrund der amerikanischen Produktionskraft bei formaler Gleichstellung mit anderen Handelsnationen letztlich als überlegen erweisen und schließlich auch die Möglichkeit der politischen Einflußnahme bis hin zur Hegemonialstellung ermöglichen werde Der traditionelle indirekt-informelle Charakter der amerikanischen Außenpolitik kann vor allem für die erste Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts nicht nachdrücklich genug betont werden. Das gilt insbesondere für die sich daraus ergebende Bedeutung der wirtschaftlichen Faktoren für die Washingtoner Außenpolitik. Die Außenwirtschaftspolitik erfüllt zum einen die Aufgabe, Absatzmärkte zu sichern, zum anderen ist sie ein Instrument der amerikanischen Außenpolitik. Eine Analyse, die sich nicht nur am sichtbaren diplomatischen Geschehen orientiert, läßt dies klar erkennen: So verfolgten die USA gegenüber Europa nach dem Ersteh Weltkrieg keineswegs eine sogenannte isolationistische Politik. Vielmehr betrieben sie mit ökonomischen Mitteln in den zwanziger Jahren aktiv eine Stabilisierungspolitik, die in ihren Wirkungen weit über den wirtschaftlichen Bereich hinausging. Die neuere Forschung hat hierfür auf breiter Quellen-lage in überzeugender Weise Belege geliefert. Hervorzuheben ist als Beitrag von deutscher Seite die bahnbrechende Studie des Trierer Politikwissenschaftlers Werner Link
Kernstück dieser Stabilisierungspolitik war Deutschland. Die amerikanischen Führungseliten gingen von der Überzeugung aus, daß eine Stabilisierung Europas nur durch die integrale Einbeziehung Deutschlands möglich sei. Die Aufnahmefähigkeit Deutschlands als Absatzmarkt und generell die Bedeutung Deutschlands für den innereuropäischen Wirtschaftskreislauf waren hier neben anderen Gesichtspunkten — wie etwa der Furcht vor Bolschewisierung oder Ostorientierung — das entscheidende Argument. In den dreißiger Jahren suchte die amerikanische Diplomatie den Gang der europäischen Ereignisse ebenfalls durch wirtschaftliche Maßnahmen zu beeinflussen.
Auch nach 1933 blieb Deutschland Kernstück der amerikanischen Europapolitik, allerdings mit jetzt negativem Vorzeichen. Präsident Franklin D. Roosevelt, dessen außenpolitischem Handlungsspielraum durch die Neutralitätsgesetzgebung des Kongresses und die isolationistischen Impulse aus der Öffentlichkeit Grenzen gezogen waren, setzte vor allem auf eine engere wirtschaftliche Kooperation mit Großbritannien und den damit einhergehenden Versuch einer wirtschaftlichen Eindämmung des Dritten Reiches -
Im Gegensatz zur britischen Politik war die Regierung Roosevelt nicht bereit, mit dem Dritten Reich Kompromisse einzugehen. Ziel blieb der „unteilbare Weltmarkt“ Das machen die Prinzipien der Atlantik-Charta deutlich, auf die Roosevelt den britischen Premierminister Churchill im August 1941 verpflichtete. In der Atlantik-Charta hatten sich die außenpolitischen Zielsetzungen Roosevelts zum Programm einer künftigen „Pax Americana“ verdichtet Die innerstaatliche wie die internationale Ordnung sollten sich am Modell Amerika orientieren. In dieser für die ganze Welt verbindlichen liberalen Weltordnung, in dieser One World, würde den USA aufgrund ihrer wirtschaftlichen Potenz automatisch die Führungsrolle zufallen, so lautete die allerdings nicht lautstark proklamierte Überlegung der amerikanischen Führungseliten. Das amerikanische One-World-Konzept wurde durch die Politik der Sowjetunion und namentlich die Etablierung einer sowjetischen Einflußsphäre in der Entstehungsphase des Kalten Krieges zunehmend in Frage gestellt Es entsprach der Tradition amerikanischer Außenpolitik, wenn Washington zunächst versuchte, durch bilateral gewährte Wirtschafts-und Finanzhilfen (oder deren Verweigerung) wirtschaftlichen und politischen Krisensituationen in Europa entgegenzuwirken und zugleich die internationalen Rahmenbedingungen nach den eigenen Ordnungsvorstellungen zu gestalten. Allerdings blieben die Wirkungen der bilateralen Hilfsaktionen der Jahre 1945 und 1946 hinter den amerikanischen Erwartungen zurück.
III.
Zu Beginn des Jahres 1947 zeichnete sich immer deutlicher ab, daß in den USA das Ausmaß der wirtschaftlichen Erschütterungen in Europa unterschätzt worden war. Private und staatliche Hilfeleistungen in der Größenordnung von 11 Milliarden Dollar waren wirkungslos versickert. Das erklärt, warum seit Anfang 1947 in den USA Neuansätze in der amerikanischen Europapolitik diskutiert wurden, bei denen jetzt der Gedanke der innereuropäischen Wirtschaftskooperation in den Mittelpunkt gestellt wurde Bahnbrechend für die öffentliche Diskussion war eine Rede des späteren Außenministers John Foster Dulles im Vorfeld der im März 1947 beginnenden Moskauer Außenministerkonferenz. Der Republikaner Dulles propagierte den Gedanken einer wie auch immer gearteten „europäischen Wirtschaftsföderation“ mit der dramatischen Formel „Europe Must Federate or Perish“ Der Ausgang der Moskauer Konferenz veranlaßte dann auch Außenminister Marshall, die unbefriedigende Entwicklung der europäischen Wirtschaft und namentlich die sich verstärkenden „desintegrativen Kräfte“ öffentlich zu beklagen
Das Problem der innereuropäischen wirtschaftlichen Zusammenarbeit beschäftigte in zunehmendem Maße auch verschiedene Regierungsinstitutionen und neugeschaffene Planungsstäbe. Ein zur Prüfung von Notwendigkeit und Möglichkeiten amerikanischer Auslandshilfe etablierter Ausschuß, in dem Außen-, Kriegs-und Marineministerium vertreten waren, verwies auf die enge Verflechtung der europäischen Volkswirtschaften und gelangte zu dem Schluß, daß Höhe und Dauer amerikanischer Hilfeleistungen „unmittelbar von einer erfolgreichen Integration und Koordination der Wirtschaftsprogramme in den gefährdeten Ländern abhängen“
Der als Architekt des Containment-Konzepts bekannt gewordene George F. Kennan betonte in den Analysen des Planungsstabes des State Department, daß ein Mindestmaß an innereuropäischer Kooperation ebenfalls eine Voraussetzung für eine amerikanische finanzielle Unterstützung Europas darstelle Aus der Fülle der Lagebeurteilungen und Lösungsvorschläge sei hier insbesondere auf eine Denkschrift des Under Secretary of State for Economic Affairs, Will Clayton, verwiesen. Es sei jetzt offenkundig, so betonte Clayton im Mai 1947, daß die amerikanische Regierung das Ausmaß der kriegsbedingten Zerstörungen völlig unterschätzt habe. Insbesondere seien in den bisherigen Lagebeurteilungen die negativen Auswirkungen zahlreicher wirtschaftlicher Störmomente wie Nationalisierung von Industrien, einschneidende Bodenreformen sowie die Unterbrechung traditioneller Außenhandelsverflechtungen in ihren negativen Auswirkungen auf die Produktion nicht hinreichend in Rechnung gestellt worden. Die Situation in Europa verschlechtere sich zunehmend. Die politische Situation sei ein Reflex der wirtschaftlichen Lage.
Die desparate europäische Wirtschaftslage manifestierte sich nicht zuletzt in den Zahlungsbilanzdefiziten, die Clayton für Großbritannien mit 2, 25 Milliarden Dollar, für Frankreich mit 1, 75 Milliarden Dollar sowie für Italien und die Bizonc mit jeweils 500 Millionen Dollar pro Jahr bezifferte. Die dringend erforderlichen Importe von Kohle und Brot-getreide sowie die Aufwendungen für Frachtkosten seien hierfür in erster Linie verantwortlich. Wolle man eine Reduzierung dieser Defizite durch eine weitere Senkung des Lebensstandards erzielen, dann werde ein absolutes Minimum unterschritten, dann drohe die „Revolution“. Ohne schnelle und substantielle Hilfe aus den USA würde Europa von einer weiteren ökonomischen, sozialen und politischen Desintegration heimgesucht werden. Abgesehen von den furchtbaren Folgen für Frieden und Sicherheit würden die unmittelbaren Wirkungen auf die amerikanische Wirtschaft verheerend sein:
Dem Verlust von Auslandsmärkten würden Arbeitslosigkeit und Depressionen folgen.
Der Diagnose folgte ein Therapievorschlag:
Washington müsse die Initiative ergreifen und für die nächsten drei Jahre jeweils sechs bis sieben Mil-liarden Dollar bereitstellen, um den europäischen Wiederaufbau schnell voranzutreiben. Die meisten der in Europa benötigten Güter könnten überdies aus der amerikanischen Überschußproduktion bzw. durch nur geringe Einsparungen in den USA bereitgestellt werden. Angesichts der enormen amerikanischen Produktionskraft sei die Lösung der Aufgabe möglich.
Der von Clayton zunächst auf drei Jahre veranschlagte Europaplan sollte von den wichtigsten europäischen Ländern unter Führung Großbritanniens, Frankreichs und Italiens auf der Grundlage einer „europäischen wirtschaftlichen Föderation“ etwa nach dem Muster der Benelux-Zollunion erarbeitet werden. Bei einem Fortdauern der wirtschaftlichen Zersplitterung Europas sei eine durchgreifende Erholung nicht denkbar. Zur innenpolitischen Durchsetzung des Hilfsprogramms hielt es Clayton für notwendig, an das amerikanische Volk zu appellieren, „den Gürtel nur ein wenig enger zu schnallen, um Europa vor Hungertod und Chaos (nicht vor den Russen) zu retten, um für uns selbst und unsere Kinder das glorreiche Erbe eines freien Amerika zu bewahren.“
Am 29. Mai traf Außenminister Marshall mit zahlreichen Mitarbeitern des State Department — darunter Clayton und Kennan — zu einer Diskussion der vorliegenden Materialien zur europäischen Krise zusammen. Man war sich in der Diskussionsrunde darüber einig, daß irgendeine Form der „engeren europäischen Zusammenarbeit“ gefunden werden müsse, möglicherweise in Form einer „wirtschaftlichen Föderation“, um die gegenwärtigen ökonomischen Hindernisse innerhalb Europas abzubauen. Zu den wirtschaftlichen Überlegungen traten taktisch-politische Aspekte. Die Europäer müßten Verantwortung übernehmen, argumentierte Kennan, damit mögliche Fehlschläge nicht den USA angelastet werden könnten. Überdies werde dann der Eindruck vermieden, ergänzte Charles Bohlen (Special Assistant to the Secretary of State), Washington wolle Europa den „American Way“ aufzwingen
Als der Außenminister am 5. Juni 1947 vor der Harvard-Universität das amerikanische Hilfsprogramm für Europa ankündigte stützte er sich unter anderem auf das zitierte Memorandum Claytons. Marshall stellte in Anknüpfung an die vorausgegangenen Debatten bei der Erläuterung der ins Auge gefaßten Maßnahmen ebenfalls einer gesamteuropäischen Kontext her. Es komme insbesondere darauf an, den „circulus vitiosus“ zu durchbrechen und „das Vertrauen der europäischen Völker in die wirtschaftliche Zukunft ihres eigenen Landes und Europas als Ganzem wiederherzustellen“. Es sei allerdings „klar“, daß vor dem Beginn der angekündigten Hilfe eine „gewisse Überein-stimmung“ insbesondere auch darüber vorhanden sein müsse, welche Aufgaben die Europäer selbst übernehmen wollten.
Es war nach Auffassung des Außenministers nicht Aufgabe der amerikanischen Regierung, „einseitig ein Programm aufzustellen“, um Europa „wirtschaftlich auf die Beine zu helfen.“ Vielmehr müsse die Initiative von den Europäern ausgehen: „Unsere Rolle sollte in einer freundschaftlichen Hilfe beim Entwurf eines europäischen Programms und der späteren Unterstützung eines solchen Programms bestehen, soweit dies für uns möglich ist.“ Dieses Programm solle im „Einvernehmen mit einer Anzahl, wenn nicht mit allen europäischen Nationen aufgestellt werden“. Zugleich machte Marshall die im weitesten Sinne politische Komponente des angekündigten Hilfsprogramms deutlich: Die USA müßten alles in ihrer Macht stehende tun, um die wirtschaftliche Gesundung der Welt zu unterstützen, ohne die es keine politische Stabilität und keinen sicheren Frieden gebe. Ziel müsse die Wiederbelebung einer gut funktionierenden Weltwirtschaft sein, „so daß politische und soziale Verhältnisse entstehen, in denen die freien Institutionen weiterleben können“.
Die von Marshall in seiner Harvard-Rede und auf diplomatischen Kanälen geforderte europäische Initiative zum Entwurf eines europäischen Aufbauprogramms hat der britische Außenminister Ernest Bevin ohne Zögern ergriffen und die Verhandlungen mit den potentiellen Teilnehmerländern in Gang gesetzt. Diese Initiative Bevins hatte zwei bemerkenswerte Ergebnisse: die Absage der Sowjetunion an den Marshallplan und die konkrete Formulierung der Grundzüge eines europäischen Wiederaufbauprogramms. Die ablehnende Haltung der Sowjetunion begründete der sowjetische Außenminister Molotow auf der Pariser Außenministerkonferenz (27. Juni — 2. Juli 1947) mit der Gefahr einer westeuropäischen Blockbildung. Die Sowjetunion war nicht bereit, auf die amerikanischen Vergabebedingungen einzugehen; sie versagte auch den sich in ihrem Machtbereich befindenden Staaten eine Beteiligung am amerikanischen Hilfsprogramm. Damit war eine wichtige Vorklärung über die geographische Reichweite des geplanten Hilfsprogramms getroffen. Auf der „Konferenz für wirtschaftliche Zusammenarbeit in Europa“ erarbeiteten die 16 Teilnehmer-staaten konsequenterweise ein westeuropäisches Wirtschaftsprogramm, das die Grundlage für den Anfang April 1948 in Kraft getretenen Economic Cooperation Act bildete „Eingedenk der Vorteile, welche die Vereinigten Staaten durch das Vorhandensein eines großen heimischen Marktes ohne interne Handelsbeschränkungen erfahren haben“, wurde es in der Präambel des Gesetzes als Politik des amerikanischen Volkes definiert, die Länder Europas „durch eine gemeinsame Organisation zu ermutigen, sich mit vereinten Kräften zu bemühen, ... um die wirtschaftliche Zusammenarbeit in Europa rasch zustande zu bringen, die für dauernden Wohlstand und Frieden wichtig ist.“ Es wurde als Prinzip der amerikanischen Politik bezeichnet, die „dauernde Hilfe“ zu „allen Zeiten“ von der dauernden Zusammenarbeit der an diesem Programm beteiligten Staaten abhängig zu machen.
Der im „Gesetz für wirtschaftliche Zusammenarbeit von 1948“ geforderte organisatorische Rahmen für die innereuropäische Zusammenarbeit wurde durch die Gründung der OEEC (Organization for European Economic Cooperation) ausgefüllt. Mit dem „Europäischen Wirtschaftsrat“ wurde ein wichtiges multilaterales Gremium geschaffen. Es war sowohl Ausdruck der von Washington verordneten europäischen Integration als auch ein wichtiges Forum zur Fortentwicklung innereuropäischer Zusammenarbeit. 1950 schlossen sich die USA und Kanada der zeitlich nicht befristeten OEEC als assoziierte Mitglieder an, „um damit der bisher geübten Zusammenarbeit einen sichtbaren Ausdruck zu geben und ihr gleichzeitig feste Gestalt und Dauer zu sichern sowie ihre Einschätzung der politischen Bedeutung dieser umfassendsten europäischen Nachkriegsorganisation zu bekunden“, stellte der Bundesminister für den Marshallplan 1953 zusammenfassend fest Zugleich vermochten die USA als assoziiertes Mitglied in der OEEC „als externe Elite interne Kontroll-und Leitungsfunktionen im Anfangsprozeß der europäischen Zusammenarbeit“ auszuüben Während von der OEEC schon durch deren Existenz integrative Impulse ausgingen, traf dies für die Abwicklung der amerikanischen Marshallplanhilfe zunächst nur eingeschränkt zu.
IV.
Die im Rahmen des Marshallplans gewährte Dollarhilfe förderte zunächst nur in begrenztem Maße die auf amerikanischer Seite postulierte Wiederherstellung der innereuropäischen Handelsverflechtungen. Denn zum einen wurde diese Hilfe den Teilnehmerländern in bilateralen Abkommen zugeteilt, zum anderen stand diese Dollarhilfe im wesentlichen nur zur Lieferung amerikanischer Produkte zur Verfügung. Lediglich in dem überaus begrenzten Umfang, in dem Washington die den einzelnen Ländern zugesagten Lieferungen in Europa selbst aufkaufte, trug dies zu einer innereuropäischen Handelsverflechtung bei.
Für wie gering die integrativen Wirkungen des Marshallplans von zeitgenössischen Kritikern eingestuft wurden, belegen Äußerungen Fritz Baades vom Kieler Institut für Weltwirtschaft. Nicht „nur unter dem deutschen, sondern insbesondere auch unter dem europäischen Gesichtspunkt“ gelangte er zu einer „ziemlich pessimistischen Beurteilung des Marshallplans in seiner Gesamtheit“. Baade verwies insbesondere auf die nach nationalwirtschaftlichen Gesichtspunkten vergebenen Investitionshilfen. Was dabei herauskomme, sei „eine vom amerikanischen Steuerzahler finanzierte Balkanisierung des europäischen Wirtschaftsraumes“
Eine derartige Sichtweise wird freilich den vom European Recovery Program in Gang gesetzten sekundären Integrationseffekten der von den USA erzwungenen innereuropäischen Wirtschaftshilfe kaum gerecht. Es ist das Verdienst Werner Abelshausers, unlängst auf die Bedeutung dieser innereuropäischen Hilfeleistungen hingewiesen und damit die „bahnbrechende Rolle“ des sogenannten Kleinen Marshallplans verdeutlicht zu haben Der Kleine Marshallplan entwickelte sich aus dem „Abkommen über den innereuropäischen Zahlungs-und Verrechnungsverkehr“ vom 16. Oktober 1948 Auch der Kleine Marshallplan setzte zunächst beim Zahlungsbilanzproblem an und zielte konkret darauf ab, die Zahlungsbilanzdefizite der europäischen Teilnehmerländer untereinander auszubalancieren. Das European Recovery Program gewann insofern eine „neue Dimension“, als „potentielle Überschußländer wie Großbritannien, Belgien/Luxemburg, Italien und Westdeutschland gedrängt wurden, ihrerseits potentiellen Defizitländern Wirtschaftshilfe zu leisten“ Das bedeutete in der Praxis, daß jedes Teilnehmerland, das gegenüber einem anderen eine aktive Zahlungsbilanz aufwies, diesem eine Wirtschaftshilfe in Höhe des Aktivsaldos gewährte. Abgewickelt wurde diese Wirtschaftshilfe durch sogenannte Ziehungsrechte, die nicht auf Dollar basierten, sondern sich jeweils auf die Währung des Überschußlandes bezogen. Auf diese Weise wurde einer weiteren Schrumpfung des innereuropäischen Handels insofern entgegengewirkt, als die Länder mit Importüberschüssen von dem Druck befreit waren, ihren Passivsaldo durch Importrestriktionen zu verringern. Zwar handelte es sich hier um ein prinzipiell bilaterales System, doch hatten die vertragschließenden Staaten ihre Absicht zur Schaffung einer „vollständigen Multilateralität des Zahlungsverkehrs“ bekundet
Bei der Revision des Abkommens vom Oktober 1948 drängte Washington dann darauf, die Ziehungsrechte transferierbar zu machen und damit das System multilateral auszuweiten. Wenngleich diese Multilateralisierung mit Rücksicht auf Großbritannien auf ein Viertel der anfallenden Ziehungsrechte beschränkt blieb, war dies doch immerhin ein wichtiger Schritt zur Intensivierung der innereuropäischen Handelsverflechtungen.
Es kann nicht überraschen, daß die zur innereuropäischen Wirtschaftshilfe verpflichteten Länder über den Kleinen Marshallplan nicht gerade begeistert waren und über „Konstruktionsmängel“ klagten, doch konnten sie sich den Wünschen Washingtons kaum entziehen, denn dies hätte für sie eine entsprechende Kürzung der amerikanischen Marshallplanhilfe auf Dollarbasis bedeutet Die USA haben hier ihre Druckmöglichkeiten genutzt/um die am European Recovery Program beteiligten europäischen Staaten im handels-und währungspolitischen Bereich auf einen Integrationskurs zu zwingen. „Zweifellos“ seien die Ziehungsrechte, so ein deutscher Kommentar, „ein ungeheuer großer Schritt vorwärts zu einer europäischen Wirtschaftsgemeinschaft“ In diesem Integrationsprozeß kam Westdeutschland nicht zuletzt deshalb besondere Bedeutung zu, weil es im europapolitischen Kalkül Washingtons einen zentralen Stellenwert einnahm.
V.
Nach der Niederlage des Dritten Reiches leiteten die USA in Westdeutschland vor allem im Bereich der Wirtschaft erstaunlich schnell eine Rekonstruktion ein. Dieser Übergang Washingtons zu einer Stabilisierungspolitik hat sich auch in den Weisungen der amerikanischen Militärregierung niedergeschlagen. Die an Grundzügen des sogenannten Morgenthauplans orientierte „destruktive“ Weisung JCS (Abkürzung von Joint Chiefs of Staff) 1067 vom Frühjahr 1945, die auf eine drastische Reduzierung und Kontrolle des deutschen Industriepotentials abzielte, wurde Mitte 1947 durch die zum Teil „konstruktive“ Weisung 1779 zumindest partiell zurückgenommen Allerdings läßt sich der sich hier manifestierende Wandel in der amerikanischen Deutschlandpolitik nicht auf einen starren Wendepunkt fixieren, wenngleich Ereignisse wie Byrnes Stuttgarter Rede Veränderungen signalisierten. Insgesamt gesehen stellte sich die amerikanische Deutschlandpolitik in den ersten Jahren nach dem Sieg über Deutschland häufig widersprüchlich dar. Die Rivalitäten verschiedener Institutionen, allen voran State Department und amerikanische Militärregierung, verstärkten derartige Widersprüche. Es charakterisiert diese Situation, wenn amerikanische Politiker und Wirtschaftler von ihren Deutschlandreisen mit dem Eindruck zurückkehrten, daß Washington konsequenter als bisher alles vermeiden müsse, was die wirtschaftliche Erholung in der Bizone verhindere.
Im Sommer 1947 nahm beispielsweise Handelsminister Averell Harriman eine Deutschlandreise zum Anlaß, sich in einem Bericht für Präsident Truman für eine Präzisierung der deutschlandpolitischen Ziele Washingtons einzusetzen Die Grundüberlegungen Harrimans orientierten sich ganz an dem Ziel der Beseitigung von Reibungsverlusten, die nach seiner Auffassung einer Steigerung der wirtschaftlichen Effizienz entgegenstanden. So forderte der Handelsminister ein Ende der Entnazifizierung. Nur so sei es möglich, daß vor allem die Führungskräfte ihre produktiven Aktivitäten wieder voll entfalten könnten. Ähnlich müsse auf eine weitere Forcierung der Dekartellisierungspolitik verzichtet werden. Hier würden nämlich historisch gewachsene Strukturen zerstört, mit überaus negativen Auswirkungen auf die Industrieproduktion. Wenn es das Ziel der USA sei, privatwirtschaftliche Unternehmen zu begünstigen, dann müsse man den Deutschen die Entscheidung über den Charakter der Organisationsstrukturen ihrer Privatwirtschaft selbst überlassen, solange die demokratischen Rahmenbedingungen beachtet würden. Bei der Festsetzung der deutschen Stahlkapazitäten sollten sich die USA an der gegenwärtigen weltweiten Stahlknappheit orientieren. Hier seien Demontage-und Reparationspraxis — sofern es sich nicht um reine Rüstungsbetriebe handele — zu beenden. Das gelte auch in bezug auf die bei den westlichen Alliierten vorhandenen Hoffnungen auf weitere Reparationsleistungen in Form demontierter deutscher Betriebe, die für die deutsche Produktionskapazität große Verluste bedeuteten, an deren Reaktivierung aber auch den westlichen Alliierten in deren eigenem Interesse gelegen sein müsse.
Die Erholung der deutschen Wirtschaft, daran bestand für Hamman kein Zweifel, konnte sich nur auf der Grundlage gesteigerter industrieller Produktion vollziehen. Hier kam es insbesondere darauf an, durch Erhöhung von Transportkapazitäten und Kohleproduktion die wichtigsten Engpässe zu überwinden. Vor allem am Beispiel der hinter den Planungen zurückgebliebenen Kohleproduktion verdeutlichte Harriman den engen Zusammenhang zwischen der Arbeitsleistung der Bevölkerung und deren Versorgung mit Lebensmitteln; eine tägliche Ration von 1 880 Kalorien wurde als Minimum bezeichnet. Es gehe allerdings, so der Handelsminister, nicht nur um eine kalorienmäßige Versorgung der deutschen Bevölkerung, sondern generell um eine schnelle Überwindung des gegenwärtigen beklagenswerten und chaotischen Zustands in Deutschland. Nur so könne Washington seine deutschlandpolitischen Ziele realisieren, nämlich die Entwicklung einer gesunden demokratischen Gesellschaft als Bestandteil eines westeuropäischen Systems, als „Bollwerk gegen die kommunistische Infiltration und schließlich auch als Ausgangsbasis für die Verbreitung demokratischen Gedankenguts in den von der Sowjetunion beherrschten Staaten Osteuropas.“
In einem grundlegenden Policy Statement vom August 1948 hat das State Department unmißverständlich darauf hingewiesen, daß die langfristige politische und ökonomische Rekonstruktion Westdeutschlands Bestandteil der Washingtoner Politik sei -Wenn sich die amerikanische Deutschland-politik trotz fortbestehender Widersprüchlichkeiten zu einer derart klaren Zielsetzung verdichtet hatte, dann sind hierfür auf amerikanischer Seite zahlreiche ökonomische und politische Faktoren verantwortlich. Die folgenden Gesichtspunkte sollen besonders hervorgehoben werden: 1. Deutschland war ein wichtiges Konfliktfeld für Genesis und Verschärfung des Ost-West-Gegensatzes. Im Interesse einer Begrenzung und Zurückdrängung sowjetischer Einflußnahme in den Westzonen schien eine Verhindertng von ökonomischem Chaos dringend geboten. Vor allem der stellvertretende amerikanische Militärgouverneur, Lucius D. Clay, hat auf diese Zusammenhänge, die ihn veranlaßten, ab Frühjahr 1946 in der amerikanischen Zone zu einer pragmatischen Stabilisierungspolitik überzugehen, wiederholt hingewiesen. 2. Nur im Zuge einer wirtschaftlichen Stabilisierungspolitik eröffnete sich die Möglichkeit, die finanziellen Lasten der Besatzungspolitik wenigstens partiell zu reduzieren. 3. Eine wirtschaftliche Stabilisierung lag nicht nur im finanziellen, sondern generell im ökonomischen Interesse der USA. Neben der Bedeutung Westdeutschlands als Absatzmarkt ist auch die Wiederbelebung von Industriekooperationen und Investitionen zu nennen. 4. Die Schwäche Westdeutschlands eröffnete der amerikanischen Regierung die besten Möglichkeiten, Rekonstruktionshilfen mit der Durchsetzung eigener Ordnungsvorstellungen zu verknüpfen. 5. Schließlich rückte innerhalb der Truman-Administration immer stärker die Auffassung ins Zentrum der Überlegungen, daß Deutschland für den gesamteuropäischen Rekonstruktionsprozeß eine Schlüsselfunktion zukam.
Dieser deutschlandpolitische Bezug des European Recovery Program wurde in der Rede Marshalls zwar nicht direkt angesprochen; hier handelte es sich allerdings um eine innen-wie außenpolitisch motivierte taktische Zurückhaltung. In internen Überlegungen der Truman-Administration ist die Schlüsselfunktion Deutschlands nämlich wiederholt klar formuliert worden. In den von George F. Kennan unterzeichneten Empfehlungen des Policy Planning Staff vom 23. Mai 1947 wurde zu Recht auf die Bedeutung der deutschen Kohlevorkommen für die Wiederbelebung der europäischen Wirtschaft verwiesen Der Koordinierungsausschuß von Außen-, Kriegs-und Marineministerium formulierte generell seine Überzeugung, daß jedes europäische Wiederaufbauprogramm notwendigerweise Deutschland mit einkalkulieren müsse Die den drei Ministerien vorstehenden Minister kamen kurz darauf überein, daß bei den vorbereitenden Planungen des europäischen Wiederaufbauprogramms die besetzten Gebiete repräsentiert sein müßten Und in einer grundlegenden Denkschrift des State Department vom Juli 1947 heißt es: „Die Bedeutung Deutschlands für die allgemeine Erholung Europas ist bekannt und bedarf keiner statistischen Untermauerung.“ Jeder unvoreingenommene Betrachter der europäischen Wirtschaft der Zwischenkriegszeit müsse die zentrale Funktion erkennen, welche der deutschen Produktivität und dem deutschen Markt zukomme. Für die Gesun-düng Europas sei eine weitere Anhebung der deutschen Produktion unerläßlich
Auch Handelsminister Harriman argumentierte in dem zitierten Bericht für Präsident Truman, daß es unmöglich sei, eine sich selbst tragende europäische Wirtschaft wiederherzustellen, ohne daß ein „gesundes Deutschland“ daran Anteil habe — als Produzent und als Konsument. Dies gelte nicht nur in bezug auf die finanziellen Interessen der USA, sondern sei auch für den Erfolg des europäischen Hilfsprogramms unabdingbar. Es liege im übrigen durchaus auch im Interesse derjenigen westlichen Alliierten, die Reparationslieferungen aus Deutschland zu erhalten wünschten
Die Interdependenz der Rekonstruktionsprozesse in Westdeutschland und Westeuropa wurde in dem erwähnten Policy Statement des State Department vom Sommer 1948 nachdrücklich hervorgehoben Der Erfolg des Marshallplans wurde ausdrücklich von einer aktiven Stabilisierungspolitik in Deutschland abhängig gemacht. Zumindest potentiell sei Deutschland einer der wichtigsten Lieferanten so dringend benötigter Waren wie Kohle, Berg-baumaschinen und Industrieausrüstungen. Deutschland sei gleichermaßen ein potentiell bedeutsamer Markt für europäische Produkte. Aus diesem Grunde sei die wirtschaftliche Gesundung Deutschlands für die gesamteuropäische wirtschaftliche Gesundung lebensnotwendig. Umgekehrt sei auch die wirtschaftliche Gesundung Deutschlands in einem großen Maße von der wirtschaftlichen Gesundung der anderen europäischen Staaten abhängig, da diese für deutsche Exporte die Haupt-absatzmärkte seien. Es sei die Politik der USA, dieser Interdependenz die größtmögliche Aufmerksamkeit zu widmen, um dem European Recovery Program insgesamt die größte Wirkung zu verleihen. Die Beteiligung Westdeutschlands am European Recovery Program stand für Washington nicht zur Disposition. Es unterstreicht den zentralen Stellenwert Westdeutschlands in der amerikanischen Marshallplan-Strategie, wenn George F. Kennan in dem — gelegentlich als Neutralisierungskonzept mißverstandenen — Deutschlandprogramm vom November 1948, dem sogenannten „Program A“, noch einmal klarstellte, daß es in dieser Frage keinerlei Kompromißbereitschaft geben dürfe. Die USA würden keine Vereinbarungen ein- gehen, welche die Deutschen hindern könnten, sich am European Recovery Program zu beteiligen. Denn sonst würde Deutschland in wirtschaftlicher Hinsicht der „Gnade Rußlands“ ausgeliefert und die Zielsetzungen des European Recovery Program zunichte gemacht
Die angeführten Beispiele — in den amerikanischen Akten sind weitere Belege mühelos zu finden — machen deutlich, warum der im Einflußbereich der amerikanischen Politik liegende Teil Deutschlands in die Planungen des European Recovery Program von Anfang an als integraler Bestandteil einbezogen wurde.
Die Integration Westdeutschlands in die Marshallplan-Strategie hatte für die innen-wie außenpolitische Orientierung Westdeutschlands und dann der Bundesrepublik weitreichende Konsequenzen Das gilt nicht zuletzt im Hinblick auf die hier zur Debatte stehenden integrativen Wirkungen der westdeutschen Beteiligung am Marshallplan. Konsequenzen ergaben sich zum einen aus der Zielsetzung der amerikanischen Deutschlandpolitik, zum anderen aus der Lagebeurteilung der westdeutschen Führungseliten in der Entstehungsphase der Bundesrepublik. Was die amerikanische Politik anbelangt, so ist daran zu erinnern, daß Washington in keiner anderen europäischen Region derart umfassende Einflußmöglichkeiten besaß wie in Westdeutschland. Noch bedeutsamer ist allerdings generell die umfassende Zustimmung, auf die der Marshallplan in Westdeutschland stieß und insbesondere das Interesse der Führungsschichten von Politik und Wirtschaft, die integrativen Impulse des Marshallplans für die allmähliche Entfaltung westdeutscher Außenwirtschafts-und Außenpolitik zu nutzen.
Namentlich der Vorsitzende des Verwaltungsrates der Bizone, Hermann Pünder, hat auf diese im weitesten Sinne außenpolitische Bedeutung des Marshallplans für Westdeutschland und Europa insgesamt wiederholt hingewiesen. „Das gemeinsame Ziel aller unserer Überlegungen muß die allmähliche Wiedereingliederung Deutschlands in die Wirtschaft Europas sein. Wir wollen und können wohl auch hoffen, daß die in Gang gekommenen Erörterungen über den Marshall-Plan zu einer allmählich immer enger werdenden Verflechtung der europäischen Wirtschaft den letzten großen Anstoß geben werden. In solch einer Verflechtung der Wirtschaften aller Länder würde nicht nur der Beginn des Aufstiegs auch unserer eigenen Wirtschaft liegen, sondern gleichzeitig auch die beste Sicherung eines echten und dauerhaften Friedens; denn je stärker diese internationale Verflechtung wird, um so geringer werden die Aussichten für die etwaigen kriegslüsternen Wünsche einer neuen Gottesgeißel“, formulierte Pünder im März 1948 vor der 13. Vollversammlung des Wirtschaftsrates
Er fügte ein Jahr später vor demselben Gremium hinzu, daß auch in der deutschen Öffentlichkeit „noch nicht ganz verstanden worden“ sei, „daß der Marshallplan keine Liebesgabenaktion größten Stils ist, sondern eine wirtschaftliche Initialzündung; daß er dem kranken Europa keine Krücken reichen will, auf die gestützt es den Lebensabend ermatteter Kulturen verbringen soll, sondern daß es nach langem Krankenlager nur bei seinen ersten Schritten gestützt wird, um in einigen Jahren wieder auf seinen eigenen gesunden Füßen stehen zu können.“ Dieses Ziel des Marshallplans könne allerdings nur „in planmäßigem wirtschaftlichen Zusammenwirken der europäischen Nationen“ erreicht werden. „Für eine nationalwirtschaftliche Kirchturmpolitik ist kein Raum mehr.“
So zeige dann auch die Entwicklung der Arbeit der Organisation für Europäische Wirtschaftliche Zusammenarbeit in Paris bereits „recht erfreuliche Ansätze eines wirklich gesamteuropäischen Denkens aller Teilnehmerländer“. Dieser Organisation sei es vom deutschen Standpunkt aus „besonders hoch anzurechnen, daß sie in zunehmendem Maße auch Verständnis für unsere Lage und die Möglichkeiten Westdeutschlands, zur wirtschaftlichen Gesundung Europas beizutragen“, gezeigt habe und daß sie hieraus „nicht nur wirtschaftlich, sondern in ihrer gesamten Einstellung gegenüber Deutschland Folgerungen zu ziehen“ beginne. Gerade diese „schon jenseits des Wirtschaftlichen liegenden Folgerungen, welche einem neuen demokratischen Deutschland den Weg zu einem Wiederaufbau in die europäische Völkerfamilie ebnen sollen, sind für uns besonders wichtig“. Deutschland dränge nicht. „Uns stärkt aber die Überzeugung, daß die vom Marshallplan ins Leben gerufene europäische Zusammenarbeit nicht auf die Dauer des europäischen Hilfsprogramms beschränkt ist, sondern darüber hinaus andauern muß.“ Pünder wertete es als positives Zeichen, daß die OEEC bereits beschlossen habe, ihre Tätigkeit auch nach Ablauf des Marshallplans fortzusetzen Die von Pünder und anderen Bizonen-Repräsentanten „zur künftigen Gestaltung der Außenbeziehungen abgegebenen Willens-und Absichtserklärungen . . . fügten sich grundsätzlich in das internationale ökonomische und bald auch sicherheitspolitische Konzept der USA ein.. . . Schon in der bizonalen Vorphase der Bundesrepublik begann sich das Strukturgitter der ökonomisch-politischen Westintegration herauszubilden.“ Westintegration blieb auch die außenpolitische Leitidee der Regierung Adenauer. „Auf außenpolitischem Gebiet liegt unsere Linie fest“, schrieb Adenauer im August 1949, „sie richtet sich in erster Linie darauf, ein enges Verhältnis zu den Nachbarstaaten der westlichen Welt, insbesondere auch zu den Ver-einigten Staaten herzustellen. Es wird von uns mit aller Energie angestrebt werden, daß Deutschland so rasch wie möglich als gleichberechtigtes und gleichverpflichtetes Mitglied in die europäische Föderation aufgenommen wird.“
Zur Realisierung dieser Politik haben die Marshallplan-Lieferungen und die im Rahmen des European Recovery Program geschaffenen multilateralen Gremien einen entscheidenden Beitrag geleistet. Die Frankfurter Allgemeine Zeitung stellte mit Genugtuung fest, daß mit der Einbeziehung Westdeutschlands in den Marshallplan „unsere Zugehörigkeit zur westlichen Welt auch praktisch anerkannt“ werde
VI.
Der zentrale Stellenwert Westdeutschlands in der amerikanischen Europapolitik und der daraus resultierende wirtschaftliche und politische Wieder-aufstieg der westlichen Besatzungszonen und der Bundesrepublik haben für viele europäische Staaten schwerwiegende ökonomische und sicherheitspolitische Probleme aufgeworfen. Das gilt besonders für Frankreich.
So veranlaßte bereits der neue Industrieplan für die Bizone vom August 1947 die französische Diplomatie, ihre Besorgnis zu artikulieren und eine Beteiligung an der Kontrolle des deutschen Industriepotentials im Ruhrgebiet zu fordern Selbstverständlich war man sich auf amerikanischer Seite über die französischen Vorbehalte gegen eine schnelle Rekonstruktion Westdeutschlands im klaren. Namentlich im State Department wurde eingeräumt, daß es aus französischer Sicht legitim sei, zwischen dem neuen Industrieplan und den französischen Sicherheitsinteressen einen Zusammenhang herzustellen. Zugleich wurde die These vertreten, daß eine französische Kooperation sowohl für die Realisierung der amerikanischen Deutschlandpolitik als auch für die Verwirklichung des Marshallplans notwendig sei.
Derartige Erkenntnisse haben die Washingtoner Diplomatie jedoch allenfalls zu partiellen Zugeständnissen und taktischen Varianten veranlaßt. Im Kern wurde die amerikanische Deutschlandpolitik nicht modifiziert. Die innerhalb der Regierung Truman geführten Debatten machen dies deutlich Intern wurde zwar gelegentlich Verständnis für das französische Sicherheitsbedürfnis geäußert, doch überwogen diejenigen Kommentare, in denen der französischen Diplomatie unterstellt wurde, das Sicherheitsargument nur als Vorwand zu benutzen, um sich vor der deutschen Konkurrenz zu schützen. Eine derart motivierte Obstruktion der amerikanischen Stabilisierungspolitik gelte es zu verhindern, argumentierte Harriman in seinem erwähnten Bericht gegenüber Truman
Obstruktion und Intransigenz Frankreichs sind die Begriffe, derer sich die amerikanische Diplomatie wiederholt bediente, wenn sie sich mit der französischen Kritik an der Washingtoner Deutschlandpolitik auseinanderzusetzen hatte. Robert Murphy, Political Adviser for Germany, der frühzeitig auf die weitreichenden Gefahren eines „wirtschaftlichen Chaos“ in den Westzonen hingewiesen hatte betonte Ende 1948 in seiner zusammenfassenden Kritik an dem seiner Ansicht nach überzogenen französischen Sicherheitsbedürfnis, daß wirtschaftliche Fortschritte in Westdeutschland behindert worden seien, weil Frankreich darauf bestehe, jedes Problem mit der Sicherheitsfrage zu betrachten, egal ob es sich um die Herstellung von Aspirin oder Textilien, die Rheinschiffahrt, das Besatzungsstatut, die Frage einer westdeutschen Regierung oder die Ruhrkontrollbehörde handele. Diese Praxis französischer Deutschlandpolitik stehe zur amerikanischen Stabilisierungspolitik in fundamen- talem Widerspruch. Die Demontage von Produktionsstätten für Konsumgüter werde lediglich bewirken, daß die wirtschaftliche Erholung verzögert werde „und damit die Grundlagen unserer Europapolitik zerstören“
Während der amerikanisch-britisch-französischen Gespräche über die Ruhr vom November 1948 äußerte Außenminister Marshall gegenüber seinen Amtskollegen zwar Verständnis für die Furcht der Franzosen vor einem Wiederaufbau des deutschen Kriegspotentials und räumte ein, daß die wirtschaftliche Rekonstruktion Westdeutschlands für die deutschen Nachbarstaaten Probleme aufwerfe. Zugleich ließ der amerikanische Außenminister jedoch keinen Zweifel daran, daß Washington nicht bereit war, von der Stabilisierungspolitik in Westdeutschland Abstriche zu machen. Schon aus finanziellen Gründen sei die Wiederbelebung der westdeutschen Wirtschaft für die USA von großer Bedeutung. Die Bedenken des französischen Außenministers Robert Schuman suchte Marshall mit dem Hinweis zu zerstreuen, daß sich die amerikanische Regierung nicht bewußt an Maßnahmen beteiligen werde, welche die Macht Deutschlands in einem gefährlichem Maße wiederherstellten
Auch für die amerikanische Regierung stellte sich mit fortschreitenden Erholungstendenzen der westdeutschen Wirtschaft zunehmend die Frage nach Möglichkeiten und Grenzen einer Einbindung des westdeutschen Potentials in das westliche Staaten-system. Die 1949/50 in den USA verstärkt geführte Debatte über die Notwendigkeit einer westeuropäischen Integration macht dies deutlich Es komme darauf an, Organisationsformen zu finden, in die Deutschland integriert und durch die Deutschland kontrolliert werden könne und in denen Deutschland „eine friedliche und konstruktive, aber keine diktatorische Rolle“ spiele Diese sicherheitspolitischen Aspekte stellte der amerikanische Hochkommissar für Deutschland, John McCloy, im April 1950 in den Mittelpunkt eines Vortrages vor der Londoner Pilgrims’s Society. McCloy bezeichnete es als Ziel der amerikanischen Deutschlandpolitik, „die Sicherheit durch Einschränkung des Kriegspotentials und durch Förderung der wachsenden Demokratie zu erreichen“. Dieses „zweifache Programm“ sei „ebenso klug wie notwendig“. Dennoch könne es nur „der erste Schritt zur Lösung“ sein, denn das „endgültige Ziel“ bestehe in „Deutschlands Einbeziehung in ein geeintes Europa. Die Notwendigkeit der Einigung Europas wird durch die Drohung vom Osten noch dringender, aber sie wäre auch ohne dies akut. Es ist eine feststehende Tatsache, daß wir das deutsche Problem nicht lösen können, wenn wir es nicht in den größeren Rahmen eines geeinten Europas einordnen. Nur innerhalb dieses Rahmens sehe ich eine Möglichkeit, die wirtschaftlichen, politischen und geistigen Kräfte Deutschlands auf gesunde und friedliche Bahnen zu leiten.“ Im Rahmen dieser sicherheitspolitischen Überlegungen sorgten sich amerikanische Politiker und Diplomaten über den außenpolitischen Kurs der Bundesregierung. So wurde in einer Übersteigerung des Rapallo-Traumas wiederholt die Furcht vor einer Ostorientierung Bonns artikuliert und es auch aus diesem Grunde als dringlich bezeichnet, die Westbindung der Bundesrepublik durch Integration sicherzustellen Aus der historischen Rückschau überrascht diese Debatte, wenn man sich die angedeuteten Leitlinien der Adenauerschen Westpolitik vergegenwärtigt.
Die Ende 1949/Anfang 1950 innerhalb der amerikanischen Regierung intensivierten Debatten über das Deutschlandproblem und die westeuropäische Integration lassen erkennen, daß die Truman-Administration über kein klares Integrationskonzept verfügte. So wurden in den zahlreichen amerikanischen Stellungnahmen zum Integrationsproblem eher offene Fragen aufgelistet als konkrete Konzepte angeboten.
Hier setzte dann auch die Kritik der britischen Regierung an deren Beteiligung am westeuropäischen Integrationsprozeß von amerikanischer Seite wiederholt als wünschenswert bezeichnet, aber nicht konsequent betrieben wurde.
Diese Widersprüchlichkeit der amerikanischen Europapolitik, die durch die britische Politik fraglos begünstigt wurde, manifestierte sich deutlich in den Währungs-und Handelsgesprächen, die im September 1949 zwischen den USA, Großbritannien und Kanada in Washington geführt wurden. Die Nichtbeteiligung anderer Industriestaaten wurde mit dem Hinweis auf die hervorragende Rolle von Pfund Sterling und Dollar begründet.Der Kritik der nicht beteiligten westeuropäischen Staaten und den Warnungen vor möglichen negativen Auswirkungen auf die westeuropäische Kooperation suchten die drei Staaten durch den Hinweis auf die vermeintlich integrativen Wirkungen der Washingtoner Währungsgespräche zuvorzukommen. Die Kompetenzen der OEEC, hieß es im Schlußkommunique, seien nicht berührt
Derartige Erklärungen können freilich nicht darüber hinwegtäuschen, daß sich in den Washingtoner Währungsgesprächen eine „special relationship“ zwischen Großbritannien und Nordamerika manifestierte. Im Foreign Office wurde dies auch entsprechend bewertet Offensichtlich war die amerikanische Regierung nicht bereit, die seit Beginn des 20. Jahrhunderts etablierte „special relationship“ zwischen London und Washington zugunsten einer konsequenten Integrationspolitik in Europa aufzugeben. Die sich hier manifestierende Ambivalenz der amerikanischen Europapolitik und das insbesondere aus französischer Sicht ungelöste Problem der Kontrolle des deutschen Industriepotentials haben dann fraglos dazu beigetragen, die französische Außen-und namentlich Deutschlandpolitik unter Zugzwang zu setzen.
VII.
In richtiger Einschätzung der Prioritäten amerikanischer Europapolitik, die Großbritannien und der Bundesrepublik jeweils eine Sonderrolle einräumte und eine Beteiligung Frankreichs an einer langfristigen Kontrolle des deutschen Industriepotentials ausschloß, hat die französische Diplomatie mit dem Schumanplan im Mai 1950 die Initiative ergriffen: Der Gefahr einer wirtschaftlichen Dominanz der Bundesrepublik sollte durch das Angebot der Kooperation im Kohle-und Stahlbereich wenigstens partiell entgegengewirkt werden. Dies ist allerdings nicht erst von der historischen Forschung herausgearbeitet worden. Bereits zeitgenössische Beobachter haben diese Motive des Schumanplans klar diagnostiziert
Die amerikanische Reaktion auf den Schumanplan war grundsätzlich positiv; in aller Stille hatten sich einige amerikanische Diplomaten als Geburtshelfer betätigt. In Washington herrschte insbesondere Erleichterung über die sich abzeichnende Perspektive eines deutsch-französischen Ausgleichs. In der Kommentierung komme es darauf an, telegrafierte der in Europa weilende Außenminister Dean Acheson an Präsident Truman, positiv herauszustreichen, daß Frankreich weitreichende Anstrengun-gen unternommen habe, ein deutsch-französisches Rapprochement und darüber hinaus generell die europäische Integration voranzutreiben
In seiner Bewertung des Schumanplans folgte Truman diesen Empfehlungen seines Außenministers. Auf einer Pressekonferenz am 18. Mai 1950 nannte er den Plan einen „konstruktiven staatsmännischen Akt“ und stellte die sich hier manifestierende französische Führung zur Lösung der europäischen Probleme in die „große französische Tradition“. Der Plan sei geeignet, die deutsch-französischen Beziehungen auf eine „völlig neue Grundlage“ zu stellen Die Initiative Schumans gehöre zu den ermutigendsten europäischen Entwicklungen seit Kriegsende, fügte der Präsident wenige Wochen später hinzu. Die Verwirklichung des Plans könne zur Beendigung der deutsch-französischen Rivalität beitragen und ein friedliches und produktives Europa gestalten helfen Acheson bekundete ebenfalls wiederholt in öffentlichen Erklärungen die Bedeutung des Schumanplans für die Entwicklung der deutsch-französischen Beziehungen und der europäischen Integration
Aus taktischen Gründen hat die Truman-Administration jedoch alles zu vermeiden gesucht, was auf eine Einmischung Washingtons in die Schumanplanverhandlungen hätte schließen lassen. Dies geschah vor allem mit Blick auf die möglichen negativen Rückwirkungen in der französischen Öffentlichkeit und die prinzipiell ablehnende Haltung der britischen Regierung Der Botschafter in Paris,David Bruce, und der amerikanische Hochkommissar in der Bundesrepublik, John McCloy, wurden allerdings angewiesen, hinter den Kulissen vor allem die deutsch-französischen Kontakte konstruktiv zu begleiten. Beide Diplomaten waren Exponenten des Integrationsgedankens. Bruce erblickte im Schumanplan eine „neue Möglichkeit europäischer Integration“ Und McCloy lobte in einem seiner Quartalsberichte die Initiative der Franzosen, „die mutig den Weg zur Beseitigung der schwierigen Hindernisse zur Integration Europas ebnete
Die von den Amerikanern zur Schau gestellte Begeisterung sollte freilich nicht darüber hinwegtäuschen, daß die französische Initiative innerhalb der Truman-Administration Befürchtungen über europäische Kartellbildungen aufkommen ließ. Auf dem Hintergrund historischer Erfahrungen und entsprechender Überlegungen bei Vertretern der deutschen Schwerindustrie war dies nicht unbegründet Bezeichnenderweise hatte bereits Präsident Truman in seinen positiven Kommentaren den Wettbewerbsgedanken stark herausgestrichen Um möglichen wettbewerbsfeindlichen Tendenzen so früh wie möglich entgegenzuwirken, entschloß sich McCloy, „bei den relevanten Artikeln des Montanvertragsentwurfs Formulierungshilfen“ zu geben Der Marshallplan-Beauftragte Paul Hoffmann unterstrich in diesem Zusammenhang die für die amerikanische Politik wichtige funktionale Bedeutung der Bundesrepublik, nämlich die Möglichkeit der „Wiederherstellung der Wettbewerbsfähigkeit von Westeuropa via Deutschland“
Für die amerikanische Diplomatie eröffnete sich hier allgemein die Perspektive, den europäischen Industriekapitalismus „in eine Richtung“ zu drängen, „die mit den Rahmenbedingungen der Pax Americana vereinbar war“ Unter diesen ordnungspolitischen Aspekten ließ sich die Tatsache, daß Schumanplan und Montanunion sich zunächst auf wenige europäische Staaten beschränkten, durchaus positiv deuten. Deutsch-französische Verständigung und Montanunion sollten die — ordnungspolitisch leichter zu beeinflussende — Keim-zelle für eine weiteren Staaten offenstehende westeuropäische Integration bilden.
VIII.
Mißt man die amerikanische Europapolitik der Jahre 1947— 1950 an ihren integrationspolitischen Postulaten, so ist die Bilanz auf den ersten Blick nicht besonders beeindruckend. Von der Washingtoner Marshallplanpolitik gingen — wie gezeigt wurde — fraglos wichtige integrationspolitische Impulse aus. Allerdings zeigten sich selbst amerikanische Politiker von den Fortschritten auf dem Wege zur westeuropäischen Integration in dem hier behandelten Zeitraum immer wieder enttäuscht. In einem nicht unerheblichen Maße hat die Ambivalenz der Washingtoner Europapolitik zu dieser Entwicklung beigetragen: So wurde die Integration Westeuropas zwar propagiert, zugleich die „special relationship“ zu Großbritannienjedoch nicht aufgegeben.
Es ist zu Recht die Frage aufgeworfen worden, warum sich die amerikanische Regierung „nicht rechtzeitig zugunsten des Gedankens einer supranationalen europäischen Einigung exponiert“ habe — „zu einem Zeitpunkt, zu dem die wirtschaftliche und militärische Schwäche der europäischen Westmächte deren Nachgeben wahrscheinlicher gemacht hätte“ Mehrere Gründe sind hierfür maßgebend:
— Zunächst ist daran zu erinnern, daß die amerikanische Regierung über kein klares Integrationskonzept verfügte. Die Ende der vierziger und zu Beginn der fünfziger Jahre innerhalb der Regierung intensivierten Debatten über Deutschlandfrage und westeuropäische Integration lassen dies erkennen. Der Integrationsgedanke wurde primär unter dem Gesichtspunkt wirtschaftlicher Effizienz als Ergebnis einer verstärkten innereuropäischen Handels-verflechtung und mit der fortschreitenden Stabilisierung Westdeutschlands unter dem Aspekt der Westbindung Bonns diskutiert; der Integrationsgedanke hatte also primär funktionale Bedeutung. — Neben dem Fehlen konkreter Integrationskonzepte ist die Tatsache zu nennen, daß es auch nach dem Zweiten Weltkrieg das eingangs skizzierte Zielder amerikanischen Diplomatie blieb, außenpolitische Interessen möglichst indirekt-informell zu vertreten und den Eindruck eines Oktroi zu vermeiden. — Überdies hat die amerikanische außenpolitische Praxis den aus Washington propagierten Integrationsgedanken im Sinne einer innereuropäischen Kooperation nicht konsequent gefördert, wie das Festhalten an der „special relationship“ zu Großbritannien belegt. Möglicherweise hat aber gerade diese Ambivalenz der amerikanischen Politik der europäischen Integration insofern ungewollt einen Integrationsschub gegeben, weil sie die deutsch-französische Verständigung provoziert hat.
Die zum Teil innere Widersprüchlichkeit der amerikanischen Europapolitik der Jahre 1947— 1950 erscheint überdies in einem anderen Licht, wenn man die Haltung Washingtons gegenüber der europäischen Integration in einem längerfristigen Kontext von Kontinuität und Diskontinuität amerikanischer Europapolitik seit dem Ersten Weltkrieg interpretiert.
Fraglos weist die amerikanische Europapolitik zahlreiche Kontinuitätselemente auf. So waren die USA nach beiden Weltkriegen für den Wiederaufbau Europas von entscheidender Bedeutung. Diese Führungsrolle ist den USA nicht „wider Willen“ zugefallen, sondern wurde von den amerikanischen Führungseliten jeweils konsequent angestrebt. Bei der Mittelwahl zur außenpolitischen Durchsetzung der Washingtoner Ordnungsvorstellungen ist der instrumentale Einsatz des wirtschaftspolitischen Potentials der USA ebenfalls ein durchgängig vorhandener Faktor.
Die wohl eindrucksvollste Kontinuität amerikanischer Europapolitik ist ihr geographischer Schwerpunkt: Sowohl in den zwanziger Jahren als auch nach dem Zweiten Weltkrieg wurde Deutschland Kernstück der amerikanischen Stabilisierungspolitik. Werner Link hat diesen Sachverhalt prägnant zusammengefaßt: In den Jahren 1945/46 wurde die Nachkriegssituation wie nach 1918/19 „zunächst primär ökonomisch definiert — nämlich als Notwendigkeit, die Weltwirtschaft zu stabilisieren, der expandierenden amerikanischen Wirtschaft günstige Weltmarktchancen zu schaffen und die freiheitliche Wirtschafts-und Gesellschaftsstruktur zu sichern . . . Die Kontinuität des ökonomischen Engagements ist also zweifellos vorhanden: aber im Gegensatz zu der Zwischenkriegszeit ist nunmehr eine starke politische und militärische Fundierung dieses Engagements gegeben — so wie es aufgrund der Erfahrungen in der Zwischenkriegszeit und angesichts der neuen internationalen Konstellation von kompetenten Autoren nach 1945 gefordert worden war.“ Und diese „Verbindung zwischen ökonomischem, politischem und militärischem Engagement hat in der amerikanischen Deutschlandpolitik nach dem Zweiten Weltkrieg ihre markanteste Ausprägung erfahren.“
Angesichts der sich insbesondere im ökonomischen Bereich manifestierenden Kontinuitäten kann nicht stark genug betont werden, daß sich in der Washingtoner Haltung zu Fragen der innereuropäischen Integration ähnlich wie im sicherheitspolitischen Bereich in der zweiten Hälfte der vierziger Jahre ein grundlegender Wandel vollzog. In den zwanziger und dreißiger Jahren standen die USA jeder Form von innereuropäischen Integrationsversuchen, die von einer europäischen Großmacht ausgingen, prinzipiell ablehnend gegenüber. Dies dokumentieren die folgenden vier Beispiele: — So scheiterten die von den Außenministern Briand und Stresemann bei ihren Gesprächen in Thoiry im September 1926 unternommenen Versuche, die in Locarno eingeleitete deutsch-französische Verständigung durch eine engere wirtschaftliche Kooperation zu vertiefen, am Widerstand Washingtons. Angesichts der großen Abhängigkeit der Weimarer Außenpolitik von den USA, konnte sich Washington darauf beschränken, der Reichsregierung hinter den Kulissen Signale zukommen zu lassen, ohne sich außenpolitisch exponieren zu müssen
— Ähnlich geräuschlos wurde bei der Diskussion des mit dem Namen des französischen Außenministers Briand verknüpften Paneuropaplans vom Mai 1930 das amerikanische Gewicht zur Geltung gebracht. Zu Beginn der dreißiger Jahre war der Einfluß der USA auf die deutsche Politik noch so groß, daß es für die amerikanische Regierung nicht notwendig war, unmittelbar Gegenmaßnahmen zu ergreifen. Die potentielle amerikanische Reaktion gehörte bereits zu den Grundprämissen bei der Formulierung der deutschen Position. Die Reichsregierung müsse in ihrer Antwortnote deutlich machen, so argumentierte etwa Außenminister Curtius im Juni 1930 vor dem Kabinett, daß Deutschland „von der Notwendigkeit einer überkontinentalen Behandlung vieler politischer und wirtschaftlicher Fragen überzeugt sei und daß es keine gegen Amerika gerichteten Tendenzen“ dulden werde. Schon aus diesem Grunde müsse die deutsche Antwortnote „für die Aktion Briands ein Begräbnis erster Klasse werden“ — Die Reaktion der Regierung Hoover auf die Intensivierung der deutschen Südosteuropapolitik seit Sommer 1931 zeigt dann die Entschlossenheit Washingtons, notfalls auch direkt diplomatisch zu intervenieren. So hatten sich die Hoffnungen der amerikanischen Regierung, die Inkraftsetzung der deutschen Präferenzverträge mit Ungarn und Rumänien werde am Einspruch dritter Staaten scheitern und eine negative Stellungnahme aus Washington gar nicht erst erfordern, nicht erfüllt. Daher bereitete die amerikanische Regierung unter Berufung auf ihre im deutsch-amerikanischen Handelsvertrag von 1923 fixierten Rechte mit einem formellen Einspruch der deutschen Präferenzpolitik im Mai 1932 ein vorläufiges Ende
I — Die nationalsozialistische Großraumpolitik in Südosteuropa hat sich über die amerikanischen Widerstände dann rigoros hinweggesetzt. Aber der deutsche Versuch, diese Politik der erzwungenen wirtschaftlichen Integration Südosteuropas durch die „Konstruktion einer .deutschen Monroe-Doktrin“ 4 zu legitimieren blieb in Washington wirkungslos. Die Regierung Roosevelts verurteilte diese nationalsozialistische Politik einer „closed economy“ unter Hinweis auf die eigenen Forderungen nach Liberalisierung des Welthandels. Der „unteilbare Weltmarkt“ blieb auch im Verlauf der Weltwirtschaftskrise seit 1929 Ziel der amerikanischen Außenpolitik.
Die hier angeführten Beispiele demonstrieren, daß innereuropäische Integrationsbestrebungen, die auf die Beteiligung europäischer Großmächte hinausliefen, in der Zwischenkriegszeit keine Erfolgschancen hatten Vor dem Hintergrund dieser konsequenten Ablehnung europäischer Integrationstendenzen durch die USA nach dem Ersten Weltkrieg gewinnen die integrationspolitischen Impulse der vierziger Jahre ungeachtet der erwähnten Widersprüche zusätzlich an Bedeutung.