I. Die Widersprüche in der traditionellen Zigeunerpolitik
Die Bekämpfung der vermeintlichen „Zigeunerplage“ galt sowohl im Kaiserreich und der Weimarer Republik als auch in den ersten Jahren der nationalsozialistischen Herrschaft nahezu ausschließlich als Aufgabe der Polizei. Während für ausländische Sinti und Roma die Ausweisung vorgesehen war, existierte zur Bedrückung der inländischen Fahrenden eine vielfältige Skala von Mitteln, unter denen die Abforderung zahlreicher Personal-und Reisepapiere, das Verbot des Reisens und Rastens „in Horden“ sowie Auflagen bei der Erteilung des für die berufliche Tätigkeit der Fahrenden unerläßlichen Wandergewerbescheins von zentraler Bedeutung waren Gleichwohl erzielte die Polizei bei ihrer „Zigeunerbekämpfung“, die ohne Zweifel den Charakter eines diskriminierenden Sonderrechts trug, keine Erfolge. Die entscheidende Ursache für das polizeiliche Scheitern lag darin, daß die betroffenen Behörden in der Praxis nur im Auge hatten, Sinti und Roma aus ihrem Zuständigkeitsbereich femzuhalten beziehungsweise zu vertreiben. Infolgedessen standen sich die Länder des Reiches ebenso wie die einzelnen Landkreise und Orte bei ihrer Zigeunerpolitik gegenseitig im Wege. Dieses Knäuel widerstreitender Interessen wurde zusätzlich durch immanente Probleme der polizeilichen Verfolgungspraxis verwickelt. Sie reichten von Definitionsfragen — Wo etwa lag die Grenze zwischen „Familie“ und „Horde“? Bei welchem Abstand der Wohnwagen sollte man von „Reisen in Horden“ sprechen? — über den hohen Kosten-und Arbeitsaufwand bei der polizeilichen Begleitung der Reisenden bis zum Zielkonflikt zwischen der beabsichtigten schnellen Abschiebung und der oft zeitraubenden Identifizierung einzelner Personen
Dieser Text wurde im Rahmen eines von der Deutschen Forschungsgemeinschaft finanzierten Pilot-projektes zur nationalsozialistischen Verfolgung der Sinti und Roma verfaßt.
Der gemeinsame Nenner der gegen Sinti und Roma gerichteten Maßnahmen, die auf die Abwehr einer dauerhaften Niederlassung zielten, lautete paradoxerweise „Seßhaftmachung“ der Zigeuner Diese Formel, die von den Versuchen des aufgeklärten Absolutismus herrührte, Zigeuner zwangsweise anzusiedeln, muß angesichts der Tatsache, daß inzwischen die Mehrzahl der Sinti und Roma ihr Gewerbe von festen Winterstandquartieren aus betrieb, als Chiffre für das Verlangen nach vollständiger Assimilation und Einpassung in die modernen Produktionsformen verstanden werden Konsensfähig wurde die Forderung nach Seßhaftmachung nicht zuletzt dadurch, daß nahezu jede Gemeinde wie selbstverständlich davon ausging, daß nicht sie der Ort sein werde, an dem sich Sinti und Roma niederzulassen hätten. „Seßhaftmachung“ konnte mithin als Quintessenz der Vertreibungspolitik interpretiert werden
Innerhalb der staatlichen Verwaltung war man sich der Aporien der praktizierten Zigeunerpolitik weitgehend bewußt, ohne sie jedoch auflösen zu können. Entsprechend vage forderte etwa ein Runderlaß des Reichsinnenministers vom Juni 1936, inländische Zigeuner seien „an einem bestimmten Ort“ seßhaft zu machen. Dieser „bestimmte Ort“ wurde allerdings nicht namhaft gemacht. In diesem Punkt befand sich die Ministerialbürokratie nach drei Jahren NS-Herrschaft auf genau jenem Stand, der bereits 1911 auf einer von Bayern initiierten, länderübergreifenden Besprechung über die „Grundzüge für die Bekämpfung der Zigeuner-plage“ festgehalten worden war: Für die Seßhaftmachung der Zigeuner könne man „noch keine allgemeinen Richtpunkte“ aufstellen 6).
II. 1933 bis 1938: Eskalation der Verfolgung
Obwohl die Ministerialbürokratie noch 1936 dem herkömmlichen Paradigma staatlicher Zigeuner-politik verhaftet war, wurden Diskriminierung und Verfolgung der Sinti und Roma in den ersten Jahren nationalsozialistischer Herrschaft nicht lediglich fortgeschrieben. Verschiedene Ländergesetze wurden nach dem Vorbild des Bayerischen Zigeuner-und Arbeitsscheuengesetzes von 1926 verschärft. In mehreren Städten gingen Polizei und Fürsorgeämter zwischen 1935 und 1938 daran, wider geltendes Recht privat geführte Plätze für Sinti und Roma zu schließen und den Fahrenden kommunale, oft mit Stacheldraht umgebene Sammellager anzuweisen sowie sie dort einer rigiden Lagerordnung zu unterwerfen. Für bestimmte Landkreise wurden generelle Durchzugsverbote erlassen; im Sommer 1938 wurden umherziehende Sinti aus dem linksrheinischen Gebiet ausgewiesen, was gemäß einem überkommenen Vorurteilsmuster gegen Zigeuner mit präventiver Spionageabwehr beim Westwallbau begründet wurde Waren Sinti und Roma bereits vor der nationalsozialistischen Machtergreifung meist mit Mindestfürsorgesätzen abgespeist worden, so gingen manche Gemeinden nach 1933 dazu über, einen gesonderten „Zigeunersatz“ einzuführen, der unter dem Satz für „hilfsbedürftige Volksgenossen“ lag Handelte es sich bei den bisher dargestellten Maßnahmen um eine Radikalisierung bereits vor 1933 angelegter Schritte, so sind weitere Formen der Diskriminierung und Unterdrückung auf die besondere Dynamik des NS-Systems zurückzuführen. Allein in der westfälischen Kleinstadt Berleburg, deren „Zigeunerkolonien“ Lause und Altengraben etwa 400 Einwohner beherbergten, wurden zwischen 1933 und 1937 mindestens fünf Sinti nach dem „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ unfruchtbar gemacht. Der dortige NS-Bürgermeister vertrat die Auffassung, daß 99 Prozent der Berleburger Zigeuner-Schulkinder unter die Sterilisationsdiagnose „angeborener Schwachsinn“ zu rubrizieren seien. Überzeugt, daß das Sterilisationsgesetz den Schlüssel zur von ihm verlangten „Beendigung“ der Zigeuner biete, formulierte er 1937 die Frage: „Wird es gelingen, die seßhaften Zigeuner kolonieweise örtlich und gesellschaftlich so zu isolieren und abzukapseln, daß durch Inzucht Erbschäden entstehen und damit umfassende Maßnahmen zur Verhütung erbkranken Nachwuchses notwendig werden?“
Im Herbst 1935 waren sowohl das „Blutschutz" -Gesetz, das Eheverbote zwischen Deutschen und „Angehörigen artfremder Rassen“ verfügte, als auch das „Ehegesundheitsgesetz“ verabschiedet worden, das „Minderwertigen“ ungeachtet ethnischer Zugehörigkeit die Heirat untersagte. Auf dieser Grundlage wurde den Sinti und Roma seit 1936 vornehmlich unter rassenanthropologischen Aspekten als „Artfremden“, partiell auch unter rassenhygienischen Vorzeichen als nach unten aus der „Volksgemeinschaft“ herausfallenden „Asozialen“ oder „Lumpenproletariern" eine Eheschließung untersagt Auf diese Weise wurde das herkömmliche zweifache Feindbild, das die Zigeuner als beunruhigende Fremde mit mysteriöser Lebensweise sowie als vermeintlich arbeitsscheue Schmarotzer stigmatisierte, aufgegriffen und auf das Raster des nationalsozialistischen Rassismus bezogen
Infolge der „vorbeugenden Verbrechensbekämpfung“ und der Neubestimmung der Konzentrationslager zu „Erziehungs-und Produktionsstätten“ in den Jahren 1937/38, die zu einer erheblichen Ausweitung der Häftlingskategorien führte, wurden auch Sinti und Roma unter die tautologisch definierte Kategorie der Asozialität („Als asozial gilt, wer . . . zeigt, daß er sich nicht in die Gemeinschaft einfügen will“) subsumiert Vor allem im Juni 1938 wurden zahlreiche Sinti, die nicht dem ethnozentristischen Kriterium der „geregelten Arbeit“ entsprachen, in Buchenwald interniert
III. Die Zentralisierung der „Zigeunerbekämpfung“
Bereits in der Weimarer Republik hatten sich Tendenzen zu einer reichsweiten Koordinierung der polizeilichen • „Zigeunerbekämpfung“ abgezeichnet. 1926 brachte die Deutsche Kriminalpolizeiliche Kommission eine „Vereinbarung der deutschen Länder über die Bekämpfung der Zigeunerplage“ auf den Weg, die jedoch 1929 noch einmal überarbeitet und erst 1933 vollends in Kraft gesetzt wurde. Diese Vereinbarung, die auf einen umfassenden Informationsaustausch sowie die Benutzung der Daten der seit 1899 tätigen bayerischen „Zigeunerzentrale“ in München zielte, ließ freilich die Länderhoheit über die verschiedenen „Zigeunernachrichtendienste“ unangetastet
Erst mit der Ernennung Himmlers zum „Chef der deutschen Polizei im Reichsinnenministerium“ waren 1936 die institutionellen Voraussetzungen für eine reichseinheitliche Bedrückung, der Sinti und Roma gegeben. Spätestens seit dem Frühjahr 1937 ließ Himmler die „Bekämpfung des nomadisierenden Zigeunertums“ beim Preußischen Landeskriminalpolizeiamt Berlin, dem späteren Reichskriminalpolizeiamt (RKPA), zusammenfassen. Nach dem Anschluß Österreichs wurden entsprechende Verfügungen für die Kriminalpolizei-leitstelle Wien erlassen. Ein Runderlaß vom 16. Mai 1938 ordnete schließlich den Einbau der bisher beim Polizeipräsidium München angesiedelten „ Reichszigeuner zentrale “ als „ Reichszentrale zur Bekämpfung des Zigeuner unwesens “ in das RKPA in Berlin a Mai 1938 ordnete schließlich den Einbau der bisher beim Polizeipräsidium München angesiedelten „ Reichszigeuner zentrale “ als „ Reichszentrale zur Bekämpfung des Zigeuner unwesens “ in das RKPA in Berlin an 15).
Auf die Zentralisierung folgte zwischen Dezember 1938 und Mitte 1939 die Errichtung eines eigens zur „Zigeunerbekämpfung“ vorgesehenen kriminalpolizeilichen Apparates, der sich von der Reichs-zentrale zur Bekämpfung des Zigeunerunwesens bis hinab zu den Ortspolizeibehörden erstreckte 16). Dieser gesonderte Verfolgungsapparat erhöhte die Effektivität der „Zigeunerbekämpfung“ nicht nur dadurch, daß präzisere Verantwortlichkeiten geschaffen wurden, sondern auch insofern, als die straffe Zentralisierung die Polizei weitgehend aus den Interessenkollisionen herauslöste, die den Sinti und Roma vielfältige Möglichkeiten geboten hatten, ihre Gegner gegeneinander auszuspielen. Ausweispapiere wurden den Fahrenden fortan nur noch mit Zustimmung der staatlichen Kriminalpolizei-stellen zugestellt.
Schon im einschlägigen Runderlaß des Reichsinnenministeriums vom 6. Juni 1936 waren Sinti und Roma als „dem deutschen Volkstum artfremdes Zigeunervolk“ gekennzeichnet worden. Präziser war jedoch die Formulierung des Himmlerschen Erlasses „Zur Bekämpfung der Zigeunerplage“ vom 8. Dezember 1938: Die polizeilichen Erfahrungen sowie die „durch die rassenbiologischen Forschungen gewonnenen Erkenntnisse“ verlangten eine „Regelung der Zigeunerfrage aus dem Wesen der Rasse heraus“ Damit prägte der knapp drei Jahre zuvor in die Praxis der Eheschließung eingeführte anthropologische und hygienische Rassismus nun auch die polizeiliche Verfolgung der Sinti und Roma. Die für eine „endgültige(n) Lösung der Zigeunerfrage“ vorgesehene Trennung von „reinrassigen Zigeunern“, „Zigeunermischlingen“ und „ nach Zigeuner art umherziehenden Personen“ schlug sich 1939 zunächst in farblich unterschiedenen Ausweispapieren nieder
IV. Das Eingreifen der Wissenschaft
Die Kriminalpolizei, die für die Erfassung der Sinti und Roma zuständig war, fühlte sich bei der Einordnung der Fahrenden in eine der drei zur Wahl stehenden Kategorien überfordert. Hier waren die Spezialisten der „Rassenhygienischen Forschungsstelle“ des Reichsgesundheitsamtes zuständig, die unter der Leitung des Nervenarztes Dr. phil. Dr. med. habil. Robert Ritter stand.
Der 1901 geborene Ritter leitete Anfang der dreißiger Jahre als Oberarzt die Jugendabteilung der Tübinger Universitäts-Nervenklinik. Während seiner Sprechstunden fielen ihm Kinder auf, bei denen er „etwas merkwürdig Strolchenhaftes und Spitzbübisches“ zu bemerken glaubte, was er als einen hinter einer „Maske von Schlauheit“ „getarnten Schwachsinn“ kennzeichnete. Ritter bestritt nun die Möglichkeit, durch Erziehung merklichen Einfluß auf diese Kinder zu nehmen, und führte deren vermeintliche „Zucht-und Sittenlosigkeit“ auf die „Schicksalsmacht der Vererbung“ zurück Mit dieser biologistischen Interpretation gesellschaftli-eher Phänomene schloß er sich dem Lager der Rassenhygieniker an. 1934/35 gab Ritter seine Tätigkeit als Nervenarzt auf, um sich vollends der Untersuchung von „Strolchengeschlechtern“, „Vagabunden, Jaunern und Räubern“ zu widmen. In diese Zeit fiel sein erster Antrag an die Deutsche Forschungsgemeinschaft um eine Geldbeihilfe, der am 1. Juli 1935 mit 1 500 RM positiv beschieden wurde Nachdem Ritters Arbeiten dem Reichsgesundheitsamt bekannt geworden waren, erhielt er 1936 das Angebot, seine Forschungen insbesondere über „Zigeuner und Zigeunermischlinge“ dort im Rahmen eines Instituts fortzuführen
Das Besondere des Bildes, das Ritter von den Sinti und Roma zeichnete, ist weder darin zu sehen, daß er die Zigeuner zu „typische(n) Primitive(n)“ erklärte, die „geschichtslos“ und „kulturarm“ seien, noch darin, daß er dies auf die „Macht der Vererbung“ zurückführte, die einen Wandel des „primitiven Menschen“ nicht zulasse Eine derartige Position entsprach sowohl den Traditionslinien einer mit dem Kolonialismus verquickten Ethnologie als auch weitgehend der damaligen Zigeunerforschung, wie sie etwa durch Martin Block repräsentiert wurde. Während aber Block den Zigeunern eine gewisse paternalistische Sympathie entgegenbrachte und die vermeintlich Primitiven als „kindliche Menschen“ kennzeichnete äußerte sich Ritter bis in die Wahl des einzelnen Worts diffamierend über Sinti und Roma und verwandte kaum eine Zeile auf die Darstellung ihrer Kultur. Ritters Verständnis von Primitivität rückte die Zigeuner in die Nähe von „nicht mehr entwicklungsfähigen Zwergen“ sowie von Tieren, insbesondere von Affen
Es steht außer Zweifel, daß das Rittersche Bild vom „urtümlichen Zigeuner“ nichts mit der Lebensweise der Sinti und Roma zu tun hatte Ein Vergleich derjenigen Aussagen, die Ritter in seiner 1928 publizierten philosophischen Dissertation „Versuch einer Sexualpädagogik auf psychologischer Grundlage“ über das „bloß körperlich-sexuelle Erlebnis“ traf, mit seiner späteren Charakterisierung „des Zigeuners“ legt indessen die These nahe, daß Sinti und Roma nicht zuletzt als Projektionsfläche für Ritters mit Schuldempfinden und mit Angstgefühlen besetzte Sexualphantasien herhalten mußten
Innerhalb der Gesamtgruppe der Sinti richtete Ritter seinen Hauptangriff nicht gegen die kleine Gruppe der „stammechten“ Zigeuner, sondern gegen die „Zigeunermischlinge“ oder „Mischlingszigeuner“, zu denen er über 90 Prozent der „als , Zigeuner 4 geltenden Personen“ rechnete und die er als „form-und charakterloses Lumpenproletariat“ stigmatisierte, das in Barackenlagern und Armen-quartieren lebe. Als Kriterien zur Unterscheidung der „stammechten“ Zigeuner von den „Mischlingen“ verwandte Ritter neben der Genealogie den Grad der Kenntnis des Romanes und die Beachtung der überkommenen Sitten der Sinti Mit der Zuordnung der „Zigeunermischlinge“ zum „Lumpenproletariat“, die einmal mehr zeigt, daß sich Sinti und Roma in der Schnittmenge rassenanthropologischer und rassenhygienischer Verfolgungsmaßnahmen befanden, knüpfte Ritter an ältere Autoren wie Hermann Aichele an, der ausgeführt hatte, „nur die allemiedrigsten Schichten“ seien zu einer „Symbiose“ mit den Zigeunern bereit
Ritters Kriegserklärung gegen die „Zigeunermischlinge“ zielte auf einen grundlegenden Wandel der staatlichen Zigeunerpolitik. Waren bisher Zigeuner und nichtzigeunerische Landfahrer, die sogenannten Jenischen, gleichermaßen von der polizeilichen Bedrückung betroffen gewesen, so wurde nun nach „rassischen“ Kriterien geschieden. War über Jahrzehnte das Ziel der Seßhaftmachung zumindest formell aufrechterhalten worden, so wurde es nun unter rassenhygienischen Vorzeichen aufgegeben, da gerade die in den Städten seßhaften Sinti und Roma mit den vorgeblich von ihrer Art abgekommenen „Mischlingen“ identifiziert wurden. Infolgedessen nimmt es nicht wunder, daß Ritter „stammechte“ und „Mischlingszigeuner“ auf unterschiedliche Weise bekämpft wissen wollte: Erstere sollten hauptsächlich von einer Vermischung mit den Deutschen abgehalten werden sowie in genau umgrenzten Wanderbezirken eine „gewisse Bewegungsfreiheit“ bewahren können; den Deutschen sollte „jeder geschlechtliche Verkehr mit Zigeunern gesetzlich untersagt“ sein. Mit Blick auf die „Zigeunermischlinge“ wurde Ritter nicht müde zu betonen, sie sollten „von der Fortpflanzung ausgeschlossen“ werden; im einzelnen forderte er die „vorbeu-gende Unterbringung in Arbeitslagern oder überwachten geschlossenen Siedlungen“ sowie „Geschlechtertrennung“ und als weitere „einschneidende Maßnahme“ die „Unfruchtbarmachung“
V. Das fehlende Reichszigeunergesetz und die Linien der NS-Zigeunerpolitik
Rassenhygieniker wie H. W. Kranz, Otto Finger und Robert Krämer, die an den Universitäten Gießen und Münster Zigeunerforschung betrieben, stimmten mit ihrem Konkurrenten Ritter darin überein, daß es sich bei den „Zigeunermischlingen“ um eine „Kriminellen-und Asozialenfrage“ handele, daß der Staat mithin „das Recht und die Pflicht“ habe, sich gerade dieser Gruppe zu „entledigen“ Der weitergehenden Überlegung aus Gießen und Münster, daß die Nürnberger Gesetze hier geeignet seien, ein „Einströmen in das deutsche Blut“ zu verhindern, konnte sich Ritter aber nicht anschließen, richteten sich „Reichsbürger-“ und „Blutschutz-Gesetz“ doch im wesentlichen gegen „Juden“ und nicht so sehr gegen „jüdische Mischlinge 1. und 2. Grades“. Eine Übertragung dieses Modells auf die „Zigeunerfrage“ erschien Ritter angesichts seiner besonderen Feindschaft gegen „Zigeunermischlinge“ als indiskutabel. Seines Erachtens warf die Problematik des vermeintlichen „Mischlingszigeuners“ Fragen auf, die der „deutschen Rassengesetzgebung bisher unbekannt“ waren. Ritter ging spätestens 1938 sogar so weit, der Ministerialbürokratie eigene Entwürfe für das seit 1934 in der Diskussion befindliche Reichszigeunergesetz vorzulegen Ein solches Gesetz wurde jedoch letztlich ebensowenig verabschiedet wie das „Gesetz zur Behandlung Gemeinschaftsfremder“, an dem Ritter ebenfalls lebhaftes Interesse zeigte
Während nun die Nürnberger Gesetze mit ihrer Unterscheidung von „Juden“, „jüdischen Mischlingen 1. Grades und 2. Grades“ eindeutige, von Juristen ausformulierte Definitionen boten, die während des Vernichtungsprozesses die Basis der Einstufung abgaben, existierte eine solche präzise Definition der Sinti und Roma unter dem Nationalsozialismus nicht. Dies führte zu einiger Verwirrung in der Zigeunerpolitik des Regimes, zu einem Neben-und Gegeneinander dreier Klassifizierungen „des Zigeuners“.
Eine erste Linie wurde von der Rassenhygienischen Forschungsstelle und dem RKPA sowie mit gewissen Abweichungen von den konkurrierenden Stellen des Rasse-und Siedlungshauptamtes sowie des ,. Ahnenerbes“ der SS getragen und bestimmte auch das Handeln Himmlers und des Reichssicherheitshauptamtes (RSHA). Diese Linie zielte auf die Scheidung zwischen „reinrassigen“ beziehungsweise „stammechten“ Zigeunern und solchen, die zu einer „Vermischung“ tendierten. Zu letzteren wurden neben den Sinti-„Mischlingen“ einschließlich solcher, die lediglich ein Achtel „zigeunerischen Blutsanteil“ besaßen, die quantitativ weniger bedeutsamen Rom und balkanischen Zigeuner gezählt
Ein zweites Klassifizierungsschema kam insbesondere in denjenigen Gesetzen, Verordnungen und Erlassen zum Tragen, die die Entrechtung der Sinti und Roma aus Gründen verwaltungstechnischer Praktikabilität mit derjenigen der Juden parallelisierten und von Einrichtungen wie der Reichskanzlei oder den Reichsministerien für Finanzen und Arbeit verantwortet wurden. Dort faßte man „Zigeuner“ und „Zigeunermischlinge“ in Anlehnung an die Definition der „Juden“ in den Nürnberger Gesetzen vergleichsweise eng als „Vollzigeuner“ sowie als „Mischlinge mit vorwiegendem oder gleichem (sic!) zigeunerischen Blutsanteil“
Eine dritte Position zielte schließlich jenseits aller Differenzierung pauschal auf eine „Bekämpfung der Zigeunerplage“ und wurde sowohl unter den einfachen Mitgliedern der NSDAP als auch in deren Führung favorisiert: Bormann und Goebbels etwa erschien eine Unterscheidung von „stammechten“ und „Mischlingszigeunern“ als zu ausgeklügelt Die Existenz dreier Schemata zur Klassifikation von Sinti und Roma, die zugleich drei Vorstellungen von NS-Zigeunerpolitik entsprachen, belegen einmal mehr, daß es sich beim Nationalsozialismus um ein System handelte, in dem verschiedene Blöcke neben-und gegeneinander agierten. Gleich-wohl steht außer Zweifel, daß innerhalb der NS-Polykratie die SS und die ihr verbundenen Institutionen, allen voran die Rassenhygienische Forschungsstelle, die Grundlinien der Zigeunerpolitik bestimmten.
VI. Die Tätigkeit der Rassenhygienischen Forschungsstelle
Ritters Institut nahm seine anthropometrischen und genealogischen Untersuchungen an Sinti und Roma im Frühjahr 1937 auf. „Fliegende Arbeitsgruppen“ von „sprachkundigen sowie genealogisch und rassenbiologisch besonders geschulten Sachbearbeitern“ reisten durch das Reich, um die Zigeuner aufzusuchen und zu „verhören“ -Sinti und Roma, die sich mißtrauisch zeigten, wurden nicht selten geschlagen und hatten mit polizeilichen Schikanen zu rechnen
Innerhalb der Forschungsstelle beschäftigten sich Ritter, Adolf Würth (bis 1940) und Eva Justin mit den Sinti, Sophie Ehrhardt (bis 1942) mit den ostpreußischen Sinti, Ruth Kellermann mit den Lalleri sowie Karl Morawek und nach dessen Kriegstod Eva Justin mit den Roma Neben einigen Erbund Volkspflegerinnen, die zur Ausforschung von Sinti und Roma eingesetzt wurden, waren in der Forschungsstelle selbst technische Assistentinnen mit der Sammlung anthropometrischer und photographischer Unterlagen, eine Genealogin mit der Klärung „verwickelter Sippenverhältnisse“ sowie Dr. Odenwald mit der Institutsverwaltung befaßt. Die Arbeitsmoral in der Forschungsstelle wurde vom Präsidenten des Reichsgesundheitsamtes sehr gelobt: „Alle arbeiten über die Dienststunden hinaus und auch sonntags.“
Die Kosten des Instituts wurden mittels einer Mischfinanzierung bestritten, bei der das Reichsgesundheitsamt die fest etatisierten Stellen trug und das Reichsinnenministerium, der Reichsausschuß für Volksgesundheitsdienst, das RSHA, das RKPA, der Bayerische Landesverband für Wanderdienst und nicht zuletzt die DFG sonstige Personal-und Sachausgaben ermöglichten
Die Ausforschung der Sinti und Roma wurde mit genealogischem Material insbesondere aus Pfarrarchiven sowie mit Polizeiakten zu sogenannten „Erbtafeln“ kombiniert. Diese in jeder Hinsicht fragwürdigen Tafeln bildeten die Grundlage für die „gutachtlichen Äußerungen“, die von führenden Institutsmitarbeitem unterzeichnet wurden und der Klassifikation der betroffenen Sinti und Roma teils als „Zigeuner“ und „Zigeunermischlinge“, teils ausführlicher als „Zigeunermischling“ mit „vorwiegend zigeunerischem“ beziehungsweise „vorwiegend deutschem Blutsanteil“ dienten
Robert Ritter wußte um die Deportation von Sinti und Roma nach Auschwitz, die im März 1943 durchgeführt wurde. In einem Antrag um eine Finanzbeihilfe teilte er am 23. März 1943 der DFG mit, daß „bisher über 9 000 Zigeunermischlinge von der Polizei in einem besonderen Zigeunerlager im Sudetenland“ „konzentriert“ worden seien. Die Forschungsstelle verfaßte auch in der Folgezeit ihre „gutachtlichen Äußerungen“, deren Einstufungen weiterhin eine entscheidende Grundlage für die Internierung von Sinti in Auschwitz bildeten Die Begutachtungstätigkeit der Rassenhygienischen Forschungsstelle beschränkte sich auf das Altreich, da das Rassen-und Siedlungshauptamt der SS die „Zigeunerforschung“ in der „Ostmark“ im Dezember 1938 für sich reklamiert hatte. Weil das Rassen-und Siedlungshauptamt diesen Anspruch jedoch nicht einlösen konnte, gelang es dem „Ahnenerbe“ der SS während der zweiten Kriegshälfte, die Untersuchung der burgenländischen Zigeuner an sich zu reißen
Ritter selbst gab 1940 die Zahl der Fahrenden einschließlich der nicht zu den Sinti und Roma zählenden Jenischen mit rund 19 000 im Altreich und rund 11 000 in der „Ostmark“ und im Sudetenland an, fügte allerdings hinzu, eine „größere Zahl von Zigeunern und Zigeunermischlingen" sei „noch nicht als solche erkannt“. Und in der Tat spricht die von 15 000 (März 1942) über 21 498 (März 1943) auf 23 833 im März 1944 angestiegene Zahl der Gutachten im Altreich dafür, daß die Forschungsstelle im Laufe ihrer Suchtätigkeit mehr als 19 000 „Zigeuner“, „zigeunerische Mischlinge“ und sonstige Landfahrer entdeckte
Ritter hatte im Gefolge seiner Umwandlung gesellschaftlicher in biologische Fragen die Existenz des vermeintlichen „Lumpenproletariats“ mit der „Vermischung“ zwischen „deutschem und zigeunerischem Blut“ erklären wollen und im Umkehrschluß alle „Zigeunermischlinge“ als Angehörige des „Lumpenproletariats“ stigmatisiert. Gleichwohl blieb im Einzelfall unklar, wo genau die Grenze zwischen einem „Zigeunermischling“ und einem „Nichtzigeuner“ zu ziehen sei, weshalb die pauschale Brandmarkung „Mischlingszigeuner“ im
Einzelfall überprüft werden konnte. Es lassen sich in der Tat Beispiele anführen, wo Kriminalpolizei oder Rassenhygienische Forschungsstelle die Anpassung des Sozialverhaltens an die Normen der „Volksgemeinschaft“ mittels eines Fragebogens bei Arbeitgebern, Vermietern oder Lehrern überprüften
Als Einrichtung, die in den gesellschaftlichen Raum wirken wollte, legte die Forschungsstelle schließlich Wert darauf, den verschiedenen Behörden praktische Entscheidungshilfe zu leisten. Im Zentrum dieser Beratungstätigkeit standen Amtsärzte und Standesbeamte, die man darüber instruierte, wie sie sich gegenüber Zigeunern zu verhalten hätten, die etwa Aufgebote oder Ehestandsdarlehen beantragten. Spätestens in der zweiten Kriegshälfte gab man überdies den Gesundheitsämtern Empfehlungen zu Schwangerschaftsunterbrechungen und Sterilisierungen von Zigeunerinnen
VII. Die Festschreibung 1939 und die Deportation in das Generalgouvernement 1940
Die jüngeren Untersuchungen zur nationalsozialistischen Zigeunerpolitik stimmen darin überein, daß innerhalb der zwölfjährigen NS-Herrschaft der Krieg zu einer immensen Verschärfung der Unterdrückung benutzt wurde und insofern eine neue, in die Politik der Ausrottung einmündende Etappe bildete Am 17. Oktober 1939 ordnete das RSHA in einem Schnellbrief an, daß „Zigeuner und Zigeunermischlinge“ bis auf weiteres ihren Wohnbzw. Aufenthaltsort nicht mehr verlassen dürften. Dieser Schnellbrief, der „binnen kurzem“ eine Regelung der „Zigeunerfrage im Reichsmaßstab“ ankündigte, stand im Zusammenhang mit den globalen volkstumspolitischen Zielen Hitlers, die eine Rückführung von Reichs-und Volksdeutschen aus dem Ausland und parallel die Vertreibung von Juden, Zigeunern und Polen aus dem um Danzig-Westpreußen und das Wartheland vergrößerten Reich in das Generalgouvernement vorsahen
Die geplanten Vertreibungsmaßnahmen stießen unter den mit „Zigeunerfragen“ befaßten NS-Stellen jedoch nicht einhellig auf Zustimmung. Sowohl Robert Ritter als auch Reichsärzteführer Leonardo Conti argumentierten im Januar 1940, daß eine Deportation einer konsequenten Zigeunerpolitik nur hinderlich sei.
Laut Conti bot die Abschiebung der Zigeuner ins Generalgouvernement zwar „für den Augenblick besondere Vorteile“, sie bedeute jedoch zugleich, daß „wegen einer einfachen Gegenwartslösung eine wirkliche Radikallösung“ unterbleibe. Diese „Radikallösung“ konnte seines Erachtens „nur durch die Unfruchtbarmachung der Zigeuner beziehungsweise Zigeunermischlinge erfolgen“, wobei er in Anspielung auf die maßgeblich von ihm initiierte „Vernichtung lebensunwerten Lebens“ für eine sofortige „Sondermaßnahme“ plädierte. Danach sei der weitere Verbleib der Sterilisierten relativ gleichgültig
Derartige Erwägungen vermochten die Evakuierungspläne vorderhand nicht mehr zu blockieren. Ein neuerlicher Schnellbrief des RSHA vom 27. April 1940 ordnete für Mitte Mai einen ersten Transport von Zigeunern „in Stärke von 2 500 Personen — in geschlossenen Sippen“ nach Polen an. Angesichts des anstehenden „Westfeldzuges“ und des überkommenen Vorurteilsmusters vom spionierenden Zigeuner war es kein Zufall, daß die Deportierten aus dem westlichen Regionen des Reiches stammen sollten
Die für die folgenden Monate des Jahres 1940 vorgesehenen Abschiebungen von Sinti und Roma stießen allerdings ebenso wie Himmlers Pläne zur Aus-siedlung deutscher Juden auf den entschiedenen und vorläufig erfolgreichen Widerstand des Generalgouverneurs Hans Frank, dessen Verwaltung sich durch die wachsende Zahl Deportierter überfordert fühlte. Der Abschiebungsdruck, den Frank abwehren konnte, lastete seit dem Frühherbst 1941 auf den eingegliederten östlichen Reichsgauen und in geringerem Maße auf dem unbesetzten Frankreich, in das staatenlose Sinti abgeschoben wurden. Unter den nach Osten Deportierten befanden sich 5 007 Zigeuner, die — aus Österreich, Deutschland und anderen Ländern stammend — Anfang November 1941 im Getto von Lodz konzentriert wurden. Diejenigen, die dort nicht dem Flecktyphus zum Opfer fielen, wurden im Januar 1942 in Chelmno in den Gaswagen ermordet
Die Tatsache, daß die Deportation deutscher Sinti und Roma 1940 entgegen den ursprünglichen Intentionen des RSHA nur 2 500 Personen erfaßt hatte, veränderte den Charakter der 1939 verfügten Festsetzung der Zigeuner entscheidend: Aus einem als Übergangsmaßnahme geplanten Provisorium wurde ein Zustand von mehreren Jahren. In den Gemeinden, in denen Sinti und Roma festgehalten wurden, war es vielfach so, daß Firmen, lokale Honoratioren, Bürgermeister oder NSDAP-Ortsgruppen die gängigen Vorurteile gegen „die Zigeuner“ mobilisierten, um ihren Ort wieder „zigeunerfrei“ zu bekommen. Dabei wurden auch Sexual-phantasien ins Spiel gebracht, die auf Sinti und Roma projiziert wurden. Die Ortsgruppe „Wilhelm Decker“ der NSDAP in Bremen sah etwa Erwachsene und Kinder „halbnackt“ herumlaufen und die „unglaublichsten Sachen“ „treiben“; die Tochter eines Blockleiters sei „unsittlich angefaßt“ worden, ein Zigeuner schieße zudem mit seiner Flinte „dauernd nach Vögeln“
Die Kriminalpolizeistellen, die ihrerseits an die Weisungen der Reichszentrale zur Bekämpfung des Zigeunerunwesens gebunden waren, reagierten auf das oft heftige Verlangen nach Abtransport der Zigeuner mit dem Hinweis, daß dies derzeit nicht möglich sei, und stellten eine „endgültige Regelung der Zigeunerfrage“ für die Nachkriegszeit in Aussicht
VIII. Soziale Isolation, Eheverbote und Sterilisierungen
Die Festsetzung der Sinti und Roma seit Oktober 1939 ging mit Berufseinschränkungen — Wandergewerbescheine wurden kaum mehr ausgegeben —, der sozialen Absonderung und einer deutlichen sozialrechtlichen Schlechterstellung einher. Darüber hinaus wurde die Kennzeichnung der Zigeuner 1941 insofern vorangetrieben, als die „Zigeunereigenschaft“ in der Volkskartei und den Melderegistern sowie bei der Erfassung des Geburtsjahrgangs 1923 auf dem Wehrstammblatt vermerkt wurde. Die soziale Isolierung wurde insbesondere durch „Zigeunergemeinschaftslager“ beschleunigt, die nun allenthalben in Großstädten eingerichtet und polizeilich bewacht wurden Baracken und
Wohnwagen der Internierten gerieten im Verlauf des Krieges in einen völlig desolaten Zustand. Die Hungerlöhne, die die meist als Hilfs-oder Bauarbeiter beschäftigten Sinti erhielten, sowie die Tatsache, daß der Ausbesserung von Zigeunerwagen im Bombenkrieg seitens der Kommunen letzte Priorität zugemessen wurde, führten oftmals zum gänzlichen Verfall der Unterkünfte und infolgedessen zu schweren Infektionen und Lungenkrankheiten unter den Bewohnern
Die Ausgrenzungsmaßnahmen erstreckten sich 1941/42 des weiteren auf den Volksschulbesuch, die Betreuung durch die NSV, die Jugenddienstpflicht, den Dienst in Wehrmacht und Reichsarbeitsdienst, die Berufstätigkeit in „geschützten Betrieben“ und im Herbst 1943 auf die Fürsorgeerziehung. Am 13. März 1942 verfügte der Reichsarbeitsminister, daß die sozialrechtlichen Sonderbestimmungen für Juden fortan auch für Sinti und Roma gelten sollten. Knapp 14 Tage später unterwarf die Reichsregierung die Zigeuner der Sozialausgleichsabgabe, die diese Gruppe einkommenssteuerrechtlich den Juden und Polen gleichstellte Die Praxis der Eheverbote für Zigeuner nach dem „Blutschutz-“ und dem „Erbgesundheitsgesetz“ wurde im Laufe des Krieges radikalisiert. Gleichwohl waren noch 1942/43 einige Standesämter den einschlägigen Vorschriften nicht gewachsen. Dabei erregte im Reichsinnenministerium und in der Reichszentrale zur Bekämpfung des Zigeunerunwesens besonderen Unwillen, daß standesamtlich sanktionierte Ehen, einmal geschlossen, Bestand hatten, da die Bestimmungen zum „Blutschutzgesetz“ lediglich als aufschiebendes Ehehindernis galten. Ein gewichtigeres Problem lag für Spezialisten wie Ritter und die mit Gesundheitsfragen befaßten Experten im Reichsinnenministerium freilich darin, daß analog zu den Ehebestimmungen für Juden lediglich die Heirat zwischen „Deutschblütigen“ einerseits, „Zigeunern“ und „Zigeunermischlingen“ andererseits untersagt war, nicht aber die von den Rassenhygienikern besonders verfolgte Verbindung von „Zigeunermischlingen“ untereinander 1941 wurde der Weg zu derartigen Ehen versperrt. Ein Erlaß des Reichsinnenministers vom 20. Juni jenes Jahres schrieb vor, Ehegenehmigungsanträge dann einer „besonders scharfen Prüfung“ zu unterziehen, wenn „bei einem oder bei beiden Verlobten zigeunerischer Bluteinschlag festgestellt oder begründet vermutet(!)“ würde Eheanträge nach dem „Blutschutz-Gesetz“ wurden ohnehin nur noch bis zum März 1942 bearbeitet. Mit „Rücksicht auf die kriegsbedingte Notwendigkeit, die Verwaltungsarbeit einzuschränken“, hatte dies fortan zu unterbleiben
Das Eheverbot für Sinti und Roma erfüllte die Forderungen aus den Reihen der Rassenhygieniker und aus der staatlichen Verwaltung jedoch nur sehr begrenzt, da es die dort angestrebte Fortpflanzungsunfähigkeit der Zigeuner nicht gewährleisten konnte. Derartige Erwägungen trugen dazu bei, daß das Reichsinnenministerium nachweislich seit 1942 außergesetzliche Sterilisationen an Sinti und Roma vornehmen ließ. Bei diesem Vorgehen wurde der „Reichsausschuß zur wissenschaftlichen Erfassung von erb-und anlagebedingten schweren Leiden“ einbezogen, der 1939 zur Ermordung behinderter Kinder eingerichtet worden war, 1940 für die Geburtenverhinderung bei „Blut-und Rassenschande“ verantwortlich zeichnete und seit 1942 Sterilisationen in Konzentrationslagern vornehmen ließ. Paaren, die getraut werden wollten, wurde ebenso wie seit kurzem verheirateten „Zigeunermischlingen“ auf einen vom Reichsinnenministerium erpresserisch eingebrachten „Antrag auf freiwillige Unfruchtbarmachung“ hin vom „Reichsausschuß“ eine „Genehmigung“ zur Sterilisation erteilt, der man den Satz hinzufügte, nach „erfolgter Unfruchtbarmachung“ werde man eine „wohlwollende Prüfung“ des Eheantrags vornehmen
In der Logik solcher Sterilisationsmaßnahmen war unzweifelhaft die Tendenz angelegt, die Gruppe der Opfer auszuweiten. Für Rassenhygieniker und Verwaltungsbeamte, die heiratswilligen Sinti und Roma die Möglichkeit der Fortpflanzung nehmen wollten, konnte es keinen plausiblen Grund geben, die Fortpflanzungsfähigkeit bereits verheirateter oder nach den Eheregeln der Ethnie in „Zigeunerehe“ zusammenlebender Angehöriger dieser Gruppe bestehen zu lassen.
IX. Der Genozid
Hatte der Genozid mit dem Eingreifen des „Reichsausschusses zur wissenschaftlichen Erfassung erbund anlagebedingter schwerer Leiden“ seinen Schatten vorausgeworfen, so leitete mit dem RSHA eine im engeren Bereich der SS angesiedelte Stelle mit dem Erlaß „Betrifft: Zigeunerhäuptlinge“ vom 13. Oktober 1942 den eigentlichen Vernichtungsprozeß ein. Der Erlaß unterschied zwischen „reinrassigen“ Sinti und Lalleri sowie „im zigeunerischen Sinne guten Mischlingen“, die die kulturellen Regeln der Sinti befolgten, einerseits und den „restlichen Zigeunermischlingen“ und den Roma andererseits, wobei Endogamie bzw. umgekehrt die Tendenz zur „Vermischung“ mit der Majoritätsbevölkerung das entscheidende Selektionskriterium bildeten
Die Aufgabe, die vorgeblich „reinrassigen“ Sinti und „guten Mischlinge“ auszuwählen, denen Himmler eine „gewisse Bewegungsfreiheit“ zu gestatten dachte, wurde neun Zigeuner-Sprechern übertragen, wobei man auf die Ressentiments innerhalb der noch wandernden, endogamen Sippen gegenüber den stärker seßhaften Familien vertraute Als im Januar 1943 jedoch nur sechs dieser „Sprecher“ ihre zudem meist nicht einmal vollständigen Verzeichnisse eingereicht hatten, wurde das RSHA erneut aktiv. Es ordnete am 11. Januar 1943 an, daß die Kriminalpolizeileitstellen in denjenigen Regionen, für die die Listen ausstanden, selbst die Selektion der im „zigeunerischen Sinne guten Mischlinge“ vornehmen sollten
Die Eile, zu der der Erlaß vom 11. Januar 1943 die Kriminalpolizei trieb, war auf einen Befehl Himmlers vom 16. Dezember 1942 zurückzuführen, der vorschrieb, „Zigeunermischlinge, Rom-Zigeuner und nicht deutschblütige Angehörige zigeunerischer Sippen balkanischer Herkunft“ — jene Gruppen wurden als „zigeunerische Personen“ zusammengefaßt — „nach bestimmten Richtlinien auszuwählen und in einer Aktion von wenigen Wochen in ein Konzentrationslager einzuweisen“ Die Tatsache, daß Himmler die bereits eingeleitete Selektion der Sinti durch die neun „Sprecher“ nicht abgewartet hatte, dürfte auf die brisante Kriegslage zurückzuführen gewesen sein, die den Reichsführer SS eine Verfahrensbeschleunigung angeraten sein ließ.
Das RSHA erließ am 29. Januar 1943 die Ausführungsbestimmungen zu Himmlers Befehl. Danach sollten „reinrassige“ Sinti und Lalleri sowie die „im zigeunerischen Sinne guten Mischlinge“ von einer Internierung in Auschwitz ausgenommen bleiben. Dies sollte auch für einige andere Gruppen „sozial angepaßter“ „zigeunerischer Personen“ gelten, für die jedoch alternativ zur Deportation die Sterilisation vorgesehen war, wenn sie das Alter von zwölf Jahren erreicht hatten Über den Entscheidungsprozeß, der in die Deportation nach Auschwitz einmündete, ist soviel bekannt, daß der Leiter des RKPA, Arthur Nebe, autorisiert war, einen Sachbearbeiter der Partei-kanzlei über die von Himmler avisierten Ausnahmeregelungen für „reinrassige“ Sinti und Lalleri zu informieren. Bormann richtete daraufhin am 3. Dezember 1942 ein Schreiben an Himmler, in dem er sich gegen jegliche ,, Sonderbehandlung(!) der sogenannten reinrassigen Zigeuner“ und insbesondere gegen eine Erlaubnis, sie „frei im Lande herumziehen“ zu lassen, wandte. Ein derartiger Schritte könne, so Bormann, von der Bevölkerung und den Unterführern der Partei ebensowenig verstanden wie von Hitler gebilligt werden. Himmler, der nun das Gespräch mit Hitler suchte, fiel es insofern nicht schwer, Bormanns Bedenken zu zerstreuen, als seine Pläne seitens der Parteikanzlei nicht korrekt wiedergegeben worden waren. Himmler wollte den „reinrassigen“ Sinti durchaus keine Bewegungsfreiheit innerhalb des Deutschen Reichs zubilligen, sondern hatte lediglich das ans Burgenland grenzende Gebiet um Ödenburg ins
Auge gefaßt. In diesem steppenartigen, gering besiedelten Raum am Neusiedler See sollten ausgewählte Sinti und Lalleri unter SS-Kontrolle einem vorgeblichen „Wandertrieb“ entsprechen
In diesem Kontext stand auch eine Anweisung Himmlers vom 16. September 1942, die dem SS-Amt „Ahnenerbe“ das Studium des Romanes sowie der Sitten der Sinti übertrug Mit dem „Ahnenerbe“ war dem Ritterschen Institut in der Tat ein ernsthafter Konkurrent auf dem Feld der „Zigeunerforschung“ erwachsen, der als SS-eigene Einrichtung allemal eine stärkere Patronage Himmlers zu gewärtigen hatte als ein Forschungsinstitut beim Reichsgesundheitsamt. Aber auch gewisse inhaltliche Punkte in den Anordnungen des RSHA vom 29. Januar 1943 trugen eher die Handschrift des „Ahnenerbes“ als die Ritters. So hatte Ritter den Sinti und Roma die Zugehörigkeit zum „Ariertum“ durchweg abgesprochen, sie als „Mischrasse“ deklariert und lediglich Termini wie „stammechte“ oder „Vollzigeuner“ verwandt. In den Erlassen der Jahreswende 1942/43 hingegen war explizit von „reinrassigen“ Sinti und Lalleri die Rede, was insofern für ein Einwirken des „Ahnenerbes“ spricht, als dieses Amt der SS die kleine Gruppe der als „stammecht“ geltenden Sinti und Lalleri zu „Ariern“ erklären mußte, um sie ihrem speziell dem „arischen“ Erbe gewidmeten Forschungsprogramm einverleiben zu können
Für die globale Zuordnung von Sinti zur Gruppe der „reinrassigen“ oder „Mischlingszigeuner“ rekurrierten allerdings auch die RSHA-Bestimmungen vom 29. Januar 1943 auf die „gutachtlichen Äußerungen“ der Ritterschen Forschungsstelle. Überdies bildeten jene Gutachten auch nach der großen Deportation vom März 1943 eine entscheidende Grundlage für den Transport weiterer Sinti und Roma nach Auschwitz
Die Praxis der Selektion für das Konzentrationslager entsprach nur begrenzt den Anordnungen des RSHA. Befunde aus Duisburg. Gelsenkirchen und München widerlegen die These, die Ausnahmebestimmungen des RSHA für „reinrassige“ Sinti und Lalleri sowie für „sozial angepaßte Zigeunermischlinge“ seien durchweg eingehalten worden. Die örtlichen Stellen der Kriminalpolizei erblickten im Auschwitz-Erlaß des RSHA vielfach die Gelegen-heit, die jeweilige Stadt völlig „zigeunerfrei“ zu bekommen Dabei konnte sich die Kripo allerdings auch auf den Abschnitt IV. 8.des RSHA-Schnellbriefes vom 29. Januar 1943 beziehen, wo ihr anheimgestellt wurde, bei „zigeunerischen Personen“, über die keine „gutachtlichen Äußerungen“ vorlagen, selbst zu prüfen, ob sie nach Auschwitz zu deportieren seien. Dieser Passus, der den Polizeidienststellen in der Tat weitgehend freie Hand ließ, zeigt zudem, daß das RSHA dazu tendierte, einen Zigeuner — ob nun „reinrassig“ oder „Mischling“ — eher in einem Konzentrationslager zu internieren als ihn unbehelligt zu lassen, falls seine Abstammung nicht geklärt war Gegen die Behauptung, die Ausnahmebestimmungen des RSHA seien eingehalten worden, lassen sich des weiteren mehrere Zeugnisse über Auschwitz ins Feld führen, die belegen, daß dort zahlreiche „sozial angepaßte“ Zigeuner, insonderheit Träger militärischer Tapferkeitsauszeichnungen, interniert waren
Neben Kriminalpolizei und Reichsbahn waren an der bürokratischen und organisatorischen Abwicklung der Deportation von Sinti und Roma in den Osten kommunale Behörden wie Fürsorgestellen, Arbeits-, Gesundheits-und Jugendämter beteiligt. Das Faktum der Deportation wurde nicht nur zahlreichen Arbeitgebern und Arbeitskollegen von Sinti in der Industrie oder der Bauwirtschaft, den Nachbarn von Zigeunerlagerplätzen und den Aufkäufern zurückgelassener Habe zur Kenntnis gebracht, sondern vielfach auch der lokalen Öffentlichkeit, da die zum Abtransport Bestimmten nicht selten tagsüber zu den Bahnhöfen geführt wurden, die als Haltepunkte der Sonderzüge dienten. Abgesehen von den wenigen Fällen, in denen Verwandte und Partner oder — bei Waisenkindern — katholische Nonnen sich gegen die Deportation einzelner wandten, ließ die Reaktion der Bevölkerung teils Abwendung und Gleichgültigkeit, teils aber auch unverhohlene Zustimmung zum Abtransport der Zigeuner erkennen
Sinti und Roma wurden in Auschwitz in einem „Zigeunerfamilienlager“ untergebracht. Diese Form der Unterbringung reflektierte zunächst das Bemühen des RSHA, die Reibungsverluste bei der Deportation und Internierung der vollkommen auf das Zusammenleben im Familienverband orientierten Zigeuner gering zu halten. Zugleich folgte aus der Logik der Ausrottungspolitik, daß gerade den im Familienlager Untergebrachten der Tod zugedacht war. Diese Ausrottungspolitik hatte Sinti und Roma gemäß einer rassistischen Werthierarchie in drei Gruppen geschieden, von denen nur die erste — „Reinrassige“ und „im zigeunerischen Sinne gute Mischlinge“ — die Fortpflanzungsfähigkeit behalten sollte, die zweite Gruppe der „sozial Angepaßten“ hingegen bereits der Sterilisation zum Opfer fallen sollte. Die nach Auschwitz Deportierten galten als dritte Gruppe. Sie blieben dort als Familien zusammen; sogar Kinder wurden dort zur Welt gebracht Das Überleben gerade dieser Kinder war in der Ausrottungspolitik gegen „Zigeunermischlinge“ nicht vorgesehen.
Es bedurfte zunächst keines gesonderten Vernichtungsbefehls gegen die im Familienlager Internierten. Auf unausgesprochene, aber dennoch unzweifelhafte Weise zum Tode verurteilt, erlagen sie ohnehin dem Hunger und den Seuchen. Das Zigeunerlager existierte 17 Monate. Von den etwa 23 000 dort Zusammengepferchten, unter ihnen 10 737 Menschen aus dem Altreich und 2 343 aus der „Ostmark“, fanden 20 078 den Tod. 32 wurden nach einem Fluchtversuch erschossen, 6 432 wurden mit Gas erstickt, 13 614 erlagen den „Lebens“ umständen im Lager. Vom April 1944 an wurden die noch Arbeitsfähigen ausgesondert und nach Buchenwald, Ravensbrück und Flossenbürg überstellt. In der Nacht vom 2. auf den 3. August 1944 wurde das Zigeunerlager liquidiert. Die Internierten, unter denen zahlreiche bis zuletzt Widerstand leisteten, wurden auf Lastkraftwagen zu den Gaskammern transportiert. Die Angaben über die Zahl der Anfang August 1944 Ermordeten schwanken zwischen etwa 2 900 und 4 000
Rudolf Höss, der bis November 1943 Kommandant von Auschwitz gewesen war, war vom 8. Mai bis zum 29. Juni 1944 noch einmal dorthin zurückgekehrt, um die Vorbereitungen für die „Sonderbehandlung“ der erwarteten ungarischen Juden zu treffen und entsprechenden Platz im Lager zu schaffen. In diesem Kontext dürfte der Befehl zur Vernichtung des Zigeunerfamilienlagers gefallen sein, zumal die dort zunehmend grassierenden Epidemien, insbesondere die furchtbare Kinderseuche Noma, die ein langsames Verfaulen bei lebendigem Leibe bedeutete, in den Augen der SS-Liquidatoren die „letzten moral-analogen Mechanismen menschlichen Zusammenlebens in Verfall“ geraten ließ Höss selbst verschweigt seine kurzzeitige Rückkehr nach Auschwitz in seinen Erinnerungen und konstruiert dafür einen Vernichtungsbefehl Himmlers für das Zigeunerlager, der bei einem Besuch des SS-Führers in Auschwitz im Juli 1942 — also mehrere Monate vor der Einrichtung des Zigeunerlagers! — gegeben worden sei Parallel zur Ermordung von Sinti und Roma in Auschwitz wurde der zweite Teil der Ausrottungspolitik, die Sterilisierung innerhalb und außerhalb der Konzentrationslager, in Angriff genommen, wobei das Reichskriminalpolizeiamt die Unfruchtbarmachung derjenigen „Zigeunermischlinge“, die nicht deportiert worden waren, auf dem Erlaßwege unter Berücksichtigung der entstehenden versicherungsrechtlichen und Kostenfragen exakt regelte
Himmler selbst hatte nach der Internierung der Sinti und Roma in Auschwitz das Interesse an der „Zigeunerfrage“ verloren. Das avisierte Wanderterrain für „reinrassige“ Sinti am Neusiedler See wurde nicht mehr eingerichtet. Die letzte überlieferte Verlautbarung Himmlers zu den Zigeunern stammt vom 10. März 1944. Dort weist er die obersten Reichsbehörden an, auf Plakaten fortan von summarischen Verbotsankündigungen für Polen, Juden und Zigeuner abzusehen. Soweit die beiden letzteren Gruppen betroffen seien, habe deren „Evakuierung und Isolierung“ „einen öffentlichen besonderen Hinweis in der bisherigen Form auf die umfassenden Betätigungsverbote auf vielen Lebensgebieten gegenstandslos“ gemacht
X. Die Charakteristika der NS-Zigeunerpolitik
Wenn man die Mordtätigkeit der mobilen Einsatzgruppen im Osten in Rechnung stellt, zu deren Opfern auch Zigeuner zählten, unterscheidet sich der Ablauf der NS-Verfolgung und -Vernichtung der Sinti und Roma, für den ein a priori feststehendes Programm weder bei Hitler noch bei Himmler oder Heydrich nachzuweisen ist, nur graduell von der nationalsozialistischen Judenvernichtung Gleichwohl müssen die Differenzen festgehalten werden, will man das Spezifische des Genozids an Sinti und Roma verdeutlichen.
Zunächst erstreckte sich die auf die Zigeuner zielende Verfolgung über einen kürzeren Zeitraum, als dies bei den Juden der Fall gewesen war. Daraus ergab sich, daß die so nur ex post konstatierbaren und keinem vorgezeichneten Plan folgenden Schritte der Definition der Verfolgtengruppe, der Berufseinschränkungen, der Konzentration sowie der Tötung und der — aus dem Arsenal der Rassenhygiene übernommenen — Sterilisationen in bezug auf die Sinti teils gleichzeitig eingeführt wurden, teils in „verkehrter“ Reihenfolge auftraten. So war es durchaus üblich, daß Sinti, die „gutachtlich“ noch gar nicht als solche eingestuft waren, an ihrem Wohnort festgeschrieben, in Lagern konzentriert und zur Zwangsarbeit eingesetzt wurden. Weitere Beispiele zeigen, daß Personen, die nicht klassifiziert waren, sogar als „Zigeuner“ nach Auschwitz deportiert und dort der Vernichtung preisgegeben wurden Es läßt sich umgekehrt nachweisen, daß die genealogischen Untersuchungen des Ritter-sehen Instituts noch zur Entdeckung sogenannter „Zigeunermischlinge“ führten, als der Vernichtungsprozeß in Auschwitz bereits eingeleitet war.
Es war jedoch nicht allein die Kürze der Zeit, die dieses Ineinandergreifen der verschiedenen Etappen der Verfolgung und Vernichtung bewirkte, sondern auch die Problematik, die dem Definitionsprozeß selbst innewohnte. Im Zentrum der Judenverfolgung standen die Juden. Wer als „Jude“ zu gelten hatte, wurde durch die Nürnberger Gesetze präzise definiert. Zudem erforderte diese Definition nur die Abgrenzung in eine Richtung: in bezug auf die „Mischlinge 1. Grades“. Im Mittelpunkt der Zigeunerverfolgung standen hingegen die „Zigeunermischlinge“. Eine juristisch exakte Bestimmung dieses Begriffs existierte nicht. Sie wurde in vergleichsweise vager Form genealogisch und nach Kriterien der „sozialen Anpassung“ vorgenommen. Hieraus ergaben sich insofern Verwicklungen, als die Dominanzverhältnisse zwischen diesen beiden Definitionsebenen umstritten waren. Der Begriff „Zigeunermischling“ mußte zudem nach zwei Seiten abgegrenzt werden: in Richtung auf die „reinrassigen“ beziehungsweise „stammechten“ Zigeuner einerseits und die Angehörigen von „NichtZigeuner-Familien“ mit geringem „zigeunerischem Blutsanteil“ andererseits.
Waren die Definitionen des „Zigeuners“ und des „Zigeunermischlings“ schon wenig präzise, was sich durch die Fehde zwischen verschiedenen Institutionen mit teils kontroversen Eingrenzungen der Ver-folgtengruppe noch komplizierte, so lag eine zusätzliehe Schwierigkeit darin, die einzelnen Personen den verschiedenen Kategorien zuzuordnen. Hier wurde es für den Definitions-und Erfassungsprozeß zwingend, daß Polizei und Bürokratie ein Bündnis mit wissenschaftlichen Spezialisten eingingen. Die Spezialisten der Ritterschen Forschungsstelle hingen dem modernen Rassismus an und kannten Kultur sowie Sprache der Zigeuner zumindest soweit, daß die Chancen einer rassistischen Klassifizierung wuchsen.
Gleichwohl war auch die Rassenhygienische Forschungsstelle in gewisser Weise überfordert: Zum Zeitpunkt der Auschwitz-Deportation lagen noch nicht über alle „zigeunerischen Personen“ „gutachtliche Äußerungen“ vor. Das RSHA und stärker noch die mit der Deportation beauftragte Kriminalpolizei reagierten darauf mit einer bezeichnenden Radikalisierung: Die Kriterien und die Praxis der Selektion von Sinti und Roma für die Internierung im Zigeunerfamilienlager wurden so ausgeweitet, daß bisherige Zweifelsfälle nun ohne weiteres unter die Kategorie der Deportationsopfer subsumiert wurden.
Der rassistisch begründete Vernichtungsprozeß bildete zweifellos das spezifische Element der nationalsozialistischen im Verhältnis zur vorhergehenden deutschen Zigeunerpolitik. Dennoch knüpfte das NS-System an die Problemlagen der herkömmlichen „Zigeunerbekämpfung“ an, die sich in dem paradoxen Zielkonflikt befunden hatte, Sinti und Roma zugleich vertreiben und seßhaft machen zu wollen. Es war ihr nicht gelungen, den „bestimmten Ort“ zu finden, der beiden Zielen gerecht wurde. In einem Prozeß „kumulativer Radikalisierung“ gelang dem NS-System diese Synthese in mörderischer Form. Man brachte Sinti und Roma in den Tod, an den einzigen „Ort“, an dem Vertriebensein und Seßhaftigkeit dauerhaft identisch wurden.
XL Die Nachkriegszeit
In den ersten Nachkriegsjahren war das Handeln der überlebenden Sinti und Roma weithin von dem Bestreben geleitet, die gebliebenen Familienbindungen zu restituieren, soweit dies nach der Massenvemichtung und auch angesichts der traumatischen, die sozialen Bindungen und das Selbstwertgefühl zerstörenden Wirkung der Zwangssterilisationen noch möglich war. Die zeitliche Nähe zum NS-Regime und die Tatsache, daß neben den Sinti und Roma zunächst auch die Angehörigen der Mehrheitsgesellschaft kreuz und quer durch Deutschland unterwegs waren, verhinderte nur kurzzeitig das Wiedereinsetzen der bis 1938/39 herrschenden Zigeunerpolitik, die auf eine Abwehr der dauerhaften Niederlassung von Sinti und Roma gezielt hatte. Dabei fand das latente Fortwirken des NS-Rassismus seinen Ausdruck gerade in den hilflosen Versuchen, sich von ihm zu distanzieren. Bezeichnenderweise lautete der Paragraph 1 einer 1946/47 in Bremen diskutierten „Verordnung zum Schutze der Bevölkerung vor Belästigung durch Landfahrer“: „Landfahrer im Sinne dieser Verordnung ist ohne Rücksicht auf seine Rasse, wer ohne festen Wohnsitz nach Zigeunerart umherzieht.“
Nach herkömmlichem Muster suchten Kommunen durch überhöhte Mieten, ungenügende Ausstattung und die plötzliche Auflösung oder gar Zerstörung öffentlicher Zigeunerlagerplätze sowie durch schikanöse Polizeikontrollen auf privaten Plätzen und die Einschränkung von Fürsorgeleistungen Sinti und Roma zu einem Fortzug zu bewegen, zumal sich die Stadtverwaltungen oft von den Anwohnern der Lagerplätze unter Druck gesetzt sahen. Jene führten die gängigen antiziganistischen Vorurteile, die durchweg die verschiedenen politischen Systeme im Deutschland des 20. Jahrhunderts überlebt hatten, sowie Unverträglichkeiten, die aus einer unzulänglichen hygienischen Ausstattung der Plätze resultierten, ins Feld, um eine Verlegung des Lagers zu fordern. Derartige Verhaltensmuster haben wenig an Aktualität eingebüßt und kommen heutzutage vor allem dann zum Tragen, wenn jugoslawische, polnische oder rumänische Roma vertrieben werden sollen
Da eine grundlegende Umstrukturierung der Kriminalpolizei nach 1945 ebenso ausblieb wie deren effektive Entnazifizierung, konnte es geschehen, daß vormalige „Zigeunerspezialisten“ weiterhin mit den Sinti und Roma befaßt blieben und ihnen bei Wiedergutmachungsverfahren sogar als Zeugen oder Experten präsentiert wurden Einzelne Kriminalisten wie Rudolf Uschold, nach dem Krieg Sachbearbeiter für Zigeunerfragen beim Zentralamt für Kriminalidentifizierung und Polizeistatistik des Landes Bayern, plädierten in unzweideutiger Anlehnung an Robert Ritter für eine Dauerinternierung von vermeintlich „Asozialen und Kriminel-len“ unter den Zigeunern, wohingegen „echte Zigeuner und anerkannte Mischlinge“ mit Wanderpässen ausgestattet werden sollten
Wie schon im Kaiserreich und in der Weimarer Republik übernahm Bayern auch in der Bundesrepublik die Vorreiterrolle bei der Sondergesetzgebung gegen Sinti und Roma, indem es 1953 eine „Landfahrerordnung“ verabschiedete, die erst 1970 wegen faktischer Grundgesetzwidrigkeit zurückgezogen wurde. Allerdings führt die bayerische Polizei als einzige Länderpolizei noch heute eine Sondererfassung von Sinti und Roma durch, wobei mit einer von der Staatsangehörigkeit gesonderten „Volkszugehörigkeit“ der Zigeuner argumentiert wird, was angesichts der Erfahrungen der deutschen Geschichte nicht wenig bedenklich erscheint
In einem Grundsatzurteil sah der Bundesgerichtshof 1956 eine rassistische Verfolgung der Sinti und Roma erst mit dem Auschwitz-Befehl Himmlers vom 16. Dezember 1942 als gegeben an, wohingegen die vorhergehenden Erlasse mit der von stereotypen Feindbildern geprägten Begründung als „polizeiliche(r) Vorbeugungs-und Sicherungsmaßnahmen“ bewertet wurden: Es habe sich dort angesichts der „asozialen Eigenschaften“, der Kriminalität und der „Möglichkeit der Spionage“ — seitens der meist nur begrenzt lese-und schreibfähigen Sinti und Roma — lediglich um sicherheitspolitische und kriminalpräventive Schritte gehandelt
Als dieses Urteil 1963 revidiert und diese Revision, die eine rassisch begründete Verfolgung seit 1938 als gegeben ansah, 1965 im BEG-Schlußgesetz bestätigt wurde, waren bereits viele Geschädigte gestorben oder hatten resigniert die Auseinandersetzung mit der Justiz aufgegeben, zumal sie vor Gericht nicht selten in einer Art behandelt worden waren, die eine elementare Achtung gegenüber Opfern der NS-Verfolgung vermissen ließ. Das entscheidende Defizit der Entschädigungspraxis lag jedoch auch nach 1965 darin, daß Wiedergutmachungszahlungen auf andere staatliche Leistungen angerechnet und somit den ehemaligen Verfolgten oft gar nicht ausgezahlt wurden
Als Gegenstück zu dieser Rechtssprechung vermag es kaum zu überraschen, daß Ermittlungen gegen Robert Ritter 1950 und gegen seine engste Mitarbeiterin Eva Justin 1960 wegen der Mitverantwortlichkeit für die Deportationen von Sinti und Roma nach Auschwitz sowie für deren Zwangssterilisation bereits im Vorfeld einer Gerichtsverhandlung eingestellt wurden
Seit den siebziger Jahren läßt es ein wachsendes gesellschaftliches Interesse an Geschichte und gegenwärtiger Situation der Sinti und Roma als gerechtfertigt erscheinen, von einem neuen Problembewußtsein zu sprechen. Dessen erste Wurzel lag in den Bemühungen der damaligen Sozial-, Bildungs-und Familienpolitik um größere Chancen-gleichheit, mehr soziale Integration und die Kompensation gesellschaftlicher Defizite. Dies schlug sich sowohl in einer Zunahme aufrüttelnder und analytischer Publikationen als auch darin nieder, daß sich die Sozialarbeiterschaft der Sinti und Roma anzunehmen begann — nicht selten allerdings mit einseitigen Modernisierungskonzepten, die die besondere Kultur der Zigeuner negierten
Tiefergreifende und dauerhaftere Impulse löste indessen die Gründung einer eigenständigen Bürgerrechtsbewegung deutscher Sinti und Roma aus, die zunächst durch eine Gedenkkundgebung im ehemaligen Konzentrationslager Bergen-Belsen 1979 und durch einen Hungerstreik im vormaligen KZ Dachau 1980 die Öffentlichkeit auf ihre Anliegen aufmerksam machte. Diese Bürgerrechtsbewegung sieht es als zentrale Aufgabe an, einer Verdrängung der Ausrottungspolitik des NS-Regimes gegen Sinti und Roma entgegenzuwirken. Sie akzentuiert vor diesem Hintergrund die besondere Verantwortung der Bundesrepublik für eine angemessene Wiedergutmachung und für die Beendigung diskriminierender Praktiken und tritt für einen behutsamen, von den Sinti und Roma maßgeblich mitbestimmten Modernisierungsprozeß ein, bei dem gleichwohl die spezifische Kultur der Eth-nie Berücksichtigung finden soll
Diese Tendenzen zum Positiven sollten jedoch nicht den Blick dafür verstellen, daß antiziganistische Projektionen, Vorurteile und Benachteiligungen ebensowenig verschwunden sind wie von zureichenden sozialen und finanziellen Förderungsmaßnahmen für Sinti und Roma oder gar von einer Entschädigungsregelung die Rede sein kann, die den noch lebenden Opfern der NS-Zigeunerverfolgung einen Lebensabend ohne materielle Not ermöglichen würde. Angesichts der nationalsozialistischen Vernichtungspolitik gegen Sinti und Roma wird die Lernfähigkeit der bundesdeutschen Gesellschaft nicht zuletzt daran zu messen sein, ob sie sich zur Erinnerung sowie zu Offenheit und Toleranz gegenüber den Sinti und Roma bereit findet.