„Die zehn Gebote Gottes enthalten 279 Wörter, die Amerikanische Unabhängigkeitserklärung 300 Wörter. Die Verordnung der Europäischen Gemeinschaft über den Import von Karamelbonbons hat exakt 25 911 Wörter“ — so der bayerische Ministerpräsident Franz-Josef Strauß in einer Kritik an der Bürokratisierung innerhalb der Europäischen Gemeinschaft „Die öffentliche Bürokratie ist zu einer lautlosen Krake geworden, deren Fangarme immer weiter in die private Gesellschaft hineinreichen.“ Mit dieser Kritik an Institutionen, Personal und Arbeitsweise der öffentlichen Verwaltung im demokratischen Staat der Industriegesellschaft artikuliert Ulrich Lohmar ein allgemeines Unbehagen. Lohmar war selbst vier Legislaturperioden SPD-Abgeordneter im Deutschen Bundestag und amtierte dort auch als Vorsitzender verschiedener Bundestagsausschüsse. Als Professor für Politische Wissenschaft und Autor zahlreicher einschlägiger wissenschaftlicher Abhandlungen versucht er, seine Erfahrungen im Gesetzgebungsprozeß mit der Administration rational zu verarbeiten.
In diesen zwei Zitaten — die mannigfaltig fortgeführt werden könnten — artikuliert sich ein Unbehagen, das in der Alltagssprache in Worte gefaßt wird wie Gesetzesperfektionismus, Gesetzesflut, Gesetzesdschungel, Wucherung des Rechts, Paragraphendickicht, Gesellschaft in Fesseln und Kolonisierung der Lebenswelt.
Seit Mitte der siebziger Jahre gibt es in der Bundesrepublik Deutschland eine öffentliche Diskussion zur Überregelung und Bürokratisierung. Wiederholt durchgeführte Meinungsumfragen zeigen, daß die wachsende Regelungsdichte zunehmend von den Bürgern als bedrückendes Problem empfunden wird. Die verschiedenen Medien haben die Debatte aufgenommen und beschäftigen sich in Berichten, Analysen und Features mit dieser Thematik. Die politische Erwachsenenbildung in den verschiedenen Akademien der Kirchen, politischen Parteien und Verbänden stellt sich dieser Herausforderung. Seit Ende der siebziger Jahre wird auch eine intensive wissenschaftliche Diskussion unter dem Topos „Verrechtlichung“ geführt. Sozialwissenschaftler, meist juristisch vorgebildet und ausgewiesen — jedoch kaum Juristen —, haben Seminare und Colloquien veranstaltet, Forschungsprojekte durchgeführt, Dissertationen vergeben. Schwerpunkte dieser wissenschaftlichen Forschungs-und Lehrtätigkeit sind das Wissenschaftszentrum in Berlin, die Gesamthochschule Siegen und die Universität Konstanz.
Auch die Politiker haben inzwischen den Eindruck gewonnen, daß sich in diesem Bereich möglicherweise eine für Staat und Gesellschaft bedrohliche Entwicklung abzeichnet und versuchen, zu reagieren. Die Reaktion manifestiert sich in Kabinettsbeschlüssen, in Regierungserklärungen und in der Einsetzung von Kommissionen. Sowohl im Bund als auch in den Ländern Baden-Württemberg, Bayern, Hessen und Nordrhein-Westfalen wurden aufgrund von Kabinettsentscheidungen Kommissionen eingesetzt, die sich mit der Regelungsfülle, deren Folgen und mit therapeutischen Möglichkeiten befassen sollen. Über die Tätigkeit dieser Kommissionen und deren Arbeitsergebnisse werden am Schluß nähere Ausführungen folgen.
Wir können als erstes Fazit einleitend feststellen: Die Verrechtlichungsdiskussion hat einen vorrangigen Stellenwert in der öffentlichen Debatte, in der Wissenschaft und im politischen Bereich erhalten. Man muß aber fragen, was heißt überhaupt „Verrechtlichung“? Was kann man unter „Überregelung“ eigentlich verstehen? Wieviel an Regelung ist zuviel? Gibt es Kriterien, an denen man „Überregelung“ messen kann?
Die Klärung dieser Fragen ist Gegenstand der nachfolgenden Ausführungen. Ohne eine Antwort vorweg zu geben, sei schon zu Beginn dazu gesagt: Der Maßstab für Überregelung sind die Folgen. So kann man von Überregelung sprechen, wenn die Flut der Regelungen die Folgebereitschaft der Adressaten ebenso hinwegspült wie die Regelungsabsicht der Politiker.
I. Der Befund der Überregelung
Der Begriff „Verrechtlichung“ wurde 1928 von Otto Kirchheimer in die wissenschaftliche und politische Diskussion eingeführt. Kirchheimer verwendete diesen Begriff für die von ihm beobachtete Neutralisierung politischer Konflikte durch juristische Formalisierung. Für den Sozialisten Kirchheimer war das ein unredlicher Versuch, den Klassenkampf zu reduzieren. Unabhängig von dieser philosophisch-politischen Position kann für die heutige wissenschaftliche Diskussion Verrechtlichung verstanden werden:
— als ständige Vermehrung vorwiegend des geschriebenen Rechts, und zwar einerseits durch das Erfassen immer neuer, bisher nicht normierter Lebenssachverhalte (Ausdehnung des Rechts), andererseits durch das Auflösen normativ bereits geregelter Tatbestände in weitere Einzeltatbestände (Detaillierung oder Spezialisierung des Rechts);
— als Überwucherung sozialer, ökonomischer und politischer Beziehungen durch Rechtsbeziehungen
In der Literatur werden drei Grundtypen der Verrechtlichung unterschieden: die Vergesetzlichung, die Bürokratisierung und die Justizialisierung. 1. Vergesetzlichung oder auch Parlamentarisie* rung Für die Vergesetzlichung charakteristisch ist die Zunahme der Gesetzesproduktion durch die Parlamente und die qualitative Veränderung der Gesetze. Mit der Konstituierung der parlamentarischen Demokratie in der Weimarer Republik erlangte das Parlament eine umfassende Kompetenz zu staatlicher Normsetzung. Die Gesetzgebung wurde zur zentralen Funktion des Parlaments, zugleich änderte sich aber auch der Charakter der Gesetze. Aus der Eingriffsermächtigung in bürgerliche Freiheit und Eigentum wurde ein variables Instrument zur Durchsetzung politischer Ordnungsvorstellungen und schließlich sogar zur Aufrechterhaltung des Wirtschaftswachstums und des sozialen Friedens. Das Erfordernis der schnellen Reaktion auf nationale und internationale Veränderungen in finanziellen, wirtschaftlichen, sozialen, neuerdings auch sicherheitsrelevanten Bereichen führte zu einer Abkehr von den Grundsätzen der Allgemeinheit und Abstraktheit der Gesetze und zu einer Zunahme der Maßnahme-und Einzelfallgesetze. Steuerungsziele und Planungsvorhaben finanzieller, struktureller oder sozialer Art erforderten nicht nur immer mehr, sondern auch immer speziellere gesetzliche Regelungen.
Die Folgen dieser Entwicklung bestehen darin, daß der Regelungsbesatz (= Zunahme der Menge gültiger Rechtsnormen) ständig zunimmt; daß die Regelungsdichte (bisher ungeregelte Lebensbereiche werden rechtlich geregelt — das Verhältnis von geregeltem zu ungeregeltem Lebensbereich verändert sich fortlaufend zu Lasten des letzteren) stärker wird. Jürgen Habermas bezeichnet diesen Vorgang als „Kolonisierung der Lebenswelt“. Eine weitere Folge ist, daß die Regelungstiefe (die Normierung wird immer detaillierter und spezieller) zunimmt Die Zunahme des Regelungsbesatzes, die Verstärkung der Regelungsdichte und die Zunahme der Regelungstiefe ist jedoch nicht nur ein nationales, sondern inzwischen vor allem ein supranationales Problem. Vor allem im EG-Bereich nehmen Regelungsdichte und Regelungstiefe ständig zu; die Europäische Gemeinschaft erläßt pro Jahr im Durchschnitt zwischen 3 000 und 4 000 Rechtsakte in der Form von Verordnungen, Richtlinien und Entscheidungen. So gab es im September 1985: 4 084 Ratsverordnungen, 942 Richtlinien und 2 626 Entscheidungen (zumeist Einzelfall-regelungen). Die externe Verrechtlichung im Gesetzesbereich hat sich von 1882 bis 1982 versiebenfacht. Die interne Verrechtlichung hat sich vor allem durch die quantitative Entwicklung der Änderungsnormen ausgeweitet. So stehen im Bund den 797 Änderungsnormen (208 Gesetze, 589 Rechtsverordnungen) 1 606 geänderte Rechtsnormen (789 Gesetze, 817 Rechtsverordnungen) sowie 7 684 geänderte Artikel und Paragraphen gegenüber (4 333 in Gesetzen, 3 351 in Verordnungen). Eine ähnliche Entwicklung zeigt die Normenflut in den Bundesländern auf. 2. Bürokratisierung Unter Bürokratisierung wird die Verrechtlichung durch die öffentliche Verwaltung verstanden. Charakteristisch dafür ist die zunehmende Selbststeuerung der Administration und — damit verbunden — die Schöpfung eigener Rechtsregeln, d. h. die Schöpfung neuen Rechts auf untergesetzlicher Ebene. Zwar ist nach Art. 20 Abs. 2 GG die Ver-waltung an Gesetz und Recht gebunden, so daß alle Handlungen der Verwaltung sich auf ein Gesetz zurückführen lassen. Allem Anschein nach ist also weder für eine Selbststeuerung der Bürokratie noch für administrative Rechtssetzung Platz. Doch die politisch-administrative Praxis entlarvt diesen Anschein. Durch die Vorbereitung der Gesetzesvorlagen der jeweiligen Regierungen hat die Administration einen entscheidenden Einfluß auf die Gesetzesproduktion. Das wird vor allem deutlich an der Relation von Input und Output (Gesetzesinitiativen — Gesetzesbeschlüsse): 80% bis 85% der im Bundesgesetzblatt veröffentlichten Gesetze gehen auf Initiativen der Bundesregierung zurück.
Aus dieser Input-Output-Relation wird die Identität zwischen dem Vorbereiter und dem Anwender des Gesetzes manifest.
Die Rechtssetzung durch die Verwaltung wird vor allem im Bereich der Rechtsverordnungen deutlich.
Zwar bestimmt Art. 80 GG, daß die Ermächtigung zum Erlaß von Rechtsverordnungen vom Gesetzgeber im Gesetz ausgesprochen sein muß und daß der Gesetzgeber selbst Inhalt, Zweck und Ausmaß der erteilten Ermächtigung bestimmt. Aber diese Ermächtigung wird ja schon in vielen Fällen von der ministeriellen Administration in den Gesetzesentwurf hineingeschrieben. Von der damit geschaffenen Basis, legitimiert durch einen Parlamentsbeschluß, macht dann die ministerielle Administration nachhaltig Gebrauch und erläßt mittels der Rechtsverordnung allgemeine Rechtsnormen — Rechtsnormen, die dann eben nicht mehr vom Parlament, sondern von der Bürokratie geschaffen worden sind. Besondere Manifestationen der Selbststeuerung der Verwaltung stellen die Verwaltungsvorschriften, Dienstanweisungen, Erlasse, Schreiben u. ä. dar. Sie haben zwar keine unmittelbar bindende Wirkung für den Bürger, aber wie allgemein bekannt ist, sind sie von erheblichen Auswirkungen direkter und indirekter Art für alle jeweils Betroffenen.
Der Bürokratisierungsprozeß mit der zunehmenden Dominanz der öffentlichen Verwaltung hat seine Ursache auch im Rückgang der rein vollziehenden Verwaltung. Diese ist gekennzeichnet durch das präzise „Wenn-dann-Schema", das in der täglichen Verwaltungspraxis im Rückzug begriffen ist. Vorgerückt ist die gestaltende Verwaltung, die Dienstleistungsverwaltung und damit die Ermessensverwaltung. Ausgangspunkt deren Handelns ist häufig ein bestimmtes politisches Ziel — wie z. B. die „Erhaltung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts“ —, für das die Mittel, um es zu erreichen, unter Umständen noch gar nicht bekannt sind. In solchen Fällen bleibt es dann der Verwaltung überlassen, die ihr geeignet erscheinenden Mittel selbst auszuwählen und anzuwenden. Sie steuert sich damit selbst. 3. Justizialisierung Unter Justizialisierung wird die Verrechtlichung in Form von Akten der Rechtsprechung verstanden.
Dafür kennzeichnend ist die zunehmende Verlagerung politischer Entscheidungs-und Initiativfunktionen auf die Justiz. Die Justizialisierung ist vor allem beim Bundesverfassungsgericht am stärksten ausgeprägt. Das Bundesverfassungsgericht als reinste und ausgeprägteste Form der Verfassungsgerichtsbarkeit, das über die vergleichsweise umfassendsten Kompetenzen verfügt, hat in den 35 Jahren seines Wirkens eine Machtfülle entwickelt, die teilweise vor der der Bundesregierung und weit vor der des Parlaments rangiert. Die Verfahrensinstrumente der Verfassungsbeschwerde, der abstrakten Normenkontrolle und der Organklage haben sich als bevorzugte Verfahrensarten erwiesen, mittels derer das Bundesverfassungsgericht den politischen Entscheidungsprozeß in erheblichem Maße mitgestaltet. Die Bindungswirkung der verfassungsgerichtlichen Entscheidungen nach § 31 Bundesverfassungsgerichtsgesetz hat die Vorrangstellung des Bundesverfassungsgerichts noch intensiviert.
Die Justizialisierung durch das Bundesverfassungsgericht wird vor allem durch drei Merkmale gekennzeichnet:
a) Durch das Selbstverständnis des Bundesverfassungsgerichts als „Hüter der Verfassung“ leitet dieses eine Gesamtverantwortung für das demokratisch-politische Gemeinwesen ab und versteht sich in Verfassungskonfliktfällen den anderen Verfassungsorganen übergeordnet.
b) Die materialen Wertentscheidungen im Grundgesetz — besonders in den Grundrechten — sind sehr auslegungsbedürftig, so daß der Interpretations-und Definitionskompetenz des Bundesverfassungsgerichts besondere Bedeutung zukommt. c) Es hat inzwischen so etwas wie eine Neigung zum „Ausklammern von Entscheidungen“ in den Parlamenten stattgefunden. Die Polarisierungen zwischen Mehrheit und Minderheit haben zur Folge, daß in grundsätzlichen Fragen die Parlamente, vor allem eben der Bundestag, zu einer einheitlichen umfassenden Entscheidung immer weniger fähig werden. Die Parlamentarier, vor allem die in der parlamentarischen Minderheit, benutzen das Instrument der Organklage oder der abstrakten Normenkontrolle, um mittels des Bundesverfassungsgerichts doch noch eine ihnen genehme Entscheidung zu erreichen. Die Mehrheit weigert sich gelegentlich, bestimmte Lebensbereiche zu regeln, weil sie Sorge hat, daß die von ihr konzipierte Rege-29 lung vom Bundesverfassungsgericht nicht akzeptiert werden könnte.
So gilt auch für die Bundesrepublik Deutschland inzwischen, was für das politische System der Vereinigten Staaten von Amerika der chiefjustice Hughes in einem kühnen Satz formuliert hat: „Wir leben unter einer Verfassung, aber die Verfassung ist das, was die Richter sagen“ oder was der ehemalige justice Felix Frankfurter lapidar formuliert hat: „Der Supreme Court ist die Verfassung“. Für die Bundesrepublik Deutschland gilt eben auch: Das Grundgesetz ist das, was die Richter des Bundesverfassungsgerichts darüber aussagen. Verfassungsrecht ist in der Bundesrepublik Deutschland Verfassungsrichterrecht geworden. Die bisher 71 erschienenen Entscheidungsbände mit jeweils durchschnittlich 25 Entscheidungen sind ein eindrucksvoller Beleg für diese Entwicklung, die zu einer „Selbstdomestikation“ der politischen Akteure führen kann und nicht selten politischen Immobilismus zur Folge hat. Die Verrechtlichung durch Kompetenzausdehnung der Judikative ist jedoch nicht auf das Bundesverfassungsgericht beschränkt, sondern gilt gewissermaßen für die gesamte Justiz. So wird vor allem durch höchstrichterliche Entscheidungen neues Recht geschaffen, das dem vom Parlament verabschiedeten Gesetzes-recht in seiner Wirkung durchaus vergleichbar ist.
Die Flucht in das Recht ist eine neue Erfahrung, nämlich die, daß der Rechtsstaat sich zum Rechtswegestaat gewandelt hat. Aus der Gesetzesflut ist konsequent eine Prozeßflut geworden. Das wird vor allem in den Gerichtszweigen der Finanz-, Arbeits-und Sozialgerichtsbarkeit besonders deutlich, im Bereich der Zivilgerichtsbarkeit vor allem bei Miet-und Familienrechtsstreitigkeiten. In der Finanz-und Arbeitsgerichtsbarkeit gibt es eine jährliche Steigerungsrate bis zu 30 %. Im Jahre 1975 hatten die Finanzgerichte 26 738 Eingänge zu verzeichnen, für die 279 Finanzrichter zuständig waren; im Jahre 1982 wiesen die Finanzgerichte 61 853 Eingänge auf, über die 421 Finanzrichter entscheiden sollten
II. Die Ursachen der Überregelung
Die Verrechtlichung in ihren verschiedenen Ausprägungen ist eine völlig neue soziopolitische Erfahrung. Sie hat keinen Vergleich mit früheren historischen Epochen. Es muß gefragt werden, warum ist das so? Was sind die Ursachen der Überregelüng? Welche Entwicklungen haben zur Verrechtlichung geführt? Die nachfolgende Ursachen-Analyse hat drei Ansätze:
— die in der Verfassung selbst enthaltenen Ursachen, — die zivilisatorische Entwicklung und — die habituellen Veränderungen. 1. Die in der Verfassungsordnung selbst enthaltenen Ursachen Der Staat der Bundesrepublik Deutschland soll ein Rechtsstaat (Art. 20 Abs. 1 und 3 GG), eine repräsentativ-parlamentarische Demokratie (Art. 20 Abs. 2 GG), ein Sozialstaat (Art. 20 Abs. 1 und Art. 28 Abs. 1 GG), ein Bundesstaat mit vielfältiger Selbstverwaltung (Art. 20 Abs. 1, Art. 28 Abs. 2 GG), ein integraler Bestandteil supranationaler Einrichtungen (Art. 24 GG) sein, der seinen Bürgern eine menschenwürdige Existenz in Freiheit und Gerechtigkeit ermöglichen soll (Art. 1, Art. 2 GG).
Diese verfassungsrechtlich normierten Staatszielbestimmungen und Organisationsstrukturen sind maßgebliche Ursachen für die Überregelung. So fordert der Rechtsstaat, daß politisches Handeln erst wirksam wird, wenn es in Rechtsform oder auf der Basis von Rechtsnormen erfolgt. Für das Tätigwerden von staatlichen Amtsträgern, das Anspruch auf Verbindlichkeit erhebt, gibt es im Rechtsstaat keinen rechtsfreien Raum. Jeder mit öffentlicher Macht Ausgestattete ist an Rechtsregeln gebunden und kann nur in rechtsförmiger Weise tätig werden. Das Handeln von Amtsträgern, besonders der öffentlichen Verwaltung, unterliegt weitgehend der Nachprüfung durch unabhängige Richter mit der Folge, daß staatliches Handeln extrem justiziabel geworden ist. Die Rechtsprechung, voran das Bundesverfassungsgericht, stellt formell und an die Rechtsstaatlichkeit höchste Anforderungen. Man denke nur an die vom Bundesverfassungsge- richt entwickelte Wesentlichkeitstheorie Dadurch wurde das Bestreben intensiviert, Gesetze und Rechtsverordnungen, Verwaltungshandeln aller Art (z. B. akademische Prüfungen) durch Berücksichtigung aller in Betracht kommender Umstände „justizsicher“ zu machen. Notwendigerweise müssen demzufolge Regelungsbesatz, Regelungsdichte und Regelungstiefe zunehmen.
Im Rechtsstaat ist das Recht neben dem Geld und neben der Kommunikation das wichtigste Steuerungsinstrumentarium. Einmal ist es auch für die Instrumente Geld (Subventionsrecht) und Kommunikation (Medienrecht, Öffentlichkeitsarbeit) in vielen Fällen Basis und Form, zum anderen ist es das am leichtesten handhabbare Instrument. Es ist jederzeit frei verfügbar, es kann jederzeit abgeändert werden, und sein Geltungsgrund liegt quasi in ihm selbst. Aufgrund seiner formalen Rationalität (formaljuristische Präzision, Berechenbarkeit der Chancen, eine Form, die der rationalen Systematik des Rechts und des Verfahrens am besten entspricht) drängt es sich als Steuerungsinstrument geradezu auf. Das Recht ermöglicht die logisch begründbare Auswahl von Mitteln zur Verfolgung beliebiger Ziele im Rahmen im vorhinein festgelegter Verfahren
Das dem politischen System zugrundeliegende Demokratieprinzip läßt eine Legitimierung der Herrschenden nur durch die Beherrschten zu. Die demokratische Legitimation muß in regelmäßigen Abständen in Form von allgemeinen Wahlen erneuert werden. Die Vertreter der konkurrierenden Parteien umwerben den Bürger mit einem möglichst umfassenden Leistungsangebot des Staates — mindestens mit weitreichenden Leistungsversprechen. Machterhaltung oder Machterringung ist in der Demokratie nur durch Maximierung von Wählerstimmen möglich. Eine solche Maximierung erfolgt entweder durch Gewährleistungen, Vergün-stigungen, Verbesserungen oder Geschenke oder durch Versprechungen mit der Folge, daß staatliche Leistungen entweder als Werbegeschenke oder als Werbeprämien dem Bürger gewährt werden. Diese Erfahrung hat Anthony Downs in einer „Ökonomischen Theorie der Demokratie“ wissenschaftlich verarbeitet. Sie bedeutet, daß der demokratische Staat durch den Erfolg seiner — vor allem ökonomischen — Interventionen sich seine Legitimationsgrundlage (Ernst-Wolfgang Böckenförde) in der Form von Massenloyalität (Claus Offe) verschafft. Derartige Staatsleistungen können aber nur durch ein mehr an rechtlichen Regelungen — wie z. B. im Steuerrecht oder im Sicherheitsrecht — erreicht werden
Demokratie heißt auch Herrschaft auf Zeit, mit der Folge, daß der Wechsel zwischen Mehrheit und Minderheit fast zum Kennzeichen funktionierender demokratischer Systeme geworden ist. Mit dem Wechsel der Mehrheiten sind in. aller Regel aber auch neue, andere, ja teilweise gegensätzliche politische Ziele verbunden (denken wir an die Formulierung von Bundeskanzler Willy Brandt im Jahr 1969: „Die Demokratie fängt erst an“ oder 1982 an die von der Bundesregierung unter Bundeskanzler Helmut Kohl anvisierte „Wende“). Aus solchen Veränderungen der politischen Zielvorstellungen erfolgen aber wiederum neue, andere rechtliche Regulierungen.
Die Demokratie wird aber auch als die Herrschaftsform des Kompromisses verstanden, als die beste Regelungsform des Interessenausgleichs, als die Herrschaft von Pluralität und Vielgestaltigkeit. Daraus ergibt sich für die Rechtssetzung, daß der Normsetzer, in erster Linie der Gesetzgeber, durch den Akt der Normsetzung ausgleichen soll, daß er die divergierenden, ja gegensätzlichen Interessen in einem Gesetz berücksichtigen, an sich von der Interessenlage her Unvereinbares vereinbar machen soll. Auch hier ist die Konsequenz Überregelung einerseits, Unpraktikabilität beim Gesetzes-vollzug andererseits. Nicht wenige Gesetze blockieren sich gegenseitig, nicht wenige gesetzliche Regelungen heben sich wechselseitig auf. Denken wir an das Mitbestimmungsrecht, an das Mietrecht, an die rechtlichen Regelungsversuche zur Kostendämpfung im Gesundheitswesen.
Die Tätigkeit des modernen demokratischen Staates wird mehr und mehr vom Gleichheitsprinzip und Sozialstaatsgrundsatz motiviert. Die moderne Demokratie kann sich nicht mehr damit begnügen, Gleichheit in einem nur rechtsförmigen Sinne zu gewähren und zu garantieren, in existenzielle materielle Not geratenen Bürgern nach dem alten Fürsorgeprinzip Hilfe zu gewähren. In der freiheitlichen, aber auch egalitären Demokratie soll dem Bürger stets auch soziale Gleichheit im materiellen Sinne ermöglicht werden. Durch dieses Grund-postulat entstehen für den modernen Staat gegenüber früheren Epochen völlig neue Aufgaben. So soll er z. B. für Chancengleichheit im Bildungsbereich, in der Berufstätigkeit oder sogar beim Wohnen und in der Freizeitgestaltung sorgen. In allen Lebenslagen — Arbeitslosigkeit, Krankheit, Invalidität, Alter — soll er soziale Sicherheit gewährleisten.
Seine Bürger erwarten von ihm, daß er in allen Daseinsbereichen gleichwertige Lebensverhältnisse herstellt. Will ein solcher Staat auf diese Anforderungen reagieren — und aus den genannten Gründen bleibt ihm gar nichts anderes übrig —, muß er ganz neue Maßnahmen der Vor-und Fürsorge in der Bildungs-, Arbeitsmarkt-, Wohnungs-, Gesundheits-und Rentenpolitik ergreifen. Derartige Maßnahmen erfolgen aber zunächst und zuerst durch den Erlaß von Rechtsnormen, die dann wieder administrativ angewandt und in Konfliktfällen justiziell vollzogen werden.
Der moderne Staat ist in ein engmaschiges System der Politikverflechtung verwoben. Das ergibt sich für den demokratischen Staat der Bundesrepublik Deutschland aus Essentialen und Zielvorgaben wie die föderalistische Organisationsstruktur und dezentrale Gliederung oder die Integration in das supranationale System der Europäischen Gemeinschaft. Der Bund ist mit den Ländern, die Länder sind untereinander verflochten; der Bund und die Länder sind mit den Gemeinden auf vielfältige Weise verbunden, die Institutionen der Europäischen Gemeinschaft haben eine Vielzahl von Berührungspunkten mit dem Bund und mit den Ländern. Programmnormen und Vollzugsnormen werden auf verschiedenen staatlichen Ebenen aufgestellt, Koordinierungsnormen sind im besonders großen Umfang erforderlich. Man denke nur an die Gemeinschaftsaufgaben nach Art. 91a GG mit ihren verschiedenen Gesetzen über die einzelnen Gemeinschaftsaufgaben, mit den daraus entstandenen Rechtsverordnungen und Verwaltungsvorschriften sowohl des Bundes als auch der Länder.
Oder man denke an das komplizierte Geflecht der Finanzverfassung mit den kaum mehr überschaubaren Regelungen der Steuerverteilung oder des Finanzausgleichs, sei es zwischen dem Bund und den Ländern, sei es unter den Ländern, sei es zwischen den jeweiligen Ländern und ihren Gemeinden. 2. Die zivilisatorische Entwicklung Mit dem Begriff der zivilisatorischen Entwicklung soll die Vielfalt der wissenschaftlichen Entdeckungen und technischen Erfindungen, die Mannigfaltigkeit der neuen Technologien und ihrer technisch-industriellen Verwertung, die Vielgestaltigkeit sozialer Umstrukturierungen und Umschichtungen, die zahlreichen Veränderungen in der Wirtschaftsordnung bezeichnet werden. Die zivilisatorische Entwicklung begegnet uns vor allen Dingen im Bereich der Naturwissenschaft, der Medizin und der Technik. Aufgrund der Entwicklung in diesen Wissenschaftsgebieten wird der Staat seit ca. 150 Jahren wie nie zuvor in seiner Schutz-und Sicherungsfunktion herausgefordert; Der Schutzbedarf des Individuums ist erheblich gestiegen. Vor allem die Achtung der Menschenwürde und der Schutz der körperlichen Integrität erfordern sukzessive ein zunehmendes Mehr an staatlichen Aktivitäten der Prüfung und Zulassung, der Kontrolle und Begrenzung, der Förderung oder der Übernahme in den staatlichen Bereich. An Beispielen seien genannt: die pharmazeutische Produktion, die Computer-industrie, neue Transportarten, neue Baustoffe, neue Energieträger, vor allem die Kernenergie und neue Kommunikationssysteme, wie z. B. Ausstrahlung von Rundfunk-und Fernsehprogrammen durch Satelliten.
Die allenthalben feststellbare Erschöpfung der natürlichen Ressourcen und die Gefährdung von Boden, Wasser, Wald und Luft provozieren mehr und neue Aktivitäten des Staates auf seinen verschiedenen Organisationsebenen.
Für den Staat der Bundesrepublik Deutschland entstanden durch die Kriegsfolgen und die Nachwirkungen des nationalsozialistischen Terrorregimes besondere politische Lasten, mit denen er fertig werden mußte: Zerstörung von Industrieanlagen, Wohnraum und Kommunikationssystemen, Integration der Flüchtlinge und Vertriebenen, die Versorgung von Witwen und Waisen, Kriegsbeschädigten und Verfolgten. Auf all diese Herausforderungen reagiert der Staat mit dem Erlaß und dem Gebrauch von Rechtsnormen.
Eine besondere zivilisatorische Herausforderung ist die Regulierung des Wirtschaftsablaufs. Spätestens seit dem Ersten Weltkrieg sieht sich der Staat genötigt, zunächst nur punktuell, später kontinuierlich in den Ablauf des wirtschaftlichen Geschehens ordnend und entscheidend einzugreifen. Der Staat ist immer mehr zur Befriedigung der quantitativen Ansprüche seiner Bürger und auf das Florieren der Wirtschaft angewiesen. Für die staatlichen Aktivitäten im Wirtschaftsbereich stellten die ökonomischen Theoretiker modellhafte Instrumentarien bereit wie die Nachfragesteuerung oder die Angebotssteuerung. Die Folge ist, daß auch die Soziale Marktwirtschaft keineswegs mehr eine staatsfreie Wirtschaftsform ist, sondern in erheblichem Maße durch den Staat gesteuert wird. Man kann sogar sagen, daß aufgrund von § 1 des „Gesetzes über die Stabilität und das Wachstum der Wirtschaft“ die wirtschaftliche Steuerung zur Staatsaufgabe geworden ist. Gerade im Bereich der staatlichen Intervention auf dem Gebiet der Wirtschaft ist ein ständiger Bedarf an rechtlichen Regulierungen entstanden, um Preise, Subventionen, Beihilfen, Kredite, Bürgschaften und ähnliches verbindlich festlegen zu können. Vor allem das Steuerrecht ist ein effizientes Instrument der Wirtschaftssteuerung geworden. Die Wucherungen aufgrund von permanenten Änderungen von steuerrechtlichen Normen sind allgemein bekannt. 3. Die habituellen Veränderungen Die zivilisatorischen Veränderungen haben auch das Individuum erfaßt. Es hat sich in seinem Habitus, in seinen Denk-und Verhaltenskategorien verändert, was sich wiederum auf den politischen und staatlichen Bereich auswirkt.
Die mit der Aufklärung beginnende sogenannte „Wissenschaftliche Epoche“ hat mit ihren Kategorien der Rationalität und Kausalität, der Präzision und Perfektion, des ständigen Fortschritts und der permanenten Reform nachhaltig die Gesetzgebung beeinflußt und damit wiederum den Verrechtlichungsprozeß intensiviert. Beispiele für die Wissenschaftsgläubigkeit des rationalistischen Zeitalters sind die wissenschaftsgläubigen Gesetze im Erziehungsbereich, der Perfektionierungsdrang im Steuerrecht oder im Ehescheidungsfolgenrecht oder die sogenannte „Modellgesetzgebung“ im Medien-recht
Durch die Säkularisierung des Lebens und die Emanzipation der Individuen lockert sich die Bindung an herkömmliche Verhaltensregeln. An ihre Stelle treten Rechtsnormen, die häufig lediglich die zugrundeliegenden sozialen Normen rechtlich überformen. Sie ermöglichen dem orientierungslos gewordenen Bürger, aus der unüberschaubaren Vielfalt die von der „Rechtsordnung“ zugelassenen Handlungsmöglichkeiten auszuwählen. Das sind sehr viel mehr, als Konventional-oder Sitten-Normen anbieten. Die Folge ist ein zunehmender Trend zur Verrechtlichung auch der privaten Lebensverhältnisse, wie z. B. das Scheidungsrecht, das Recht des unehelichen Kindes oder die Behandlung der „nicht-ehelichen Lebensgemeinschaft“ zeigen
Die Philosophie der Machbarkeit, die das Denken nachhaltig beeinflußt, wirkt sich auch auf Politik und Staat aus. Sie suggeriert nämlich, daß alles Heil vom Staat komme, daß der Staat eine Heilsanstalt sei, der alles könne und jedes besser mache, der zum „patriarchalischen Wohltäter“ aller geworden sei. Solch bonapartistischer Patriarchalismus, der sich in der Formel vom „Vater Staat“ ausdrückt — die es nur im Deutschen gibt — hat zu einer „Revolution steigender Erwartungen“ geführt. Es wurde eine Forderungsinflation und eine Anspruchsdynamik ausgelöst, deren Folge eine ständige Überbeanspruchung des Staates ist. Helmut Klages sagt dazu: „Auf der Ebene der Werte findet ein Übergang von industriebürgerlichen Tugenden zu Vorstellungen der anspruchsberechtigten Teilhabe an den Erträgnissen des Gemeinwesens statt, wobei sich die alte Selbstdurchsetzungskomponente des Individualismus in die Orientierung auf Rechtsansprüche und Entscheidungsteilhabe umwandelt.“
Bei dieser Entwicklung hat der Staat eine konstitutive Rolle übernommen. Er ist der Anspruchsinnovator und Mobilisator, er wird zum Generalagenten der Lebenszufriedenheit und des Lebensglücks seiner Bürger — mit dem Instrument des Rechts.
III. Die Folgen der Überregelung
Wann kann man von einem „überregelten Staat“ oder von einer „Verrechtlichung“ sprechen? Letztlich kann dies nur von den Folgen her beantwortet werden. Demzufolge soll im dritten und letzten Teil der Überlegungen nach den Folgen der Überregelung gefragt werden, und zwar nach den Folgen für die Essentiale der verfassungsmäßigen Ordnung und damit für das Gemeinwesen als Ganzes, nach den Folgen für den Bürger als Individuum und für sein geordnetes Zusammenleben mit den anderen Menschen, nach den Folgen für die Funktionsfähigkeit des staatlichen Apparates und für die Stabilität der rechtsstaatlichen Demokratie. Als Folgen der Überregelung werden angesprochen: die Gefähr-düng der Personalität, die Steuerungspathologie und die mögliche Legitimationskrise. 1. Die Gefährdung der Personalität Die sich frei entfaltende menschliche Persönlichkeit ist oberster Wert der Verfassungsordnung Das selbstverantwortlich handelnde Individuum, dem eine weitgehende Entfaltung seiner Persönlichkeit gesichert werden muß, ist die anthropologische Orientierung des Grundgesetzes Dem einzelnen Bürger ist eine Sphäre privater Lebensgestaltung verfassungskräftig vorbehalten. Es besteht also „ein letzter unantastbarer Bereich menschlicher Freiheit . . ., der der Einwirkung öffentlicher Gewalt entzogen ist.“ So hat in ständiger Rechtsprechung das Bundesverfassungsgericht die anthropologischen Essentiale der Verfassungsordnung der Bundesrepublik Deutschland formuliert.
Doch dieses Essential wird durch die Verrechtlichung aller Lebensbereiche in sein Gegenteil verkehrt. Das Recht — das mit seiner Normenvielfalt der Sicherung der Freiheit dienen soll —, das Gesetz — das freiheitliche Entfaltung ermöglichen und garantieren soll — wirkt kontraproduktiv. Der Hauptzweck der Rechtsordnung wird durch die ständige schrankenlose Vermehrung der Rechtsregeln in sein Gegenteil verkehrt: statt Vielfalt Monotonie, statt Selbstbestimmung Fremdbestimmung, statt dynamischer Kreativität reglementierende Schemata, statt Risikobereitschaft Risikolosigkeit und statt Eigenverantwortung Versorgungsansprüche.
Das Übermaß an rechtlichen Regelungen erniedrigt den Menschen. Der jeden Daseinsbereich regulierende Staat mißachtet das menschliche Grundbedürfnis nach personalen Freiräumen und persönlicher Entscheidung Die überregelte Demokratie gefährdet ihr Fundament: den mündigen Bürger, der sich für seinen Staat selbstverantwortlich engagiert und der sich mit ihm identifiziert. Es gibt zwar kein abgeschlossenes, feststehendes Modell vom viel beschworenen „mündigen Bürger“ als conditio sine qua non der demokratischen Ordnung. Doch besteht Grundkonsens darüber, daß die staatliche Regulierung mit dem ständig zunehmenden Regelungsbesatz, mit der verstärkten Regelungsdichte und der zunehmenden Regelungstiefe, die Heran-bildung von Bürgern, die staatliches Tun verstehen und beurteilen wollen, die politische Aktivitäten zu entfalten und Verantwortung zu übernehmen bereit* sind, immer schwieriger werden läßt. Der Bürger als zoon politikon droht zum idiotes zu werden, zum Privatmann, der sich seinen privaten, persönlichen Interessen zuwendet, der seine expandierende disponible Lebenszeit mehr und mehr ausschließlich für sich gebraucht, der dem Gemeinwesen den Rücken kehrt. Der überregelte Staat droht, sein anthropologisches Fundament selbst zu zerstören. 2. Die Steuerungspathologie Wir sprachen vom Recht als wichtigstem Steuerungsinstrument des modernen Staates. Es besteht allenthalben die Sorge, daß dieses Steuerungsinstrument sich abnutzt, daß seine Effektivität abnimmt, ja, daß es schließlich unwirksam wird.
Rüdiger Voigt beschreibt das Versagen des Rechts als Steuerungsinstrument mit Überkomplizierung, Übersteuerung und Überstabilisierung. Voigt versteht unter Überkomplizierung, daß die unüberschaubare Vielfalt von Rechtsnormen, die bei einer Entscheidung zu berücksichtigen seien, den Entscheidenden leicht überlasten könne. Es wäre die Gefahr groß, daß es als Folge der Überlastung zu einer mehr oder weniger zufälligen Auswahl von Rechtsnormen komme, die jeweils angewandt würden. Unter Umständen erfolge die Auswahl der anzuwendenden Rechtsnormen sogar willkürlich. Unter Übersteuerung versteht er sozusagen den umgekehrten Fall. Der Entscheidungsspielraum der Verwaltung — als dem wichtigsten Rechtsanwender — wird durch externe und interne Kontrollen so stark eingeschränkt, daß sie auch offensichtlich nicht „passende“ Konditionalprogramme anwendet oder unzutreffende Routineprogramme durchführt. In der Folge kann es zu Konflikten mit den Klienten der Verwaltung kommen.
Zur Überstabilisierung sagt Voigt, daß sich einzelne Bürokratien verselbständigen. Sie gehorchen dann nicht nur Eigengesetzlichkeiten ihrer Organisation, sondern sie produzieren darüber hinaus auch eine Fülle eigenen Rechts. Die Angehörigen solcher Bürokratien neigen dazu, den Zielen der eigenen Behörde höchste Priorität einzuräumen. Erschwerend kann hinzukommen, daß diese Ziele in enger Zusammenarbeit mit der eigenen Klientel (z. B. in der Wirtschaftsverwaltung mit Unternehmen, in der Arbeitsverwaltung mit Gewerkschaften, in der Wissenschaftsverwaltung mit spezifischen Professorengruppen) entwickelt worden sind. Die Folge ist nicht mehr eine rechtsstaatliche Demokratie, sondern eine „Verhandlungsdemokratie“, der wesentliche Kennzeichen der rechtsstaatlichen Ordnung, wie Öffentlichkeit, Transparenz, Nachprüfbarkeit, abhanden gekommen sind. Die Überidentifikation mit der eigenen Organisation und die ÜberbewerB tung von Rechtsnormen werden als „Sachzwang“ empfunden und engen so, aus der Sicht des einzelnen, den Handlungsspielraum ein Der einzelne Bürger resigniert nach dem Motto: „Es ändert sich ja doch nichts“.
In diesen Fällen werden Rechtsnormen nicht mehr zweckrational wirksam. Die Steuerungsnormen sind keine effizienten Steuerungsinstrumente mehr, insbesondere dann, wenn die buchstabengetreue Erfüllung des Gesetzeswortlauts gerade zur Vereitelung des Gesetzeszweckes führen würde. Es kommt notwendig zu „Strategien der Gesetzesumgehung“, um vor allem Dienstleistungsorganisationen des Staates (Post, Fluglotsen) funktionsfähig zu erhalten. Diese haben andererseits wirksame Machtmittel — „Dienst nach Vorschriften“ — in der Hand, um Druck auf Regierung und Parlament auszuüben. Die Folge ist, daß entweder dem Druck nachgegeben oder die Funktionsfähigkeit des staatlichen Dienstleistungsapparates beeinträchtigt wird. Die Verwaltungssteuerung wird pathologisch.
In letzter Konsequenz kann die Steuerungspathologie aufgrund der Überregelung dazu führen, daß es dem Normgeber überhaupt nicht mehr oder wenigstens nicht in erster Linie darauf ankommt, daß eine Rechtsnorm wirksam oder daß das in ihr enthaltene Programm realisiert wird. Im Vordergrund steht dann vielmehr das Interesse, einen Nachweis politischer Aktivitäten zu erbringen. Politik wird symbolisch. Wenn wir an die Vielzahl von Umweltschutznormen denken oder an die Diskussion um die sogenannte „Kronzeugen-Regelung“, dann wird deutlich, daß diese symbolische Politik allmählich Allgemeincharakter gewinnt. Auf diese Weise geraten der demokratische Rechtsstaat und seine Funktionsfähigkeit ins Zwielicht, und die Zweifel an seiner Leistungsfähigkeit nehmen zu. 3. Die mögliche Legitimationskrise Von „Strategien der Gesetzesumgehung“ zum Rechtsungehorsam ist nur ein kleiner Schritt. Die Überregelungen führen zur Überforderung. Rechtssetzer, Rechtsanwender und Rechtsadressaten werden gleichermaßen von der Flut der Rechtsnormen überfordert. Wie bereits dargestellt, überfordern die zu hohe Regelungsdichte, der zu intensive Regelungsbesatz und die zunehmende Regelungstiefe die Kapazitäten der Verwaltung. Sie ist immer weniger in der Lage, alle Normen gleichzeitig und stetig zu berücksichtigen, so daß ihre Vollzugsneigung sinkt. Noch mehr überfordert wird allerdings der Bürger. Er ist nicht mehr in der Lage — wenn er überhaupt dazu jemals in der Lage war —, die Fülle der jeweils einschlägigen Rechtsnormen auch nur annähernd zu kennen. Die Menge, die Unübersichtlichkeit, das komplizierte System von Verweisungen, die teilweise divergierende Verwaltungspraxis und Rechtsprechung verunsichern ihn tief. Hinzu kommt die Unvernunft nicht weniger Regelungen derart, daß sie als mit dem common sense für unvereinbar betrachtet werden und oft im Widerspruch zu sozialen Normen stehen. Dadurch wird die Berechenbarkeit von Verwaltungs-oder Justizentscheidungen immer geringer, die Rechtssicherheit nimmt ab.
Auch die Rechtssicherheit ist ein Essential des demokratischen Rechtsstaates. Aber nur eine bestimmte Menge Gesetze und anderer Rechtsnormen vermag Sicherheit zu verschaffen. Wird diese Menge, die sich wahrscheinlich abstrakt gar nicht mit letzter Sicherheit festlegen läßt, überschritten, so verkehrt sich der beabsichtigte Effekt der Rechtssicherheit in sein Gegenteil. Eine von Normenflut überschwemmte Ordnung schafft Rechts-unsicherheit Auch hier ergibt sich als Folge, daß sich die Zweifel am Rechtsstaat mehren und die Neigung der Bürger wächst, die Rechtsordnung zu unterlaufen. Immer mehr Bürger tendieren dazu, aus dem Normensystem auszusteigen und sich in gesellschaftliche Neben-oder gar Anti-Ordnungen zurückzuziehen. Sie versuchen, den Staat und seine Rechtsordnung zu überlisten. Es sind die Erfahrungen mit der Schattenwirtschaft, es sind die Erfahrungen mit der Steuerhinterziehung, es sind die Erfahrungen mit den Verstößen im Arbeits-und Sozialrecht, es sind die Erfahrungen mit der ständigen Mißachtung des Straßenverkehrsrechts, die zeigen, wie auf diese Weise eine Rechtskultur zerfällt. Bürger aber, die nicht „abtauchen“ oder „überlisten“ können oder wollen, tendieren zunehmend zur Resignation. Sie fühlen sich dem Staatsapparat und den von ihm ausgehenden Fluten von Regelungen ohnmächtig ausgeliefert. Ihre Identifikationsfähigkeit wird geschwächt, und ihre Loyalität zum demokratischen Staat nimmt ab. Andere, einige wenige zunächst, deren Zahl jedoch ständig zunimmt, rebellieren. Sie rebellieren zunächst mit den Mitteln, die der Rechtsstaat zur Verfügung stellt, weiten dann ihre Protestakte in Grau-und Grenzzonen aus, um schließlich zu Gewaltaktionen zu greifen.
So droht dem demokratischen System der Verlust seiner Legitimationsbasis; es gerät in eine Legitima-tionskrise, die zum Legitimationszerfall führen kann. Zwar ist ein solcher Prozeß nicht ausschließlich auf Überregelung oder Verrechtlichung zurückzuführen. Er beruht auch auf anderen Ursa-chen. Doch die Überregelung — weil unmittelbar von jedermann erfahrbar — dürfte vorrangig Ursache für Legitimationskrise und Legitimationszerfall sein.
IV. Möglichkeiten und Chancen einer Therapie?
Die eingangs gestellte Frage nach dem Maß der Überregelung oder dem Kriterium der Verrechtlichung konnte durch den Aufriß der eingetretenen oder absehbaren Folgen beantwortet werden. Die skizzierten Folgen zwingen zum Nachdenken. Es ist zu fragen: Kann der Prozeß der Verrechtlichung einfach so fortschreiten? Muß der Überregelung Einhalt geboten werden? Gibt es Möglichkeiten, dem überregelten Staat zu begegnen, ohne ihn handlungsunfähig zu machen
Diesen Fragen wird unterschiedlich begegnet. So wird die Auffassung vertreten, es könne sich gar nichts ändern und es brauche sich auch nichts zu ändern, denn die zivilisatorische Entwicklung, in ihrem Gefolge die Veränderung der Staatsaufgaben, erforderten parlamentarisches, administratives und richterliches Tätigwerden in neuen Dimensionen — so Adolf Arndt und Josef Esser Andere verfechten entschieden die Position, daß eine radikale Änderung unter allen Umständen eintreten müsse. Sie fordern, daß das politische System von einem bestimmten Zeitpunkt an die Übernahme neuer Aufgaben grundsätzlich verweigern müsse und sich sukzessive Aufgaben entledigen sollte — so Friedrich August von Hayek und Robert Nozik Wieder andere vertreten die Ansicht, nur ein Prozeß von „trial und error", ein Prozeß des sich Bemühens, des Irrens, des Scheiterns und des immer wieder neu Versuchens könne vielleicht einiges ändern, vieles sei nur sehr geringfügig änderbar und manches könne man überhaupt nicht verändern.
Was könnte geschehen und was ist schon geschehen? Die Veränderungsstrategien können unter drei Aspekten gesehen werden: Überprüfung des Regelungsbestandes, Prozesse der Entstaatlichung und habituelle Veränderungen. 1. Überprüfung des Regelungsbestandes Der Staat hat die Probleme, die durch seine Über-regelung entstanden sind, erkannt. Seine Repräsentanten haben reagiert und als Staatsaufgabe und Regierungsziele die Überprüfung der Normenflut formuliert. Die Reduzierung der rechtlichen Regelung, insbesondere obsolet gewordener Regelungen, im Sinne einer Rechtsbereinigung, ist zu einer permanenten Staatsaufgabe geworden. Schon im Jahre 1973 hat Peter Noll in seiner „Gesetzgebungslehre“ geschätzt, daß sich der gesamte Gesetzes-stoff auf höchstens ein Drittel seines Umfanges reduzieren ließe, ohne daß ein Verlust an Entscheidungssubstanz zu befürchten sei. Sowohl der Bund als auch eine Reihe von Ländern bekennen sich inzwischen zu dieser Daueraufgabe der Rechtsbereinigung. Einige Bundesländer, wie z. B. Baden-Württemberg, haben festgelegt, daß bestimmte Rechtsnormen von nun an nur noch eine begrenzte Zeit gelten sollen. So gelten in Baden-Württemberg Verwaltungsvorschriften nur noch zehn Jahre. Wenn sie dann nicht schon außer Kraft gesetzt worden sind, treten sie automatisch außer Kraft Zur Überprüfung gehören auch das Instrument der Entfeinerung im Sinne eines Überganges von einer Detailregelung zur Rahmengesetzgebung als auch das der Flexibilisierung durch Verwendung von Generalklauseln, unbestimmten Rechtsbegriffen und Ermessensermächtigungen
Vor allem aber sind sich sowohl der Bund als auch die Länder darüber im Klaren, daß man das Übel bei der Wurzel anpacken sollte, d. h., daß man sich bei der Normsetzung selbst zurückhalten muß. Aus diesem Grunde hat der Bund zwingend für die Bundesministerien vorgeschrieben, daß mögliche Regelungsvorhaben auf Notwendigkeit, Wirksamkeit und Verständlichkeit zu überprüfen sind. Bundeskanzleramt und Bundesministerien wurden verpflichtet, bei jedem Vorhaben einer rechtlichen Neuregelung — seien es Gesetze, seien es Rechtsverordnungen — folgende Fragen zu prüfen:
1. Muß überhaupt etwas geschehen?
2. Welche Alternativen gibt es? 3. Muß der Bund handeln?
4. Muß ein Gesetz gemacht werden?
5. Muß jetzt gehandelt werden?
6. Ist der Regelungsumfang erforderlich?
7. Kann die Geltungsdauer beschränkt werden? 8. Ist die Regelung bürgernah und verständlich? 9. Ist die Regelung praktikabel?
10. Stehen Kosten und Nutzen in einem angemessenen Verhältnis?
Bund und Länder haben Kommissionen eingesetzt, um die Überregelung zu reduzieren. Deren Berichte liegen mittlerweile vor Die Mitarbeiter in diesen Kommissionen und die Verfasser der Kommissionsberichte haben respektable Analysen durchgeführt und realistische Vorschläge erarbeitet. Auf sie kann in diesem Zusammenhang nicht näher eingegangen werden. 2. Prozesse der Entstaatlichung Unter Entstaatlichung wird verstanden, daß Steuerungsaufgaben von nicht-staatlichen Subsystemen wahrgenommen werden sollen. Das gesellschaftliche Selbststeuerungspotential in der Gestalt von Selbsthilfegruppen oder Genossenschaften soll genutzt werden, die Versorgung mit Gütern, insbesondere mit öffentlichen Gütern, soll unter dem Aspekt „mehr Markt“ an Private übertragen werden.
Solche Ansätze veranlassen sofort zur Frage, ob bei ihrer Realisierung tatsächlich auch Recht reduziert wird, ob die Staatstätigkeit bezüglich Rahmensetzung, Kontrollen, Interventionen etc. wirklich gemindert werden kann, ob möglicherweise die negativen Folgen marktwirtschaftlichen Wettbewerbs nicht wieder den Staat zu neuen Aktivitäten, insbesondere durch Rechtsetzung, herausfordern wird.
Im Zusammenhang mit der Überregelungs-und Verrechtlichungsproblematik ist eine sehr kontroverse Diskussion um den Abbau von Staatsaufgaben, die Dezentralisierung von staatlichen Aufgaben und die Erledigung öffentlicher Aufgaben durch Private entstanden. Eine Vielzahl von Vorschlägen ist in der Literatur zu finden, und zahlreiche Konzepte von Privatisierungstypen konkurrieren miteinander 3. Habituelle Veränderungen Bei der Ursachenanalyse wurde von dem Mentalitätswandel in Richtung auf eine Anspruchshaltung und Heilserwartung gesprochen. Bei Abschätzung der Folgen stießen wir auf Verhaltensweisen wie Risikoscheu, Verantwortungsflucht, Absicherungstendenzen. Zwischen Ursachen und Folgen besteht eine Wechselwirkung.
Die grundlegendste Veränderungsstrategie muß beim Individuum ansetzen. Die Repräsentanten des politischen Systems, seine tragenden politischen Kräfte und seine Bürger müssen sich auf das der freiheitlichen Demokratie zugrundeliegende Menschenbild der Personalität besinnen. Sie müssen die Qualitäten dieses Menschenbildes — wie Eigenverantwortung, Gestaltungsfreiheit, Kreativität, Entscheidungsfreiräume, Risikobereitschaft und Vertrauen — mobilisieren. Es gilt, die Potentiale personaler Existenz sowohl auf Seiten des Staates als auch auf Seiten der Bürger zu revitalisieren.
Eine Revitalisierung der Potentiale personaler Existenz auf Seiten des Staates heißt, daß die Machbarkeitsideologie, insbesondere die Machbarkeitsideologie durch den Staat, einer gründlichen Revision unterzogen werden muß, daß der Aberglaube an die Leistungsfähigkeit der Rechtsnorm abgebaut werden muß, daß das Vertrauen in das Verwaltungs-und Gerichtspersonal zu stärken ist, insbesondere mit dem Instrumentarium der Delegation, daß der Bürger nicht als unmündiger Untertan, sondern als selbstverantwortliche Persönlichkeit gesehen und in seine Selbstverantwortungsfähigkeit mehr gesteckt soll. Vertrauen werden Mobilisierung der Potentiale personaler Existenz auf Seiten des Bürgers heißt, daß die Bürger sich über die Komplexität der demokratisch regierten Industriegesellschaft und ihre Steuerungsprobleme viel umfassender und gründlicher informieren müssen, was ganz neue Aufgaben in bezug auf die Öffentlichkeitsarbeit der Regierungen und die Vermittlungsfunktion der Massenmedien mit sich bringen muß, heißt, daß der Bürger die viel gepriesene „Selbstverwirklichung“ und stetig beschworene „Selbstentfaltung“ tatsächlich auch aus eigenem Antrieb anstreben muß, daß er seine Versorgungsmentalität abbauen und seine Anspruchshaltung reduzieren sollte.
Es mag trivial und banal klingen, aber alle Veränderungsstrategien hängen in ihrer Realisierungschance von den Menschen ab, sei es von den Regierenden, sei es von den Regierten. Der Mensch ist auch hier der entscheidende „Unsicherheitsfaktor“, den es gilt, anzugehen.