Vorabdruck aus: Steffen Käser (Hrsg.), Denk’ ich an Deutschland . . . Grundlagen eines Dialogs beider deutscher Staaten, Bleicher Verlag, Gerlingen 1987.
Nach mehr als vierzig Jahren der Teilung scheint die Stimmungslage der bundesdeutschen Publizistik so uneinheitlich wie gewohnt. Die Unbeirrbaren wanken nicht: „Die deutsche Einheit kommt bestimmt“ die Sorgenvollen fragen wie stets: „Was wird aus den Deutschen?“ die Skeptiker wollen noch immer ganz genau wissen „Wo Deutschland liegt“ Das Apodiktum ist so alt wie die Mehrzahl der Antworten, die (wenigen) Konzepte folgen verbrauchten Rezepturen, und alle Autoren verweisen wie stets (und wie auch anders?) auf die Zukunft: auf ungewisse politische Konstellationen im Mit-oder Gegeneinander der großen Mächte.
Neu ist die Fülle der jetzt vorgelegten Texte. Sie könnte glauben machen, seit Anfang der achtziger Jahre sei in der Bundesrepublik das Interesse an der „Identität der Deutschen“ sprunghaft gewachsen und mit ihm auch das kollektive Verlangen nach einer klaren Antwort auf die seither wieder häufiger zitierte offene deutsche Frage. Zwar ist bislang nicht erkennbar, ob die massiert verbreitete Nachdenklichkeit der verlegten Autoren allein auf eine allgemeine Stimmungswende und somit auch auf einen Wendegrund verweist oder nicht auch auf Verlagsstrategien, die der politisch-moralischen Wirkung von Reden aus dem Regierungslager auf Käuferwünsche vertrauen. Gleichwohl darf als sicher gelten, daß die Resonanz dieser Debatten bisher begrenzt blieb, zumal sie auch nur gelegentlich Thema der Massenmedien waren.
Es wird mithin damit zu rechnen sein, daß sich die Deutschen im Westen fernab von aller abstrakten Identitätssuche in ihrem intellektuell tatsächlich „schwierigen Vaterland“ auch weiterhin so selbstverständlich und selbstbewußt bewegen wie bisher: 75 von Hundert gegen das Streichen des Einheitsgebots aus dem Grundgesetz, kaum einer jedoch für die Wiedervereinigung als erstes Ziel der Politik und zu 65 Prozent — je jünger sie sind, desto häufiger — davon überzeugt, daß man sich im Laufe der Geschichte auseinanderleben werde — so wie einst die Deutschen und die Österreicher. Im übrigen: Sie werden auch künftig „Deutschland“ sagen, wenn sie die Bundesrepublik meinen, denn so hören und lesen sie es nicht nur bei den Sportreportern (CDU-Wahl-Slogan 1987: „Weiter so, Deutschland“); und letztlich ist es wohl tatsächlich auch niemandem zuzumuten, auf Dauer das zu leisten, was Erich Kosthorst als das problematische Postulat der „Doppelidentifikation“ beschrieb: die idealiter gleichzeitige und gleich starke Hinwendung zur konkreten Bundesrepublik wie zur gedachten, in Deutschland nur kurzlebigen staatlichen Einheit der Nation.
Im Umgang mit Deutschen aus der DDR hat sich, dies fanden jetzt Soziologen heraus, denn auch ein besonderes Verhältnis ausgeprägt. Eine Beziehung, in der die Distanz wenigstens dann stärker ist als die Gemeinsamkeit, wenn die sonst fernen Deutschen in die Bundesrepublik übersiedeln. Nicht einmal ein Fünftel der befragten Westdeutschen hat 1984 die Ankunft von damals mehr als 30 000 Ostdeutschen uneingeschränkt begrüßt. Die Mehrheit habe sich vielmehr zumindest „differenziert“, zumeist aber „indifferent, reserviert“ und „zu einem erheblichen Anteil sogar ablehnend“ geäußert. Als „Distanzhumanismus“ kennzeichneten die Rechercheure ihren Befund und prognosti-zierten, die „humanitäre Perspektive“ werde die „nationale Orientierung“ verdrängen
Dies zu beklagen, gehört in der Bundesrepublik zu den politischen Selbstverständlichkeiten. Immerhin widerspricht dieses westdeutsche Selbstbewußtsein nicht nur dem grundgesetzverpflichteten Konsens der alten Parteien, und es korrespondiert ganz offenkundig auch nicht mit dem, was DDR-Deutsche über sich selbst oder über Deutschland denken. Auch wenn angenommen werden kann, daß ein übergreifender Anspruch gleich welcher Bundesregierung, für alle Deutschen zu sprechen, in der DDR der achtziger Jahre zumindest wohl auf Skepsis stieße, so scheint es doch, als seien viele Deutsche dort durchaus in der Lage, die belastende Doppelidentität auszuhalten. In ihrer Sicht aber ist — anders als bei manchen Alt-und Neunationalen bei uns — die Einheit des Landes zumeist nicht so sehr ein politisches oder ideelles Ziel von eigenem Wert, sondern vor allem Mittel zu sozialen oder politischen Zwecken, für die Chance zur besseren Befriedigung materieller Bedürfnisse oder zur Verwirklichung der bürgerlichen Grundrechte.
Gleichwohl hat auch die Mehrheit der DDR-Deutschen gelernt, sich mit dem Status quo zu arrangieren. Das dauerte dort länger, und es war für viele sicher auch schmerzlicher. Die Erblast der Deutschen, genauer: die Bürde der Mitschuld jener „Volksgemeinschaft“, die sich nach 1933 ausprägte, aber schon in den letzten Weimarer Jahren Kontur gewann, wurde ungleich verteilt. Und anders als in der Bundesrepublik fällt deshalb in der DDR ein Ausstieg aus der Geschichte auch schwerer. „Die Gnade der späten Geburt“ ist nicht zufällig einem Westdeutschen eingefallen.
Eine doppelte deutsche Doppelidentität also. Doch ist dies nur ein Negativ-Befund? Aus deutsch-nationaler Sicht auf die deutschen Dinge sicherlich, aus europäischer keineswegs. Im Gegenteil: In ganz Europa wirkte die Teilung, in Westeuropa mehr noch die kulturelle Westintegration der Westdeutschen, wohl eher beruhigend auf die Furcht vor den Querelles d’Allemand. Sicher auch deshalb sind Franzosen oder Niederländer — „persönlich“ und „unabhängig davon“, ob sie „in absehbarer Zeit“ denn machbar sei — mehrheitlich für die Wiedervereinigung „auf friedlichem Wege“ Zugleich aber akzeptieren ihre politischen Repräsentanten diese Aufgabe als ein konkretes Ziel konkreten Handelns allenfalls in rituellen Präambeln zu Verträgen mit der Bundesrepublik. Denn gleich ob in
West oder Ost: Immer noch reagieren die Nachbarn der „verspäteten Nation“ in offenbar gleicher Sorge, sobald Deutsche so klingen, als wollten sie ernst machen mit der alten Befreiungs-oder der neuen Einheit-durch-Neutralität-Programmatik, die zu Beginn des Jahrzehnts auf der Rechten wie Linken wieder in Mode kam. Sie haben sich — so scheint es — noch immer nicht daran gewöhnt, die deutschen Staaten als sicher in die Bündnisse eingebunden zu begreifen, als mehr oder weniger verläßliche Partner in den supranationalen Block-systemen
Tatsächlich sind sie es aber. Nur sind sie eben auch noch immer Gefangene der Staatsräson ihrer Gründerjahre. So unterschiedlich diese auch sein mochte, die politische Syntax der Programme und (vor allem) der Reden, mit denen die jeweilige Teil-staatlichkeit damals gerechtfertigt wurde, war viele Jahre lang in Ost-Berlin und Bonn die gleiche: Erst das Bündnis, dann die Einheit. Oder: Durch Integration zur Stärke, durch Stärke zur Wiedervereinigung. Diese Perspektive findet sich in den neueren politischen Entwürfen aus der Bundesrepublik nur noch rudimentär. Was einst als Mittel galt: das Bündnis, ist heute zumeist Zweck, und wenn ein Verantwortlicher den deutschen Willen zur Einheit beschwört, dann verweist er in aller Regel zugleich erklärend auf die politische Notwendigkeit, Optionen beständig zu unterstreichen, und betont, daß dies die Bündnistreue selbstverständlich nicht berühre.
In dieser Verknüpfung von künftigen nationalen Zielen und dauerhafter internationaler Bindung erscheint freilich auch die Kontinuität eines Elements der meisten Spielarten des deutschlandpolitischen Denkens in der Bundesrepublik: des unbedingten Wunsches, die Einheit durch den Anschluß des anderen Teilstaates herbeizuführen. Er fand in den vierziger Jahren Gestalt in der Vision Kurt Schumachers, die westlichen Besatzungszonen politisch und sozial so auszustatten, daß sie wie ein „Magnet“ auf den Osten wirken und er formte sich später — in den Jahren des Kalten Krieges — zur Denkfigur der „Befreiung“ der „Zone“ im Rahmen einer Neuordnung Osteuropas
Ganz so weit ging die Führung der DDR verbal nie. Aber auch dort wurden erst die „antifaschistischdemokratische Umwälzung“, die in der SBZ eine gänzlich neue Sozialstruktur schuf, dann der „Aufbau des Sozialismus“, der diese verfestigte und die Herrschaft der SED festschrieb, und immer die „Freundschaft mit der Sowjetunion“ als Bedingungen für ein einheitliches Deutschland propagiert, das man sich nur denken wollte als eine Gesamtdeutsche Demokratische Republik. Und wenn es um Deutschland ging, dann war die Diktion dort noch militanter als im Westen. 1952/53 etwa sahen die Agitatoren „keinen anderen Weg als den unversöhnlichen und revolutionären Kampf zum Sturz des Adenauer-Regimes und die Errichtung einer Regierung der nationalen Wiedervereinigung . . .“. So schrieben sie es 1952 in einen ZK-Beschluß Als unmittelbare Akteure im Kampf galten zwar die „patriotischen Kräfte Deutschlands“, ihnen wurden aber als „feste Stütze“ nicht nur die DDR, sondern auch die „Völker der Sowjetunion“ anempfohlen. So gesehen, schienen die Autoren nicht nur den Bürgerkrieg zu kalkulieren. Heute ist die DDR „für immer und unwiderruflich“ im Bündnis mit der Sowjetunion umfaßt nach eigenem Befund beinahe schon eine eigene Nation. Doch wenn gleichwohl einmal offiziell erörtert wird, was sich privat viele fragen, ob denn die Staaten vielleicht doch einmal zusammenkommen können, dann wird die alte Anschluß-Lesart wiederholt. Sehr moderat jetzt, doch letztlich noch immer so bestimmt wie früher: Das sei erst dann möglich, wenn „der Sozialismus in der Bundesrepublik an die Tür klopft“ (Honecker, 1981).
In den Nachkriegsjahren war es manchen mit dieser Einheitsvariante durchaus ernst. Andere betonten sie eher taktisch, um die noch lebendige Hoffnung auf Überwindung der Spaltung nicht in nationalistische Bahnen zu lenken, oder um die Siegermächte an deren vermeintliche Verantwortung für das Land zu erinnern (so als hätten die Deutschen ihre Lage nicht selbst verschuldet). Doch welches Motiv auch dominierte, der Verweis auf das Transitorische der deutschen Teilgesellschaften erleichterte die Eingliederung von Umsiedlern und Flüchtlingen und trug — wenigstens in der Bundesrepublik — zunächst zur bedingten, dann dauerhaften Akzeptanz des Weststaates bei.
Daß Deutschlandpolitik, die ernsthaft auf den nationalen Ertrag von starken Bündnissen setzte, von vornherein zum Scheitern verurteilt war, sprach kaum jemand aus (obwohl es sich am 17. Juni 1953 deutlich erwies). Letztlich aber sahen wohl alle politisch Handelnden, daß in derlei Szenarien die Möglichkeit einer (zumindest politischen) Kapitulation der anderen Seite eine Voraussetzung bildete, also das Risiko eines Krieges bedacht werden mußte, und natürlich niemand bereit war, in diesen Krieg zu ziehen — womöglich gar für die Deutschen. Das wußte im Westen wohl kaum jemand so gut wie Konrad Adenauer.
In seinem Deutschland-Bild spielte wohl auch deshalb die Einheit eine eher nachgeordnete Rolle. Dies wurde allerdings mehr in privaten Äußerungen als in den Kanzler-Reden offenbar. Er war — schon wegen seines antipreußischen Affektes — stets besser in der Lage, die erfahrungsträchtigen Ressentiments der Nachbarn gegenüber den Deutschen nachzuvollziehen als etwa der protestantische Westpreuße Kurt Schumacher, dem die Nation und ihre staatliche Einheit mehr bedeutete als dem rheinisch-katholisch geprägten CDU-Vorsitzenden. Und mancher Adenauer-Satz erweckt sogar den Eindruck, als habe er diese europäische Skepsis nicht nur respektiert, sondern sorgenvoll geteilt. So etwa, als er 1950 nach einer Debatte des Bundestages über das noch von Frankreich kontrollierte Saarland im CDU-Vorstand nationalistische Töne aus dem eigenen Lager rügte und aufforderte, „unsere Freunde im Lande draußen“ daran zu erinnern, „daß wir nun wahrhaftig nicht den Krieg gewonnen haben. Daß wir diesen Krieg vom Zaun gebrochen und das ganze Unglück über die Welt gebracht haben, daran ist doch überhaupt nichts zu ändern“. Wer das anders sah, der war für ihn ein „unverbesserlicher — beinahe hätte ich gesagt: Deutscher alten Stils“ Zwar galt seine Sensibilität vor allem Frankreich, und für die Sicherheitsängste der ihm gänzlich fremden, asiatisch-unheimlichen Sowjetunion zeigte er kaum Verständnis. Doch so sehr seine Holzschnitt-Rhetorik oder die Wahlwerbung der Fünfziger-Jahre-CDU die durch Berlin-Blockade und KoreaKrieg belebte Russenangst im Westen auch bestärkten, so deutlich sah er doch, daß die „Politik der Stärke“ nicht Hebel zum Einheits-Zweck sein konnte, sondern im wesentlichen ein politisches Mittel war, mit dem die Westintegration der Bundesrepublik und die Souveränität des Weststaates gefestigt werden sollten
Einer strukturell ähnlichen Sicht folgten die Repräsentanten der SED. Wenn auch gänzlich anders motiviert als etwa Konrad Adenauer, waren auch sie von vornherein bereit, die Sorgen der Nachbarn zu beachten. Ihre Sensibilität galt freilich speziell denen im Osten und hier insbesondere der Sowjetunion und Polen. Bereits 1950 wurde die Oder-Neiße-Linie als Grenze zwischen ganz Deutschland und Polen anerkannt Zudem war ihnen wohl bald bewußt geworden, daß sie in einer demokratischen Parteien-Konkurrenz um die Führung Deutschlands unterliegen würden. Gleichwohl war die SED-Spitze im Interesse der sowjetischen Westpolitik, die (zumindest) den Anschluß Westdeutschlands an den US-Block verhindern wollte, gehalten, die Einheit des Landes immer wieder zu fordern; und sie tat es mit immer neuen Kampagnen und Zonen-bzw. staatenübergreifenden Organisationsformen — mit dem „Volkskongreß für Einheit und gerechten Frieden“ (1947— 1949), der „Nationalen Front des demokratischen Deutschlands“ (1949 ff.) oder mit „Gesamtdeutschen Arbeiterkonferenzen“ über die Jahre hin. Intern aber setzte sich schon früh die Einsicht durch, daß die gewünschte Übertragung ihres Gesellschaftsmodells auf den Westen des Landes keine Erfolgschancen hatte.
Ein knappes Jahr nach Konrad Adenauer, der dies bereits im Oktober 1945 so gesehen hatte äußerte Wilhelm Pieck (im September 1946) die Einsicht, daß Deutschland „faktisch gespalten“ sei. Die Westmächte würden demnächst aus den Westzonen einen „kapitalistischen Staat zimmern“, und der Ostzone bleibe nur die Alternative, „darauf mit der Bildung eines eigenen deutschen Staates, eines Staates der Arbeiter und Bauern zu antworten“ Als die Gründung und die Westintegration der Bundesrepublik 1948 von der Londoner Sechs-Mächte-Konferenz im Grundsatz beschlossen worden war, versuchte die SED-Spitze denn auch sogleich, sich aus der ihr auferlegten Pflicht zu gesamtdeutscher Politik zu lösen. Im Juli 1948 sprach Otto Grotewohl (einst erster Mann der Ost-SPD, nun neben Wilhelm Pieck Vorsitzender der SED) von der jetzt notwendigen Aufgabe, die Politik der Partei „eindeutig und ohne jeden Rückhalt nach dem Osten zu orientieren . . ,“
Der damals vom Parteivorstand faktisch beschlossene Weg der SBZ zur „Volksdemokratie“, zu jener politischen und sozialen Ordnung, der zur gleichen Zeit von den Führungen der osteuropäischen Staaten gegangen wurde, mußte auf sowjetisches Verlangen kurz darauf zwar dementiert werden, und das „einheitliche, fortschrittliche und demokratische Deutschland“ geriet erneut zur „strategischen Aufgabe“ der Partei Es war aber deutlich geworden, daß sich die SED aus dem Dilemma zu befreien versuchte, in das die sowjetische Politik sie gespannt hatte. Sie war zum einen, speziell nach Beginn der Blockbildung, gehalten, die SBZ im Innern an die Blockstrukturen anzupassen, die ostdeutsche Gesellschaft also aus dem deutschen Zusammenhang zu lösen. Sie sollte zum anderen aber die deutsche Frage formell offen halten, und sie riskierte dabei im Falle eines west-östlichen Arrangements den Verlust ihrer Macht. Ihr Eigeninteresse richtete sich mithin auf die möglichst vollständige Integration ihres Staates in den Block Doch erst 1955 konnte sie endgültig sicher sein, daß die DDR im sowjetischen Kalkül nicht mehr als ein Tauschobjekt galt, das zur Realisierung übergeordneter Ziele womöglich herzugeben sei.
Diese Sicherheit verdankte sie — nur scheinbar paradox — der Festigkeit des Westens und, nicht zuletzt, den Anstrengungen Konrad Adenauers, es zu West-Ost-Verhandlungen über Deutschland erst dann kommen zu lassen, wenn das westliche Bündnissystem gefestigt sei und die Bundesrepublik in ihm einen sicheren Platz habe Zwar bedurfte es zwischen 1952 und 1955, im Zeitraum zwischen der Märznote der Sowjet-Union und dem formellen Beitritt der beiden deutschen Staaten zur Nato bzw. zum Warschauer Pakt, keiner besonderen Mühe, die Haltung der Westmächte gegen die von der Sowjetunion vorgeschlagene Neutralisierung eines einheitlichen Deutschland zu bestärken. Dies lag ohnehin nicht in deren Interesse. Dennoch war es auch ein Erfolg Adenauers, daß die Initiativen der Moskauer Führung unausgelotet blieben und noch heute Gegenstand ernsthafter oder spekulativer Deutung sind
Wahrscheinlich sah der Kanzler die sowjetische Absicht sogar richtig, wenn er unterstellte, sie ziele nicht nur auf ein nach außen neutrales, sondern darüber hinaus auf ein nach innen am Potsdamer Modell (der beschränkten Souveränität) ausgerichtetes Deutschland Doch viel wichtiger als das war ihm „Europa“, worunter er ganz selbstverständlich dessen westlichen Teil unter Einschluß der Bundesrepublik verstand. Würde die Bundesrepublik in diesen Einigungsprozeß nicht einbezogen, so argumentierte er im Juli 1952, dann wäre die „Integration Europas erledigt“, Europa müsse „russisch werden“. Und auf den Einwurf, bis zu Ost-West-Verhandlungen über die Einheit könnten in der SBZ „untragbare Änderungen für Deutschland geschaffen werden“, entgegnete Adenauer: „Was kann ich dagegen tun? Würden Sie mir Vorschlägen, daß wir wirklich in die Neutralisierung Deutschlands einwilligen, damit also auf die Integration Europas verzichten?“
Vor dem Hintergrund dieses in der Bundesrepublik wie in der DDR politisch dominierenden Integrationsinteresses waren jene Vorstellungen, die einen anderen, einen dritten Weg einschlossen, bis in die sechziger Jahre hinein nahezu chancenlos. Schon vor der Staatenbildung hatten sich alle, die etwa über eine „Brücken“ -Funktion Deutschlands nachdachten oder über eine Rolle des Landes als „Mittler“ zwischen West und Ost, dem Verdacht ausgesetzt, Illusionen nachzuhängen oder gar die Sache der jeweils anderen Seite zu betreiben. So ging es etwa der Christlich-Demokratischen Union in der SBZ, die sowohl der SED als auch ihrer westlichen Schwesterpartei (auch) solcher Erwägungen wegen als ein wenig verläßlicher Partner erschien Und das Mißtrauen übertrug sich später auch auf deren Führer, auf Jakob Kaiser, Ernst Lemmer oder Johann Baptist Gradl, die nach ihrem Weggang oder erzwungenem Ämterverlust (Kaiser, Lemmer) im Westen vor Formen der Westintegration warnten, die die Wiedervereinigung erschweren würden
Ähnlich, doch nachdrücklicher, argumentierte Gustav Heinemann, der 1951 Adenauers Deutschlandpolitik wegen als Bundesinnenminister aus dem Kabinett ausschied, die CDU verließ, mit seiner Gesamtdeutschen Volkspartei jedoch scheiterte. Strömungen wie diese oder die „Paulskirchenbewegung“ der fünfziger Jahre, zu der auch Repräsentanten der SPD und der Gewerkschaftsbewegung zählten, aber auch national-neutralistische Gruppen verknüpften ihre nationale Orientierung stärker als andere Kritiker der Deutschlandpolitik mit der Ablehnung der mit der Bündnispolitik verbundenen Wiederbewaffnung und protestierten später auch gegen die Diskussion über eine mögliche Teilhabe der Bundesrepublik am atomaren Potential des Westens. Ihr Ziel war die Wiederherstellung der Einheit, die deutsche Entscheidung über die innere Ordnung des Landes, etwa durch eine deutsche Nationalversammlung, und damit das Recht auf Selbstbestimmung. Diese müsse allerdings, so Heinemann 1954, das „Mißtrauen aller Nachbarn um uns herum“ respektieren, „die ja befürchten, daß wir ihnen bei einer Selbstbestimmung über unseren weiteren Weg wieder einmal zur militärischen Gefahr werden möchten“
Erwägungen wie diese stellte die veröffentlichte Meinung in die Nähe kommunistischer Politik, die ja mit scheinbar gleichen Argumenten aufwartete.
In diesem Klima hatten denn auch Lösungsvarianten wie die des FDP-Abgeordneten Karl-Georg Pfleiderer keine Chance, der 1952 vorgeschlagen hatte, in den östlichen und westlichen Randgebieten eines wiedervereinigten Deutschland Besatzungstruppen zu belassen, um so eine von den Großmächten auszusprechende Garantie für die Neutralität des Landes zusätzlich zu gewährleisten
Alternativen zur herrschenden Deutschlandpolitik wurden in den fünfziger Jahren auch in der DDR diskutiert. Sie entsprachen 1953 offenbar der Sicht der Stalin-Nachfolger, die hofften, durch eine Entspannung in Asien (Korea) und Europa die außen-politische Sicherheit für innere Reformen in der Sowjetunion schaffen zu können. Die Exponenten dieser „Linie“ in der SED-Spitze, Wilhelm Zaisser (Minister für Staatssicherheit) und Rudolf Herrn-stadt (Chefredakteur des „Neuen Deutschland“) wollten — das jedenfalls wurde ihnen nach ihrem Sturz vorgeworfen — zum einen durch eine neue Parteiführung, zum anderen durch eine Abschwächung des Gesellschaftskonzepts („Aufbau des Sozialismus“) die Möglichkeit einer Annäherung der deutschen Staaten offenhalten. Ob sie und ihre sowjetischen Freunde tatsächlich an eine „Aufgabe“ der DDR zugunsten eines neutralen, einheitlichen Deutschland dachten, wurde häufig behauptet, ist aber nicht nachweisbar. Sicher ist jedoch, daß der 17. Juni 1953 die Position der Führungsmehrheit um Walter Ulbricht festigte und eine tief-greifende Kurskorrektur verhinderte
Die Möglichkeit der Einheit des Landes war auch ein zentrales Element der oppositionellen Plattform einiger SED-Intellektueller um den Philosophie-Dozenten und Publizisten Wolfgang Harich aus dem Jahre 1956. Sie setzte auf das Zusammengehen von SED und SPD, die nach dieser Sicht zuvor allerdings energisch zu reformieren waren: die SED zu einer demokratischen, die SPD zu einer stärker sozialistischen Partei. Auch für Harich und seine Freunde war klar, daß ein einiges Deutschland keinem der Bündnissysteme angehören dürfe Weniger weit, aber doch in eine ähnliche Richtung wiesen schließlich jene kritischen Positionen, die in der gleichen Zeit in der SED-Führung diskutiert wurden. Hier plädierten zwischen 1956 und 1958 zumindest vier führende Funktionäre (unter ihnen der Zaisser-Nachfolger Ernst Wollweber und der Kaderchef der Partei, Karl Schirdewan) für eine zurückhaltendere Gesellschaftspolitik (z. B. für den Verzicht auf die Kollektivierung der Landwirtschaft) in der DDR. Auch ihr Ziel war es, die mögliche Wiedervereinigung der Teilstaaten nicht durch allzu starke Unterschiede ihrer politisch-sozialen Strukturen zu gefährden. Wie die Opponenten des Jahres 1953 wurde auch diese Gruppe als „Fraktion“ eingestuft, die Exponenten verloren ihre Partei-und Staatsämter
Abgesehen von der Mehrheitsfähigkeit einer solchen Politik in der DDR oder der Akzeptanz von alternativen deutschlandpolitischen Entwürfen in der Bundesrepublik — alle hätten (trotz etwa der Heinemannschen Bedenklichkeit) den Widerspruch der Europäer provoziert. Denn ob mit oder ohne Neutralität: entstanden wäre wiederum ein mächtiger Nachbar, und dessen Wiederkunft zu verhindern war ja speziell in Frankreich verständlicherweise ein Ziel der Außenpolitik gewesen. So gesehen, enthielten seinerzeit auch jene Überlegungen Sprengstoff, die auf eine vertraglich vereinbarte wirtschaftliche und politische Zusammenarbeit beider deutscher Staaten unter dem Dach einer „Konföderation“ gerichtet waren.
Wer sie damals als erster ins Spiel gebracht hatte, ist unklar Vorgelegt wurden sie Ende 1956 von der SED. Wie alle Vorschläge der SED seit der Staatengründung galten sie einem doppelten Zweck: Sie sollten zum einen der Anerkennung der staatlichen Existenz der DDR durch die Bundesrepublik voranhelfen und zum anderen dazu beitragen, den Anschluß der Bundesrepublik an das westliche Paktsystem durch zwischendeutsche Kooperation zu entschärfen. Die Möglichkeit einer späteren Wiedervereinigung des Landes wurde zwar werbend betont, sie markierte in der Sicht der SED allerdings den Endpunkt eines langen Prozesses der Zusammenarbeit. Und wie ein einheitliches Deutschland außenpolitisch agieren und im Innern gestaltet sein sollte, daran ließ die DDR-Führung kaum Zweifel: Es sollte keinem Militärbündnis angehören sowie politische und soziale Strukturen aufweisen, die idealiter dem Modell der „sozialistischen Errungenschaften in der DDR“ (Ulbricht) nachzubilden waren. Als Organisationsform der Konföderation schlug die SED einen paritätisch besetzten „Gesamtdeutschen Rat“ vor, der nach den in den beiden Staaten geltenden Wahlgesetzen zu wählen war
So wenig akzeptabel diese Offerte für die Bundesregierung auch war, sie verwies auf eine neue Qualität deutsch-deutscher Bemühungen, auf eine Politik, die den Status quo nicht von vornherein in Frage stellen, vielmehr von ihm ausgehend zu seiner kooperativen Überwindung beitragen mochte. In diese Richtung hatten offenbar auch Politiker der Koalitionsparteien gedacht und waren dabei von Konrad Adenauer zumindest nicht entmutigt worden. So sprach Fritz Schäffer, CSU (im Kabinett Adenauerzwischen 1949 und 1961 erst Finanz-, dann Justizminister) im Oktober 1956 mit dem sowjetischen Botschafter in der DDR Puschkin sowie einem führenden Mitglied der National-Demokratischen Partei der DDR. Er wollte eruieren, zu welchen Konditionen eine neue Bewegung in die Deutschlandpolitik zu bringen sei und deutete dabei, wie sein Ostberliner Gesprächspartner Vincenz Müller, bis 1955 stellvertretender Verteidigungsminister der DDR, behauptete, die Möglichkeit einer Zusammenarbeit der beiden deutschen Staaten nach dem Vorbild der Benelux-Länder an.
Diese „mischen sich nicht in ihre inneren Angelegenheiten, aber arbeiten wirtschaftlich und auch auf sonstigen Gebieten eng zusammen“
Diese „Fühler“ blieben lange Zeit geheim, doch im Herbst 1958 — im Zusammenhang mit der neuen Deutschland-und Berlin-Offensive der Sowjetunion — wurden sie in der DDR mitgeteilt — als Beweis für die Kompromißbereitschaft Ost-Berlins. Da Schäffer zunächst das Faktum der Gespräche bestritt, dann ihren Inhalt, sich schließlich aber doch zu seiner Initiative bekennen mußte, war der Skandal perfekt. Zwar hatte Adenauer für diese Reise sein Plazet gegeben, und auch die USA waren informiert worden, doch das Negativ-Echo in der deutschen und westeuropäischen Publizistik war erheblich. Die deutsche Presse erregte der offenkundige Widerspruch zwischen der offiziellen Kontaktverweigerung und den Ansätzen zu einer geheimen Gesprächs-Politik, in der britischen und französischen Publizistik dominierte die Sorge, die Bundesrepublik könne um der Wiedervereinigung willen vielleicht doch aus der Lagerräson ausbrechen, ein neues Rapallo anstreben oder gar einen Pakt mit der Sowjetunion nach dem Muster von 1939
Positiv reagierten in der Bundesrepublik nur wenige. Theodor Eschenburg etwa zollte den Motiven und dem „Mut“ Respekt und Paul Sethe meinte optimistisch, Schäffer habe nur „getan, was man draußen im Volke schon lange für notwendig hält“
Dort aber galt noch immer als sinnvoll, was seit. 1949 verbindliche Regierungspolitik war: allenfalls wirtschaftliche Kontakte im Rahmen des „Interzonenhandels“, aber keine politischen Gespräche und schon gar keine Anerkennung der Existenz der DDR sowie eine Außenpolitik, deren Ziel es sein mußte, den anderen deutschen Staat in diplomatischer Isolierung zu halten. Die Bundesrepublik war in diesem Verständnis der einzige legitimierte Sprecher deutscher Interessen; es herrschte der „Alleinvertretungsanspruch“, der mit einer nach dem Staatssekretär im Auswärtigen Amt, Walter Hall-stein, genannten „Doktrin“ bewahrt werden sollte. Sie schrieb vor, daß Beziehungen zu allen Staaten abzubrechen seien, die völkerrechtlich relevante Kontakte zur DDR aufnehmen. Ausgenommen war allein die Sowjetunion, mit der 1955 diplomatische Beziehungen aufgenommen worden waren, und der in bundesdeutscher Sicht als einer für Deutschland nach wie vor verantwortlichen Sieger-macht ein Sonderstatus zukam.
Daß diese Politik weder zur Wiedervereinigung noch zur Entspannung führen würde und auch nicht dazu beitrug, die Lebensbedingungen der Deutschen in der DDR zu verbessern, wurde in der Bundesrepublik offiziell bestritten. Intern allerdings waren sich die Verantwortlichen darüber durchaus im klaren und suchten nach neuen Wegen. Auch und gerade Konrad Adenauer. Er, der nicht nur sowjetischen Diplomaten und Staatsführern gegenüber gern (und zu Recht) betonte, daß er sich in seiner Politik nicht von „nationalistischen“ Erwägungen leiten lasse, schlug im März 1958 dem Sowjet-Botschafter Andrej Smirnow vor, der DDR den Status Österreichs zu geben Er deutete damit an, was er vier Jahre später zu dem Projekt erweiterte, die Wiedervereinigung für zehn Jahre aus dem Themen-Katalog der Verhandlungen zwischen Bonn und Moskau zu streichen, die innenpolitischen Verhältnisse in der DDR zu verbessern und (daß Adenauer dies wünschte, wurde von der Sowjetunion allerdings später bestritten) nach dem Dezennium in ganz Deutschland freie Wahlen abzuhalten
Erwägungen wie diese waren sicherlich illusionär.
Sie verlangten von der Sowjetunion die Schwächung ihrer Position in Europa durch die Entlassung der DDR aus dem Ost-Bündnis und zudem das Ende der sozialistischen Transformation in Ostdeutschland. Insofern gingen sie noch über das hinaus, was DDR und Sowjetunion dem Westen mit ihren Konföderationsplänen zumuten wollten.
Doch trotz dieser Stoßrichtung waren sie in der Sicht Adenauers für die Öffentlichkeit nicht geeignet. 1958 bat der Kanzler Smirnow denn auch um Verschwiegenheit. Er fürchtete, von „den eigenen Leuten gesteinigt zu werden“, falls sein Angebot bekannt werden sollte Und tatsächlich: Die Bundesregierung hatte sich durch ihre eigene Rhetorik die Hände gebunden. Gleichwohl wiesen diese Überlegungen darauf hin, daß sich — speziell angesichts der deutlicher werdenden internationalen Entspannungsbemühungen — ein neuer deutschlandpolitischer Ansatz abzuzeichnen begann. Er zielte auf eine Politik, die ein längerfristiges Nebeneinander der deutschen Staaten hinnehmen und durch diese Entspannung dazu beitragen wollte, die Lage der Deutschen in der DDR zu verbessern. Zwischenstaatliche Beziehungen wurden zwar nach wie vor ausgeschlossen, informelle Kontakte aber hielt nun auch Konrad Adenauer für möglich und gegebenenfalls opportun
Die Opposition, die SPD, die sich seit 1960 zur von ihr bis dahin bekämpften Westintegration bekannt hatte, zugleich aber beständig (wie mit ihrem „Deutschland-Plan“ von 1959) für eine flexible Deutschlandpolitik eingetreten war die die Sicherheitsinteressen der Sowjetunion berücksichtigen sollte, wurde zum beredten Anwalt einer deutschlandpolitischen Wende. Von Willy Brandt, der noch in den fünfziger Jahren, als Regierender Bürgermeister von Berlin (West), eine Politik befürwortet hatte, die West-Berlin als „Pfahl im Fleische“ der DDR nutzen und deren Konsolidierung verhindern sollte, stammt der Satz: „Heraus aus den Schützengräben des Kalten Krieges“ Der Chef der Berliner Senatskanzlei Egon Bahr entwarf 1963 ein Konzept des „Wandels durch Annäherung“ Er vertraute darauf, im Zuge einer internationalen Entspannung über innerdeutsche Kontakte zu „menschlichen Erleichterungen“ für die Deutschen in der DDR zu gelangen. Von West-Berlin, bis dahin im Selbstverständnis seiner Repräsentanten eine „Frontstadt“, gingen daher auch die entscheidenden Impulse für eine neue Sicht auf die deutschen Dinge aus. Die Wiedervereinigung, das war die zunächst noch unausgesprochene Ratio dieser neuen Deutschlandpolitik, werde allenfalls am Ende eines langen Prozesses stehen. Zunächst sei das wechselseitige Mißtrauen der Blöcke abzubauen, dann könne an ein Neben-undschließlich an ein Miteinander der deutschen Staaten im Rahmen einer europäischen und endlich weltweiten Friedensordnung gedacht werden. Dazu war mit der anderen Seite zu verhandeln.
Das Faktum, das den Perspektivenwechsel eingeleitet hatte, bot freilich kaum jemandem im Westen unmittelbaren Anlaß zu einem Neubeginn. Die Mauer in Berlin und die Sperranlagen entlang den Grenzen zur Bundesrepublik hatten hier die Gesprächsbereitschaft zunächst eher vermindert.
Sie schufen allerdings Tatsachen, an denen bald niemand mehr vorbeisehen konnte, Realitäten, denen mit der alten Politik offenbar nicht beizukommen war. „Wandel durch Annäherung“ setzte deshalb ihre Anerkennung voraus. Und dies führte zu einer Haltung, die Bahr später so umriß: „Ich kann die Mauer nicht beseitigen, und ich kann sie nicht durchlässig machen, wenn ich nicht mit denen rede, die sie gebaut haben.“ Thema der Gespräche konnte sinnvollerweise nur sein, was im Interesse beider Seiten lag. Eines der dringendsten waren Passierscheine für West-Berliner zum Besuch ihrer Ost-Berliner Verwandten. Zwei Jahre nach dem Mauerbau, im Dezember 1963, endeten die Verhandlungen erfolgreich; und dieser Erfolg markiert den Punkt, an dem die verfahrene westliche Strategie der Nichtkommunikation zugunsten einer Politik des Dialogs über Sachfragen aufgegeben wurde.
Für die DDR war diese neue Offenheit der SPD nicht ohne Probleme. Zwar begrüßte sie den Kurs-wechsel der Sozialdemokratie, denn mit ihm war eine allgemeine Neuorientierung in der Bundesrepublik sichtbar geworden. Natürlich aber dachte (und denkt) in der SED-Führung niemand daran, die Mauer einzureißen, solange es Gründe gibt anzunehmen, daß ohne sie die Ost-West-Wanderung wieder einsetzen werde, mit der bis zum 13. August 1961 fast drei Millionen Menschen die DDR verließen. Nicht umsonst hatte ein Kongreß der „Nationalen Front des demokratischen Deutschland“ am 17. Juni 1962 die Faktizität der Teilung betont, in einem „Nationalen Dokument“ unterstrichen, daß sich in Deutschland zwei Staaten „feindlich“ gegenüberstehen und nur zusammenkommen könnten, wenn in der Bundesrepublik „die friedliebenden Kräfte den Imperialismus überwunden haben“ Diese schroffe Teilungserklärung sollte offenbar der in der DDR noch immer wachen Hoffnung auf Einheit den Boden entziehen und dazu beitragen, die Macht im Innern zu festigen. Schon deshalb galt das Mißtrauen der SED dem von der SPD genannten Ziel der Annäherung: dem Wandel der Machtstrukturen in der DDR. Auch aus diesem Grunde versuchte die SED, ihren Preis für die zwischenstaatliche Normalisierung möglichst hoch anzusetzen. Das zeigte sich bereits nach der Bildung der Großen Koalition 1966 und stärker noch seit der sozialliberalen Regierung 1969, unter deren Führung die neue Ostpolitik sich vollends entfaltete. Ziel der SED war es, möglichst hohe Barrieren gegen jede Form der Annäherung zu errichten, die in der DDR einen Wandel begünstigen mochte, wie ihn die SPD wollte. Sie setzte auf Abgrenzung. Ideologisch reagierte sie mit einer Kampagne gegen den „Sozialdemokratismus" und der Behauptung, nicht nur die staatliche Einheit der Nation sei obsolet, die Nation selbst beginne zu zerfallen: In der DDR wüchsen die Keime einer eigenen, „sozialistischen“ Nation, und die habe mit der „imperialistischen“ im Westen Deutschlands nur noch die Geschichte und die tradierte Kultur, nicht aber mehr die soziale Basis oder gar die Zukunft gemein Politisch-diplomatisch versuchte sie, die Sowjetunion und die Bruderstaaten, die seit dem Beginn der siebziger Jahre mit der Bundesrepublik über die Normalisierung ihrer Beziehungen verhandelten, auf ihre deutschlandpolitische Maximai-Position festzulegen: gegen die von Bonn so genannten „besonderen“ innerdeutschen Beziehungen, für die volle völkerrechtliche Anerkennung der DDR, gegen die Einbeziehung West-Berlins in die politische Ordnung der Bundesrepublik
Doch die übergreifenden Interessen der Bündnis-partner an der Entspannung und einem internationalen Sicherheitssystem hatten ein größeres Gewicht als die Sonderwünsche der DDR. Allein die Berlin-Forderung korrespondierte mit sowjetischen Zielen, alle anderen aber hätten — dies machte insbesondere Egon Bahr der Sowjetführung deutlich — ein Scheitern des Vertragswerkes bewirkt, das durch kunstvolle Junktims verbunden war und schließlich 1975 in Helsinki die Unterzeichnung der KSZE-Schlußakte ermöglichte.
Zu diesem Zeitpunkt waren beide deutsche Staaten bereits Mitglieder der Vereinten Nationen, hatten „Ständige Vertretungen“ in ihren Hauptstädten etabliert, einen Grundlagenvertrag abgeschlossen (1972), der trotz unterschiedlicher Interpretation der nationalen Frage die Grenzen sowie die Souveränität des anderen anerkannte, „normale gutnachbarliche Beziehungen zueinander auf der Grundlage der Gleichberechtigung“ verabredete und die jeweilige „Unabhängigkeit und Selbständigkeit in . . . inneren und äußeren Angelegenheiten“ unter-— strich Zwar „beehrte“ sich die Bundesregierung zu erklären, daß dieser Vertrag nicht im Widerspruch zu ihrem politischen Ziel stehe, in Europa auf einen Zustand des Friedens hinzuwirken, „in dem das deutsche Volk in freier Selbstbestimmung seine Einheit wiedererlangt“ Doch solche Äußerungen, die dokumentieren sollten, daß die DDR für die Bundesrepublik nun nicht etwa Ausland geworden sei, stellten die Doppelstaatlichkeit nicht in Frage, förderten vielmehr ihre Akzeptanz in Deutschland.
Auch den Westeuropäern gaben sie wenig Anlaß, erneut mißtrauisch auf die Westdeutschen zu schauen und ihnen zu unterstellen, sie wollten die nun mögliche kontinentale Kooperation stören. Das galt auch für das Verhältnis der Osteuropäer zur DDR. Sie sahen in der schließlichen ostdeutschen Konzessionsbereitschaft nicht eine diskrete Option für die Einheit, sie blickten — so scheint es — im Gegenteil mit Schadenfreude auf das Scheitern der Ulbrichtschen Maximalforderungen und die darauf folgende Abdankung Ulbrichts im Mai 1971, schon deshalb, weil er sich ihnen gegenüber gern sehr deutsch und schulmeisterlich gegeben hatte; und sie waren wohl endgültig zufrieden, als sein Nachfolger 1974 das unwiderrufliche Bündnis mit der Sowjetunion und ihnen in die DDR-Verfassung schreiben ließ Zudem machte die SED-Spitze deutlich, daß sie den Grundlagenvertrag in den Passagen nachbessern will, die den Status der DDR mindern: etwa in der Frage der Staatsbürgerschaft, bei der Elbgrenze und beim Rang der diplomatischen Vertretungen.
Gäbe es nicht immer wieder Irritationen — etwa dann, wenn der Saarländer Honecker seine Heimatverbundenheit erkennen läßt, wenn er die Begrenzung international angerichteter Schäden als eine Aufgabe der deutsch-deutschen Beziehungen beschreibt oder wenn ostdeutsche Historiker z. B.
Friedrich II. als Teil des gesamtdeutschen Erbes auch für die DDR reklamieren und ihn differenzierter bewerten als zuvor —, dann wäre die deutsche Frage in ihrer Sicht endgültig gelöst. Und ähnliches gilt wohl für den Blick des Westens auf die Bundesrepublik. Hier irritiert freilich sowohl die periodisch wiederholte rhetorische Erinnerung an die Ziele der alten Deutschlandpolitik und das Beharren auf Rechtsstandpunkten als auch der vermeintlich nationale Schwung der neuen Friedensbewegung. Grundsätzlich aber gilt außerhalb Deutschlands die deutsche Frage nicht mehr als wirklich offen.
Daß die Deutschen eine Nation sind, daran allerdings zweifelt auch kaum jemand, weder in Polen noch in Frankreich. Einig ist man sich dort aber auch, daß sie gegenwärtig nicht in einem Staat leben sollten. Und ob die kooperative Nachbarschaft der deutschen Staaten von SPD und SED als „Sicherheitspartnerschaft“ oder von CDU-Sprechern (aber auch von Honecker) als „Verantwortungsgemeinschaft“ definiert wird, ist für sie ohne Belang, solange gemeint ist, was gesagt wird. Wichtiger scheint dort die (zuerst von den Staaten getrennt, dann von ihren Regierungschefs gemeinsam abgegebene) Versicherung, im Rahmen ihrer Bündnisse alles tun zu wollen, damit von deutschem Boden nie wieder ein Krieg ausgehe.
In Deutschland selbst ist damit freilich noch lange nicht geklärt, was „Deutschland als Ganzes“ was „Deutsche Identität heute“ sei. Das „Nachdenken über Deutschland“ wird deshalb untei den Intellektuellen auch unabhängig von politischen Konjunkturen andauern, denn es wird „Deutschland als Aufgabe“ ebenso bleiben wie als „Ratlose Normalität“ -Appelle wie „Ohne Deutschland geht es nicht“ weisen jedoch nur dann in die Zukunft, wenn sie nicht nationales Eigeninteresse beleben wollen, sondern „Deutschland“ (auch in seiner Zweistaatlichkeit) als ein verläßliches Element Europas postulieren, wenn sie deutsche Politik dazu auffordern, so zu handeln, daß die Deutschen bleiben, was sie mehrheitlich längst sind: ein Volk von guten Nachbarn.