Einleitend muß unterstrichen werden, daß eine umfassende Behandlung des Themas in diesem skizzenhaften Beitrag nicht möglich ist, da es sich um ein sehr komplexes Problem handelt, dessen detaillierte Aufarbeitung eine umfangreiche Monographie erfordern würde. Daher können wir unsere Erwägungen nur auf einige ausgewählte Fra-gen beschränken, nämlich auf solche, die früher wie heute nicht nur in der Geschichtsschreibung, sondern auch in der populären Literatur und Publizistik Polens einen weiten Widerhall gefunden haben und deshalb besonders tief in das polnische historische und gesellschaftliche Bewußtsein eingedrungen sind.
I. Deutsche Geschichte in der polnischen Geschichtswissenschaft des 19. und 20. Jahrhunderts
Die deutsche Frage kann von der polnischen Geschichtsschreibung auf zweierlei Weise verstanden werden: entweder als Geschichte des deutschen Staates und der deutschen Nation mit allen Aspekten der wirtschaftlichen, gesellschaftlichen, politischen und kulturellen Entwicklung oder im Hinblick auf die Rolle, die der deutsche Staat und die deutsche Nation im Laufe der letzten tausend Jahre in der Geschichte des polnischen Staates und der polnischen Nation spielten.
Der Verlauf der Geschehnisse bewirkte, daß zu del Zeit, als die Geschichtsforschung ihre wissenschaftliche Gestalt und ihren wissenschaftlichen Rang erlangte, d. h. im 19. und 20. Jahrhundert, die polnisch-deutschen Beziehungen auf polnischer Seite durch das Empfinden erlittenen Unrechts außergewöhnlich belastet waren.
Hier sei nur erinnert an die Teilungen Polens gegen Ende des 18. Jahrhunderts, an denen die deutschsprachigen Staaten einen so großen Anteil hatten, und an die Okkupation Polens durch Hitler. Infolgedessen wurde die deutsche Frage in der polnischen Geschichtswissenschaft lange Zeit fast ausschließlich im Kontext der polnisch-deutschen Beziehungen behandelt. Die polnischen Geschichtsforscher waren wenig oder überhaupt nicht an innerpolitischen, staatsrechtlichen und wirtschaftlichen Problemen und an der Süd-und Westpolitik des Deutschen Reiches im Mittelalter und in der frühen Neuzeit interessiert; dagegen konzentrierten sie sich bei ihren Forschungsarbeiten auf die Analyse der Beziehungen zwischen beiden Nationen und der Ostpolitik Deutschlands und versuchten, in weit zurückliegenden geschichtlichen Epochen die Ursachen und damit die Erklärung für die Tragödie der Teilungen und für die Lage der polnischen Nation im 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts zu finden. Es muß zudem erwähnt werden, daß sich die polnische Geschichtswissenschaft, die bis zum Jahre 1918 eines eigenen Staatswesens beraubt war, in der Epoche der sich entwikkelnden Nationalismen am Ende des 19. Jahrhunderts zu einer ständigen Polemik mit der deutschen Geschichtsschreibung gezwungen sah, deren hervorragendste Vertreter den Polen und auch anderen Slawen jegliche positive Werte absprachen oder diese Werte sehr gering veranschlagten -Unter diesen Verhältnissen gab es weder viel Raum für eine objektive Erforschung der deutschen Geschichte, noch gab es die Möglichkeit zur Über-windung nationaler Voreingenommenheit und zum Abstrahieren von der „polnischen Frage“, der „Sache Polens“. Möglichkeiten dazu eröffneten sich erst nach dem Jahre 1918, jedoch nur teilweise und unzulänglich; auf einer breiteren Basis und als stabile Erscheinung erst etliche Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg.
In der Literatur des 19. Jahrhunderts wie auch in einem bedeutenden Teil der Literatur aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts wurden die Geschichte Deutschlands und die deutsche Rolle in Europa fast ausschließlich in Werken synthetischen Typs thematisiert, wobei der Charakter dieser Werke oftmals durch die Staatsangehörigkeit der Autoren (die während der Teilungszeit in verschiedenen Staaten leben mußten) und durch die sich aus der jeweiligen Staatsangehörigkeit ergebenden politischen Zwänge geprägt war. Hingegen wurden hunderte analytische Monographien, Abhandlungen und Artikel erarbeitet, die sich mit der Problematik der polnisch-deutschen Beziehungen befaßten.
Aus diesem Grunde, wie auch aus einer Reihe von anderen Ursachen, können die Anschauungen der polnischen Geschichtsschreibung zur Geschichte Deutschlands nicht auf einen gemeinsamen Nenner gebracht werden. Erstens änderte sich der Charakter dieser Anschauungen, bedingt durch den Fortschritt der Wissenschaft und den Einfluß der sich wandelnden politischen Verhältnisse im Laufe der Zeit. Zweitens ist insbesondere im 19. Jahrhundert eine gewissermaßen zwiespältige Betrachtung der deutschen Geschichte durch die polnischen Historiker zu beobachten. Einerseits entstand die polnische Geschichtsschreibung unter dem Einfluß der früheren Adelsliteratur, die sich in einem allgemein negativen Stereotyp des Deutschen und des Deutschtums ausdrückte und die zugleich ihre Bestätigung im Vorgehen der deutschsprachigen Teilungsmächte, die Polen okkupiert hatten, fand.
Andererseits bewirkten die verhältnismäßig zahlreichen Studien polnischer Geschichtsstudenten an deutschen Universitäten, daß insbesondere die polnische Mediävistik im Banne der deutschen Werkstatterrungenschaften verblieb und — oft unbewußt — die Anschauungen der deutschen Geschichtswissenschaft Eingang in die polnische Historiographie fanden. Zudem war die polnische Historiographie in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts durch die politischen Zwänge und Beschränkungen, die aus der Staatsangehörigkeit der polnischen Historiker resultierten, und durch eine deutliche Orientierung auf Österreich geprägt.
Infolgedessen etablierte sich in der polnischen Geschichtsschreibung eine Strömung, die gelegentlich als „Okzidentalismus“ bezeichnet worden ist;
sie war mit einer Tendenz zur Glorifizierung von gewissen, aus dem Westen und vor allem aus Deutschland stammenden Erscheinungen und Ideen verbunden.
Die Geschichte des deutschen Mittelalters wurde von polnischen Historikern des 19. Jahrhunderts hauptsächlich im Rahmen größerer, der Weltgeschichte gewidmeter Synthesen bearbeitet. Vorherrschend war die historische Schilderung und in dieser Konvention wiederum die politische Geschichte der Kaiser, Könige und Fürsten des Reiches. In der in der Zwischenkriegszeit von Dabrowski und anderen herausgegebenen Großen Weltgeschichte, die sich mit dem Mittelalter und der Neuzeit befaßte, wurde das deutsche Problem als integraler Teil des europäischen geschichtlichen Prozesses behandelt, wobei sowohl die positive wie auch die negative Rolle des deutschen Elements in der politischen Geschichte Mitteleuropas hervorgehoben wurden In allen diesen Synthesen wurde die negative Rolle des deutschen Ritterordens im Mittelalter und Brandenburg-Preußens im 16. bis 18. Jahrhundert für die baltische Region besonders stark akzentuiert
Die Zeit der nazistischen Okkupation und die unmittelbar darauffolgenden Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg stärkten aus verständlichen Gründen das Interesse der polnischen Historiker an der Geschichte Deutschlands. 1947/48 erschienen zwei bedeutende Synthesen aus der Feder hervorragender Kenner der deutschen Problematik: Kazimierz Tymieniecki „Geschichte Deutschlands bis zu Beginn der neuzeitlichen Ära“ und Janusz Pajewski „Deutschland in der Neuzeit 1516— 1939“ Tymieniecki und Pajewski folgten noch traditionellen Geschichtsauffassungen, indem sie politische und verfassungspolitische Fragen auf den ersten Platz rückten, dagegen kulturelle Probleme sowie soziale und ökonomische Fragen nur in einem geringen Ausmaß berücksichtigten. Nichtsdestoweniger sind ihre Arbeiten durch eine gründliche Kenntnis des Gegenstandes und — berücksichtigt man das Erscheinungsdatum — durch einen bewundernswerten Objektivismus gekennzeichnet. Das polnisch-deutsche Problem wurde von ihnen nicht in den Vordergrund gestellt, und dort, wo es ausführlicher thematisiert wurde, auf der Grundlage eigener Quellenforschungen dargestellt.
Eine umfassende Behandlung des ersten Deutschen Reiches finden wir in der im Jahre 1975 veröffentlichten populärwissenschaftlichen Publikation von Zbigniew Göralski Die letzte polnische Gesamt-darstellung der deutschen Geschichte ist die im Jahre 1981 veröffentlichte „Historia Niemiec“
(Geschichte Deutschlands) aus der Feder von Wladyslaw Czaplihski, Adam Galos und Waclaw Korta -Czaplihski, Galos und Korta entwickelten eine eigene Periodisierung der Geschichte Deutschlands, wobei sie vor allem das Territorium der heutigen zwei deutschen Staaten zum Gegenstand ihrer Darstellung machten. Indes ließen sie auch die Gebiete, die einst zum Reich gehörten, nicht außer acht — also Österreich, die Schweiz, die Niederlande sowie auch die außerhalb historischen Raums des Reichs liegenden, aber ehemals deutsch-staatlichen Charakter besitzenden Länder wie Preußen und Livland. Zum ersten Mal wurden in der „Geschichte Deutschlands“ Probleme der gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Entwicklung Deutschlands durch die polnische Geschichtsschreibung ausführlicher dargestellt. Im allgemeinen blieb jedoch die politische Geschichte weiterhin vorherrschend.
Zu den synthetischen Arbeiten der letzten Jahre müssen auch die „Geschichte des Deutschen Reiches 1871 — 1945“ von Jerzy Krasuski und die „Wirtschaftsgeschichte Deutschlands 1871 — 1945“ von Czeslaw Luczak gezählt werden Krasuski behandelt vor allem die politische Geschichte des deutschen Volkes, weniger Raum widmet er dagegen der militärischen Geschichte und der Außenpolitik. Der Autor versucht, die Geschehnisse der deutschen Geschichte vor allem durch die Besonderheiten der gesellschaftlichen und politischen Lage Deutschlands zu erklären. Besonders interessant sind seine Überlegungen zu den Ursachen der Krise der parlamentarischen Demokratie, zur Rolle der Kriegsteilnehmer und zur Bedeutung der Arbeiterbewegung, die nach ihrer stürmischen Entwicklung im Kaiserreich stagnierte und von inneren Kämpfen paralysiert wurde. Die Arbeit von Luczak ist die erste umfassende Analyse der sozialen und ökonomischen Geschichte Deutschlands im 19. und 20. Jahrhundert. Dem Verfasser gelang eine ausgewogene und objektive Darstellung der gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Prozesse in Deutschland im 19. und 20. Jahrhundert. Die Arbeit Luczaks ist ein Zeugnis für die Überwindung der Tendenz der früheren polnischen Historiographie, in der Darstellung der polnisch-deutschen Beziehungen hauptsächlich die angeblich „ewige“ und „angeborene“ gegenseitige Feindschaft der beiden Nationen zu behandeln.
Die These von dem unvermeidlichen Antagonismus zwischen Deutschland und Polen wurde in der polnischen Geschichtsschreibung interessanterweise aus der mittelalterlichen Geschichte abgeleitet, wobei der deutsche „Drang nach Osten“ und die Eroberung der baltisch-slawischen Länder durch den deutschen Ritterorden und die deutschen Schwertbrüder besonders betont wurden. Im Bereich der neuzeitlichen Geschichte wurde zumeist auf die Problematik der Teilungen Polens und insbesondere auf die negative Rolle Preußens und Friedrichs des Großen als Anstifter der Teilung rekurriert. In der Interpretation der geopolitischen Lage Polens und der polnisch-russisch-deutschen Beziehungen dominierte bei vielen Historikern die These, daß — während Rußland eine Ausbreitung seines politischen Einflusses auf ganz Polen anstrebte — die deutsche Außenpolitik prinzipiell auf die Teilung, also auf die Annexion Polens, zielte. Einige polnische Historiker und Politologen — insbesondere diejenigen, die die Emigrations-Geschichtsschreibung repräsentieren — sind geneigt, diese Thesen auch auf die jüngste Geschichte und auf die Gegenwart zu übertragen, wobei sie von der Überzeugung ausgehen, daß die außenpolitische Aggressivität der beiden Nachbarn Polens auch in der Zukunft nicht an Aktualität verlieren, sondern eine ständige politische Determinante bleiben wird.
Als Beispiele für die antagonistische Einstellung Deutschlands gegenüber Polen im 19. und 20. Jahrhundert wurde am häufigsten die Politik Preußens und insbesondere die Politik Bismarcks genannt, wobei viele polnische Historiker Bismarck geradezu diabolische Züge zuschrieben. Ähnlich oft wurden auch antipolnische Handlungen Bülows, die Politik der preußischen Kolonisierungs-Kommission und das Enteignungsgesetz hervorgehoben. Die von einigen polnischen Historikern in der Zwischenkriegszeit unternommenen Versuche, zu einer mehr objektiven Betrachtung'der Geschichte Deutschlands und des polnisch-deutschen Verhältnisses zu gelangen, kamen infolge des Zweiten Weltkriegs und der nazistischen Okkupation völlig zum Erliegen. Es kann nicht verwundern, daß nicht nur in synthetischen, sondern auch in monographischen Arbeiten die Darstellung Deutschlands und der deutschen Geschichte in den ersten Nachkriegsjahren stark von Subjektivismus durchdrungen war
Das Leiden Polens während des Zweiten Weltkriegs führte z. B. Jozef Feldman zu einer grundsätzlichen Revision seiner Thesen, die er in einer 1934 veröffentlichten, den polnisch-deutschen Beziehungen gewidmeten Arbeit entwickelt hatte 1934 hatte Feldman die Generalthese vertreten, daß von einem integralen polnisch-deutschen Antagonismus nicht die Rede sein könne, da die polnisch-deutschen Beziehungen trotz einer Reihe von Konflikten zwischen Polen und verschiedenen deutschen Staaten über lange Zeitabschnitte von einer friedlichen Zusammenarbeit geprägt gewesen seien und der aus den spezifischen geographischen Gegebenheiten Preußens geborene polnisch-preußische Konflikt nicht als symptomatisch für die Beziehungen zwischen Polen und Deutschland betrachtet werden dürfe. Insbesondere hatte sich Feldman dagegen gewandt, dem Rassenhaß eine besondere Rolle zuzuschreiben und den polnisch-deutschen Konflikt als Teil eines großen geschichtlichen germanisch-slawischen Antagonismus zu werten. Anders stellte Feldman jedoch die deutsche Frage — oder besser das Problem der polnisch-deutschen Beziehungen — nach dem Zweiten Weltkrieg dar Auf die Frage, ob es sich um einen einzigen oder eine Reihe von Antagonismen handle, antwortete er 1946 mit der Feststellung:
„Wenn die Repräsentanten des Deutschtums im Verhältnis zu Polen ihre aufeinanderfolgenden einzelnen territorial-politischen Formationen waren, so zieht sich trotzdem auf dem Wege tausendjährigen Kampfes zwischen den beiden Nationen eine ständige Linie, die die einzelnen Erscheinungen in Entwicklungsketten verbindet.“ Immer und überall — so Feldmans Auffassung nach dem Zweiten Weltkrieg — sei es in den polnisch-deutschen Feindseligkeiten um das Bestehen Polens als unabhängiger Staat gegangen. Alle Teile des Deutschtums hätten nach einer Verdrängung Polens gestrebt, anfangs aus dem Oder-Gebiet, später aus dem Weichsel-Gebiet. Feldman vermerkte, daß schon die Sachsen im 11. und 12. Jahrhundert und später der Ritterorden und seine Nachfolger die Methode der Extermination der Polen benutzt hätten.
Einer gründlichen Revision unterzog Feldman auch seine früheren Anschauungen hinsichtlich der Phasen der polnisch-deutschen Zusammenarbeit in der Vergangenheit. Er konstatierte, daß er im Jahre 1934 diese Phasen zu optimistisch beurteilt hätte, und neigte jetzt zu der Auffassung, daß die polnisch-deutschen Konflikte gegenüber dem Beitrag der Deutschen für die Organisation der polnischen Kirche und für die Entwicklung des wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und kulturellen Lebens in Polen überwogen hätten. Das Element des Kampfes habe die Zusammenarbeit entschieden überragt, zumal diese von Feindschaft durchsetzt gewesen sei. Feldman revidierte auch seine frühere Bewertung der deutschen Sympathien für die polnische Frage im 19. Jahrhundert, als — bis zu den Zeiten Bismarcks — das deutsche Bürgertum, die Jugend und die Intelligenz propolnisch eingestellt waren. Er behauptete nun, daß diese Stimmungen auf reiner Berechnung beruht hätten; man habe in den Polen einen wirksamen Damm vor der Einmischung Nikolaus I. in deutsche Fragen gesehen. Als sich die Furcht vor einer russischen Intervention als haltlos erwies und die polnische Hilfe überflüssig wurde — so Feldman 1946 —, brach der uralte Haß zwischen beiden Nationen mit doppelter Gewalt hervor. Die deutschen Liberalen bezogen entschieden antipolnische Positionen.
Wenn wir Feldmans Thesen aus dem Jahre 1934 denen aus dem Jahre 1946 gegenüberstellen, so ist festzuhalten, daß der vor dem Zweiten Weltkrieg zu beobachtende Optimismus — als Feldman gegen ein unnötiges Dramatisieren der Gegensätze zwischen beiden Nationen auftrat — nach dem Krieg in Fatalismus umschlug. Der polnisch-deutsche Konflikt erschien Feldman nun als eine fatale Notwendigkeit der Geschichte. Aus allen Seiten seines Buches spricht Pessimismus, der sich am nachdrücklichsten in den Worten äußert: „Wenn es dem Hitlerismus so leicht gelang, Deutschland antidemokratische Regierungsformen, ausschweifenden Nationalismus und Rassismus aufzunötigen, so geschah es deshalb, weil alle diese Elemente schon seit Jahrhunderten im deutschen Charakter wurzelten .. . Die Überlegenheit unserer Auffassung des deutschen Problems liegt darin, daß wir mit allen Furchtbarkeiten des Zweiten Weltkriegs nicht nur den Nazismus selbst belasten. Wir glauben nicht an das Bestehen jenes anderen, guten Deutschlands, das von Hitler unterdrückt wurde . . . Dieses gute Deutschland muß erst erschaffen werden.“
Der Tenor dieses Zitats Feldmans ist charakteristisch für die unmittelbar nach dem Kriegsende entstandenen Synthesen und Monographien der polnischen Geschichtswissenschaft zur deutschen Frage und zu den polnisch-deutschen Beziehungen. Eine Ausnahme bildet lediglich die Geschichte der deutschen und polnischen Kultur von Friedberg Einen Umschwung in der Darstellung der deutschen Geschichte durch die polnische Geschichtswissenschaft sollten indes die fünfziger Jahre bringen, als z. B. Ewa Maleczyhska dazu aufrief die deutsche Frage und die polnisch-deutschen Beziehungen vor allem in klassenspezifischen und gesellschaftlichen Kategorien zu betrachten. Damals erschienen eine Reihe von Arbeiten, die diese Parole auf eine ziemlich mechanische und oft stark vereinfachte Art aufnahmen. Sie traten auf eine schlechthin kritiklose Weise an die Aspekte der Nationalitätenpolitik heran, wenn an deren Basis soziale Kräfte standen, die den gesellschaftlichen Fortschritt repräsentierten, und beurteilten in der Regel alle Versuche einer polnisch-deutschen Kooperation negativ, wenn diese auf Impulse aus dem Lager der Rechten und des gesellschaftlichen Konservatismus zurückgingen. Eine prinzipielle Wandlung zum Besseren brachte hier das Jahr 1956, das einen grundlegenden Umbruch in der gesamten polnischen Geschichtsschreibung einleitete. Für die gegenwärtige polnische Geschichtsschreibung ist symptomatisch, daß sie der Geschichte Deutschlands als eigenständigem Problem weit mehr Aufmerksamkeit schenkt als der Geschichte der polnisch-deutschen Beziehungen. So erschienen zahlreiche Monographien, die den Zeitraum der Weimarer Republik, die Diktatur Hitlers und die Geschichte Deutschlands in den Jahren des Zweiten Weltkriegs umfassen und die eine weite Palette von Problemen auf einer allgemeineren, gesamtgeschichtlichen Ebene behandeln. Das Interesse vieler Forscher gilt vor allem der Entstehung und dem Verfall der Weimarer Republik sowie der Genesis der NS-Herrschaft und den Funktionsmechanismen des gesellschaftspolitischen Lebens im Dritten Reich. Polnische Historiker beschrieben sowohl den Kampf der Arbeiterorganisationen für die Stärkung der Weimarer Republik und für die Schaffung eines neuen sozialistischen Staates in den Jahren 1919 bis 1923 als auch die Entstehung und den politischen Einfluß der Partei Hitlers in den Anfangsjahren der Weimarer Republik Jerzy Holzer unternahm zum Beispiel in seiner Arbeit „Die politische Krise in
Deutschland 1928— 1930. Partei und Massen“ — gestützt auf soziographische Methoden, d. h. hauptsächlich auf der Grundlage der Statistik von Kommunal-, Landtags-und Reichstagswahlen — den Versuch, die Wandlungen der politischen Kräfte in Deutschland am Ende der Weimarer Republik nachzuzeichnen. Aus seiner Analyse geht hervor, daß die prinzipiellen politischen Wandlungen in der Weimarer Republik schon in der Mitte des Jahres 1929 auftraten, also bereits vor dem Ausbruch der Weltwirtschaftskrise
Die Arbeiten zum Dritten Reich befassen sich u. a. mit dem System von Staat und Recht im Nationalsozialismus mit Kultur und Wissenschaft zwischen 1933 und 1945 mit der Bedeutung und Rolle der und mit dem Widerstand der Gewerkschaften und der deutschen Linken, der sich — wie vor allem Antoni Czubinski gezeigt hat — nicht nur wie der Widerstand des 20. Juli gegen Hitler, sondern auch gegen den deutschen Nationalismus und Militarismus richtete Das Interesse bedeutender polnischer Historiker und Juristen konzentriert sich zudem vor allem auf die Problematik der Konzentrationslager Hitlers, die Stätten der millionenfachen Massenvernichtung. Hier sind u. a. die Studie von Alfons Klafkowski, „Hitlers Konzentrationslager als ein internationales Problem“ und ein Sammelband über Auschwitz unter der Redaktion von Jozef Buszko zu erwähnen. Die verhältnismäßig größte Aufmerksamkeit widmet die polnische Geschichtswissenschaft bei der Erforschung der Geschichte der Weimarer Republik und des Dritten Reiches indes den internationalen Beziehungen und der Außenpolitik Deutschlands. In diesem Forschungsbereich müssen die Arbeiten von Sergiusz Mikulicz und Henryk Batowski sowie die gelungene Analyse von Piotr Losowski zur Außenpolitik Deutschlands in den ersten Jahren nach dem Ersten Weltkrieg genannt werden In diesen Arbeiten werden vornehmlich das großdeutsche Streben und die revisionistischen Pläne der deutschen Politik analysiert.
In der Behandlung der deutschen Frage durch die polnische Geschichtswissenschaft im 19. und 20. Jahrhundert können wir einige prinzipielle Entwicklungslinien festhalten:
Erstens: Zu dem Zeitpunkt, als die polnische Geschichtswissenschaft entstand, hatten die polnisch-deutschen Beziehungen und die Geschichte Deutschlands für die polnischen Historiker zweitrangige Bedeutung. Sogar für den an der deutschen Geschichte besonders interessierten „Vater der polnischen Geschichtsschreibung“, Joachim Lelewel, waren die polnisch-deutschen Konflikte und die deutsche Eroberungssucht nur in grauer Vorzeit aktuell. Das Jahr 1848 wurde zum Wendepunkt in der Geschichte des polnischen politischen und historischen Denkens, als sich erwies, daß Rußland nicht der einzige Feind der polnischen Unabhängigkeitshoffnungen war. Trotz der Ereignisse dieses Jahres dominierte indes die antirussische Orientierung weiterhin bei einer Reihe von polnischen Historikern, wie vor allem bei Jozef Szujski und der „Krakauer Gruppe“, die aufgrund ihrer austrophilen Einstellung mit der sogenannten „StahczykGruppe“ verbunden waren.
Zweitens: Die Epoche Bismarcks und die hakatistische Politik Preußens gegenüber der polnischen Bevölkerung riefen starke antideutsche Stimmungen hervor. Historiker wie Szymon Askenazy, Wilhelm Feldman, Jan Kucharzewski oder Jozef Buzek führten damals den Begriff des „polnisch-deutschen Problems“ ein. Allerdings behauptete Askenazy noch weiterhin, daß die polnisch-deutschen Beziehungen in der Vergangenheit lediglich durch eine Reihe singulärer Konflikte gekennzeichnet gewesen seien und wies auf die Momente friedlicher Zusammenarbeit zwischen den beiden Nationen hin. Der Interpretation Askenazys folgten anfangs Jozef Feldman und — in der letzten Ausgabe der „Geschichte des polnischen politischen Denkens“ — auch sein Vater Wilhelm -Die These eines „ewigen“ polnisch-deutschen Antagonismus wurde dagegen vor allem von Waclaw Sobieski aufgestellt. Drittens: In der Zwischenkriegszeit waren die Ansichten der polnischen Historiker (Wislawa Knapowska, Adam Szmarida u. a.) über die Bewertung der polnisch-deutschen Beziehungen geteilt, wobei jedoch das Bestreben überwog, eine gemeinsame Sprache mit der deutschen Wissenschaft zu finden und die historischen Tatsachen nüchtern darzustellen und zu analysieren.
Viertens: Nach dem Jahre 1945 war die Überzeugung von der Richtigkeit der These des unaufhörlichen, ewig dauernden Kampfes des Polentums mit dem Deutschtum in Polen fast allgemein vorherrschend. Jozef Feldman, der hervorragendste Vertreter einer Verständigung mit den deutschen Historikern in der Vorkriegszeit, distanzierte sich nun von seinen früheren Anschauungen zu den Beziehungen zwischen den beiden Nationen.
Fünftens: Eine Wandlung brachten schließlich die letzten zwanzig bis dreißig Jahre, in denen sich eine Veränderung der Vergangenheitsbetrachtung vollzog, und das sowohl hinsichtlich des 19. und 20. Jahrhunderts als auch hinsichtlich der Rolle des Deutschtums und der deutschsprachigen Staaten im Mittelalter und im 16. bis 18. Jahrhundert. Forschungen von Marian Biskup, Krzysztof Baczkowski und Anna Sucheni-Grabowska zum 16. und von Wladyslaw Czaplihski und Jan Wimmer zum 17. Jahrhundert erlaubten es, sich weitgehend von früheren Voreingenommenheiten zu befreien, und bereiteten den Grund für eine ruhige, sachliche und objektive Betrachtung der deutschen Frage. Es scheint, daß diese jüngeren Tendenzen in der polnischen Geschichtsschreibung in Zukunft eine immer größere Beständigkeit und Stabilität erhalten werden.
II. Deutsch-polnische Beziehungen in der polnischen Deutschlandforschung seit 1945
Die Ereignisse des Zweiten Weltkriegs brachten eine tiefgreifende Veränderung in den deutsch-polnischen Beziehungen und in der damit verbundenen Forschung. Unmittelbar nach dem Kriege versuchten einige Historiker der Vorkriegsgeneration eine allgemeine geschichtliche Bewertung des Konflikts zwischen den Polen und den Deutschen. Es entstanden überwiegend kritische und pessimistische Arbeiten über die Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft der polnisch-deutschen Beziehungen, die sicherlich von persönlichen Erfahrungen geprägt waren Die Geschichtsschreibung hat dabei indes nur einige der Bereiche aufgegriffen, die nach 1945 von der polnischen Deutschlandforschung behandelt worden sind Die Historiker der jüngeren Generation konzentrierten sich vor allem auf die Politik des Dritten Reiches im besetzten Polen zwischen 1939 und 1945 und untersuchten das Ausmaß der polnischen Verluste In diesem Zusammenhang muß auf das besondere Interesse der polnischen Wissenschaft für die Frage der Verfolgung und Bestrafung der nazistischen Kriegsverbrecher nach 1945 hingewiesen werden Viele Autoren haben sich mit der Einstellung der beiden deutschen Staaten zu diesem Problem befaßt, wobei die Strafverfolgung von Naziverbrechern in der Bundesrepublik sehr kritisch beurteilt worden ist Es darf auch nicht außer acht gelassen werden, daß nach Auffassung vieler polnischer Autoren die individuelle Entschädigung polnischer Bürger durch die Bundesrepublik weiterhin eine offene Frage ist
Die Arbeiten der polnischen Geschichtsschreibung zur deutschen Geschichte und zu den polnisch-deutschen Beziehungen sind Teil einer interdisziplinären Deutschlandforschung, die im Laufe der fünfziger und sechziger Jahre in Polen entstand. Neben Historikern waren daran Juristen — vor allem Völkerrechtler —, Ökonomen, Soziologen, Literatur-wissenschaftler und in zunehmendem Maße zuletzt auch Politologen beteiligt. Führende Zentren dieser Forschungen waren das Westinstitut und das Institut für Geschichte an der Universität in Poznan, das polnische Institut für internationale Fragen in Warschau sowie zahlreiche regionale Institute in Kattowice, Olsztyn, Sczecin sowie die Universitäten Krakow, Wroclaw und Lodz Eine wesentliche Intensivierung der Deutschland-Forschung erfolgte in den siebziger und achtziger Jahren, was auf folgende Faktoren zurückzuführen ist:
— die Tradition der Deutschland-Forschung in Polen, — die zunehmende Bedeutung der Beziehungen Polens mit der Deutschen Demokratischen Republik und der Bundesrepublik Deutschland, — das verstärkte Interesse an Deutschlandforschung in den Hochschulen, — die seit Mitte der siebziger Jahre erfolgte Koordinierung der polnischen Forschungsprojekte Insgesamt sind an der polnischen Deutschland-Forschung einige hundert Wissenschaftler beteiligt, die teilweise in interdisziplinären Forschungsgruppen tätig sind. Von ihnen werden vor allem fünf große Sachgebiete behandelt:
1. die Entwicklung der deutschen Frage nach 1945 in Verbindung mit der Haltung Polens 2. die Entstehung und Entwicklung der Deutschen Demokratischen Republik und die Beziehungen zwischen der Deutschen Demokratischen Republik und der VR Polen 3. die Entstehungsgeschichte und die Entwicklung der Bundesrepublik Deutschland 4. die rechtliche und politische Stellung West-Berlins 5. die Bedingungen, Voraussetzungen und Entwicklungstendenzen in den Beziehungen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der VR Polen
Zum letzten Themenkomplex ist eine große Zahl von Arbeiten erstellt worden, weshalb hier nur auf die wichtigsten Ergebnisse hingewiesen werden soll. Aus den umfangreichen Forschungen über die polnisch-deutschen Beziehungen stellen wir bewußt folgende wichtige Probleme in den Vordergrund:
— die Bewertung des Potsdamer Abkommens vom 2. August 1945 als konstitutiver Akt in bezug auf die polnische Westgrenze, — die Umsiedlung der deutschen Bevölkerung nach 1945 und die Integration der westlichen und nördlichen Regionen in das polnische Staatsgebiet, — die Entstehung und Entwicklung der Beziehungen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der VR Polen unter besonderer Berücksichtigung des Normalisierungsprozesses nach dem Abschluß des Warschauer Vertrages vom 7. Dezember 1970.
Die polnischen Forscher stimmen in der ersten Frage darin überein, daß die Potsdamer Beschlüsse der Siegermächte eine logische Konsequenz des vom Dritten Reich begonnenen Krieges waren. Die Abschnitte IX B und XIII dieses Abkommens bilden dabei bis heute die konstitutive Grundlage der polnischen Westgrenze an der Oder und an der Lausitzer Neisse Die polnischen Völkerrechtler weisen die Interpretation der polnischen Westgrenze als vorläufig zurück. Nach ihrer Ansicht lassen sich die Bestimmungen des Abschnitts IX B des Potsdamer Abkommens wie folgt zusammenfassen:
— Es ist die Rede von „ehemaligen deutschen Gebieten“, welche nicht der sowjetischen Besatzungszone unterstellt waren;
— es gibt keinen „Friedensvertragsvorbehalt“, da im englischen Originaltext der Begriff „peace Settlement“ (friedliche Regulierung) verwendet wird;
— die Bestimmungen des Artikels XIII sind ein wichtiger Beweis dafür, daß die Siegermächte nicht an vorübergehende Experimente, sondern an eine endgültige Regulierung der polnischen Westgrenze dachten;
— die endgültige Festlegung („final delimitation")
der polnischen Westgrenze erfolgte nach polnischer Auffassung gemäß der politischen Entscheidungen der Siegermächte, welche zusätzlich durch Markierung der Grenze sowie andere Vereinbarungen und Verträge bestätigt wurde;
— die Verträge der VR Polen mit der Deutschen Demokratischen Republik vom 6. Juli 1950 und mit der Bundesrepublik Deutschland vom 7. Dezem-ber 1970 nehmen Bezug auf die Potsdamer Beschlüsse vom 2. August 1945 und haben nur deklarativen Charakter -
In diesem Zusammenhang ist noch zu erwähnen, daß die polnischen Forscher zu der These vom Untergang des Deutschen Reiches im Jahre 1945 oder spätestens im Jahre 1949 neigen, ohne jedoch gewisse Rechte der vier Siegermächte in bezug auf Deutschland in Frage zu stellen. Jedenfalls wird die Auffassung vertreten, daß der Begriff „Deutschland in den Grenzen vom 31. Dezember 1937“ in Potsdam nur als Ausgangspunkt für die politische Diskussion verwendet wurde und die westdeutsche Rechtsdoktrin vom Fortbestehen des „Deutschen Reiches in den Grenzen vom 31. Dezember 1937“ nicht gerechtfertigt ist. Insofern besteht bis heute ein starker Gegensatz zwischen den Auffassungen der westdeutschen und polnischen Forscher in dieser Frage, was nicht ohne Einfluß auf die offizielle Haltung der beiden Staaten blieb.
Große Aufmerksamkeit wird in der polnischen Forschung auch dem „Transfer“ (wie es im Potsdamer Abkommen heißt) oder — um einen in den letzten Jahren eingeführten Begriff zu verwenden — der „Zwangsumsiedlung“ der deutschen Bevölkerung gemäß Artikel XIII des Potsdamer Abkommens gewidmet. Dieses Problem wird im allgemeinen in zwei Phasen betrachtet:
— Flucht und Evakuierung der Bevölkerung durch die deutschen Behörden in den letzten Kriegsmonaten, wobei den offiziellen Stellen viele Fehler und Fehlentscheidungen nachgewiesen werden können
— Zwangsumsiedlungen durch die polnischen Behörden gemäß den Potsdamer Bestimmungen der Siegermächte, von denen nach Schätzungen bis zu ca. 3, 2 Millionen Menschen betroffen waren
Allgemein wird in der polnischen Forschung der westdeutschen These von der „Vertreibung“ der Deutschen insofern widersprochen, als diese Zwangsumsiedlungen ihre Ursache in der verbrecherischen Politik des Naziregimes während des Zweiten Weltkriegs hatten, die auch Zwangsum-Siedlungen der polnischen Bevölkerung einschlossen. Bei der Beurteilung des zum Teil leidvollen Schicksals der umgesiedelten deutschen Bevölkerung dürfen die Folgen nicht mit den Ursachen verwechselt werden. Dabei dürfen auch persönliche und emotionelle Erlebnisse für die Bewertung objektiver historischer Prozesse nicht ausschlaggebend sein. Die Westverschiebung der polnischen Bevölkerung bleibt daher eine objektive Tatsache und muß als ein Element der gesamteuropäischen Friedensordnung zur Kenntnis genommen werden. Nach 1945 und insbesondere nach 1955 fanden weitere Ausreisen aus Polen in die Bundesrepublik im Rahmen der Regelungen von einzelnen humanitären Fragen und der sogenannten „Familienzusammenführung“ statt. Waren es in den fünfziger Jahren Deutsche oder „deutschstämmige Polen“, die ausreisten, so unternahmen — meistenteils aus ökonomischen Motiven — in den folgenden Jahren auch Angehörige der einheimischen polnischen Bevölkerung diesen Schritt. Diese Entwicklung wird in der polnischen Forschung als ein wichtiger Bestandteil der bilateralen Beziehungen zwischen der VR Polen und der Bundesrepublik Deutschland untersucht
Des weiteren werden in der polnischen Forschung auch folgende Probleme intensiv analysiert:
— die Integration der westlichen und nördlichen Gebiete in das polnische Staatsgebiet, die trotz vieler Schwierigkeiten in wenigen Jahren erfolgreich durchgeführt wurde
— die Verifikation der alteingesessenen polnischen Bevölkerung, die trotz der Jahrhunderte dauernden Germanisierung die polnische Sprache und Sitten nicht vergessen hat
— die Besiedlung der polnischen West-und Nord-gebiete mit repatriierten Polen sowie mit der Bevölkerung aus dem Inneren des Landes, was im hohen Grade zur Beschleunigung der wirtschaftlichen und kulturellen Entwicklung dieser Gebiete beigetragen hat Wie bereits erwähnt, liegt ein weiterer Schwerpunkt der polnischen Deutschlandforschung in der Analyse der Bedingungen und Voraussetzungen der bilateralen Beziehungen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und Polen. In den letzten zwei Jahrzehnten standen dabei folgende Probleme im Vordergrund:
— die Weigerung der Bundesregierungen, die polnische Westgrenze anzuerkennen, sowie die Aktivitäten der Landsmannschaften und anderer politischer Kräfte, die, auf eine Revision der polnischen Westgrenze zielten — beides hat in Polen zur Entstehung des Begriffes „westdeutscher Revisionismus“ wesentlich beigetragen
— das Heranwachsen positiver Tendenzen in der westdeutschen Bevölkerung gegenüber Polen, die mit den Veränderungen in den Ost-West-Beziehungen eine wichtige Voraussetzung für eine flexiblere Einstellung der politischen Elite, insbesondere der SPD und der FDP, zu Fragen der Entspannung und der damit verbundenen Anerkennung bzw.
„Respektierung“ der polnischen Westgrenze durch die Bundesrepublik Deutschland schufen
Es herrscht Übereinstimmung darüber, daß die Unterzeichnung des Warschauer Vertrages vom 7. Dezember 1970 einen tiefen Einschnitt in den gegenseitigen Beziehungen bedeutet. Im Zuge des Entspannungsprozesses in den Ost-West-Beziehungen kam es im Laufe der siebziger Jahre zu einer Verbesserung des bilateralen Verhältnisses. Die polnischen Forschungen befaßten sich vor allem mit der Auslegung des Vertrages vom 7. Dezember 1970, der — im Gegensatz zu der herrschenden Meinung in der westdeutschen Wissenschaft und den Rechtspositionen der Bundesregierung — als endgültige Anerkennung der polnischen Westgrenze durch die Bundesrepublik Deutschland interpretiert wurde
Die unterschiedlichen Auffassungen der polnischen und der westdeutschen Seite über die Grundlagen und die Entwicklung des Normalisierungsprozesses werden in einer gemeinsamen, in beiden Staaten veröffentlichten Publikation polnischer und westdeutscher Autoren deutlich, die den Stand der gegenseitigen Beziehungen beschreibt -Die Meinungsverschiedenheiten zwischen den polnischen und den deutschen Forschern haben in Verbindung mit der Verschlechterung der Ost-West-Beziehungen, der gesellschafts-und wirtschaftspolitischen Krise in Polen und der Übernahme der Regierungsverantwortung durch die CDU/CSU/FDP-Koalition Anfang der achtziger Jahre dazu beigetragen, daß das Verhältnis zwischen den beiden Staaten immer größeren Belastungen unterlag. Diese Entwicklung ist von der polnischen Forschung bereits sehr breit behandelt worden Die Hauptthese der polnischen Forschung lautet: Das grundlegende Hindernis für einen Normalisierungsprozeß zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der VR Polen ergibt sich aus den Rechtspositionen der Bundesrepublik und aus ihrem Bemühen, die Modus-vivendi-Formel als Grundlage der beiderseitigen Beziehungen durchzusetzen. Indes werden auch die Schwächung Polens durch die innere Krise der achtziger Jahre und die Verschuldung Polens gegenüber der Bundesrepublik Deutschland nicht außer acht gelassen. Positiv werden die gesellschaftlichen Kontakte zwischen Polen und der Bundesrepublik Deutschland — darunter auch der Jugendaustausch — bewertet.
Schließlich muß auch die gemeinsame Arbeit der Schulbuchkonferenz der Historiker und Geographen beider Staaten gewürdigt werden. Sie hat nicht nur gemeinsame Schulbuchempfehlungen für den Unterricht in diesen Fächern ausgearbeitet, sondern auch auf 19 Expertentreffen die strittigen Fragen der Nachkriegsgeschichte bis zum Jahre 1975 ausführlich besprochen Obwohl die ver-bindliche Einführung dieser Schulbuchempfehlungen in der Bundesrepublik Deutschland an den westdeutschen Rechtspositionen und an dem Beschluß der Kultusministerkonferenz vom Februar 1981 gescheitert ist, bleiben sie weiterhin ein wichtiger Faktor beim Abbau der historischen Vorurteile und bei der Gestaltung des Unterrichts in der Zukunft. Sie sollen die Jugend beider Staaten trotz aller Systemunterschiede für den Frieden und die Verständigung erziehen