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Geschichtswissenschaft und Geschichtsverständnis in der DDR seit 1945 | APuZ 13/1987 | bpb.de

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APuZ 13/1987 Was ist neu am „neuen Denken“ in der DDR?. Die Friedens-und Sicherheitspolitik steht im Zentrum Geschichtswissenschaft und Geschichtsverständnis in der DDR seit 1945 Nationalsozialismus und Faschismus in der DDR-Historiographie

Geschichtswissenschaft und Geschichtsverständnis in der DDR seit 1945

Günther Heydemann

/ 31 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Was Historiker im anderen Teil Deutschlands erforschten und veröffentlichten, ist von der Geschichtswissenschaft in der Bundesrepublik Deutschland lange Zeit kaum beachtet worden — zumeist mehr aus politisch-ideologischen denn aus wissenschaftlichen Gründen. Der Übergang von einem „selektiven“ (=auswählenden) zu einem „integralen“ (=ganzheitlichen) Geschichtsbild in der DDR hat die bisherige Situation jedoch grundlegend verändert. Im Zentrum der historischen Forschung im anderen deutschen Staat stehen nicht mehr einige ausgewählte, „favorisierte“ Themen und damit lediglich Teile der deutschen Geschichte, sondern die ganze deutsche Geschichte mit allen Höhen und Tiefen und ohne Wenn und Aber. Angesichts dessen, daß die identitätsstiftenden Chancen des Geschichtsverständnisses heute wesentlich besser ausgeschöpft werden als früher, wird das inzwischen präsentierte Geschichtsbild zu einer deutschlandpolitischen Herausforderung. Die Entwicklung eines differenzierteren und ausgewogeneren Geschichtsbildes hängt eng mit der spezifischen Entwicklung einer marxistisch-leninistischen Historiographie in der SBZ/DDR selbst zusammen. Hier lassen sich drei Phasen unterscheiden: eine atypische, noch von sogenannten „bürgerlichen“ Historikern mitbestimmte Übergangsphase zwischen 1945 und 1948/49, eine Konstituierungsphase als marxistisch-leninistische Geschichtswissenschaft in den fünfziger Jahren und eine Konsolidierungsphase in den sechziger Jahren, wobei sich aber in beiden Zeitabschnitten die Rahmenbedingungen (z. B. das Verhältnis Partei-Geschichtswissenschaft) nicht änderten, und schließlich eine seit Beginn der siebziger Jahre einsetzende Verwissenschaftlichungsphase, deren besondere Kennzeichen ein dialogisches Verhältnis zur SED sowie bemerkenswerte erweiterte, theoretische und methodologische Freiräume darstellen. Plakativ formuliert ist der harte stalinistische Zugriff der Partei Ende der vierziger Jahre und in den fünfziger Jahren einer flexibleren, gleichwohl fortdauernden leninistischen Kontrolle gewichen, hat dadurch aber die DDR-Geschichtswissenschaft zu Marx als dem immer noch originellsten Denker des Marxismus-Leninismus selbst zurückfinden lassen. Es bedarf keiner weiteren Begründung, diese Entwicklung und damit den neuen Umgang mit der Geschichte im anderen deutschen Staat politisch und wissenschaftlich ernst zu nehmen.

I.

Bei dem Beitrag handelt es sich um die überarbeitete und mit den notwendigsten Literaturangaben versehene Fassung eines Vortrages, den der Verfasser aufder Tagung der, Gesellschaft für Deutschlandforschung'(GfD) „Die zweite deutsche Geschichtswissenschaft. Beiträge zu einer Bilanz der historischen Forschung in der DDR“ (27. 128. November 1986 in Berlin) gehalten hat. Der Aufsatz versucht, Grundzüge der Entwicklung der Geschichtswissenschaft der SBZ/DDR seit 1945 zu skizzieren. Eine umfassende Darstellung der Wissenschaftsgeschichte der DDR-Historiographie ist aufbeiden Seiten der Demarkationslinie bisher Desiderat geblieben.

Daß Geschichte als vergangene Wirklichkeit die Realität der Gegenwart immer wieder einzuholen vermag, hat nicht erst die jüngste Auseinandersetzung über die adäquate Interpretation und historische Einordnung der Verbrechen des Nationalsozialismus erwiesen. Geschichte war und ist ein Politikum und wird es im geteilten Deutschland bleiben zumal beide deutsche Staaten mit ihren unterschiedlichen Gesellschaftssystemen aus dem Anspruch heraus leben, jeweils „die vernünftige Konsequenz aus der gemeinsamen deutschen Geschichte gezogen zu haben.“ Insofern komme es darauf an, so Karl Friedrich Erdmanns bis heute gültige Feststellung, „in diesem Bewußtsein einer gemeinsamen Geschichte, auf die wir verschiedene Antworten geben, . . . solange uns die staatliche Einheit verwehrt ist, die Nation als dialektische Einheit zu praktizieren“

Daß es indessen schwerfällt, diesem besonnenen Urteil und der darin enthaltenen Handlungsanweisung Folge zu leisten, erweist sich auf nahezu allen Ebenen der vertrackten deutsch-deutschen Beziehungen. Dies gilt auch für die Geschichtswissenschaft in der Bundesrepublik Deutschland, die zu ihrem Pendant in der DDR und deren Interpretation deutscher Geschichte bis heute kein rechtes Verhältnis hat finden können. Vielmehr ist die Frage, ob eine eingehende Auseinandersetzung mit der Geschichtswissenschaft der DDR wissenschaftlich überhaupt sinnvoll und lohnend ist, von der bundesdeutschen Historiographie jahrelang verneint worden. Überspitzt formuliert gab es für sie bis in die siebziger Jahre hinein nur eine einzige deutsche legitime Geschichtswissenschaft, nämlich sie Was aus dem selbst. anderen Teil Deutschlands, aus der „Zone’, herüberkam und nur gelegentlich zur Kenntnis genommen wurde, war Klio als Unperson, eine Muse, die eigentlich den Namen nicht verdiente und mit der es sich nicht lohnte, in Diskussion zu treten.

Aus dieser über Jahre hinweg praktizierten Ignorierung der anderen,, zweiten deutschen Historiographie und ihrer wissenschaftlichen Forschungsergebnisse entwickelte sich zwangsläufig ein Informationsdefizit, das man allerdings längere Zeit nicht wahrnahm. Erst etwa ab Mitte der siebziger Jahre begann man auch in der Bundesrepublik Deutschland die Geschichtswissenschaft der DDR verstärkt in Augenschein zu nehmen, wobei freilich die marxistisch-leninistische Geschichtswissenschaft selbst dazu entscheidende Schrittmacherdienste leistete.

Denn von der neuen, z. T. spektakulär erscheinenden, tatsächlich aber nur modifizierten Auseinandersetzung der DDR-Historiker mit Themen wie z. B. Luther, Preußen, Friedrich der Große und in jüngster Zeit Bismarck wurde das bundesrepublikanische Interesse an der Geschichtsforschung im anderen deutschen Staat stark gefördert. Dieses Interesse ist seither gewachsen, zumal man auf westdeutscher Seite registrieren mußte, daß die Geschichtswissenschaft der DDR inzwischen von einer ehemals selektiven, nur einzelne Geschichtsepochen und -themen bearbeitenden Forschung zu einem integralen, d. h. die gesamte Geschichte umfassenden Ansatz gelangt ist.

Spiegelbildlich gesehen lag und liegt in der SBZ/DDR demgegenüber ein völlig anderer Tatbestand vor. Hier hatte man schon vor ihrem Bestehen als personell und institutionell tatsächlich marxistischleninistische Historiographie die westdeutsche Klio genauestens und kontinuierlich beobachtet und sich eingehend mit ihren Forschungsergebnissen auseinandergesetzt — freilich in ausschließlich diffamierender Polemik, lange Jahre weitab von echter wissenschaftlicher Auseinandersetzung. Bis in die frü-hen sechziger Jahre hinein kam die intensive Observierung der bundesrepublikanischen Geschichtsschreibung durch die DDR-Historiographie fast einer manisch-depressiven Fixierung gleich, mochte die sowjetische Geschichtswissenschaft in der DDR auch durchweg als das ausschließliche Vorbild gepriesen werden. Diese aufmerksame Beobachtung ist dabei um so stärker hervorzuheben, weil in der noch jungen DDR häufig nur unter großen Schwierigkeiten an geschichtswissenschaftliche Literatur aus der Bundesrepublik Deutschland heranzukommen war.

Solche wissenschaftshistorische Skizzierung des antagonistischen Verhältnisses beider deutscher Geschichtswissenschaften seit 1945 mag auf den ersten Blick befremden. Doch eine Reihe von Faktoren, die die beiderseitigen Reaktionen und das daraus entspringende Verhältnis der deutschen Geschichtswissenschaften zueinander bestimmt haben und z. T. noch bestimmen, erklären den Sachverhalt. Da ist zunächst die Ära und Atmosphäre des Kalten Krieges zu nennen mit all ihren — über die unmittelbar ideologisch-politischen Konsequenzen hinausreichenden — Auswirkungen auch im Wissenschaftsbereich; sodann die damit eng zusammenhängende Auseinanderentwicklung in theoretischer, methodischer, aber auch organisatorischer Hinsicht, von der unterschiedlichen Definition des wissenschaftlichen Selbstverständnisses des Faches und seinen politisch-ideologischen Funktionen hüben und drüben ganz zu schweigen: schließlich die über Jahre hinweg bestehende ideologisch-doktrinäre Stagnation der DDR-Geschichtswissenschaft, die sie für jeden wissenschaftlichen Dialog nicht nur unaufgeschlossen, sondern auch unattraktiv machte; endlich die Phase der . dritten großen Grundlagenkrise (Theodor Schieder) der bundesdeutschen Geschichtswissenschaft ab etwa 1967/68, als sich , die Zunft'hierzulande — in einer Grundsatzdiskussion über Theorie-und Methodenfragen, gesellschaftliche Standortbestimmungen und den Abbau von Geschichtsunterricht an den Schulen einzelner Bundesländer befangen — sozusagen mit sich selbst im Clinch befand und kaum imstande war, den Blick auf ihr Gegenüber in der DDR zu werfen.

Bis etwa Mitte der siebziger Jahre stellte die Geschichtswissenschaft der DDR für die Historiographie in der Bundesrepublik Deutschland kaum mehr als die abgewandte Seite des Mondes dar: erst dann begannen vereinzelte Forschungsarbeiten sich intensiv mit der Geschichtswissenschaft im anderen deutschen Staat auseinanderzusetzen Doch obwohl man der marxistisch-leninistischen Historiographie zumindest in den letzten zehn Jahren durchaus einen qualitativen Fortschritt in einzelnen Forschungsbereichen attestierte, hat sich bis heute an dem antagonistischen Verhältnis beider deutscher Geschichtswissenschaften grundsätzlich wenig geändert. Es besteht der seitenverkehrte Zustand fort, daß die mit harschem Ausschließlichkeitsanspruch auf allein gültige Interpretation der deutschen Geschichte auftretende DDR-Historiographie — paradoxerweise durch ihre kontinuierliche Auseinandersetzung mit der bundesdeutschen Geschichtswissenschaft selbst — eine stärkere gesamtdeutsche Tendenz aufweist als die westdeutsche Historiographie, die durch ihre überwiegende Nichtbeachtung bzw. ausgeprägte Geringschätzung der marxistisch-leninistischen Forschungsergebnisse bis heute eine stärker desintegrative Position einnimmt. Damit leistete sie jedoch nicht nur der historiographischen Abgrenzungsinterpretation der deutschen Geschichte durch die DDR-Geschichtswissenschaft Vorschub, sondern auch der deutschlandpolitischen Abgrenzungsstrategie der SED.

Diese Kritik mag hart klingen, fußt jedoch auf dem Tatbestand, daß in weiten Teilen der bundesdeutschen Geschichtswissenschaft immer noch ein beträchtliches Unvermögen vorherrscht, sich zunächst einmal vorurteilslos und werturteilsfrei mit der Historiographie in der DDR auseinander-zusetzen, zumal diese vorschnell und unzutreffend als bloßer legitimatorischer Handlanger und simples Ausführungsorgan der SED betrachtet wird.

Sie entspringt darüber hinaus dem weit verbreiteten Unwillen, marxistisch-leninistischer Geschichtswissenschaft angesichts ihrer dezidierten Berufung auf die Theorie des Marxismus-Leninismus und ihrer klaren Einbettung in das Gesellschaftssystem des real existierenden Sozialismus überhaupt Rang und Status einer Geschichtswissenschaft und damit wissenschaftlichen Erkenntniswert beizumessen: schließlich resultiert sie aus einer nicht minder verbreiteten Unkenntnis über die tatsächliche Entwicklung der Geschichtswissenschaft in der SBZ/DDR seit 1945 selbst.

Zu einem differenzierten und wissenschaftlich fundierten Urteil ist jedoch erst dann zu gelangen. wenn der vergleichsweise komplizierten Wissenschaftsgeschichte der DDR-Historiographie nachgespürt und damit dem Fragenkomplex nachgegangen wird, was sich in bzw. mit ihr auf politischer, ideologischer, institutioneller, personeller, theoretischer und methodologischer Ebene seit 1945 vollzogen hat. Dabei müssen insbesondere vier zentrale Bereiche verfolgt werden, die diese Entwicklung entscheidend bestimmt haben: 1. das Verhältnis zwischen Partei und Geschichtswissenschaft; 2. Aufgabe und Funktion marxistisch-leninistischer Geschichtswissenschaft; 3. Forschungsbereiche und theoretisch-methodologischer Zugriff;

4. Institutionalisierung und Organisation ihres Wissenschaftssystems. Diese Faktoren haben sich in der wissenschaftsgeschichtlichen Entwicklung der DDR-Historiographie immer wieder miteinander verschränkt, müssen aber für die Analyse aus heuristischen Gründen auseinandergehalten werden. Zugleich stellen sie die unerläßlichen Bestimmungsfaktoren für eine Periodisierung, d. h. eine Einteilung in Entwicklungsetappen der Geschichtswissenschaft in der DDR dar.

II.

Für die Auseinandersetzung der westdeutschen Historiographie mit der ostdeutschen ist es symptomatisch, daß die bisher vorliegenden Periodisierungsversuche zur Einschätzung der Entwicklung der DDR-Geschichtswissenschaft praktisch ausnahmslos vom 2. Faktor ausgegangen sind, nämlich dem Bereich „Aufgabe und Funktion der Geschichtswissenschaft“ in der DDR Gerade dieser Bereich ist aber seit der Etablierung einer wissenschaftlichen Historiographie in der SBZ/DDR als marxistisch-leninistische bis heute völlig unverändert geblieben, kann also als alleiniges Kriterium für die Einschätzung der Wissenschaftsgeschichte der DDR-Historiographie nicht ausreichen. Die völlige Abhängigkeit der Geschichtswissenschaft von der Partei insbesondere in den fünfziger Jahren, die oft kurzfristigen, nur über einige Jahre andauernden ideologischen Vorgaben wie z. B. die „Erziehung zum fortschrittlichen Humanismus“ (1945— 1948) oder die „Erziehung zum sozialistischen Patriotismus“ (1956— 1961) konnten diesen Schluß zwar zunächst nahelegen, de facto handelte es sich aber nur um die inhaltliche Modifizierung einer grundsätzlich gleichbleibenden funktionalen Aufgabenstellung, welche die Historiographie in der DDR seit Bestehen des zweiten deutschen Staates zu erfüllen hat:

a) die mit den Methoden des Dialektischen und Historischen Materialismus zu tätigende geschichtswissenschaftliche Erforschung der Geschichte mit dem Ziel, ein einheitliches sozialistisches Geschichtsbild auf der Grundlage des Marxismus-Leninismus zu erzielen;

b) mit der Umsetzung und Vermittlung dieses Geschichtsbildes ein sozialistisches Geschichtsbild zu erzeugen, das jeden Bürger der DDR nicht nur befähigen, sondern auch stimulieren soll, aktiv für die DDR einzutreten.

Zwangsläufig muß sich deshalb aus der Anwendung des oben genannten pluralen Faktorenkatalogs eine andere Periodisierung und damit Einschätzung der Entwicklung der DDR-Geschichtswissenschaft ergeben. Insgesamt lassen sich drei Zäsuren unterscheiden. 1, Zunächst kann man von einer nachkriegsbedingten Übergangsphase von 1945 bis etwa 1948/49 sprechen, die vor dem Hintergrund der gesamten Wissenschaftsgeschichte der DDR-Historiographie jedoch als atypisch bezeichnet werden muß Denn der Neubeginn im Fach Geschichte in der SBZ vollzog sich, sieht man von den situationsbedingten Faktoren Emigration, Kriegsverluste, Gefangenschaft, Vertreibung, nationalsozialistische Vergangenheit und beginnende Entnazifizierung ab, ähnlich wie in den Westzonen und in Fortführung der deutschen Universitätstraditionen. Nach wie vor stellten nichtmarxistische Hochschullehrer die überwiegende Mehrheit in der Geschichtswissenschaft. So blieben z. B. die Lehrstühle für mittelalterliche Geschichte ausnahmslos ihre Domäne, aber auch in neuer und neuester Geschichte waren sie in der Mehrzahl, wenngleich hier nach und nach marxistische Historiker, meist aus dem Exil, hinzustießen. Seitens der KPD/SED gab es praktisch keine Eingriffe in personeller oder institutioneller Hinsicht, auch wenn zunehmend deutlich wurde, welch hohen Stellenwert die Partei insbesondere den Fächern Philosophie und Geschichte beimaß; entsprechend wurden auch keine ideologisch-funktionalen Aufgabenstellungen oder spezifische Forschungsbereiche definiert. Trotz einer die marxistische Perspektive unterstützenden und favorisierenden Attitüde der Partei blieb die Gleichberechtigung nichtmarxistischer und marxistischer Forschungsansätze grundsätzlich noch anerkannt. 2. Dies änderte sich schlagartig und grundlegend mit dem Beginn der zweiten Jahreshälfte 1948, als unter dem Stalinschen Diktum „Sturm auf die Festung Wissenschaft“ die völlige Umstrukturierung des Bildungssystems und des Hochschulwesens in der SBZ einsetzte. Der jetzt kompromißlos durchgesetzte Monopolanspruch der marxistisch-leninistischen Ideologie, eine kausale Folge der innerparteilichen Umwandlung der SED zu einer Partei „Neuen Typs“ mit totalem Anspruch auf die Führungsrolle in Staat und Gesellschaft, hatte im Wissenschaftsbereich und damit auch im Fach Geschichte die schrittweise Eliminierung nichtmarxistischer Fachvertreter zur Folge. Pflichtvorlesungen über Dialektischen und Historischen Materialismus wurden jetzt sowohl als Lehraufgabe für Dozenten als auch als Prüfungsstoff für Studenten obligatorisch. Zug um Zug wurden die institutioneilen Voraussetzungen für ein verschultes Hochschulstudium nach sowjetischem Vorbild geschaffen. Zugleich wurden jüngere Historiker, meist ohne jede bisher erbrachte Qualifikation, massiert in den Lehr-und Seminarbetrieb eingeschleust. Der Exodus einer immer größer werdenden Zahl nichtmarxistischer Historiker in die Westzonen setzte ein.

Doch obgleich dieser fundamentale Umstrukturierungsprozeß so konsequent wie brutal durchgesetzt wurde, blieb die für diese Maßnahmen unerläßliche Definierung der Bestimmung von Forschungsthemen und -bereichen erstaunlicherweise ungeklärt. Das neue Schlagwort „Für eine kämpferische Demokratie“ war viel zu unbestimmt, um als präzise politisch-ideologische Zielprojektion gelten zu können. Der Grund für die mangelnde Ausrichtung der neuen Geschichtswissenschaft, deren völlige Umstrukturierung ja nur dann sinnvoll sein konnte, wenn klare Aufgaben bezüglich der Erstellung eines sozialistischen Geschichtsbildes und eines präzisen Forschungskatalogs vorhanden waren, lag darin, daß bei vielen Funktionären der SED — vornehmlich aufgrund ihrer negativen persönlichen Erfahrungen als ehemalige KPD-Mitglieder während nationalsozialistischer Verfolgung und im Exil — die Auffassung vorherrschte, die deutsche Geschichte stelle eine einzige Misere dar.

In der Tat wirkte die sogenannte Misere-Theorie bis in die ersten Jahre nach der Gründung der DDR fort; als mentale politisch-historische Barriere stellte sie so etwas wie eine Selbstblockade dar Exemplarisch sei hier nur an den bezeichnenden Titel des 1946 erschienenen und mehrfach aufgelegten Werkes von Alexander Abusch „Der Irrweg einer Nation“ erinnert, der dieser in der SED zu jener Zeit virulenten Auffassung exemplarisch Ausdruck verlieh. Mit einer solch negativen Geschichtsperspektive konnte die junge Geschichtswissenschaft die ihr zugedachte Aufgabe einer Neu-Interpretation der deutschen Geschichte jedoch nicht erfüllen, nämlich: 1. eine fruchtbare — gegenüber der sogenannten bürgerlichen Geschichtsschreibung durch neue Forschungsansätze und damit zu anderen Beurteilungen kommende — wissenschaftliche Auseinandersetzung mit der deutschen Geschichte in Gang zu setzen und 2. ein aus solcher Auseinandersetzung resultierendes positives und damit identitätsstiftendes Geschichtsbild mit der erstrebten Funktion sozialistischer Bewußtseinsbildung hervorzubringen, wodurch das von der Partei geschaffene neue Staats-und Gesellschaftssystem legitimiert und zugleich stabilisiert werden konnte.

Erst mit der „Zerschlagung dieser Theorie“ — so wörtlich — durch die Entschließung des Zentralkomitees der SED vom 20. Oktober 1951 zu den „wichtigsten ideologischen Aufgaben der Partei“ wurde der Weg für eine positive, marxistisch-leninistische Deutung der deutschen Geschichte freigemacht und zugleich ein entscheidendes Interpretationsraster für die weitere Entwicklung der DDR-Historiographie gesetzt.

Mit dem grundlegenden Aufsatz des damals führenden DDR-Historikers Leo Stern sowie einer Rede Walter Ulbrichts zu den Aufgaben der Geschichtswissenschaft nur ein halbes Jahr später wurde erstmals auch inhaltlich definiert, was die Partei unter der gewünschten „Neuformung“ des von der sogenannten bürgerlichen Geschichtsschreibung angeblich „deformierten deutschen Geschichtsbildes“ verstanden wissen wollte. Abgesehen von der Aufforderung, die junge DDR-Geschichtswissenschaft solle sich dezidiert von den Positionen des traditionellen Historismus lossagen und die schöpferisch weiterzuentwickelnde Theorie des Marxismus-Leninismus in der Geschichtsforschung der DDR zu einem festen wissenschaftlichen Fundament machen, wurde jetzt die Bearbeitung von bestimmten Epochen und historischen Problemen der deutschen Geschichte präzise vorgegeben; die junge DDR-Geschichtswissenschaft sollte sich forschungsmäßig vor allem auf Reformation und Bauernkriegszeit, den Mainzer Konvent, die napoleonische Fremdherrschaft und die Befreiungskriege, die Revolution von 1848/49 sowie die Geschichte der Arbeiterbewegung konzentrieren — kurz, sie habe „die bis ins Hochmittelalter zurückreichenden Freiheits-und Kampftraditionen des deutschen Volkes klar herauszustellen“

Diese auswählende, selektive Geschichtsforschung und das daraus resultierende Geschichtsbild hat die DDR-Historiographie und damit die DDR bis in die Mitte der siebziger Jahre hinein bestimmt. Doch zunächst befand sich die junge Geschichtswissenschaft der DDR immer noch in einem umfassenden Umstrukturierungsprozeß, den die Partei initiiert und weitergeführt hatte und dessen negative Folgen zunehmend deutlich wurden. Denn die Abwanderung bzw. Ausschaltung von qualifizierten bürgerlichen Historikern konnte durch marxistische Historiker weder kurz-noch mittelfristig ausgeglichen werden.

Darüber hinaus schlug die politisch wie ideologisch äußerst wechselvolle Entwicklung der fünfziger Jahre im Ostblock auch auf die DDR-Geschichtswissenschaft voll durch. Erinnert sei nur an den 17. Juni 1953, die auf den Tod Stalins folgende kurze „Tauwetter“ -Periode, die weitreichenden Auswirkungen des XX. Parteitages der KPdSU von 1956 sowie die Aufstände in Polen und Ungarn im gleichen Jahr — all das trug nicht gerade zur ideologischen Verfestigung der nach wie vor im Aufbau begriffenen jungen Geschichtswissenschaft bei, sondern beeinträchtigte eine kontinuierliche Weiterentwicklung. Entsprechend sind diese Jahre bis hin zum Mauerbau 1961 von permanenten Eingriffen der SED in personeller und institutioneller Hinsicht gekennzeichnet.

Den Höhepunkt dieser Interventionen stellte die Korrektur der Thesen zum 40. Jahrestag der deut-sehenNovemberrevolution im Jahre 1958 dar, die führende DDR-Historiker eigens ausgearbeitet hatten Ulbricht persönlich kritisierte mit harschen Worten „die falschen Auffassungen über den Charakter der Novemberrevolution der Genossen Historiker“ und bezichtigte sie des Revisionismus Durch diese massive Interpretationskorrektur, die das direkte Eingreifen der Partei in die Geschichtswissenschaft geradezu klassisch darstellte, wurde jedoch zugleich die Konstituierungsphase der jungen DDR-Historiographie abgeschlossen. Denn die seit 1960 immer perfekter gewordene Durchorganisierung der historischen Forschung in der DDR führte schließlich tatsächlich zu einer personellen, institutionellen und nicht zuletzt politisch-ideologischen Konsolidierung.

Überdies wurde dieser Prozeß von entscheidenden Maßnahmen zur Stärkung der institutionellen Autonomie der jungen DDR-Geschichtswissenschaft begleitet: so von dem Bruch mit dem westdeutschen Historiker-Verband auf dem Trierer Historiker-Tag von 1958 mit der gleichzeitigen Gründung eines DDR-eigenen Verbandes im gleichen Jahr, von der Gründung eines Nationalkomitees zwecks Aufnahme in den internationalen Welthistorikerverband 1959 sowie von der durch Kommissionen geschlossenen, immer engeren Anbindung an den Ostblock

Vor dem Hintergrund der von der SED jahrelang geforderten intensiven Auseinandersetzung mit der Geschichte der Arbeiterbewegung hatte aber auch die junge DDR-Geschichtswissenschaft selbst ihr Gesellenstück geliefert: Mit der Fertigstellung der achtbändigen Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung im Jahre 1966 war von ihr die erste geschlossene, eigenständige geschichtswissenschaftliche Forschungsleistung erbracht worden — allerdings unter beträchtlichen Erstellungskosten.

Die überzogene Konzentration auf dieses Forschungsgebiet, die andere historische Themen und Epochen zwangsläufig hintanstellte, aber auch die fast ausschließliche Fixierung auf eine einzige politisch-soziale Bewegung hatte nicht nur das Forschungspotential einseitig beansprucht, so daß der Anschluß an internationale Entwicklungen der Forschungsdiskussion verloren wurde, sie hatte zugleich zu einer weiteren Verstärkung des bereits ausgeprägten selektiven Geschichtsbildes beigetra-gen. Die Lektüre des Werkes mußte den Schluß nahelegen, deutsche Geschichte sei mit der Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung identisch. Die damals aufgewendete hohe Forschungsinvestition hat den Ertrag übrigens nicht gerechtfertigt. Selbst DDR-Historiker geben heute zu, daß das Werk inzwischen völlig veraltet ist; nicht zuletzt deshalb, weil es, wie kürzlich von einem der besten Kenner der Wissenschaftsgeschichte der deutschen Historiographie, Georg G. Iggers bemerkt worden ist, eine Arbeitergeschichte , von oben’ darstellt und hauptsächlich den politischen Organisationsformen und -Strukturen nachgeht, konkrete wirtschafts-und sozialgeschichtliche Bedingungen jedoch weitgehend ausblendet.

Dennoch war mit dem Erscheinen dieses Werkes im Jahre 1966 und der zwei Jahre später erschienenen dreibändigen „Deutschen Geschichte“ die Konstituierungs- und Konsolidierungsphase der jungen DDR-Geschichtswissenschaft, die 1948 begonnen hatte, abgeschlossen. Eine kurze Zwischenbilanz verdeutlicht die für diese Phase charakteristischen Merkmale: Durch massive institutionelle und personelle Eingriffe hatte die SED seit Mitte 1948 Zug um Zug eine marxistisch-leninistische Geschichtswissenschaft geschaffen, deren Abhängigkeit von der Partei allerdings nahezu total war. Diese permanente politisch-ideologische Dominierung und institutionelle Administrierung verhinderte jedoch gerade was das, die SED im eigentlichen Sinne anstrebte, nämlich die Herausbildung einer wissenschaftlich innovativen, marxistisch-leninistischen Historiographie, die in der Lage war, ein überzeugungsfähiges und damit den brennenden politisch-historischen Legitimationsbedarf der DDR erfüllendes Geschichtsbild zu produzieren.

Dem stand nicht nur das selektive Geschichtsbild selbst im Wege, dessen historische Versatzstücke die Partei selbst dekretiert hatte; hier hatten auch die fortwährenden politisch-ideologischen Disziplinierungen und Kontrollmaßnahmen eigene, originäre geschichtswissenschaftliche Forschungsansätze kaum zur Ausbildung kommen lassen. Ein wissenschaftlich kreatives Herangehen an die Geschichte konnte aber erst dann möglich werden, als die bisher bestehenden starren politisch-ideologischen und damit auch historiographischen Barrieren zumindest insoweit flexibel wurden, daß die Historiker in der DDR zwar auf der Grundlage und sicher auch in den Grenzen des Marxismus-Leninismus in die Lage versetzt wurden, ein Theorie-und Methodenpotential, eine, Historik (Jörn Rüsen) zu entwickeln die es ihnen erlaubte, Geschichte nicht bloß gemäß politisch-ideologischer Vorgaben umzusetzen, sondern tatsächlich zu interpretieren. Kurz: Bisher waren nur die zentralen Faktoren 1 und 4, also das Verhältnis zwischen Partei und Geschichtswissenschaft sowie die institutionelle Organisation ihres Wissenschaftssystems gelöst worden, noch nicht aber die Bereiche 2 und 3, d. h. die ideologisch-funktionale Aufgabe und der theoretisch-methodologische Zugriff. Eine Lösung in den beiden letztgenannten Bereichen mußte aber zwangsläufig auch eine Veränderung in den Bereichen 1 und 4 hervorrufen. 3. Damit nähern wir uns einer der interessantesten Phasen der Entwicklung der DDR-Historiographie überhaupt, einer Entwicklung, die sie bis heute bestimmt, die den Übergang von einem selektiven zu einem integralen Geschichtsbild hat möglich werden lassen und die zugleich die Geschichtswissenschaft im anderen deutschen Staat von einem politisch-ideologischen Erfüllungsorgan zu einer Geschichtswissenschaft hat werden lassen, die in den letzten Jahren durchaus originäre Forschungsleistungen erbracht hat.

In diesem Zusammenhang fiel dem VII. Parteitag der SED im Jahre 1967 auf, dem eine massive Bedeutungsaufwertung aller Wissenschaften als leistungssteigernde und zugleich systemstabilisierende wurde, eine Schlüssel Produktivkräfte propagiert -rolle zu. Dies galt sowohl für den ökonomischen Bereich durch die Forderung eines erhöhten wissenschaftlichen Technologie-Schubs als auch für die Gesellschaftswissenschaften im Bereich der ideologischen Festigung. Hier sollte der Geschichtswissenschaft eine zentrale Aufgabe zufallen: Mit der Herausbildung eines fundierten sozialistischen Geschichtsbewußtseins durch die Erstellung eines überzeugenden Geschichtsbildes sollte die Basis eines sozialistischen Staatsbewußtseins geschaffen werden, das die aktive Mitarbeit des DDR-Bürgers beim Aufbau und der Festigung des Gesellschaftssystems der DDR stimulieren sollte. Sozialistischer Bewußtseinsbildung wurde absolute Priorität beigemessen, und zwar nach innen und außen: einmal als unverzichtbares Element eines sozialistischen, hochindustrialisierten Gesellschaftssystems, andererseits in der Funktion der politisch-ideologischen Abwehr und Immunisierung. Die Partei hatte höchst verunsichert auf die deutschland-und ostpolitischen Kursänderungen seit 1966 durch die Große Koalition reagiert und sah mit Sorge die sich abzeichnende krisenhafte Entwicklung in der Tschechoslowakei

Entscheidend wurde nun, daß die nach dem Parteitag sprunghaft ansteigende intensive Diskussion über ein qualifiziertes sozialistisches Geschichtsbewußtsein eine erstaunliche Eigenständigkeit gewann — ein Zeichen dafür, wie sehr es in der DDR daran mangelte —, noch mehr aber eine Richtung nahm, die verstärkt auf das Defizit des bislang bestehenden geschichtswissenschaftlichen Theorie-und Methodenpotentials hinwies. Denn, das wurde in der Diskussion deutlich, die unabdingbare Voraussetzung für die Schaffung eines konkreten sozialistischen Geschichtsbildes, das nicht länger mehr aus ideologischen Leerformeln, selektivierten historischen Versatzstudien und tabuisierten historischen Themen bestehen konnte, lag in der Ausweitung des geschichtswissenschaftlichen Theorie-und Methodenpotentials.

Geschichte mußte ausdeutbar werden, mußte differenziert interpretiert werden können, um plastisch zu sein — oder, wie es die beiden führenden DDR-Historiker Horst Bartel und Walter Schmidt 1972 formulierten: „die Welt historisch erfassen — das ist keine leere Formel, keine abstrakte, des konkreten geschichtlichen Lebens entleerte These; denn das wissenschaftliche Weltbild soll das Handeln der Menschen prägen. Das verlangt eine wirkliche Vorstellung vom Gang der Geschichte in ihren wesentlichen Zügen; dazu gehört, daß man die Geschichte selbst mit all ihren Widersprüchen und Konflikten, mit ihrer Dramatik, mit den Kämpfen, Niederlagen und Siegen der fortschrittlichen Klassen sich angeeignet hat: Das Geschichtsbild besteht nicht aus einer Summe von abstrakten theoretischen Formeln: Zu einem Geschichtsbild gehört die Kenntnis des gesetzmäßigen Entwicklungsprozesses der Gesellschaft in ihrer Konkretheit.“

Diese Aussage war sowohl als zukünftige Zielprojektion wie auch als bisherige Negativ-Bilanz der DDR-Geschichtswissenschaft zutreffend, denn das in der DDR angebotene Geschichtsbild stellte bis zu diesem Zeitpunkt das genaue Gegenteil der hier erhobenen Forderung dar. Die unabdingbare Voraussetzung dafür, den Ausbau des bestehenden theoretischen und methodologischen Instrumentariums voranzubringen, wurde aber nun insbesondere dadurch begünstigt, daß sich in den fünfziger und sechziger Jahren in der Sowjetunion eine breite Diskussion über die Schlüsselkategorie des Historischen Materialismus, den Begriff der Ökonomischen Gesellschaftsformation, entwickelt hatte, deren Tendenz darauf hinauslief, das Prokrustesbett der bekannten Stadienabfolge von der Urgesellschaft, der antiken Sklavenhaltergesellschaft, Feudalismus, Kapitalismus und Sozialismus/Kommunismus zu verlassen und sich durch weitere Auffächerung, Verfeinerung und Präzisierung dieser Grundkategorie größere historiographische Anwendungsmöglichkeiten und damit eine flexiblere interpretatorische Bandbreite zu verschaffen Damit waren zwei unerläßliche Bedingungen für die Entwicklung einer marxistisch-leninistischen „Historik“ geschaffen: Die Geschichtswissenschaft des großen Bruderstaates sicherte durch ihr exemplarisches Vorgehen eine flexiblere Handhabung dieses Grundbegriffes ideologisch ab, gleichzeitig gewann sie durch die Ausweitung dieser Kategorie variablere Anwendungsmöglichkeiten und neue Interpretationsfreiräume.

Überblickt man zusammenfassend die Entwicklung der DDR-Geschichte auf diesem Gebiet seither, so ist der geradezu erstaunliche Vorgang feststellbar, daß die praktische Geschichtsforschung und -darstellung in der DDR häufig nur noch einen relativen Bezug zu dieser Zentralkategorie nimmt, hingegen die davon abweichenden nationalen, politischen, ökonomischen, sozialen, wirtschaftlichen und regionalen Besonderheiten eines historischen Forschungsgegenstandes stark hervorhebt.

Zugleich hat die geschichtstheoretische und -methodologische Entwicklung in der DDR dem Großen Bruder in der Sowjetunion längst den Rang abgelaufen. Es ist keine Frage, daß hier das Niveau in der DDR inzwischen erheblich höher ist und daß ein führender Spezialist auf diesem Sektor, wie z. B. Wolfgang Küttler, inzwischen internationale Anerkennung gefunden hat

Soviel zur einen Seite dieser in der zweiten Hälfte der sechziger Jahre so entscheidenden Entwicklung der DDR-Historiographie. Die andere, nicht minder wichtige Entwicklung lag darin, daß sich das Verhältnis zwischen Partei und Geschichtswissenschaft, der Faktor 1, grundlegend änderte. Denn mit der Einführung des „Rates für Geschichtswissenschaft“ im Jahre 1968 wurde das Prinzip bisheriger Dekretierung politisch-ideologischer Aufgaben der Geschichtswissenschaft durch die Partei abgelöst von einem konsultativen Kommunikationsprozeß. Das war möglich geworden, weil sich nicht-marxistische Historiker inzwischen nicht mehr unter den Historiker befanden, ideologische Abweichungen daher nicht mehr zu befürchten standen, und weil gleichzeitig ein Kader junger, marxistisch-leninistischer Historiker herangewachsen war.

Die Partei räumte der Geschichtswissenschaft qua Fachwissen und -kompetenz jetzt eine größere Selbständigkeit ein, ja machte deutlich, auf das hier vorhandene wissenschaftliche Know how nicht verzichten zu können. Denn wichtiger als die durch den Rat getätigten Leitungs-und Koordinierungsaufgaben ist das Phänomen, daß in diesem Gremium offensichtlich eine recht freimütige Diskussion zwischen den Spitzen der DDR-Historiographie aus den verschiedensten Bereichen und den für die Geschichtswissenschaft eigens zuständigen Wissenschaftssekretären aus dem Zentralkomitee stattfindet. Das läßt sich nicht nur aus den Berichten des Rates ablesen, das ergibt sich auch aus dem Vergleich der dort vorauslaufenden Diskussion spezifischer Forschungsthemen und -ziele und deren nachfolgender Einbringung in den Zentralen Forschungsplan der DDR

Im Gegensatz zu den fünfziger und sechziger Jahren stellt die Geschichtswissenschaft in der DDR deshalb nicht mehr ein bloßes Ausführungs-und Umsetzungsorgan nach Maßgabe der politisch-historischen Zielsetzungen der SED dar, sondern formuliert in einem konsultativen Prozeß mit der Partei eigene, forschungsspezifische Belange und Probleme, kurz: Die Weisung von oben nach unten ist einem diskursiven Kommunikationsprozeß zwischen Partei und Geschichtswissenschaft gewichen, der durchaus auch von unten nach oben verlaufen kann.

Die fachspezifische geschichtswissenschaftliche Interessen-und politisch-ideologische Feinabstimmung scheint dabei in den letzten Jahren immer homogener geworden zu sein, mit positiver Auswirkung auf das Verhältnis zwischen Partei und Geschichtswissenschaft, aber auch für die innerbetriebliche Atmosphäre

Noch ein drittes Moment in diesen für die Entwicklung der DDR-Geschichtswissenschaft so entscheidenden Jahren von 1967 bis 1972 muß festgehalten werden. Denn mit dem Machtwechsel von Ulbricht auf Honecker wurde die endgültige Abkehr von dem bis dahin immer noch existenten „gesamtdeutschen Bezugsrahmen“ (Hans-Dieter Schütte) zugunsten einer internationalistischen Leitlinie vollzogen. Mit der Aufgabe der sogenannten Zwei-Revolutionen-Theorie, einer antifaschistischen in ganz Deutschland nach dem Kriegsende 1945 und einer sozialistischen dann in der SBZ/DDR, deren politisch-ideologische und historiographische Konzeption der Sonderentwicklung der deutschen Geschichte nach 1945 und bis dahin Rechnung getragen hatte, wurde jetzt die „Wesensgleichheit“ der Geschichte der SBZ/DDR mit der Entwicklung der anderen sozialistischen Staaten unter der Führung der Sowjetunion propagiert. Der deutschland-politischen Formel der damaligen sozial-liberalen Koalition: „Zwei Staaten — eine Nation“ setzte Honecker die eigenständige Entwicklung einer sozialistischen Nation in der DDR entgegen.

Mit der Zerschlagung der lästigen Fußfessel gesamtdeutscher Geschichtsverantwortung glaubte die SED, dem von ihr geschaffenen Staat nun die blinkende Krone höheren geschichtlichen Fortschritts gegenüber der Bundesrepublik Deutschland aufsetzen zu können, und mit der Feststellung der Teilung Deutschlands als eines nicht mehr offenen politischen, sondern historisch inzwischen abgeschlossenen Problems war der Weg frei, das Geschichtsbild der sich formierenden sozialistischen Nation in der DDR, wie es hieß, jetzt als „Nationalgeschichte der DDR“ zu konzipieren

III.

Ende 1972 waren damit die entscheidenden Voraussetzungen für die neuen Operationsbedingungen der Geschichtswissenschaft in der DDR geschaffen, die Ausgestaltung eines integralen marxistisch-leninistischen Geschichtsbildes in Angriff zu nehmen. Dies geschah auf dreifache Weise: chronologisch, sozial-strukturell und durch die Intensivierung zeitgeschichtlicher Forschung: 1. Chronologisch insofern, als nach Abschluß dieser entscheidenden Umbruchphase etwa Ende 1974 Zug um Zug jetzt die gesamte deutsche Geschichte seit der Entstehung des deutschen Volkes als ethnische Einheit bis in die Zeit der Urgesellschaft zurückverfolgt und als Forschungsgebiet der DDR-Geschichtswissenschaft betrachtet wird. Damit werden sowohl die historisch als auch geschichtswissenschaftlich unsinnigen Lücken zwischen einzelnen, bisher favorisierten Forschungsthemen, wie z. B. zwischen sogenannter „Frühbürgerlicher“ und Französischer Revolution, zwischen denen immerhin ein zeitlicher Abstand von 250 Jahren liegt, gefüllt sowie selbstgeschaffene Erklärungssachzwänge ausgemerzt. 2. Sozial-strukturell — ein Entwicklungstrend, der häufig übersehen wird — insofern, als nun auch diejenigen Klassen und Schichten des deutschen Volkes erfaßt werden, die bisher kaum — und wenn, dann überwiegend negativ — ins Blickfeld der DDR-Historiographie gerieten, nämlich die nach marxistisch-leninistischem Verständnis herrschenden, ausbeutenden oder an der Macht partizipierenden Klassen und Schichten in vorsozialistischen ökonomischen Gesellschaftsformationen.

Das läßt sich an dem unverfänglichen Beispiel der Forschungsgeschichte der Revolution von 1848/49 in der DDR demonstrieren, die ja schon vor der DDR-Staatsgründung als progressives Versatzstück deutscher Geschichte zu den Forschungsschwerpunkten der jungen Historiographie gehört hatte. Denn wie ein selbstkritischer Forschungsbericht vor einigen Jahren vermerkte, sei man nach einer fast ausschließlichen Konzentrierung auf die Arbeiterklasse, Marx und Engels und den Bund der Kommunisten in den sechziger Jahren auf die intensive Erforschung des liberalen Bürgertums, den eigentlichen Träger der Revolution, in den siebziger Jahren übergegangen; man müsse aber jetzt, wo die Erforschung der Arbeiterklasse und der Bourgeoisie im wesentlichen abgeschlossen sei, zur Erforschung des Adels in den achtziger Jahren übergehen: „Die Rolle des hohen und niederen Adels und speziell des Junkertums im Prozeß der bürgerlichen Umwälzung in Deutschland, wie es hieß, wurde nämlich bisher kaum untersucht.“

Dieser faktische geschichtswissenschaftliche Erkenntnisfortschritt und die daraus resultierende Ausdifferenzierung des Geschichtsbildes gilt auch für andere Forschungsbereiche, für die Wirtschaftsgeschichte, insbesondere die Agrargeschichtsschreibung im 19. Jahrhundert, und die bemerkenswerten Arbeiten auf dem Gebiet empirischer Sozialgeschichtsschreibung im Bereich der Volkskunde und der von Jürgen Kuczynski in Gang gesetzten Alltagsgeschichtsschreibung 3. Zeitgeschichtlich insofern, als seit Mitte der siebziger Jahre der Beginn einer forcierten Zeitgeschichtsforschung in der DDR zu beobachten ist, die insbesondere seit dem Machtwechsel von 1971 intensiviert wurde und in den letzten Jahren einen vorläufigen Höhepunkt erreichte. Diese Zeitgeschichtsforschung hat sich nach einer anfänglichen Konzentration auf die unmittelbare Nachkriegszeit und die Entstehungsphase der DDR 1945 — 1949 zunehmend auf die DDR-Geschichte selbst verlegt und dürfte inzwischen ca. 40% der gesamten historischen Forschung im anderen deutschen Staat ausmachen. Nach wie vor wohnt ihr, im Vergleich zu anderen geschichtswissenschaftlichen Forschungsthemen und -bereichen, eine besondere legitimatorische Funktion inne; der stark apologetische und nicht selten lobrednerische Ton der früheren Jahre hat sich jedoch in jüngster Zeit erheblich abgeschwächt. Der unmittelbare politik-und zeithistorische Bezug, das Navigieren in der Nähe des Magnetberges, ist anscheinend kein Grund mehr für vorsichtig taktierende Zurückhaltung, wie das noch unlängst der Fall war; Auffassungsunterschiede und daraus resultierender Meinungsstreit werden in der Zeitgeschichtsschreibung inzwischen offen ausgetragen

Zugleich ist das Bemühen unverkennbar, durch verstärkten Rückgriff auf authentisches zeithistorisches Quellenmaterial die DDR-Zeitgeschichts-Schreibung selbst qualitativ zu verbessern Augenscheinlich wird versucht, hier bis an die Grenzen des politisch Möglichen und zeitgeschichtlich Darstellbaren zu gehen. Diese für uns schwer einsehbaren Barrieren haben die Zeitgeschichtsforschung in der DDR zweifellos noch nicht den wissenschaftlichen Standard erreichen lassen, der etwa bereits auf dem Gebiet der Geschichtstheorie und -methodologie sowie einzelnen Bereichen der Wirtschafts-und Sozialgeschichte erzielt worden ist. Ihr hoher funktionaler Stellenwert kann jedoch schon deshalb kaum unterschätzt werden, soll sie doch die DDR aus ihrer eigenen Vorgeschichte und

Geschichte, d. h. aus sich selbst heraus, legitimieren, zumal die DDR-Geschichte nach marxistischleninistischem Verständnis selbst den bisher höchsten Entwicklungsstand deutscher Geschichte darstellt. Sie muß gemäß diesem Verständnis die DDR geradezu legitimieren, weil in ihr — im Gegensatz zur Bundesrepublik — die Klassenfrage angeblich erstmals gelöst worden ist Hinter dieser mehr und mehr zum bisherigen Höhepunkt deutscher Geschichte stilisierten DDR-Geschichte steht die deutlich erkennbare politische Zielprojektion der SED, die DDR von einer „Nation an sich“ zu einer „Nation für sich selbst“ werden zu lassen.

IV.

Erst vor diesem Hintergrund gewinnt die seit einigen Jahren laufende Diskussion um „Erbe und Tradition“ im anderen deutschen Staat ihren eigentlichen Stellenwert, macht die Einordnung der DDR-Geschichte als „wichtigster Zeitabschnitt der deutschen Geschichte“ überhaupt Sinn: Denn „unter Erbe wird die Gesamtheit des in der Geschichte Existierenden, im Laufe der Geschichte Hervorgebrachten, verstanden“. Dieses Erbe ist objektiv gegeben, „wir haben auf seine Beschaffenheit keinen Einfluß“. Mit anderen Worten, die DDR stellt sich jetzt im Unterschied zu früher der gesamten Geschichte; geschichtswissenschaftlich bedingt das den jetzigen integralen Ansatz der DDR-Historiographie. „Im Unterschied zum , Erbe an sich wird unter Traditionen das , Erbe für uns verstanden, d. h. das von uns angeeignete oder anzueignende, bewahrte oder zu pflegende Erbe, das eben in den Rang einer historischen Tradition erhoben wird.“

Entscheidend ist nun, wie betont wird, daß aus diesem Erbe der gesamten deutschen Geschichte „die Traditionen des nunmehr fast 150jährigen Kampfes der revolutionären deutschen Arbeiterbewegung, die Geschichte der DDR eingeschlossen, das Kernstück unserer Traditionen waren, sind und bleiben. Die DDR ist vor allem und im unmittelbarsten Sinn Ergebnis und Krönung des Kampfes der revolutionären deutschen Arbeiterbewegung.“

Dies bildet, wenn der banale Vergleich erlaubt ist, den Zwiebelkern und die inneren Häute. Mit der weiteren Unterscheidung zwischen revolutionär-demokratischem Erbe, wozu z. B.der Bauernkrieg und Thomas Müntzer gehören, dem humanistischen und anderem progressiven Erbe sowie schließlich dem positiven Erbe herrschender Ausbeuterklassen werden sozusagen die äußeren Zwiebelringe des spezifischen DDR-Geschichtsbildes und seine weitere Ausgestaltung definiert -Es ist keine Frage, daß das in dieser Weise erstellte Geschichtsbild im anderen deutschen Staat in Zukunft nahezu alles zu integrieren vermag, was jemals in der deutschen Geschichte existierte.

V.

1. Die Entwicklung der Geschichtswissenschaft in der DDR muß somit in drei Phasen eingeteilt „periodisiert", werden:

a) in eine Übergangsphase zwischen 1945 und 1948/49;

b) in eine Konstituieningsphase als marxistisch-leninistische Geschichtswissenschaft in den fünfziger und eine Konsolidierimgsphase in den sechziger Jahren, wobei sich aber in beiden Zeitabschnitten die Rahmenbedingungen nicht veränderten;

c) schließlich in eine seit Beginn der siebziger Jahre einsetzende Verwissenschaftlichiingsphase, deren besonderes Kennzeichen ein dialogisches Verhältnis zur Partei sowie bemerkenswert erweiterte theoretische und methodologische Freiräume darstellen.

Der Entwicklungsprozeß der Geschichtswissenschaft in der DDR ist dabei durchweg von der SED initiiert, gefördert und kontrolliert worden; dennoch ist auch dieses spezifische Verhältnis zwischen SED und Geschichtswissenschaft einem Wandel unterlegen. Plakativ formuliert, ist der harte, stalinistische Zugriff der Partei einer flexibleren, gleichwohl permanenten leninistischen Kontrolle gewichen, hat dadurch aber die DDR-Geschichtswissenschaft zu Marx als dem immer noch originellsten historischen Denker des Marxismus-Leninismus selbst zurückfinden lassen. 2. In einem fast 40 Jahre währenden Prozeß hat die Geschichtswissenschaft in der DDR von einem selektiven zu einem integralen Geschichtsbild gefunden, dessen historischer und argumentativer Begründungszusammenhang wesentlich fundierter geworden ist. Die Ausweitung dieses Geschichtsbildes vollzog sich dabei in „diachronischer“ und „synchronischer“ Hinsicht: „diachronisch“, indem nun der gesamte Verlauf der Geschichte, bis in die Urzeit zurückverlängert. Forschungs-und Darstellungsgegenstand geworden ist; „synchronisch“, indem nun alle am historischen Prozeß beteiligten sozialen Schichten erfaßt werden, und nicht nur einzelne favorisierte Klassen.

3. Die Ausweitung des gesamten historischen Forschungsfeldes sowie die Implementierung und Verfeinerung des theoretischen und methodologischen Zugriffs hat die Geschichtswissenschaft in der DDR, insbesondere in den letzten Jahren, bemerkenswerte historiographische Forschungsleistungen erbringen lassen. Die Übernahme anglo-amerikanischer und französischer Forschungsansätze, die diesen Prozeß gefördert hat, ist dabei hauptsächlich über die Rezeption bundesdeutscher Geschichtswissenschaft vollzogen worden, sozusagen durch eine Art innerdeutschen geschichtswissenschaftlichen , Swift 2. Nicht allein durch den gemeinsamen Forschungsgegenstand, sondern auch durch diese permanente Perzeption und Rezeption sind beide deutsche Geschichtswissenschaften nach wie vor eng verbunden. Wie oben bereits erwähnt, stellen Bereiche der Alltags-und Sozialgeschichte, der Agrargeschichte und die gelungene Verbindung von Volkskunde und Wirtschaftsgeschichte heute durchaus international beachtete Ressorts geschichtswissenschaftlicher Forschung der DDR dar.

4. Das Geschichtsbild in der DDR hat dadurch zweifellos an Konturen gewonnen, ist differenzierter und nuancenreicher geworden. Dennoch scheint die tatsächliche Rezeption dieses Geschichtsbildes, d. h.seine Umsetzung beim DDR-Bürger selbst, nach wie vor unzureichend. Hier wirkt sicherlich die aus der marxistisch-leninistischen Ideologie herkommende hohe begriffliche Abstraktheit als natürliche, mentale Barriere, mehr aber wohl noch, daß der hohe Anspruch auf politische und historische Führung in Geschichte und Gegenwart Deutschlands nach dem Zweiten Weltkrieg im eigenen Staat gesellschaftspolitisch und ökonomisch nach wie vor nur unzureichend eingelöst wird.

VI.

Vor einiger Zeit sind Historiker aus der Bundesrepublik Deutschland an geschichtsträchtigem Ort — im Berliner Reichstagsgebäude in unmittelbarer Nähe zur Mauer — der Frage nachgegangen, wem die deutsche Geschichte eigentlich gehöre. Selbst wenn man in Rechnung stellt, daß die schwere Hypothek deutscher Vergangenheit solche Fragestellung nahelegen mag, läßt sich am Sinn dieser Frage durchaus zweifeln, ist es doch ebenso fraglich, ob es überhaupt einen Besitzanspruch auf Geschichte gibt.

Noch mehr Zweifel müssen aber aufkommen, ob mit solcher Fragestellung nicht der politischen Abgrenzungsstrategie der SED und dem historiographischen Alleinvertretungsanspruch der DDR-Geschichtswissenschaft zugearbeitet wird. Denn die Antwort, die im anderen deutschen Staat darauf gegeben wird, ist eindeutig: Die deutsche Geschichte gehört ihr, weil Staat und Gesellschaftssystem der DDR den höchsten politisch-historischen Entwicklungsstand verkörpern, der jemals in der deutschen Geschichte erreicht wurde. So ein-deutig diese Antwort nun auch sein mag, so falsch ist sie zugleich. Denn wem sollte die deutsche Geschichte gehören, wenn nicht den Deutschen selbst, d. h. allen Deutschen in beiden deutschen Staaten. So wenig wie die deutsche Vergangenheit teilbar ist, so wenig läßt sich die Zukunft deutscher Geschichte auseinanderdividieren, auch wenn deutsche Gegenwart sich z. Z. in zwei deutschen Staaten und zwei unterschiedlichen Gesellschaftssystemen vollzieht.

Pragmatisches Verhalten in politischer wie wissenschaftlicher Hinsicht tut deshalb not. Zwar können wir die DDR nicht daran hindern, die Erforschung der eigenen Zeitgeschichte nach 1945 als eigenständige historische Disziplin zu definieren, die Erforschung der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland hingegen bewußt der allgemeinen Weltgeschichte und damit der allgemeinen historischen Forschung zuzuordnen. Aber unnötige Fehler auf diesem Gebiet könnten durchaus dadurch vermieden werden, wenn hierzulande z. B. zeithistorische Forschungsarbeiten zur Entwicklung der SBZ/DDR. insbesondere im universitären Bereich, stärker gefördert würden. Im gegenwärtigen Boom der Zeitgeschichtsforschung in der Bundesrepublik ist leider die 'Tendenz unverkennbar, sich zunehmend mit der Geschichte der westlichen Besatzungszonen und der späteren Bundesrepublik Deutschland auseinanderzusetzen — und dabei die Geschichte der SBZ/DDR aus dem Blick zu verlieren

Es besteht auf unserer Seite überhaupt kein Anlaß, ein integrales Geschichtsbild über Bord zu werfen, wenn man in der DDR eben erst zu einem integralen Geschichtsverständnis gelangt ist. Ebenso sollte man sich nicht länger vom „Doppelcharakter“ der DDR-Geschichtswissenschaft als „politische Historiographie und zugleich erkenntnisaufschließende Wissenschaft“ aus dem nie ein Hehl gemacht wurde, beeinflussen oder gar abschrecken lassen. Vielmehr besteht gerade eine politische und geschichtswissenschaftliche Notwendigkeit darin, sich mit der Geschichtsschreibung in der DDR intensiv auseinanderzusetzen: einmal, um dem politisch-historischen Alleinvertretungsanspruch entgegenzuwirken, zum anderen, um den wissenschaftlichen Disput mit ihr zu suchen. Angesichts der schwierigen deutschen Geschichte steht auch die DDR vor dem Problem, begründete geschichtswissenschaftliche Antworten finden zu müssen.

Der offensichtliche Qualitätssprung der marxistisch-leninistischen Historiographie im anderen deutschen Staat kann dieser Diskussion nur förderlich sein. Ihr differenzierter gewordenes Geschichtsbild trägt vielmehr, so paradox es vielleicht klingen mag, zu einem pluralistischen Geschichtsverständnis in Deutschland bei. Auf dieses Angebot sollte deshalb nicht ohne Not verzichtet werden. Die Teilung Deutschlands legt sich nicht wie ein lähmender Schatten über die deutsche Geschichte, die je nach politischen oder historiographischen Zielsetzungen den einen oder anderen Teil beliebig verdunkelt. Sie stellt vielmehr permanenten Anstoß für eine produktive Spannung in politischer wie in geschichtswissenschaftlicher Hinsicht dar, und sie ist fortwährend bohrender Anlaß zu individueller Selbstverortung zugleich.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. zur kaum mehr überschaubaren Literaturfülle, die das „Nachdenken über Deutschland“ hinsichtlich der Deutschen Frage, der Deutschlandpolitik, des Problems deutscher Identität und deutscher Geschichte in den letzten Jahren hervorgebracht hat, den umfassenden und ausgewogenen Beitrag von Jürgen C. Heß, Westdeutsche Suche nach nationaler Identität, in: Die Deutsche Frage in der Weltpolitik, hrsgg. von Wolfgang Michalka (=Neue Politische Literatur, Beiheft 3), Stuttgart 1986, S. 9— 50.

  2. Karl Dietrich Erdmann, Die Nation im geteilten Deutschland, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht, 28 (1977) 12, S. 749.

  3. Vgl. u. a. die Arbeiten von Frank Reuter, Geschichtsbewußtsein in der DDR. Programm und Aktion, Köln 1973; Josef Foschepoth, Reformation und Bauernkrieg im Geschichtsbild der DDR. Zur Methodologie eines gewandelten Geschichtsverständnisses, Berlin 1976; Christina von Buxhoeveden, Geschichtswissenschaft und Politik in der DDR. Das Problem der Periodisierung, Köln 1980: Günther Heydemann. Geschichtswissenschaft im geteilten Deutschland. Entwicklungsgeschichte. Organisationsstruktur. Funktionen. Theorie-und Methodenprobleme in der Bundesrepublik Deutschland und der DDR, Frankfurt u. a. 1980; Johannes Schradi, Die DDR-Geschichtswissenschaft und das bürgerliche Erbe. Das deutsche Bürgertum und die Revolution von 1848 im sozialistischen Geschichtsverständnis. Frankfurt u. a. 1984; Hans-Dieter Schütte, Zeitgeschichte und Politik. Deutschland-und blockpolitische Perspektiven der SED in den Konzeptionen marxistisch-leninistischer Zeitgeschichte, Bonn 1985.

  4. Zur Diskussion der bisherigen westdeutschen Periodisierungsversuche der DDR-Geschichtswissenschaft insgesamt sowie seine für die Zeitgeschichtsforschung in der DDR zutreffende Periodisierung vgl. Schütte (Anm. 3), S. 33 ff.

  5. Vgl. zu dieser frühen Phase aus westdeutscher Sicht Alexander Fischer, Neubeginn in der Geschichtswissenschaft. Zum Verhältnis von . bürgerlichen* und marxistischen Historikern in der SBZ/DDR nach 1945, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht, 31 (1980) 3, S. 149 — 158; sowie Günther Heydemann, Zwischen Diskussion und Konfrontation — Der Neubeginn deutscher Geschichtswissenschaft in der SBZ/DDR 1945— 1950, in: Christoph Cobet (Hrsg.), Einführung in Fragen an die Geschichtswissenschaft in Deutschland nach Hitler 1945 — 1950 (= Handbuch der Geistesgeschichte in Deutschland nach Hitler 1945 — 1950; Reihe: Geschichte, Beihefte), Frankfurt 1986, S. 12— 29.

  6. Vgl. hierzu den Stimmung und Atmosphäre unter den Mitgliedern der KPD im Exil gut wiedergebenden Aufsatz von Werner Berthold, Zum Kampf der Führung der KPD gegen die faschistische Geschichtsideologie und die Misere-konzeption in der deutschen Geschichte 1939 bis 1945, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft, 17 (1969) 6, S. 689 ff.

  7. Ernst Diehl/Rolf Dlubek, Die Historiker der Deutschen Demokratischen Republik vor neuen großen Aufgaben, in: Einheit, 10 (1955) 9, S. 883.

  8. Vgl. Dokumente der SED, Bd. III, S. 581 f.

  9. Leo Stern, Gegenwartsaufgaben der deutschen Geschichtsforschung, in: Wissenschaftliche Zeitschrift der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg. Gesellschaftsund sprachwissenschaftliche Reihe Nr. 1, 1 (1951/52) 3, S. 1-17.

  10. Abgedruckt bei Jürgen von Hehn, Die Sowjetisierung des Geschichtsbildes in Mitteldeutschland, in: Europa-Archiv, 19 (1954), S. 6938.

  11. Vgl. Stern (Anm. 9), S. 15; passim dort auch die explizite Auseinandersetzung mit der sogenannten bürgerlichen Geschichtswissenschaft in dieser Zeit.

  12. Umfassende Darstellung dieses Vorgangs bei Schütte (Anm. 3), S. 119— 131, wobei ich im Unterschied zu Schütte die Intervention seitens der SED und insbesondere Ulbrichts für schwerwiegender und von nachhaltigerem Einfluß für die weitere Entwicklung der DDR-Historiographie einschätze.

  13. So Walter Ulbricht, Begründung der Thesen über die Novemberrevolution, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft, 6 (1958), Sonderheft, S. 28— 54 passim.

  14. Vgl. Albrecht Timm, Das Fach Geschichte in Forschung und Lehre in der Sowjetischen Besatzungszone seit 1945, Bonn-Berlin 1961, S. 55 ff.

  15. Ich danke Georg G. Iggers für die Einsichtnahme in sein Vortragsmanuskript „Einige Aspekte neuer Arbeiten in der DDR über die neuere deutsche Geschichte“.

  16. Jörn Rüsen hat den von Droysen stammenden Begriff völlig zu Recht wieder in die geschichtstheoretische Diskussion eingebracht; vgl. auch dessen grundlegende Überlegungen zu Inhalt und Funktion der „Historik“ für die Geschichtswissenschaft in der DDR in dem mir im Manuskript vorliegenden Aufsatz, für den ich Jörn Rüsen danke: Jörn Rüsen/Zdenek Vasicek, Geschichtswissenschaft zwischen Ideologie und Fachlichkeit. Zur Entwicklung der Historik in der DDR.

  17. Vgl. zu dieser Phase Günther Heydemann, Der Theorie-Boom in der marxistisch-leninistischen Geschichtswissenschaft der DDR seit 1967. Ursachen — Entwicklung — Perspektiven, in: Deutschland-Archiv, 13 (1980).

  18. Horst Bartel/Walter Schmidt, Neue Probleme der Geschichtswissenschaft in der DDR. Zur bisherigen Auswertung des VIII. Parteitages der SED durch die Historiker, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft, 20 (1972) 7, S. 810.

  19. Vgl. zu diesem Problemkomplex insgesamt Klaus Naumann, Ökonomische Gesellschaftsformation und historische Formationsanalyse (= Pahl-Rugenstein-Hochschulschriften 146), Köln 1983, dessen Arbeit zu den genannten Monographien (s. Anm. 3) zu zählen ist.

  20. Vgl. z. B.dessen Beitrag (zus. mit Gerhard Lozek) „Der Klassenbegriff im Marxismus und in der idealtypischen Methode Max Webers“ zur Max Weber-Sektion auf dem Internationalen Historikertag 1985 in Stuttgart, jetzt abgedruckt bei Jürgen Kocka (Hrsg.), Max Weber, der Historiker (= Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft 73), Göttingen 1986, S. 173-192.

  21. Siehe die jeweils in der Zeitschrift für Geschichtswissenschaft abgedruckten Sitzungsberichte des Rats für Geschichtswissenschaft sowie die in der Zeitschrift „Einheit“ alle fünf Jahre publizierten Zentralen Forschungspläne.

  22. Dabei ist nicht zu verkennen, daß es selbstverständlich durchaus unterschiedliche Positionen zwischen den DDR-Historikern selbst gibt; immerhin lassen sich, mit aller gebotener Vorsicht, zwei Grundrichtungen unterscheiden: eine stärker dogmatisch orientierte, um das Institut für Marxismus-Leninismus und die Redaktion der Beiträge zur Geschichte der Arbeiterbewegung etwa gruppierte Richtung sowie politisch-ideologisch flexiblere Historiker etwa in der Akademie der Wissenschaften und in einigen Hochschulinstituten; dies korrespondiert zugleich mit jeweils unterschiedlicher Bereitschaft zu neuen Forschungsansätzen und -methoden.

  23. Eine umfassende Darstellung dieser entscheidenden Umbruchphase findet sich nach dem richtungweisenden Aufsatz von Ulrich Neuhäußer-Wespy, Die SED und die Historie. Probleme und Aspekte der gegenwärtigen Umorientierung der Geschichtswissenschaft der DDR, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 41/76, S. 30ff., jetzt bei Schütte (Anm. 3), S. 87ff.

  24. So Siegfried Schmidt, Junkertum und Genesis des deutschen Konservativismus im 19. Jahrhundert, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft, 27 (1979) 11, S. 1058.

  25. Beispiele als pars pro toto: Hainer Plaul, Landarbeiterleben im 19. Jahrhundert, Berlin (Ost) 1979, oder Rudolf Weinhold (Hrsg.), Volksleben zwischen Zunft und Fabrik, Berlin (Ost) 1982.

  26. Vgl. Siegfried Prokop, Der sozialistische Aufbau im Vorfeld des V. Parteitages der SED (1956 bis 1958), in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft, 32 (1984) 9, S. 765 ff.; dazu die Erwiderung von Günter Moschner, Die Jahre 1956 bis 1958 in unserem Geschichtsbild. Bemerkungen zu einem Beitrag von Siegfried Prokop, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft, 33 (1985) 11, S. 1008ff.; sowie die Entgegnung Siegfried Prokops darauf (ders.), Probleme der Geschichte der DDR 1956 bis 1958. Anmerkungen zu Günter Moschners Diskussionsbeitrag, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft, 34 (1986) 9, S. 815 ff.

  27. Vgl. etwa die kritischen Anmerkungen zum Stand der DDR-Zeitgeschichtsforschung in der Einleitung des Bandes von Siegfried Prokop, Übergang zum Sozialismus in der DDR. Entwicklungslinien und Probleme der Geschichte der DDR in der Endphase der Übergangsperiode vom Kapitalismus zum Sozialismus und beim umfassenden sozialistischen Aufbau (1958— 1963), Berlin (Ost) 1986. S. 20ff. Daß neben „strukturgeschichtlichen“ Frage-und Darstellungen in der Zeitgeschichte zunehmend Themenbereiche des „Überbaus" in Angriff genommen werden, zeigen die Beiträge in: Geistig-kulturelle Beziehungen und Prozesse in der Periode der antifaschistisch-demokratischen Umwälzung zur Soziologie des Neubeginns nach dem Zweiten Weltkrieg in der sowjetischen Besatzungszone Deutschlands, hrsgg. vom Institut für Soziologie und Sozialpolitik an der Akademie der Wissenschaften der DDR, Wissenschaftsbereich Theorie/Geschichte, Berlin (Ost) 1986.

  28. Vgl. Bericht des Zentralkomitees an den VIII. Parteitag der SED. Berichterstatter: Genosse Erich Honecker, in: Deutschland-Archiv, 4 (1971), S. 762 und passim.

  29. So bereits im Titel des Aufsatzes von Heinz Heitzer, Die Geschichte der DDR — wichtigster Zeitabschnitt der deutschen Geschichte, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft, 32 (1984) 5. S. 387-394.

  30. Alle Zitate ebenda, S. 388.

  31. Ebenda. S. 389. Zur Erbe-und Traditionsdiskussion in der DDR-Geschichtsschreibung siehe auch Walter Schmidt, Zur Entwicklung des Erbe-und Traditionsverständnisses in der Geschichtsschreibung der DDR, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft, 33 (1985) 3. S. 195— 212.

  32. Vgl. z. B. an Hand der fortlaufenden Bibliographie der Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte die Zahl historischer Arbeiten zur Geschichte der westlichen Besatzungszonen und der Bundesrepublik Deutschland im Vergleich zu Arbeiten zur Geschichte der SBZ und DDR.

  33. Schradi (Anm. 3), S. 267.

Weitere Inhalte

Günther Heydemann, Dr. phil., geb. 1950; Studium der Geschichte, Germanistik, Sozialkunde und des Italienischen in Erlangen, Bonn und Florenz; wiss. Mitarbeiter am Institut für Gesellschaft und Wissenschaft an der Universität Erlangen-Nürnberg 1977— 1980; wiss. Assistent am Institut für Osteuropäische Geschichte und Zeitgeschichte der Universität Erlangen-Nürnberg 1980— 1982 sowie 1982— 1985 am Lehrstuhl für Neuere und Neueste Geschichte der Universität Bayreuth; seit Ende 1985 wiss. Mitarbeiter am Deutschen Historischen Institut London. Veröffentlichungen u. a.: (zus. mit F. Grießbach), Walter Flex. Aus dem Nachlaß. Eine Dokumentation Heusenstamm 1978; Geschichtswissenschaft im geteilten Deutschland, Frankfurt a. M. /Bern 1980 (ausgezeichnet mit dem Ernst-Richert-Preis für DDR-und vergleichende Deutschland-Forschung 1980); Carl Ludwig Sand — Die Tat als Attentat, Hof 1985.