I. Wie weit geht das „neue Denken“ in der DDR?
Seit drei Jahren ist in Reden führender DDR-Poliiker und in Aufsätzen von Gesellschaftswissenschaftlern der DDR (wie auch der UdSSR) von der Notwendigkeit eines neuen Denkens im Atomzeitalter die Rede. „Das pränukleare Denken hat seine Bedeutung im wesentlichen am 6. August 1945 veroren“, stellte Michail Gorbatschow in einer Rede m sowjetischen Fernsehen am 18. August 1986 fest Erich Honecker unterstrich auf dem XI. Parteitag der SED: „Erforderlich ist der ernstafte Wille, nicht in den Denkschablonen der Konfrontation und des Strebens nach militärischer Überlegenheit zu verharren, sondern auf neue Weise an die Dinge heranzugehen, neue Formen und Verfahren in den Beziehungen zwischen den verschiedenen sozialen Systemen, Staaten und Regionen zu finden.“
Gorbatschow hatte bereits in seiner Pariser Rede vom Oktober 1985 betont: „Es ist eine ganz neue Situation, die einen Bruch mit den Traditionen, mit der Denk-und Handlungsweise bedeutet, die sich in Jahrhunderten, ja Jahrtausenden herausgebildet haben. Das menschliche Denken braucht Zeit, um sich allem Neuen anzupassen. Das trifft auf alle zu. Wir spüren das, wir haben begonnen, umzudenken, viele gewohnte Sachen, darunter auf militärischem und natürlich auf politischem Gebiet, voll mit den neuen Realitäten in Einklang zu bringen. Wir möchten, daß ein solches Umdenken auch in Westeuropa und außerhalb seiner Grenzen einsetzt . . ,“ 3).
Wie soll das „neue Denken“ aussehen und welche Änderungen sind damit im Marxismus-Leninismus verbunden? Gibt es bereits Ansätze für eine „neue Praxis“ als Folge des „neuen Denkens“? Warum wird zum „neuen Denken“ im Atomzeitalter erst heute aufgefordert und nicht schon viel früher, denn das atomare Zeitalter hat ja nicht erst seit kurzem begonnen? Wie zeigt sich das „neue Denken“ im Politisch-Konzeptionellen sowie im Militär-Strategischen? Was bedeutet das „neue Denken“ für die intersystemaren Beziehungen, also zwischen Ost und West und im deutsch-deutschen Verhältnis? Im einzelnen würde man ferner weiter fragen, was das erklärte „neue Denken“ bedeutet für die friedliche Koexistenz, die als spezifische Form des Klassenkampfes in der außenpolitischen Doktrin der kommunistischen Staaten vertreten wird. Gibt es hier eine neue Entwicklung in der Frage des „gerechten Krieges“? Was bedeutet das „neue Denken“ schließlich für die Darstellung des politischen Systemgegners (Feindbild, Bedrohung u. a.)?
Dies sind einige Fragen, auf die im folgenden eine Antwort gesucht werden soll, und zwar mit Hilfe von entsprechenden Redetexten wie auch der einschlägigen Literatur aus der DDR Es soll so etwas wie eine erste Zwischenbilanz gezogen werden, um festzustellen, wie das „neue Denken“ begründet wird, welche Haupterkenntnisse aus der bisherigen Debatte zu ziehen sind und welche Anknüpfungspunkte sich für uns daraus ergeben.
Obgleich seit etwa 1983/84 mit zunehmender Intensität und Detailliertheit in Artikeln und Reden in der DDR für ein „neues Denken“ und ein „neues Herangehen“ an die internationale Politik geworben wird, finden diese Bemühungen bei uns nur spärliche Resonanz — sowohl in der Wissenschaft wie in der Politik Läßt sich daraus schließen, daß diese Debatte in der DDR bei uns nicht ganz so ernst genommen wird? Möglicherweise hängt die spärliche Resonanz auch damit zusammen, daß sich das Neue am „neuen Denken“ analytisch nicht sofort erschließt und politisch nicht klar wird, was dies etwa im Verhältnis der DDR zur Bundesrepublik bedeutet.
Um das Neue am „neuen Denken“ festzustellen, gibt es methodisch zwei Wege: Das Neue könnte aus der Konfrontation mit den Erfordernissen unserer Zeit gewonnen werden. Weiter könnte so verfahren werden, daß Aussagen von heute denen von vor zehn oder fünfzehn Jahren konfrontiert werden, um auf diesem Weg Veränderungen festzustellen und zu sagen, was neu im Sinne von veränderten Positionen ist. Im folgenden soll jedoch nicht alternativ, sondern additiv vorgegangen, d. h. die Vorzüge beider Wege sollen angewandt werden.
Diese Veränderungen im konzeptionellen wie praktischen Denken und Verhalten gilt es im folgenden darzustellen und zu analysieren sowie auf ihre Wirkungen etwa auch auf die deutsch-deutschen Beziehungen zu untersuchen. Die Analyse versteht sich dabei weniger als Teil der DDR-Forschung, sondern mehr als angewandte Friedensforschung, d. h. es wird der Versuch gemacht, auf dem Wege der Empathie (nicht gleichzusetzen mit Sympathie) nach Ansatzpunkten für verbesserte Ost-West-Beziehungen im allgemeinen und fruchtbareren deutsch-deutschen Beziehungen im besonderen zu suchen. In der Friedensforschung versteht man unter Empathie das Bemühen und die Fähigkeit, sich in die Lage des anderen hineinzuversetzen, um so dessen Motive und Überlegungen besser zu verstehen
II. Sicherheitspolitischer Hintergrund für das Entstehen eines neuen Denkens
Die Forderung nach „neuem Denken“ kam zu einer Zeit auf, die durch folgende Sachverhalte bzw. Entwicklungen gekennzeichnet war und ist: 1. Die Erfahrungen der siebziger Jahre — besonders bei den SALT-Verhandlungen — hatten gezeigt, daß es kaum möglich war, die qualitative Rüstungsdynamik zu begrenzen. Egon Bahr folgerte daraus 1982 zu Recht: „Die Entwicklung neuer Waffensysteme wächst schneller als die Fähigkeit, sie zu begrenzen.“ Durch neue Rüstungstechnologien drohten neue Instabilitäten, vor allem da die Zielgenauigkeit der Systeme weiter verbessert wurde. Hinzu kam die Ausdehnung der Aufrüstungsprozesse auch in den Weltraum, wo neuartige Raketen-und Satellitenabwehrsysteme disloziert werden sollen, was ebenfalls äußerst instabil wirken kann.
2. Die zweite wesentliche Erfahrung war, daß die Rüstungen unterhalb der strategischen Ebene überhaupt nicht begrenzt worden waren, die Rüstungsdynamik aber gerade auch in diesem Bereich fortgesetzt wurde, was die Diskussion um den Doppelbeschluß der NATO vom Dezember 1979 entfachte. 3. Daraus folgt, daß Rüstungssteuerungsverhandlungen in den achtziger Jahren vor umfangreichen Problemen stehen: Sie müssen ein Waffenspektrum umfassen, das von den möglichen Raketenabwehr-Systemenüber die strategischen Systeme und die weitreichenden Mittelstreckensysteme bis hin zu Systemen kürzerer Reichweite reicht. Dies wirft vor allem Probleme der Zählkriterien auf. Hinzu kommt, daß bei einzelnen Systemen, wie etwa den Marschflugkörpern, aber auch einigen ballistischen Systemen der Sowjetunion, nicht einmal zwischen einer nuklearen, einer chemischen oder einer konventionellen Armierung unterschieden werden kann. 4. Zu diesen Problemen der Rüstungssteuerung im Ost-West-Konflikt kommt ferner hinzu, daß sich die Aufrüstungsprozesse auch in der Dritten Welt fortgesetzt haben. Dies geschieht, obgleich die Staaten der UNO 1978 auf der ersten Abrüstungssondergeneralversammlung der UNO sich gegen den Standpunkt gewandt hatten, die nationale Sicherheit durch Rüstung steigern zu können. Trotzdem sind die meisten Staaten der Ansicht, daß die Gleichung mehr Rüstung = mehr Sicherheit nach wie vor gilt. Somit war es absehbar, daß die weltweiten Rüstungsausgaben schon bald die Billionen-DM-Grenze erreichen würden
Dies ist in etwa die internationale sicherheits-und rüstungskontrollpolitische Lage, die erkennbar in die Forderung der DDR (wie der UdSSR) nach „neuem Denken“ und „neuem Herangehen“ einging. Für die DDR kamen noch eine Reihe punktueller Entwicklungen wie das Heraufziehen des Scheiterns der sogenannten INF-Verhandlungen zwischen den USA und der UdSSR und des Beginns der Stationierung von Pershing 2 und Cruise Mis-siles sowie insbesondere die Stationierung von neuen sowjetischen nuklearen Kurzstreckensystemen in der DDR hinzu.
Im Westen ist Anfang der achtziger Jahre in der Wissenschaft wie in der Politik ein neues Konzept, gruppiert um die Begriffe „Gemeinsame Sicherheit“ und „Sicherheitspartnerschaft“, entwickelt worden. Insbesondere durch die Palme-Kommission und die Diskussion über deren Ergebnisse ist die Idee der „Gemeinsamen Sicherheit“ popularisiert worden Die Idee wuchs aus der Erkenntnis, daß es im nuklearen Zeitalter keine Sieger mehr geben kann. Beide Seiten, Ost und West, müssen Sicherheit erlangen nicht vor dem Gegner, sondern gemeinsam mit ihm: „Internationale Sicherheit muß von der Verpflichtung zu gemeinsamem Überleben getragen sein, nicht von der Androhung gegenseitiger Vernichtung“ wie Olof Palme schrieb. Eine solche Orientierung verlangt ein Umdenken, nämlich den Gegner als Partner zu akzeptieren.
Zunächst hat die DDR (wie der Warschauer Pakt insgesamt) eher zurückhaltend auf solche Überlegungen reagiert, dann mit dem Hinweis auf die „friedliche Koexistenz“ behauptet, daß diese im Grunde alle Elemente dessen beinhalte, was im Westen „gemeinsame Sicherheit“ genannt wurde. Nachdem jedoch deutlich gemacht werden konnte, und zwar in direkten Gesprächen, daß es sich bei der „Gemeinsamen Sicherheit“ und der „Friedlichen Koexistenz" um zwei völlig verschiedene Ansätze handelt, begannen insbesondere Gesellschaftswissenschaftler der DDR unter der Über-schrift „neues Denken“ die konzeptionellen Anstöße produktiv aufzunehmen, um aus der Sicht der DDR zu formulieren, was im ausgehenden 20. Jahrhundert notwendig ist, um die Sicherheit in Europa zu stabilisieren. Dabei wurde etwa ab 1983 der Gedanke hervorgehoben, daß es bei dem Versuch, das nukleare Inferno zu verhindern, darum geht, nicht stets das Trennende zwischen den Systemen hervorzuheben, sondern vielmehr nach Anknüpfungspunkten für die Friedenserhaltung zu suchen. Der Generalsekretär der SED und Staats-ratsvorsitzende der DDR, Erich Honecker, hat es im April 1983 auf der Internationalen Karl-Marx-Konferenz in Ost-Berlin als „ein Gebot der Stunde“ bezeichnet, daß „alle politischen und gesellschaftlichen Kräfte, die den Frieden aufrichtig wollen, ungeachtet unterschiedlicher politischer Programme, weltanschaulicher Positionen und religiöser Bekenntnisse, über Klassenschranken, über Trennendes hinweg Zusammenwirken, um die Völker vor der Katastrophe eines Nuklearkrieges zu bewahren. Damit werden die Divergenzen nicht aufgehoben. Die Verteidigung des Friedens als höchstes Gut der Menschheit ist das vorrangige, gemeinsame, einigende Interesse. Dabei läßt das Engagement für den Frieden viel Spielraum für eine gegenseitig vorteilhafte Kooperation auf verschiedensten Gebieten.“ Dies war die Geburtsstunde für das Angebot der DDR zu einer „Koalition der Vernunft" — ungeachtet aller Unterschiede der Systeme und Ideologien.
Es ist festzustellen, daß es zwar bei allen Gesellschaftswissenschaftlern und Philosophen der DDR mittlerweile zum guten Ton gehört, für das „neue Denken“ zu plädieren, daß es jedoch durchaus Unterschiede zwischen den Wissenschaftlern bzw. Institutionen gibt. Am weitesten gehen Wissenschaftler der Akademie für Gesellschaftswissenschaften beim ZK der SED. Hier gibt es die interessantesten Anknüpfungspunkte für die theoretisch-konzeptionelle Debatte wie für die System-auseinandersetzung. Von Wissenschaftlern des Instituts für Politik und Wirtschaft (IPW) kommen aufschlußreiche Überlegungen insbesondere zu der Frage, was denn das „neue Denken“ im diplomatischen Verkehr (etwa für die Politik des Dialogs und der Zusammenarbeit auch im deutsch-deutschen Verhältnis) bedeutet. Auf die wissenschaftlichen Mitarbeiter dieser beiden Institutionen entfällt der Hauptanteil aller einschlägigen Artikel zum neuen Denken in der DDR, an denen sich dann andere Institutionen und Wissenschaftler der DDR orientieren.
III. Wie wird das „neue Denken“ definiert?
Wie lassen sich einige der wichtigsten Grundzüge eines solchen „neuen Denkens“ definieren? Diese zentrale Frage beantwortet der Direktor des Instituts für Politik und Wirtschaft, Professor Max Schmidt indem er sechs Elemente hervorhebt: 1. Es sei notwendig, „eine globale Denk-und Handlungsweise zu entwickeln, die die heutige Fixierung des politischen Denkens und Handelns auf die Zersplitterung der Welt und das Gegeneinander ihrer Bestandteile überwindet und für die der vorrangige Ausgangs-und Bezugspunkt die Einheit der Welt und die zu ihrem Erhalt notwendigen Erfordernisse sind“.
2. „Zwischenstaatliche Interessen und Auffassungsunterschiede, politische, ideologische, ökonomische und sonstige Gegensätze, ja Antagonismen müssen, sollen sie den Fortbestand der Menschheit nicht gefährden, heute und in Zukunft ausschließlich mit friedlichen Mitteln ausgetragen werden.“ 3. Zu den Grundzügen neuen Denkens gehöre eine „Neueinschätzung des Stellenwertes und eine veränderte Austragungsweise der ideologischen Gegensätze zwischen den sozial-und weltanschaulich unterschiedlichen Seiten“. 4. Es gebe nicht nur eine Vernichtungsabhängigkeit, sondern auch eine gegenseitige Abhängigkeit des Überlebens. „Die nationale Sicherheit keines Staates kann heute mehr unabhängig von der anderer Staaten gewährleistet werden.“ Es könne nur noch Sicherheit mit dem anderen geben, also gemeinsame Sicherheit. 5. „Neues Denken ist gefragt hinsichtlich des Verhältnisses von politischen und militärischen Mitteln im Agieren von Staaten bzw. beim Verfolgen ihrer Interessen.“ Für die Friedensfrage zwischen Ost und West „gibt es keine militär-technologische Lösung“.
6. „Das komplexe Herangehen an die Sicherheit und Zusammenarbeit erfordert nicht nur die Zurückdrängung des militärischen Faktors in den internationalen Beziehungen. Vielmehr ist es notwendig, ein umfassendes Sicherheitssystem zu schaffen, daß die wichtigsten Dimensionen der Weltpolitik erfaßt, die politische, militärische, ökonomische und humanitäre Seite . . .“. Heute gehe es darum, alles zu tun, damit ein Einstieg bzw. Durchbruch im Kampf gegen das Wettrüsten gelingt.
Damit sind die wichtigsten Grundzüge definiert. Nur muß jetzt gefragt werden, was dies alles für die staatliche Praxis in den Ost-West-Beziehungen bedeutet, sowohl unter politischen, militärischen, ökonomischen wie humanitären Aspekten. Max Schmidt schreibt: „Von Seiten der Staaten der sozialistischen Gemeinschaft gibt es ein sehr intensives, konsequentes Bemühen, das eigene Denken und die eigene Politik voll und ganz mit den Erfordernissen der Zeit in Übereinstimmung zu bringen.“
Es ist richtig, daß sich offenbar die neue sowjetische Führung in der Tat um eine Verbesserung der Ost-West-Beziehungen bemüht und dazu einige interessante Vorschläge im Bereich der Abrüstung gemacht hat. Diese Vorschläge sind jedoch deswegen nicht auf die erhoffte Resonanz gestoßen, weil auch frühere prozentuale Abrüstungsvorschläge mit einem generellen Dilemma konfrontiert waren: Die Militärstrategien von Ost und West sind völlig verschieden. Die Struktur der Streitkräfte ist es nicht minder. Daraus folgt: Das „neue Denken“ darf sich nicht im Prinzipiellen erschöpfen (so wichtig hier Änderungen sind) und auch nicht in radikalen Forderungen (wie etwa der, daß alle Atomwaffen bis zum Jahre 2000 beseitigt sein sollen), sondern es müßte die bislang vernachlässigten militär-strategischen Fragen einschließlich der Struktur von Streitkräften und ihrer Dislozierung zum Hauptgegenstand des „neuen Denkens“ machen.
In einem gemeinsamen Artikel haben Max Schmidt und Wolfgang Schwarz unter der Überschrift „Frieden und Sicherheit im nuklear-kosmischen Zeitalter“ sich mit den Folgen des Wettrüstens wie mit der nuklearen Kriegführung befaßt. Sie nennen neun Forderungen, die eingeleitet werden mit dem Satz, daß ein neues Herangehen sich sowohl vom Ansatz wie auch von seinen Mitteln und Methoden her grundlegend von dem des vornuklearen Zeitalters unterscheiden müsse: 1. Sicherheit könne nicht mehr gegen den potentiellen Gegner erreicht werden, sondern nur noch gemeinsam mit ihm, d. h. als „systemübergreifende Sicherheit“. 2. „Dauerhafte Sicherheit ist nur zu erlangen, wenn dem potentiellen Gegner gleiche Sicherheit zugestanden wird.“ 3. Sicherheitsgewährleistung erfordere nicht nur, „die legitimen Sicherheitsinteressen der anderen Seite verbal anzuerkennen, sondern bei Maßnahmen zur Wahrnehmung der eigenen Sicherheitsinteressen darauf bedacht zu sein und diese so zu treffen, daß denen der anderen Seite kein Schaden zugefügt wird“. 4. Sicherheit könne nicht länger durch Anwendung militärischer Gewalt gewährleistet werden. Gewalt-freiheit sei ein zwingendes Gebot der internationalen Staatenbeziehungen. 5. „Solange der militärische Faktor aus dem außen-politischen Instrumentarium der Staaten nicht eliminiert ist, setzt Sicherheit ein annäherndes militärisches Gleichgewicht zwischen den potentiellen Gegnern voraus.“ 6. Sicherheit könne nicht mehr errüstet werden. „Bedrohungen durch andere Staaten — ob tatsächlich existierend oder eingebildet — können nicht , weggerüstet 4 werden.“ 7. Sicherheit könne auf Dauer nur gewährleistet werden, wenn es gelinge, „die materielle Kriegsgefahr zu reduzieren, d. h. über Rüstungsbegrenzung zur Abrüstung vorzustoßen“.
8. Sicherheit im Nuklearzeitalter könne „letztendlich nur auf der Basis kooperativer Verhandlungslösungen für alle wichtigen sicherheitsrelevanten Fragen der Ost-West-Beziehungen im politischen, militärischen und wirtschaftlichen Bereich geschaffen werden“. 9. Die Ausprägung eines neuen Sicherheitsdenkens erfordere schließlich „das Überdenken bzw. die Revision des althergebrachten Inhalts einer Reihe solch grundlegender politischer und militärischer Begriffe wie z. B. Macht, Überlegenheit, Sieg“.
Dieser Forderungskatalog ist hochinteressant. Er ist jedoch nur dann wertvoll und weiterführend, wenn diese einzelnen Forderungen operationalisiert werden, um sie dann am Verhandlungstisch in die Praxis überzuführen. Denn in den richtigen Forderungen steckt eine Reihe von unbestimmten politischen Begriffen, die konkretisiert werden müßten. Um dies an einigen Fragen deutlich zu machen:
Wenn von gleicher Sicherheit bzw. von legitimen Sicherheitsinteressen der jeweils anderen Seite gesprochen wird, müßte eine nachvollziehbare Kräftevergleichsanalyse vorgelegt werden, aus der erkennbar wird, inwieweit gleiche Sicherheit bzw. legitime Sicherheitsinteressen der anderen Seite anerkannt werden. Die fünfte Forderung beispielsweise verlangt geradezu zwingend eine Kräftevergleichsanalyse, die bislang aus dem Warschauer Pakt nicht vorliegt (die aus westlichen Quellen wird vom Warschauer Pakt abgelehnt). Und nicht zuletzt die letztgenannte Forderung: Es ist in der Tat dringend notwendig, eine Reihe von hergebrachten Begriffen auf ihre heutige Brauchbarkeit zu überprüfen. Zu diesen von den beiden Wissenschaftlern genannten Begriffen wie Macht, Überlegenheit und Sieg kommen andere hinzu, beispielsweise Souveränität unter Interdependenzbedingungen, aber auch der Begriff der friedlichen Koexistenz, wie er bisher definiert wurde. Die beiden Autoren schreiben an anderer Stelle, daß die Abschreckung nicht der Logik des Nuklearzeitalters entspreche. Was soll an die Stelle der Abschreckung gesetzt werden?
IV. Was bedeutet das „neue Denken“ in der Praxis?
Der zweite Teil des Aufsatzes von Max Schmidt und Wolfgang Schwarz ist noch weitaus interessanter, insbesondere deshalb, weil hier Akzentverschiebungen bzw. Neubewertungen vorgenommen werden. Im wesentlichen geht es darum, das zu beschreiben und zu erläutern, was die Autoren „sozialistische Sicherheitskonzeption und -politik“ nennen. In diesem Kontext spielt die friedliche Koexistenz konzeptionell eine zentrale Rolle. Hier schreiben die Autoren, daß die Entwicklung der letzten Zeit dazu geführt habe, „den Inhalt der Politik der friedlichen Koexistenz wesentlich weiterzuentwickeln“. Worin besteht diese Weiterentwicklung? Zunächst wird gesagt, daß die friedliche Koexistenz im nuklear-kosmischen Zeitalter „von einer möglichen Form zu einem kategorischen Imperativ der Beziehungen zwischen Staaten mit unterschiedlicher Gesellschaftsordnung geworden ist“. Friedliche Koexistenz bedeute heute nicht nur die Abwesenheit von Krieg und auch nicht mehr das bloße friedliche Nebeneinander von Staaten. Friedliche Koexistenz bedeutet darüber hinaus Zusammenarbeit auf der Grundlage völliger Gleichberechtigung und des gegenseitigen Vorteils, die gewissenhafte Erfüllung der Verpflichtungen, die sich aus den Normen des Völkerrechts sowie aus internationalen Verträgen ergeben. „Der friedliche Wettstreit der Systeme unter Ausschluß militärischer Mittel muß dabei mehr und mehr durch die Entwicklung einer komplexen systemübergreifenden Zusammenarbeit der Staaten ergänzt werden mit dem Ziel, ein solches Geflecht von Interdependenzen zu schaffen, das die Möglichkeiten und den Anreiz immer mehr verringert, eine Politik der Hochrüstung und Konfrontation zu verfolgen oder zu ihr zurückzukehren.“
An anderer Stelle wird wiederholt, daß es nicht nur um die „einfache Abwesenheit von Krieg“ gehe, sondern um einen „wahrhaft positiven Frieden, der auf Abrüstung und Zusammenarbeit beruht“. Erwähnenswert ist in diesem Zusammenhang, daß hier ein Begriff verwandt wird, „positiver Friede“, der aus der westlichen Friedensforschung (Galtung) entlehnt worden ist, ohne daß dieser positive Frieden, der bei Galtung ausführlich dargestellt wird, inhaltlich vorgestellt würde.
Der Vorschlag, ein allumfassendes System der internationalen Sicherheit zu schaffen, das sowohl die politische wie militärische sowie ökonomische wie humanitäre Komponente umfasse, sei als „Angebot eines erweiterten Kodexes der friedlichen Koexistenz zu werten“. Heißt dies, daß die friedliche Koexistenz nicht mehr die „spezifische Form des Klassenkampfes“ ist und nicht mehr ideologische Auseinandersetzung, sondern lediglich der friedliche Wettstreit der Systeme? Doch wie soll dieser friedliche Wettstreit der Systeme aussehen?
Die beiden Autoren Schmidt und Schwarz erläutern sodann das Abrüstungsprogramm des Warschauer Pakts, das von der Verhinderung der Weltraumrüstung über die Beseitigung der Massenvernichtungswaffen und die Reduzierung konventioneller Streitkräfte bis hin zu vertrauens-und sicherheitsbildenden Maßnahmen reiche, einschließlich einer konkreten Kontrolle von Abrüstungsmaßnahmen. Das „sozialistische Abrüstungsprogramm“ wird als Umsetzung neuen Denkens in Handeln verstanden, wobei als „strategisches Endziel“ die allgemeine und vollständige Abrüstung unter strenger internationaler Kontrolle formuliert wird. Dieses Ziel sei in einem historisch längerfristigen Prozeß erreichbar. „Konkret setzen sich die sozialistischen Staaten mit aller Kraft für ein schrittweises, aufeinander aufbauendes Vorgehen ein, beginnend mit solchen Maßnahmen, die den beteiligten Seiten jeweils gemeinsam realisierbar erscheinen und die Kompromißlösungen ermöglichen.“
Dies ist auch ein Kommentar zum Gipfel in Reykjavik. Hätte sich dieser hier beschriebene Ansatz durchgesetzt, hätten sich Reagan und Gorbatschow in Reykjavik zumindest auf ein Mittelstreckenwaffenabkommen und auf ein Abkommen über strategische Interkontinentalraketen geeinigt. Und zwar streng nach dem Grundsatz, mit solchen Maßnahmen zu beginnen, die den beteiligten Seiten jeweils gemeinsam realisierbar erscheinen und die Kompromißlösungen ermöglichen. Doch der sowjetische Ansatz war ein anderer. Die Sowjetunion hat eine Paketlösung vorgeschlagen, was ein „schrittweises, aufeinander aufbauendes Vorgehen“ im Ergebnis ausschließt.
Aufschlußreich und weiterführend sind auch die Bemerkungen zu den vertrauens-und sicherheitsbildenden Maßnahmen Es ist eine Neubewertung, wenn heute dem Abbau von Mißtrauen und der Entwicklung von vertrauens-und sicherheitsbildenden Maßnahmen im Gesamtprozeß der Rüstungsbegrenzung und Abrüstung eine „eigenständige Bedeutung“ zugemessen wird. Auf dem Papier gibt es keinen unüberbrückbaren Unterschied mehr in der Funktionsbeschreibung von vertrauens-und sicherheitsbildenden Maßnahmen, wenn die beiden Autoren schreiben: „Obwohl VSBM (vertrauens-und sicherheitsbildende Maßnahmen, W. B.) die Mittel der Kriegführung in ihrem Umfang nicht verändern, so können sie doch deren Verfügbarkeit eingrenzen (z. B. durch den Verzicht auf den Ersteinsatz von Kernwaffen), ihre Konzentration in besonders sensiblen Regionen beschränken (etwa durch die Festlegung von Höchststärken für Manöver und andere Truppen-bewegungen), die Vorhersehbarkeit und Berechenbarkeit militärischer Aktivitäten erhöhen (u. a. durch jährliche Vorankündigungen größerer militärischer Bewegungen und die Einladung von Manöverbeobachtern) und so beispielsweise die Gefahr von Überraschungsangriffen mindern.“ Diese Bemerkung zur Konzeption der vertrauensbildenden Maßnahmen ist sicher ein Ergebnis der Auswertung der Stockholmer KVAE.
Zweimal bemühen die Autoren „spezielle Sicherheitsinteressen“ der DDR, einmal bei einer C-Waffen-freien Zone und zum anderen bei einer Zone, die von nuklearen Gefechtsfeldwaffen frei wäre. Die Autoren plädieren ferner für „die genaueste und umfassendste Kontrolle oder Verifikation der Einhaltung von Vereinbarungen über Rüstungsbegrenzung und Abrüstung“. Dies sei ein äußerst wichtiges Element des Abrüstungsprozesses. Stets laute die Frage: „Wieviel Kontrolle ist notwendig, um hinreichende Sicherheit über den kontrollierten Gegenstand zu erlangen?“
Dies ist in der Tat die entscheidende Frage, und es ist auch völlig richtig zu sagen, daß je mehr Abrüstung vereinbart wird, desto mehr Kontrolle erforderlich sei. Allerdings werden westliche Vorschläge zum Kontrollverfahren im einzelnen nicht aufgegriffen. Am Schluß des Artikels wird gesagt, daß unabhängig vom globalen Herangehen Europa „naturgemäß einen wichtigen regionalen Schwerpunkt“ der Bemühungen der kommunistischen Staaten bilde. Es wird wiederholt, daß in der „sozialistischen Europapolitik“ das gemeinsame Haus „vieler, politisch und sozial unterschiedlich strukturierter Staaten“ zu gestalten sei. ohne daß hier Einzelheiten genannt werden. Obgleich bei „entscheidenden Kräften“ in den Regierungen imperialistischer Staaten „noch wenig oder nichts von einem neuen politischen Denken und Handeln zu spüren ist“, sieht man gute „objektive und subjektive Voraussetzungen“ für eine Koalition der Vernunft, des Realismus und des guten Willens aller am Frieden interessierten Kräfte
V. Jeder muß den anderen für friedensfähig halten
Nur wenn jeder den anderen für prinzipiell friedensfähig hält, ist Gemeinsame Sicherheit möglich.
Geht das „neue Denken“ so weit, daß dieser Grundsatz konsensfähig ist? Einen im Westen viel-beachteten Beitrag zur gedanklichen Durchdringung der Gemeinsamen Sicherheit hat der Rektor der Akademie für Gesellschaftswissenschaften beim ZK der SED und Mitglied des ZK der SED, Otto Reinhold, geschrieben: „Den Frieden miteinander sichern“ Sein Ausgangspunkt: Es hat sich eine „prinzipiell neue Situation herausgebildet“, die ein neues Herangehen und einen neuen Ansatz in der internationalen Politik erfordert. Unter Bezugnahme auf den XXVII. Parteitag der KPdSU wird eine Reihe von „wichtigen Positionen“ formuliert, die als Elemente der „Gemeinsamen Sicherheit“ und der „Sicherheitspartnerschaft“ gelten können, z. B. die Erkenntnis, daß Sicherheit im Atomzeitalter nicht mehr gegeneinander, sondern nur noch miteinander möglich ist. „Den Frieden miteinander zu sichern kann nicht auf der militär-strategischen Überlegenheit der einen oder der anderen Seite begründet werden. Dazu ist Parität und die Akzeptanz der berechtigten Sicherheitsinteressen beider Seiten erforderlich.“
Es gehe jetzt darum, „eine Reihe von Grundanforderungen durchzusetzen, um gut miteinander leben zu können“. Otto Reinhold nennt hier vier Punkte. So müsse es darum gehen, „alle Quellen und Faktoren zu beseitigen, die die Existenz der Menschheit und damit natürlich auch die Existenz beider Seiten überhaupt bedrohen“. Die „Politik des Dialogs im weitesten Sinne des Wortes“ sei die adäquate Form der Absicht, „gut miteinander leben zu können“. Drittens sei es notwendig, „ein Geflecht von politischen, ökonomischen, wissenschaftlich-technischen, kulturellen und anderen Beziehungen zu schaffen, die insgesamt auf die Sicherung des Friedens gerichtet sind“.
In diesem Zusammenhang verweist der Autor auf die erstmalige Formulierung eines sozialistischen Europaprogramms, das sowohl die Zusammenarbeit zwischen dem RGW und der EG einschließe wie auch Vorschläge zur gemeinsamen Forschung im Bereich der Hochtechnologien und der Erschließung des Kosmos zu friedlichen Zwecken. „Viertens heißt miteinander gut auskommen, daß der historische Wettbewerb zwischen beiden Systemen ausschließlich auf friedlichem Weg erfolgt.“ Der Wettstreit der beiden Systeme werde „gewichtiger“. Dabei geht der DDR-Wissenschaftler davon aus, daß die Frage immer wichtiger werde, „wer in der Lage ist, die gesellschaftlichen, insbesondere aber die sozialen Probleme der wissenschaftlich-technischen Revolution im Interesse aller Werktätigen zu bewältigen“. Diese Frage werde immer mehr zur „Schlüsselfrage des Wettstreites zwischen Sozialismus und Kapitalismus“.
In der ideologischen Auseinandersetzung führt Otto Reinhold eine Klärung in drei Fragen herbei:
Friedliche Koexistenz sei auf den Frieden gerichtet und sei nicht eine spezifische Form des Klassenkampfes. Absolute Priorität habe die Friedenssicherung. Dies müsse zu der Frage führen, „wie unter diesen Bedingungen ideologische Unterschiede und Gegensätze ausgetragen werden“. Hier verweist er auf die fruchtbaren Gespräche der Grundwertekommission der SPD mit DDR-Wissenschaftlern (die SPD wird als „sozialreformistische Partei“ bezeichnet). In der ideologischen Auseinandersetzung gehe es darum, zwischen Antikommunisten und Nichtkommunisten zu unterscheiden (die Sozialdemokraten als Gegner des Marxismus-Leninismus werden implizit in die Rubrik Nichtkommunisten eingeordnet). Wenn heute von Antikommunismus die Rede ist, geht es nach Meinung der SED vor allem um jene Form, „mit der die aggressive Hochrüstungs-und Konfrontationspolitik begründet bzw. ihr Wesen verschleiert werden soll, die im Sozialismus das , Reich des Bösen’ sieht, das aus der Geschichte getilgt werden soll“.
Die Praxis wird zeigen, wie tragfähig diese Unterscheidung ist. Wichtiger ist die Klarstellung, daß in der ideologischen Auseinandersetzung jeder „den anderen für friedensfähig (hält) und alle Klischeevorstellungen aus seinem Arsenal (verbannt)“. Dies betrifft hier zwar in erster Linie das Gespräch zwischen Sozialdemokraten und Kommunisten, sollte jedoch prinzipiell gelten. Nur so läßt sich die ideologische Auseinandersetzung führen!
Die Systemauseinandersetzung wird als ein langfristiger Prozeß der Zusammenarbeit, des Wettbewerbs und Wettstreits begriffen, der nicht „zwangsläufig zur Konfrontation und zum Konflikt“ führen müsse. Dieser Prozeß sei nicht allein durch Interessengegensätze, sondern auch durch gemeinsame oder parallele Interessen geprägt. „Zusammenarbeit und Wettbewerb setzen eine Veränderung der ökonomischen und politischen Gesellschaftsstruktur im anderen System weder voraus, noch sind sie auf eine solche Veränderung zu richten.“ Wenn es aber richtig ist, daß ideologische Unterschiede uns nicht daran hindern sollten, Mißtrauen zu überwinden und Vertrauen zu schaffen, um die Probleme, die die Menschheit bedrücken, gemeinsam zu lösen, so brauchen wir in der Tat eine neue Kultur des ideologischen Streits. Dazu müssen Wissenschaftler ihren Beitrag leisten, um wichtige Auseinandersetzungs-und Abgrenzungsfragen zu klären, wie z. B. folgende: Wo liegt die Grenze zwischen zulässigem ideologischen Streit und unzulässigem „ideologischen Krieg“? Wo liegt die Grenze zwischen unvermeidlicher gegenseitiger Einwirkung aufeinander und unzulässiger Einmischung?
VI. Folgen für die Imperialismusforschung der DDR wie für die Systemauseinandersetzung?
Am 16. Mai 1986 fand auf Einladung der Redaktion der IPW-Berichte eine hochinteressante Diskussion statt, an der Otto Reinhold, Rolf Reißig, Werner Paff, Max Schmidt und Lutz Maier unter der Gesprächsführung von Martin Weckwerth teilnahmen. Aus dieser Diskussion lassen sich einige bemerkenswerte gedankliche Ansätze in Stichworten herausstellen 1. Ausgangspunkt ist die These, daß „wir uns in einer prinzipiell neuen Situation befinden" (Otto Reinhold). 2. Ein neues Denken, neue Schlußfolgerungen, ein neues Handeln im internationalen Leben seien notwendig. 3. Es geht nach Meinung von Max Schmidt in der Imperialismusforschung der DDR darum, daß der Imperialismus „heute weniger denn je nur in seiner Entwicklung, in seiner Politik, d. h. gewissermaßen aus ihm selbst heraus betrachtet“ werden könne, sondern daß man von der „Einheit der Welt“ ausgehen müsse, „einer sehr widersprüchlichen, aber in vielem ganzheitlichen Welt“.
4. Wir haben es mit einer „wachsenden Interdependenz“ der Probleme zu tun, wobei die Frage der Friedenssicherung im nuklearen Zeitalter die Hauptfrage ist.
Zum Thema der Diskussionsrunde, wie der Imperialismus auf die neuen Herausforderungen der Zeit antworte, wurde eine Reihe von Antworten gegeben, die insgesamt auf eine Neubewertung der Imperialismusforschung der DDR hindeuten. Um hier einige der wichtigsten Punkte herauszugreifen: 1. Man könne heute aufgrund der unterschiedlichen Entwicklungsrichtungen westlicher Länder wie auch der unterschiedlichen Probleme, vor denen einzelne Länder stehen, nicht mehr von der Kon-zeption des Imperialismus im Sinne eines Singular generalis sprechen (Otto Reinhold).
2. Der zunehmende Differenzierungsprozeß verlange die „sorgfältige Analyse unterschiedlicher Nuancen, Varianten oder Typen der Entwicklung im kapitalistischen System und in den einzelnen kapitalistischen Ländern“ (Lutz Maier).
3. Der zunehmende Differenzierungsprozeß verlange insgesamt eine differenzierte Analyse.
Zugespitzt könnte man sagen: Die Imperialismus-forschung der DDR steht vor einem neuen konzeptionellen Anlauf. Die Diskussion war offenbar die Einleitung eines Forschungsprozesses, der zu neuen Ufern führen soll. Forschungsleitend — nicht nur für den ökonomischen Bereich — könnte dabei sein, was Lutz Maier so umreißt: „Eines der Haupt-elemente des vieldiskutierten neuen Denkens in unserer Zeit muß daher die Ausarbeitung eines Konzepts der bewußten schrittweisen Verringerung der in der heutigen Welt noch vorhandenen einseitigen Abhängigkeiten und der Herbeiführung von immer mehr gegenseitigen Abhängigkeiten, der allmählichen Annäherung der Lebensbedingungen aller Völker durch umfassende und ungehinderte Zusammenarbeit der Staaten auf gleichberechtigter Grundlage sein. Meiner Meinung nach müssen dabei internationale Vereinbarungen über den Austausch von Wissenschaft, Technik und Technologie im weitesten Sinne des Wortes das zentrale Anliegen und die Alternative zum imperialistischen Hegemoniekonzept bilden.“
Nach diesen mehr grundsätzlichen Erörterungen soll nun nach Veränderungen in einzelnen Bereichen gefragt werden, die für die weitere Entwicklung der Ost-West-Beziehungen im allgemeinen und der deutsch-deutschen Beziehungen im besonderen von großer Wichtigkeit sind. Beginnen wir mit der „friedlichen Koexistenz“, mit dem Struktur-prinzip der DDR-Außenpolitik.
VII. „Neues Denken“ und die „friedliche Koexistenz“
In den Reden führender DDR-Politiker sowie im DDR-Schrifttum wird nicht selten so getan, als sei die „friedliche Koexistenz“ die einzig mögliche Antwort des „real existierenden Sozialismus“ auf die „Logik des Atomzeitalters“ und die „friedliche Koexistenz“ die Basis für gemeinsame grenzüberschreitende Problemlösungen im ausgehenden 20. Jahrhundert. Eine solche Festlegung verlangt eine intensive und materialgestützte Auseinandersetzung mit dem für die staatlichen Westbeziehungen der DDR zentralen Strukturprinzip der DDR-Außenpolitik Dies kann hier nicht geschehen. Folgende beiden Punkte sollten jedoch beachtet werden, wenn es um die Bewertung der „friedlichen Koexistenz“ geht. Konstitutiv für die „friedliche Koexistenz“ war lange Zeit:
— Friedliche Koexistenz ist eine spezifische Form des internationalen Klassenkampfes.
— Bei der unvermeidlichen ideologischen Auseinandersetzung von Imperialismus und Sozialismus wurde den Vertretern des „real existierenden Sozialismus“ alles erlaubt, weil deren Ideen per definitionem friedliebend waren, während jede kritische Auseinandersetzung mit den Staaten des War-schauer Pakts mit dem stigmatisierenden Etikett „ideologischer Krieg“ bzw. „ideologische Diversion“ versehen wurde.
Ein solches Verständnis von „friedlicher Koexistenz“, das von „unversöhnlichen“ und „unüberbrückbaren Gegensätzen“ ausging, ist heute nicht mehr die angebotene Grundlage für die Systemauseinandersetzung. Im Laufe der letzten drei Jahre traten zwei wichtige Änderungen ein:
— Weil die Antithese zum Frieden heute nicht mehr der Krieg, sondern die nukleare Vernichtung der Menschheit ist, ist der Friedenskampf heute ein Teil der grundlegenden gemeinsamen Interessen.
Daraus folgt: Der Friedenskampf richtet sich nicht gegen den Kapitalismus (Imperialismus) als Gesellschaftsformation, sondern gegen die „aggressivsten Teile des Imperialismus“. Der Hauptpunkt ist nicht der Klassenkampf, sondern das Auffinden von gemeinsamen Interessen bei der Kriegsverhinderung und Friedensgestaltung
— Bei der ideologischen Auseinandersetzung wird nach einer Streitkultur gesucht, die die notwendige Auseinandersetzung zwischen Ost und West fair, friedlich und frei von Alleinvertretungsansprüchen („Marxismus-Leninismus ist die Friedensidee par excellence" u. ä.) führt. Zwischen Wissenschaftlern aus beiden deutschen Staaten gibt es hier fruchtbare Ansätze zur Entwicklung einer solchen Streitkultur.
Dominierte lange Zeit der Klassenkampfgedanke das Verständnis von „friedlicher Koexistenz“, so bedeutet das Zurücktreten dieses Gedankens nicht, daß der Klassenkampf keine Rolle mehr spielt. Hier hat es offenbar innerhalb der SED Diskussionen und Fragen gegeben, die Professor Kurt Hager, Politbüromitglied und zuständig für „Ideologie“ im ZK der SED. zum Anlaß für eine Grundsatzrede am 24. Oktober 1986 in der Humboldt-Universität genommen hat Diese Rede wird als Versuch gewertet, das Verhältnis von Kampf und Koexistenz, von gemeinsamer Suche nach Lösungen und fortbestehenden Gegensätzen auszutarieren. Damit soll eine DDR-interne Diskussion beendet werden, die sich auch an der Frage entzündet, wie denn der „soziale Fortschritt“ im Weltmaßstab angestrebt werden könne, wenn das gemeinsame Überleben (und nicht der Klassenkampf) die Priorität sei. Darauf hat Hager klipp und klar geantwortet, daß die Verhinderung der nuklearen Katastrophe und die Sicherung des Weltfriedens heute sozialen Fortschritt bedeuten. Ideologische Gegensätze bleiben zwar bestehen, „jedoch muß man lernen, mit diesen Gegensätzen zu leben und sie unter friedlichen Bedingungen auszutragen“ Dies ist durchaus etwas Neues.
VIII. Welchen Stellenwert hat die Landesverteidigung bei der Friedenssicherung und -gestaltung?
Diese Frage stellt sich mit großer Dringlichkeit, weil dies ein zentraler Anwendungsbereich des neuen Denkens ist. Altes Denken konstruierte folgenden Unterschied: Die eigenen Streitkräfte wurden als Instrument der Friedenssicherung definiert, die des anderen als Bedrohung. Neues Denken in diesem Bereich verböte eine so simple Gegenüberstellung, bei der die Streitkräfte des einen legitim und die des anderen illegitim und als materielle Kriegsvorbereitung denunziert werden.
Schaut man sich unter diesem Gesichtspunkt die jüngere Literatur aus der DDR an, insbesondere die, die sich offenbar an die Soldaten der NVA sowie an Jugendliche wendet, von denen die DDR erwartet, daß sie sich zum Dienst in der NVA verpflichten, so zeigt sich folgendes Bild: — Für die DDR stellen der weltweite Kampf um Frieden und Sichet heit und der militärische Schutz des real existierenden Sozialismus eine untrennbare Einheit dar.
— Ein solches Diktum folgt aus der Aussage, wonach der Sozialismus und der Frieden wesenseins seien und der Imperialismus seinem Wesen nach aggressiv sei.
— Das, was bei uns gelegentlich als Militarisierung der Gesellschaft bezeichnet wird, nämlich Feindbildstilisierung und Appelle an die Gefechtsbereitschaft und Erhöhung der Kampfkraft, ist im Verständnis der SED notwendiger Bestandteil der mili-tärischen Erziehung in den Streitkräften der DDR, denn: „Voraussetzung für die friedenssichernde, friedenserhaltende Wirkung unserer Verteidigungsanstrengungen ist eine hohe Kampfkraft und Gefechtsbereitschaft der sozialistischen Streitkräfte sowie die Einsatzfähigkeit aller Bereiche der Landesverteidigung.“
— Aus der behaupteten Aggressivität des Imperialismus leitet insbesondere die Militärliteratur der DDR ab, daß die Rüstung der NATO materielle Kriegsvorbereitung sei.
Dies ist herkömmliches Denken. Hat sich die Formel vom „neuen Denken“ und „neuen Herangehen“ im militärischen Bereich bislang nicht ausgewirkt? Daß insbesondere Militärs das „alte Denken“ bevorzugen, zeigt beispielsweise ein DDR-Buch aus jüngerer Zeit mit dem Titel „Die Streitkräfte der NATO auf dem Territorium der BRD“ Einer der Kernsätze lautet: „Die NATO ist der größte und zugleich mächtigste imperialistische Kriegspakt.“ Und: „Die Führung der NATO und ihrer Mitgliedstaaten räumt der politisch-ideologischen Vorbereitung der Streitkräfte und der Bevölkerung auf einen Aggressionskrieg gegen die Staaten des Warschauer Vertrages einen hohen Stellenwert ein. Die psychologische Kriegs-führung, deren Kräfte und Mittel bereits seit Jahrzehnten im Einsatz sind, ergibt sich aus dem Charakter des Kampfes, den der Imperialismus gegen den Sozialismus führt und für den ihm jedes Mittel recht ist.“
Mit solchen Sätzen kann man überkommene Bedrohungsbilder pflegen, nicht jedoch zu einem angemessenen Bild vom „Gegenüber“ beitragen. „Neues Denken“ ist hier nicht erkennbar!
In der marxistisch-leninistischen Kriegstheorie gab es lange Zeit die Unterscheidung von gerechtem und ungerechtem Krieg. Ungerechte Kriege waren per definitionem „imperialistische“ Kriege. Wenn es heute richtig ist, daß es — wie Gorbatschow in Paris gesagt hat — in einem Kernwaffenkrieg keine Sieger mehr geben könne, so ist die Unterscheidung damit obsolet geworden. Für Europa gilt dies offenbar uneingeschränkt, für den Kampf der Befreiungsbewegungen in der Dritten Welt nicht
Offenbar gibt es in der Militärliteratur der DDR zur ersteren Position andere Meinungen, die möglicherweise damit zu tun haben, daß man beim Soldaten keine Motivationsprobleme aufkommen lassen will. In einer 1986 erschienenen Broschüre aus der DDR heißt es beispielsweise: „Nach wie vor gehört zur unverrückbaren Überzeugung der machtausübenden Arbeiterklasse, daß es auch in der Gegenwart keine schicksalshafte Unvermeidbarkeit von Kriegen gibt, daß es folglich nicht zum schicksalshaften Untergang der Menschheit kommen muß . . . Die Staaten der sozialistischen Gemeinschaft und ihre Armeen müssen stark genug sein, um das militärstrategische Gleichgewicht zu wahren und den Krieg zu verhindern. Von dieser Stärke hängt auch ab. ob der Gegner selbst im Falle einer Aggression mit dem für ihn tödlichen Risiko konfrontiert wird. In solch einem Fall ginge es nicht schlechthin um den Sieg einer Armee, sondern um den Erhalt der Existenz der Menschheit, um die Lebenskraft des Sozialismus, es ginge darum, eine solche von den USA und der NATO entfesselte Aggression , nicht in eine globale Katastrophe ausufern zu lassen 4. Hieraus ergibt sich auch der Sinn des vorbehaltlosen Einsatzes des Lebens durch jeden Bürger und jeden Armeeangehörigen im Fall einer imperialistischen Aggression. Dafür ist sehr entscheidend, daß der Soldat nicht mit der lähmenden Befürchtung des unausbleiblichen Untergangs, sondern mit dem unbeugsamen Willen zum Sieg im Gefecht kämpft.“
IX. Das „neue Denken“ und die Beziehungen der DDR zur UdSSR
Nach gängiger Vorstellung gibt es eine enge Abstimmung zwischen der UdSSR und der DDR, wobei die DDR großen Wert darauf legt, nicht von der UdSSR abzuweichen. Bezogen auf das „neue Denken“ gibt es jedoch gravierende Unterschiede zwischen der UdSSR (KPdSU) und der DDR (SED), insbesondere was die Reichweite dieses „neuen Denkens“ angeht.
Der Themenbereich „neues Denken“ in der DDR ist eingrenzbar. Das heißt, es steht im Zusammen-hang vor allem mit Überlegungen zur Friedenssicherung und Kriegsverhinderung. Dies ist der Kontext aller einschlägigen Artikel. Das bedeutet, daß das „neue Denken“ vornehmlich auf zwischenstaatliche Beziehungen, also auf die Außenpolitik anwendbar sein soll. Aus den zahlreichen Artikeln wie aus Gesprächen mit DDR-Wissenschaftlern wird klar, daß sich aus der Sicht der DDR das „neue Denken“ nicht etwa auf die Gesellschaftsordnung oder auf die Innen-wie Wirtschaftspolitik bezieht. Hier zeigt sich der Unterschied zum sowjetischen Herangehen (Gorbatschow hatte auf dem jüngsten ZK-Plenum der KPdSU im Januar 1987 einen umfassenderen Ansatz gewählt und insbesondere auch die Wirtschafts-und Innenpolitik der UdSSR sowie die inneren Verhältnisse der kommunistischen Partei in das „neue Denken“ einbezogen) Die DDR beschränkt hingegen das „neue Denken“ im wesentlichen auf die Außenpolitik; insofern handelt es sich hier nicht um ein umfassendes Herangehen. Die DDR bezieht sich in ihren Artikeln andererseits direkt auf sowjetische Quellen. An erster Stelle wird Gorbatschow genannt, der allerdings erst 1985 vom Erfordernis des „neuen Denkens“ sprach, und zwar in seiner Pariser Rede Besonders auf einen sowjetischen Autoren wird immer wieder rekurriert: auf Schachnasarow. Sein Begriff von der „Logik des Nuklearzeitalters“ fand Eingang in das DDR-Schrifttum Der Vergleich von sowjetischen Stellungnahmen und DDR-Analysen zeigt jedoch folgendes: — Die DDR-Arbeiten beziehen sich zwar auf sowjetische Quellen, gehen jedoch weit über diese hinaus und sind präziser in einigen Punkten als die sowjetischen Autoren — Im DDR-Schrifttum erscheint das „neue Denken“ operativer und nachvollziehbarer, weil es zumindest andeutet, in welche Richtung Veränderungen in der Praxis vorstellbar sind. Die Palette reicht hier von der Veränderung der ideologischen Auseinandersetzung über den Stellenwert vertrauensbildender Maßnahmen bis hin zu präzisen Vorschlägen zur Rolle der beiden deutschen Staaten.
X. Was ist neu am „neuen Denken“? Eine Zwischenbilanz
Das „neue Denken“, d. h. das Herangehen und Verhalten wird nicht aus Gesetzmäßigkeiten des Klassenkampfes (der weitergeht) definiert, sondern aus der „Logik des Atomzeitalters“ mit dem Ziel, ein „nukleares Inferno“ zu verhindern. Dies ist der Kernpunkt des „neuen Denkens und Herangehens“ Aus dem Primat der „Logik des Atomzeitalters“ lassen sich Ansätze im Denken und Verhalten in der Praxis ableiten, die auch empirisch nachvollziehbar bzw. nachprüfbar sind. Um nur die wichtigsten Veränderungen in der Praxis (ohne Anspruch auf Vollständigkeit) aufzuzählen:
— Seit 1986 gibt es Abrüstungsvorschläge des War-schauer Pakts, die keine Waffenart ausklammern, konkret und negoziabel sind. Sie sind insofern auch umfassend, als der bisherige Ansatz, sich auf das Atomare zu beschränken, aufgegeben wurde. Nunmehr spielt offenbar die konventionelle Stabilität eine ebenso große Rolle (zumindest nach dem Vorschlag des Warschauer Pakts von Budapest vom 12. Juni 1986).
— Die bisherige restriktive Position des War-schauer Pakts zur Kontrolle von Abrüstungsmaßnahmen ist völlig aufgegeben worden. Nunmehr gilt, daß diese Kontrollmaßnahmen den Abrüstungsmaßnahmen adäquat sein sollen, was bedeutet, daß die Abrüstungsmaßnahmen das Ausmaß der Kontrollen bestimmen, bis hin zu Vor-Ort-Inspektionen, wie sie etwa im Dokument von Stockholm nach erfolgreicher Beendigung der Konferenz über Vertrauens-und Sicherheitsbildende Maßnahmen und Abrüstung in Europa (KVAE) vereinbart sind.
— Wurde lange Zeit das westliche Drängen auf Vertrauensbildende Maßnahmen (VBM) dadurch diskretiert, daß behauptet wurde, VBM sollten Abrüstungsschritte ersetzen (was nicht der Fall war), so wird heute den VBM eine eigenständige Rolle zugemessen als Vorbereiter bzw. Begleiter von Abrüstung und Rüstungskontrolle. (Beleg ist hier das Verhalten der kommunistischen Staaten bei der KVAE in Stockholm, aber auch Aussagen in der Literatur, wie etwa in der Wissenschaftlichen Zeitschrift der Karl-Marx-Universität Leipzig mit dem Schwerpunkt „Vertrauen“ — Im Gegensatz zu den siebziger Jahren geht die DDR heute von einem erweiterten Sicherheitsbegriff aus, d. h. Sicherheit wird nicht nur auf das Militärische beschränkt, sondern sie hat auch eine politische, ökonomische und humanitäre Komponente. — Die Rolle der beiden deutschen Staaten wird immer stärker betont. Es wird gefordert, daß die Bundesrepublik und die DDR aus ihren Bündnissen heraus gemeinsame bzw. parallele Initiativen zur Abrüstung und Entspannung entwickeln sollen. Von der DDR werden „spezifische Beiträge“ in die internationale Politik eingeführt: eine Chemiewaffenfreie Zone und eine Zone ohne Gefechtsfeldwaffen. Auch gegenüber anderen Themen wie etwa den Vertrauensbildenden Maßnahmen zeigt man sich aufgeschlossen.
Die Bereitschaft der DDR zum „neuen Denken“ und „neuen Herangehen“ an die internationale Politik ist ernst zu nehmen. Allerdings handelt es sich hier um einen Prozeß, der erst am Anfang steht. Dennoch hat er eine Reihe von anknüpfungsfähigen Punkten hervorgebracht und wichtige Klärungen herbeigeführt. Es kommt nun auch auf unsere Reaktion an, wie weit, wie schnell und in welche Richtung sich das „neue Denken“ entwikkelt. Dazu ist der Dialog auf breiter Basis, d. h. zwischen Wissenschaftlern, Ökonomen und Politikern notwendig.
Im Westen sollte die Forderung nach „neuem Denken“ nicht allein unter Gesichtspunkten einer Bringschuld des Ostens gesehen werden. So unbestreitbar sich der Warschauer Pakt in einigen Punkten auf Ansätze zubewegt, die zuerst im Westen entwickelt und vertreten worden sind — wie z. B. das Konzept der gemeinsamen Sicherheit, das der vertrauensbildenden Maßnahmen oder das der verbesserten Verifikation von Abrüstungsmaßnahmen —, so richtig ist auch, daß es sich hier um einen Prozeß handelt, bei dem die positive Resonanz des Westens Entwicklungen im Warschauer Pakt vorantreiben kann. Dies verlangt eine konstruktive Auseinandersetzung mit den Konzepten und die Bereitschaft zu ergebnisorientierten Verhandlungen Die Diskussion über das „neue Denken“ in der DDR kann auch für die Fortsetzung und Ausgestaltung der deutsch-deutschen Beziehungen neue Chancen eröffnen. Die Suche nach Feldern der Zusammenarbeit im Rahmen einer „Koalition der Vernunft“ bedeutet weniger Abgrenzung und mehr Annäherung. Die Bundesregierung ist gefordert, die DDR auch als Partner bei allen grenzüberschreitenden Problemen zu sehen. In dem Maße, wie dies geschieht, könnten die beiden deutschen Staaten zur Stabilität in Europa und zu fruchtbaren Ergebnissen in den deutsch-deutschen Beziehungen beitragen.