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Zeitgeschichtliche Erfahrungen als aktuelles Problem | APuZ 11/1987 | bpb.de

Archiv Ausgaben ab 1953

APuZ 11/1987 Zeitgeschichtliche Erfahrungen als aktuelles Problem Antisemitismus und Holocaust als Epochenproblem Geschichtswissenschaft und Große Politik

Zeitgeschichtliche Erfahrungen als aktuelles Problem

Karl Dietrich Bracher

/ 30 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

In der gegenwärtigen Diskussion über Zeitgeschichte und politisches Bewußtsein in Deutschland treffen vielschichtige historische Erfahrungen und widersprüchliche Erinnerungen mit Forderungen nach einer „Historisierung" der Zeit des Nationalsozialismus zusammen, wie sie übrigens schon in den siebziger Jahren zumal von links gegen die Vertreter der Totalitarismusthese erhoben wurden, da diese eine „normale“ Betrachtung der NS-Vergangenheit behindere. Eine verstärkte Debatte um die „nationale Identität“ der Deutschen und ihr Verhältnis zur historischen Tradition hat jetzt wieder die Auseinandersetzung aktualisiert und politisiert. Tatsächlich ist der jüngst dramatisierte und personalisierte „Historikerstreit“ nicht nur Ausdruck des Generationswandels, sondern er betrifft überhaupt die moralische Dimension jeder Analyse totalitärer Herrschaft und ihre mögliche Relativierung durch historischen Vergleich. Besonders im Blick auf nationalsozialistische und kommunistische Diktaturen mit ihren ideologisch motivierten Massenmorden gilt, daß Vergleiche zwar eine notwendige wissenschaftliche Methode sind, um Ähnlichkeiten wie Unterschiede zu ermitteln, daß jedoch die menschenfeindlichen Untaten einer Diktatur keinesfalls durch den Vergleich mit denen einer anderen Diktatur historisierend zu entschuldigen sind. Vergleichen heißt nicht gleichsetzen, auch kausale Zusammenhänge können keine moralische Entlastung bewirken. Die besondere deutsche Belastung ist nicht durch einen neuen Nationalismus historischer oder neutralistischer Observanz zu bestehen, sondern nur durch die weitere Stabilisierung freiheitlicher Demokratie in Deutschland an der Seite der demokratischen Nationen — und im Verbund eines übernationalen Europa, das den Grundwerten abendländischer Kultur,'nicht zuletzt der Bewahrung und Verteidigung der Menschenrechte verpflichtet ist.

Der Verfasser faßt hier Gedanken zusammen und führt Betrachtungen über die „doppelte Zeitgeschichte“ und über „Zeitgeist und Politik“ fort, die er zuletzt in den Büchern Geschichte und Gewalt (1981), Zeit der Ideologien (1985 2), Republik im iVandel (1986) und Die totalitäre Erfahrung (1987) entwickelt hat (dort auch die Nachweise). Für die Zeit der Ideologien war ursprünglich der Untertitel „Brechungen des Fortschrittsdenkens im 20. Jahrhundert“ vorgesehen, was die zentrale Problemstellung des Buches deutlicher zum Ausdruck gebracht hätte als die vom Verlag bevorzugte allgemeine Bezeichnung „Eine Geschichte politischen Denkens“.

I. Streit um „deutsche Identität“

Vier Jahrzehnte nach dem Ende der deutschen Diktatur und den entscheidenden Weichenstellungen der Nachkriegszeit in Europa ist aufs neue eine erregte Debatte um deutsche Geschichte und nationale Frage entbrannt. Sie scheint die Beobachtung zu bestätigen, die seit einigen Jahren auch im Ausland erörtert wird: „Das deutsche Problem ist wieder da“ (Pierre Hässner 1981). Nicht zuletzt hat die Diskussion um den angeblichen Mangel oder die Krise einer „deutschen Identität“ scharfe Akzente gesetzt und Befürchtungen geweckt. Befinden sich nicht, so ist nun zu hören, die Deutschen mit ihrem gebrochenen Geschichts-und Nationalbewußtsein wieder in einer besonders prekären Lage, wenn weder die Europa-noch die Entspannungspolitik einen Weg aus der Deutschlandfrage eröffnen? In der Zeit des Zweifels und der Anfechtungen bedeutet die Identitätsklage eine weitere Etappe der Diskussion des deutschen Problems, nach innen wie nach außen. Dabei geht es freilich nach wie vor um das Verhältnis zwischen nationaler Teilung und innerer Verfassung, um die Spannung zwischen dem Postulat der Wiedervereinigung und der Stabilisierung der bestehenden Demokratie der Bundesrepublik.

Neben der Außen-und Deutschlandpolitik im westlichen Bündnis ist es das innere Verständnis von demokratischer Politik und deutschem Staat, das auch die Identitätsdebatte wesentlich beeinflußt. Auf drei Schauplätzen spielte sich Ende der siebziger Jahre, als der philosophisch-psychologische Identitätsbegriff zum politischen Modewort wurde, die innere Auseinandersetzung um die Deutschen und ihren Staat ab. Sie wurde historisch und moralisch mit neuem Nachdruck und auf breiterer Basis in der Diskussion um die Judenvernichtung, den „Holocaust“, geführt; sie gewann zeitweilig Ausdruck in einer Erörterung der politisch-philosophischen Grundwerte der Bundesrepublik; und sie bestimmte immer aufs neue die verfassungsstaatliche Kontroverse über die Toleranzgrenzen der streitbaren Demokratie. Die weltweit beachtete Fernsehsendung des amerikanischen Holocaustfilms löste 1980 eine neue Debatte über das dunkelste Kapitel deutscher Geschichte und die Mängel bisheriger Befassung mit dem Nationalsozialismus aus, wobei freilich die Angemessenheit einer solchen Behandlung im Spielfilm umstritten war. Sie erreichte sowohl eine größere Betroffenheit und neuerliche Selbst-prüfung der deutschen Bevölkerung wie eine weitere Verbreitung historisch-politischer Informationen. Allerdings wurde der Holocaustbegriff sogleich verfälschend und entwertend mißbräuchlich auf die aktuelle Diskussion um die Nachrüstung angewendet: Das Schlagwort vom „atomaren Holocaust“ diente als Instrument im apokalyptisch getönten Meinungskampf und verwischte dadurch die Einmaligkeit der nationalsozialistischen Ausrottungspolitik gegen das jüdische Volk. Auch die Übertragung des Widerstandsbegriffs aus dem Kampf gegen die NS-Diktatur auf heutige Aktionen gegen die parlamentarische Demokratie basiert auf einer ähnlich groben Fehldeutung. Darin werden Mängel und Einseitigkeiten historisch-politischer Bildung sichtbar, vor denen trotz gegenteiligen Eindrucks auch das Fernsehzeitalter nicht bewahrt: Neben vertieften geschichtlichen Kenntnissen bleibt die nachhaltige Auseinandersetzung mit dem Problem des Totalitarismus und der dahinter stehenden Ideologie, die Triebkraft und Rechtfertigung so entsetzlicher Massenverbrechen war, weiterhin dringend geboten.

Auch die Grundwertediskussion, an der sich damals zeitweilig Bundeskanzler Schmidt und Oppositionsführer Kohl selbst beteiligten, vermochte kaum die Lücken im sich wandelnden Werteverständnis der siebziger Jahre zu füllen. Sie hinterließ weniger Spuren, als die Bewährung des Grundgesetzes und die Bedeutung des Grundkonsenses es nach dreißig Jahren Erfolgs-geschichte der Bundesrepublik verdienten. Hingegen blieb die Auseinandersetzung um die streitbare Demokratie ein Dauerthema. Bei den Kampagnen gegen „Berufsverbote“ extremistischer Bewerber im öffentlichen Dienst, oft verbunden mit der verächtlichen Abqualifizierung des Verfassungskerns der freiheitlich-demokratischen Grundordnung als „FDGO“, erinnerte manches an die Systemverachtung, die der ersten deutschen Republik zum Verhängnis geworden war. Diese Tendenz richtete sich zugleich gegen die Institutionen des demokratischen Staates — ein erschütternder Mangel an politischem Verständnis für die Bedeutung institutioneller Strukturen und Verfahren als Grundlage jeder funktionsfähigen Demokratie wurde offenbar.

An allen diesen Punkten — dem unsicheren Geschichtsverständnis, der umstrittenen Wertbezogenheit und der Anfechtung des Verfassungsprinzips einer streitbaren Demokratie — konnte denn auch die vielbeachtete neue Debatte um die problematische Identität der Deutschen ansetzen.

Die Debatte hat sowohl historische wie politische und ideologische Komponenten. Das wird auch in dem jüngsten „Historikerstreit“ um die Deutung der nationalsozialistischen Unterdrückungsund Vernichtungspolitik sichtbar.

Was hier zunächst die Streitfrage eines Vergleichs von nationalsozialistischen und kommunistischen Diktaturen mit ihren ideologisch motivierten Untaten und Massenmorden angeht, so gilt ganz allgemein, daß Vergleiche nicht nur eine zulässige, sondern eine notwendige wissenschaftliche Methode sind. Denn nur so können Ähnlichkeiten und Unterschiede ermittelt werden. Aber dabei ist zu beachten, daß erstens die mörderischen Untaten einer Diktatur keinesfalls durch den Vergleich mit denen einer anderen Diktatur historisierend zu entschuldigen sind und daß zweitens vergleichen nicht gleichsetzen heißt, sondern die totalitäre Erfahrung als aktuelle Warnung auf eine breitere Basis stellt, indem sie ebenso rechts-wie linksdiktatorische Formen totalitärer Verführungskraft und Machtperversion erkennbar macht. Im übrigen könnte eine Kausalität zwischen Gulag und Konzentrationslager, auch wenn sie nachzuweisen wäre, keine moralische Entlastung bewirken.

In Wahrheit kollidieren in der Kontroverse, die in allzu politisierten und personalisierten Formen geführt wird, nicht zuletzt zwei modische Strömungen zeitgeschichtlicher Betrachtungsweisen: eine gesellschaftskritische und eine nationalidentitäre, die jeweils zugleich „revisionistisch“ der bisherigen, älteren Zeitgeschichte gegenübertreten (ähnlich wurde ja bereits vor über einem Jahrzehnt in der wissenschaftlichen Diskussion eine „Normalisierung“ der NS-Forschung gefordert, damals verbunden mit heftigen Angriffen gegen unsere Totalitarismus-Interpretation: [vgl. dagegen meine Zeitgeschichtlichen Kontroversen, 1976, S. 62 ff. ]). In beiden Richtungen aber finden sich heute Vertreter der Forderung nach einer angeblich notwendigen „Historisierung" unserer jüngeren Vergangenheit, wenngleich mit höchst verschiedenen Argumenten und Zielen: Für die gesellschaftskritische Betrachtung stehen die sozialstrukturellen Bedingungen, für die nationalgeschichtliche die staatlichen Probleme der deutschen Frage im Vordergrund. Demgegenüber geht es nach wie vor jedoch vor allem darum, der wirklich zentralen Erfahrung der deutschen Zeitgeschichte gerecht zu werden und die überragende Bedeutung der Unterscheidung von Demokratie und Diktatur sowie des Phänomens der totalitären Verführung im 20. Jahrhundert nicht durch den konzentrischen Blick auf gesellschaftliche oder nationalpolitische Zielsetzungen zu verdrängen. Inmitten ideologisch sich verhärtender Positionen und Tendenzen gilt es hier, einer Betrachtungsweise weiterhin Gehör zu verschaffen, die nach 1945 so wesentlich die Neubegründung und Entfaltung einer freiheitlich-demokratischen Politikwissenschaft mit einer ihr verbündeten Zeitgeschichte bei der Vergegenwärtigung des „deutschen Problems“ getragen hat. Auf dieser Grundlage soll im folgenden versucht werden, das Thema unter den veränderten Verhältnissen des Generationsund Erfahrungswandels zu betrachten.

II. Probleme der historischen Tradition

Die Forderung nach einer Neuorientierung, ja die Erwartung eines Bruchs des Geschichtsbewußtseins im Deutschland der Nachkriegszeit war nach den Irrwegen und Katastrophen der jüngsten Vergangenheit nicht nur verständlich, sondern geradezu unvermeidlich. Infragestellung und Revision des Geschichtsbildes, nach der nationalen Überspannung der vorangehenden Zeit von den meisten Deutschen plötzlich und radikal als Zusammenbruch erlebt, forderten ihnen Anstrengungen ab, die zu einer negativen oder gar agnostischen Haltung, zur Verdrängung statt Aufarbeitung führen konnten.

Das enthielt freilich die Gefahr, daß die historische Kontinuität überhaupt in Frage gestellt wurde. Der Geschichtsbruch bedeutete beides, Chance und Hemmnis. Chance zur Offenheit nach vorne, Hemmnis bei der Versicherung einer positiven Aneignung von Geschichte und eines zusammenhängenden Geschichtsbildes. Im Unterschied zu anderen Völkern und Staaten besitzen die Deutschen in der Zeit seit dem „Zusammenbruch“ von 1945 kaum selbstverständliche historische Festpunkte, Daten historischer Überzeugung und Aneignung: Weder der 20. Juli 1944 noch der 23. Mai 1949 (Verfassungstag) oder der 17. Juni 1953 (Tag der Einheit) haben diese Funktion gewonnen.

Wir erinnern uns daran, was Friedrich Meinecke schon 1946 in seiner „deutschen Katastrophe“ formuliert hat, als er das Ende der politischen Geschichte Deutschlands überhaupt diagnostizierte: Nur als Kulturnation könne Deutschland hoffen, auf absehbare Zeit überhaupt noch zu existieren. Im selben Jahr gab Alfred Weber seiner Bilanz den Titel Abschied von der bisherigen Geschichte. Die „Stunde Null“ war das große Schlagwort der Publizisten und Intellektuellen — und ist es ja bis heute geblieben: die Klage um die versäumte „Stunde Null“. Staatliche Kontinuität erschien politisch wie historisch problematisch, auch wenn sie staatsrechtlich offizielle Doktrin war und in aller Form praktiziert wurde.

Als Karl Jaspers nach dem ersten Jahrzehnt der Bundesrepublik, am Ende der fünfziger Jahre, in seiner umstrittenen Schrift Freiheit und Wiedervereinigung die Westdeutschen ermahnte, ihre politische Freiheit über die nationale Einheit zu stellen, da begründete er diese entschiedene These, die ja auch mit der Präambel der Verfassung in einer gewissen Spannung steht, indem er daran erinnerte, daß das Deutsche Reich als Nationalstaat nur wenig mehr als 70 Jahre gedauert hat, also eher eine Ausnahmeerscheinung als einen Regelfall der deutschen Geschichte bedeutete. Aber demgegenüber bleibt zu bedenken, welches historische Gewicht gerade jene Epoche besitzt, in der die nationale Einigung als historisch notwendig und berechtigt erfahren wurde, und wie unmittelbar die ungelösten Probleme des gespaltenen Deutschlands noch immer mit der nationalstaatlichen Epoche Zusammenhängen. Die Diskussion ist darüber in vollem Gang geblieben, angemahnt vor allem durch das Geschick jener Deutschen, die weiterhin unter einer Diktatur leben: Wobei es freilich derzeit um ein primär menschenrechtliches, nicht territoriales Problem geht (Alois Mertes).

Bismarckzeit und Wilheiminismus, Erster Weltkrieg und Weimarer Republik, Drittes Reich und Zweiter Weltkrieg sind seit der Katastrophe des deutschen Nationalstaates in zahllosen Deutungen und in reichhaltigen Spezialuntersuchungen unter dem Gesichtspunkt von Kontinuität und Diskontinuität behandelt worden. Freilich ist diese deutsche Diskussion sehr oft in der Eigenretrospektion befangen und in den tiefen Widersprüchen steckengeblieben, die an den kritischen Punkten und schicksalhaften Weichenstellungen der kurzen, ereignisschwer verdichteten Periode des deutschen Nationalstaates aufbrechen und bis heute ungelöst sind.

Aber auch wenn wir hinter die nationalstaatliche Periode zurückgreifen, ist die Orientierung schwieriger und widerspruchsvoller als im Falle der meisten europäischen Staaten. Der deutschen Geschichte des Mittelalters und der Neuzeit fehlt vor dem 19. Jahrhundert der durchgehende, zur staatlichen Einheit drängende Zug, und selbst danach bleibt die geforderte „Identitätsfindung“ umstritten. Sie schwankt zwischen den Traditionen der Teilstaaten, zwischen Preußen und Österreich, zwischen groß-und kleindeutscher Form, zwischen Unitarismus und Föderalismus, zwischen Kultur-und Staatsnation, zwischen traditionalem Reichsgedanken und modernem. Einheitsstaat. Das Vielfältige gegenüber dem Einheitlichen tritt bei der Suche nach den historischen Entwicklungslinien, nach den Grundlagen und Kontinuitäten hinter und jenseits der Nationalstaatsbildung hervor, die für das heutige Geschichtsbewußtsein einer —wie immer man es definiert— geteilten oder gar nur noch als Kulturnation vorhandenen Nation von besonderer Bedeutung sind.

So ist auch die Aufgabe der bildungspolitischen Vermittlung ungleich schwieriger und anspruchsvoller, als wenn eine einheitliche Linie, ein durchgängiger, in der modernen Nationalgeschichte gipfelnder Geschichtsmythos durchgezogen werden könnte wie bei jenen Nationalstaaten Europas, die sich das eigene nationale Geschichtsbild mit dauerhafterem Erfolg gebaut haben. Dabei bleibt zu beachten, daß Nationalbewußtsein etwas bewußt Erzeugtes und Geformtes ist: „Nationen werden geschaffen“ (Christian Graf von Krockow). Wann immer dies in Deutschland versucht wurde, in der romantischen und nationalen Geschichtsschreibung und schließlich in der nationalimperialen Ideologie des Nationalsozialismus — wie übrigens auch des Faschismus, dem Produkt der italienischen Form einer verspäteten Nation mit dem Bezugspunkt des Risorgimento—, so konnte es auch zur Verkrampfung und Übersteigerung, zu Verfälschungen und Irrungen des Geschichtsbildes und des Politikbewußtseins führen.

Die besondere deutsche Situation erfordert im Blick auf diese Erfahrung, daß gerade die Vielfalt der vornationalstaatlichen Entwicklung bejaht und in ihrer Komplexität dargestellt wird. Wenn der Generation von 1870 die Überwindung dieser Vielheit als die besondere Errungenschaft eines deutschen Nationalstaates galt, so fällt es gewiß schwer, die Komplexität vornationaler Geschichte zu rezipieren, obwohl gerade sie einen großen Reichtum auf allen Gebieten des politischen Lebens und Denkens enthält.

Aber auch das Einheitsstreben seit den Befreiungskriegen von 1813, der gescheiterten Revolution von 1848, selbst der Reichsgründung von 1871 kann nicht einfach als Fehlentwicklung abgetan oder dämonisiert werden. Diese Geschichte bildet gerade mit ihrem ambivalenten Gehalt, mit ihren negativen wie positiven Zügen stürmischer Modernisierung und schwieriger Staatsbildung in der Mitte Europas einen unumgänglichen Erfahrungsschatz im Hintergrund der gegenwärtigen politischen Lage aller Deutschen im Westen wie im Osten.

Denn nicht nur die Katastrophen von 1933 bis 1945, auch die erstaunliche Erfolgsgeschichte der Bundesrepublik als einer freiheitlichen Demokratie und freilich zugleich die relativen Erfolge der DDR im Rahmen der kommunistisch-diktatorischen Organisation Osteuropas sind mit jener Periode der Modernisierung verknüpft. Allerdings nicht im Sinne historischer Konstruktionen nach Art des Ost-Berliner Museums für deutsche Geschichte, das diese insgesamt lückenlos und konsequent als Vorgeschichte der DDR gerade auch in ihren modernisierenden Entwicklungen darzustellen sucht.

Wenn es gilt, die Vielfalt der politischen Entwicklungslinien vor und während der scheinbar so definitiven Geschichte Deutschlands im 19. und 20. Jahrhundert ernst zu nehmen, so gewiß auch, um jene unhistorische „Reduktion der Vielfalt zur Einfalt“ (Fritz Stern) zu vermeiden, mit der Nationalisten und Nationalsozialisten, ausländische Vereinfacher und marxistische Monokausalisten in einer seltsamen Allianz die deutsche Geschichte zum bloßen Auftakt des deutschen Imperialismus, zur Einbahnstraße in den Faschismus verkürzen. Dazu bedarf es freilich mehr als der apologetischen Ausweichmanöver entweder in die Nostalgie ferner Geschichte oder in materielle Gegenwartserfolge der Bundesrepublik. So gewiß diese mehr Würdigung verdient, als ihr eine unersättliche Kritik zubilligt, so wenig genügt dies gegenüber dem Geschichtsstolz der Nachbarn, auch im engverflochtenen Westeuropa. Der deutschen Situation wird allerdings nicht ein neuer Nationalstolz gerecht, sondern die politische Aneignung der freiheitlich-demokratischen

Werte und Leistungen dieser Staatsgesellschaft, die auf der Hand liegen. Daß sie mehr ist als ein zeitweiliges „Wunder“ —ob nun Wirtschaftsoder Stabilitätswunder—, wird erst durch ein geschichtliches Verständnis auch der Eigenart, der Traditionen und Tugenden —oder sagen wir nüchtern der Möglichkeiten deutscher Geschichte lange vor und nach der Diktatur — plausibel, begründbar: nicht im Sinne chauvinistischer Abgrenzung eines deutschen National-charakters und deutscher Nationaltradition, sondern als eine eigene Standortbestimmung. Warum Deutsche so sind, es so machen, im Positiven wie im Negativen, das ist ein durchaus geschichtliches Resultat. Ob nun die Geographie, die Ökonomie, die Arbeitshaltung, der soziale Fortschritt oder die industrielle Kompetenz zum Kriterium dienen — dahinter stehen doch Jahrhunderte der Erfahrung und Bemühung, der Beharrung und Veränderung; dahinter steht eine Kultur-und Geistesgeschichte, in welcher die bürgerlich-freiheitlichen Werte des demokratischen Rechtsstaats angelegt sind, die freilich in der politischen Entwicklung zu kurz kamen und auch in der historischen Betrachtung früherer Perioden immer wieder vernachlässigt wurden, fast bis zum heutigen Tag.

Das „Dritte Reich“ war kein bloßer Betriebsunfall, aber es stellt auch nicht den einzigen Bezugspunkt der deutschen Geschichte dar. Um Auschwitz, seine Ursachen und Folgen, führt kein Weg herum. Aber die schonungslose Auseinandersetzung damit soll gerade frei machen für lebensnotwendige Geschichtsoffenheit und Geschichtsbewußtheit. Die Negativlektionen von 1933 und 1945 waren gewiß für die ältere Generation bestimmend, als Negativlektionen vor allem der älteren Zeitgeschichte; sie waren motivierend für Anstrengungen, es nun besser zu machen, standen im ständigen Kontrast zu den Erfahrungen der Weimarer Zeit und der deutschen Diktatur.

Dasselbe trifft freilich nicht für jene Mehrheit der Bevölkerung zu, die inzwischen geboren und herangewachsen ist. Sie steht in einem anderen historisch-politischen Bezugssystem. Ihrem veränderten Erfahrungshorizont entspricht das natürliche Bedürfnis nach positiven Orientierungspunkten auch in einer gebrochenen Geschichte.

Was sind positive Orientierungspunkte in einer gebrochenen Geschichte? Darum gehen die Bemühungen, und lassen wir sie hier im Stich, so müssen wir uns nicht wundern, wenn es entweder zu geschichtslosen, ja geschichtsfeindlichen Haltungen kommt oder wenn dann intellektuelle Manipulationen möglich werden, wie sie zumal in den letzten 15 bis 20 Jahren um sich greifen konnten.

Die positiven Aspekte und Traditionen, die entgegen der altneuen These vom „deutschen Sonderweg“ — sei diese nun nationalistisch oder geschichtskritisch begründet— die Entfaltung des Parlamentarismus und der Parteien in Deutschland durchaus mit der europäisch-atlantischen Entwicklung der Demokratie verbinden, verdienen mehr Aufmerksamkeit, als ihnen bislang gezollt wurde. Das gilt auch für die großen Forschungsleistungen gerade auf diesem Gebiet deutscher Demokratie-und Freiheitsgeschichte im 19. und 20. Jahrhundert. Allzu wenig haben öffentliche Diskussionen und politische Bildung davon Kenntnis genommen, allzu selten sich etwa der über 130 inhalts-und perspektivenreichen Bände bedient, die zum Beispiel die Bonner Kommission für Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien seit den fünfziger Jahren veröffentlicht hat.

III. Alte und neue ideologische Bedürfnisse

Mit der aktuellen Auseinandersetzung um einen Wandel sozialer und politischer Werte, den man auch als „silent revolution“ bezeichnet hat, stehen wir heute freilich wieder einmal inmitten einer deutschen Erfahrung, die aufregend deutlich macht, wie stark die besonderen Belastungen deutscher Geschichte und deutschen Denkens noch immer oder erneut auf die Verhaltens-und Orientierungsprobleme gerade der jüngeren Deutschen einwirken.

Nach dem Generationswechsel der sechziger Jahre — von manchen gar als Generationsbruch bezeichnet— kamen statt der erwarteten weiteren Entideologisierung neue Wellen ideologischer Bedürfnisse auf uns zu, auch in der politischen Bildung. Als sich zeigte, daß die Verwirklichung hochgesteckter politischer Erwartungen an Grenzen stieß, lebte die im neueren Deutschland immer wieder so schmerzhaft zugespitzte Konfrontation von Macht und Geist, von Politik und Ideal oder Moral wieder auf. Es gab neue Zeichen jener Störung eines maßvollen Verhältnisses zur politischen Realität, an der die erste deutsche Demokratie gescheitert ist. Dabei spielte die Anfechtung und Verunsicherung von institutioneilen Formen der Bildung und Erziehung, Familie und Schule im Zeichen von Veränderungslust und Wertwandel keine geringe Rolle.

Der Glaube an sozialen Fortschritt, gesellschaftliche Emanzipation setzte die Ära der sozialliberalen Koalition seit 1969 unter besonders starken Reformdruck. Um so mehr wurden dann die Wachstumskrise seit Mitte der siebziger Jahre und wenig später die Probleme der Umweltbelastung als eine Fortschrittskrise der Industriegesellschaft von einer zunehmenden Zahl der Zeitgenossen entweder empört oder resigniert zugleich als Krise der westlichen Zivilisation überhaupt gedeutet.

In dieser vielfach erregten Diskussion, die teilweise wie ein Rückfall in die Demokratie-und Zivilisationskritik der zwanziger Jahre erscheint, ist eine erneute Vergegenwärtigung der großen ideologischen Auseinandersetzungen unseres Jahrhunderts von Bedeutung. Es genügt nicht, kurzatmig auf die anspruchsvoll globalen Botschaften von „Bewegungen“ aller Art unserer Tage zu blicken. Es gilt vielmehr das Auf und Ab der ideologischen Verführungen zu bedenken, denen Europa und besonders Deutschland seit der Jahrhundertwende ausgesetzt waren, um jene Orientierungsprobleme und Fragen nach dem Sinngehalt der modernen Zivilisation in die richtige Perspektive zu rücken, mit denen die westlichen Demokratien angesichts alter und neuer Weltanschauungskonflikte mit ihren irrationalen Wirkungen zunehmend konfrontiert sind.

Intellektuelle, Jugend, Kirchen und viele andere Organisationen treten als Träger dieses wiederbelebten Krisendenkens hervor, das nun durch die Bezüge auf das atomare Zeitalter und die Probleme der atomaren Kriegführung eine besonders dramatische Zuspitzung erhält. Aus der Flut von Schriften, die in den letzten Jahren erschienen sind, sei nur das von Walter Jens herausgegebene Buch mit dem apokalyptischen Titel In letzter Stunde (1982) genannt, worin renommierte Autoren und Politiker sich unter betont endzeitlichem Signum versammeln.

Aber das sind Gedanken, die als Muster bei allem Unterschied der Bedingungen schon lange vorhanden sind; denken wir nur an die Parolen vom Untergang des Abendlandes vor und nach dem Ersten Weltkrieg. Wir haben erfahren, welche Negativkraft die irrationale Wirkung und der politische Mißbrauch, die Ideologisierung solcher Gedanken entfalten kann. Die nationalistische Sinngebung oder fatalistische Hinnahme des Krieges 1914, dann Kommunismus, Faschismus oder Nationalsozialismus, autoritäre oder totalitäre Bewegungen, sie alle waren nicht zuletzt Folgen eines seit Nietzsche und der Jahrhundertwende virulenten Kulturpessimismus, der schließlich im Vernichtungsregime des „Dritten Reiches“ mündete: auch dieses angetreten, die Krise zu überwinden, die angeblich die westliche Zivilisation heraufbeschworen hatte.

Aufmerksam registriert man daher jede Neuerscheinung der „deutschen Unruhe“, wie es außerhalb Deutschlands heißt, des „deutschen Problems“, wie wir es selbst thematisieren, wenn es sich nun wieder deutlicher in neutralistisch-antiwestlichen Ideen oder in der erneuten Suche nach einer besonderen deutschen Identität artikuliert. Die Zerrissenheit Deutschlands in einer Welt, die nach wie vor von Nationalstaaten geprägt und durch den Ost-West-Konflikt bestimmt wird, enthält ideologische Sprengkräfte, die durch die Zeiten des Wiederaufbaus und der Stabilisierung, wie wir sie heute erfahren, keineswegs endgültig überwunden sind.

Bedeutende Beobachter wie Daniel Bell oder Raymond Aron glaubten Ende der fünfziger Jahre, daß man endgültig von einer Entideologisierung sprechen könne. Aber gerade Aron, der große französische Soziologe und Philosoph, hat vor seinem Tod (1983) wieder dezidiert von der Fortdauer, ja „Unsterblichkeit“ der Ideologien gesprochen — und von der ständigen „Gefährdung des Westens durch Irrationalität“.

Das Ideologisierungspotential kündigt sich in Deutschland abermals durch besonders einschlägige Kampfbegriffe wie z. B.den Antibegriff der „Bewegung“ an, der ja nicht nur gegen die Parteien gerichtet ist und die parlamentarische Demokratie in Frage stellt, sondern einen enormen Gehalt an Weltanschauungsanspruch mit sich führt. Er markierte schon seit der Jugendbewegung der Jahrhundertwende die ideell-moralisch begründete Kritik am „bürgerlichen Zeitalter“, an westlicher Zivilisation und Politik. In dieser Weise war der Begriff der Bewegung ideologisch aufgeladen, und auch seine Diskreditierung durch die nationalsozialistische Bewegung hat nicht verhindert, daß er zu neuem Leben erweckt wurde.

Dabei zeigt sich immer von neuem die Anziehungskraft wie die Gefahr eines ideologischen Denkens, das extrem ideal-zielorientiert auftritt und die fundamentale Bedeutung der verfassungsstaatlichen Formen und Verfahrensweisen abwertet. Wenn man im Blick auf die Antiatomund Friedensbewegungen die expandierende Krisenliteratur des letzten Jahrzehnts mit ideologie-kritischen Augen liest, wird man zuweilen an das Gefühl der Ausweglosigkeit erinnert, das viele Intellektuelle zwischen den beiden Weltkriegen anfällig für die Ideologisierung des Denkens werden ließ, so daß ihnen damals nur noch die unheilvolle Alternative zwischen Faschismus und Kommunismus zu bleiben schien. Die verengte, einseitige Perspektive richtet sich auf bestimmte, gewiß beunruhigende Krisensymptome, kann aber leicht zu pseudoreligiösen Heilsvorstellungen, zur ideologischen Flucht aus der Wirklichkeit führen und durch Unterminierung einer offenen Gesellschaft deren Widerstandsfähigkeit gegen rechte oder linke „Bewegungs“ -Regime mit ihren ideologischen Lösungs-und Erlösungsversprechen schwächen.

Die neuen ideologischen Bewegungen verfügen — sofern sie nicht den totalitären Anspruch von Sekten und Theokratiebewegungen erheben (wie im Iran das Regime Khomeini) — wohl nicht über die geschlossenen System-und Theoriebildungen, wie sie für den Marxismus-Leninismus oder auch den Nationalsozialismus kennzeichnend sind. Aber durchaus typisch ist die Verwendung von suggestiven Leerformeln; solche Leer-formeln stecken auch in dem Gewaltverständnis und in dem ideologisch aufgeladenen Friedens-begriff der gleichnamigen Bewegungen unserer Zeit.

Die Funktion solcher Leerformeln ist die Dramatisierung und emotionale Mobilisierung. Als Schlüsselwort für Alternativbewegungen mit ökologischer, antiatomarer und antiamerikanischer Stoßrichtung rühren sie dann an Grundlagen des westlichen Demokratieverständnisses, wenn sie sich als fundamental oder systemoppositionell verstehen und mit totaldemokratischer Gebärde, doch zugleich elitärem Wahrheitsanspruch ganz betont mindestens ein Standbein außerhalb der Parlamentsdemokratie haben. Im Grenzbereich zwischen Demokratie und Diktatur operierend, können sie Inkubationsraum totalitärer Ideologien sein oder werden: Vorstadien, Übergangsformen eines Ideologisierungsprozesses, bei dem die machtpolitischen Positions-und Ausscheidungskämpfe noch nicht entschieden sind.

IV. Die doppelbödige Zeitgeschichte

Wie ist nun dieser alte und neue Aufbruch, diese besondere Schärfe der deutschen Problematik zu erklären? Warum gerade hier, warum gerade jetzt und stärker als in irgendeinem Land Europas, nach einer Erfolgsgeschichte der zweiten deut-schen Demokratie, die sich so deutlich von der Leidensgeschichte der ersten unterscheidet, und nach 40 Jahren Bemühung um politische Bildung und um geschichtliche Aufklärung? Die eine Antwort liegt in dem, was ich im Blick auf den Wechsel der Generationen und die Verschränkung der Erfahrungen als Doppelbödigkeit unserer Zeitgeschichte bezeichnen möchte, eine andere gewiß in der Tatsache des geteilten Landes in einem Europa und in einem Bündnis, in dem nationale Interessen nach wie vor als erstrangig und zentral erfahren werden.

Schon immer sind die Geschichts-und Politik-begriffe in all ihren Wandlungen aufs engste verknüpft mit zeitgeschichtlichen Grunderfahrungen, die zugleich als ein Koordinatensystem politischer Deutung, als Wegweiser politischer Bewußtseinsbildung wirken. Wohl nie aber sind das Gewicht und der Eigencharakter zeitgeschichtlicher Betrachtung so deutlich geworden wie in unserem Jahrhundert. Das hat einmal gewiß zu tun mit unseren verbesserten Möglichkeiten, auch des laufenden Geschehens habhaft zu werden; solche Vergegenwärtigung durch ständig gesteigerte Information und Publizität kommt in unvergleichlichem Ausmaß immer weiteren Bevölkerungskreisen zugute; es kann freilich zugleich Verwirrung hervorrufen, das Erkennen der wesentlichen Züge der Entwicklung komplizieren, zu Orientierungsproblemen führen. Zum anderen sind es scharf umrissene Einschnitte unserer Epoche, zumal die weltgeschichtlichen Daten von 1917/18 und 1945, die der Zeitgeschichte überhaupt schärfere Konturen verleihen, ihren epochalen Zusammenhang frühzeitiger erkennen lassen.

Ein ganz besonderes Charakteristikum unserer jüngsten Vergangenheit ist dabei die erwähnte Doppelbödigkeit sowohl des historischen Bezugsrahmens wie auch der politischen Bewußtseinsbildung. Noch immer mit der schweren, nicht zu verdrängenden Erbschaft des Nationalsozialismus belastet, doch zugleich im Zeichen einer Stabilisierung des ursprünglichen Provisoriums Bundesrepublik und nun auch der DDR im geteilten Europa, stehen wir ständig unter der Wirkung von zwei historischen Zusammenhängen, die tief verschieden und doch nahezu gleich stark unmittelbar in unser politisches Dasein hereinwirken: die Zwischenkriegszeit seit 1917/18, die in die Diktatur führte, und die zweite Nachkriegszeit von 1945 mit der Entwicklung zu den beiden deutschen Teilstaaten.

Unser Leben und Denken ist im Vergleich zu anderen Epochen in einzigartiger Weise von jenem doppelten Bezugssystem geprägt; die gegenwärtige Auseinandersetzung geht denn auch nicht nur um Richtung und Sinn unserer Epoche, sondern gleichzeitig um die Deutung einer trotz der zeitlichen Distanz nicht vergangenen, nicht leichthin zu historisierenden totalitären „Vergangenheit“ — wobei sich die Richtungen der Interpretation immer wieder eigentümlich verschränken und verschärfen, auch nicht einfach als links oder rechts zu qualifizieren sind, wie sich schon Ende der sechziger Jahre zeigte, als uns Kritikern eines allzu allgemeinen Faschismusbegriffs zeitweise eine Front von Nolte über Habermas bis zur APO gegenüberstand.

Es handelt sich um zwei Dimensionen von Zeit-geschichte, die sich seitdem überschneiden und überlagern, aufeinanderstoßen: eine ältere und eine neuere Zeitgeschichte, die in einer großen Kontinuität der Ideologien und Herrschaftsformen, der Gesellschafts-und Wirtschaftsordnungen zwar Zusammenhängen, aber dann doch wieder deutlich getrennt sind durch den tiefen Einbruch von 1933— 1945.

Die ältere Zeitgeschichte steht unter der eindringlichen Erfahrung des Scheiterns einer von der deutschen Niederlage von 1918 überschatteten Demokratie, der die erneuerte Machtsteigerung unter Hitler mit der menschenfeindlichen totalen Selbstüberhebung und Selbstzerstörung Deutschlands folgte — und zugleich auch der Niedergang Europas.

Ihr stehen nun schon vier Jahrzehnte jener jüngeren Zeitgeschichte gegenüber, in denen sich eine veränderte Rolle und neue Strukturen Europas abzeichnen. Doch beide Perioden und Erfahrungskreise bleiben noch immer eng ineinander verflochten, ja verkettet; die großen Ideologien, die Herrschafts-und Gesellschaftssysteme wirken vom Ersten Weltkrieg bis in die Gegenwart unmittelbar hinein, so gewaltig die Veränderungen im Gefolge des Zweiten Weltkriegs, der Ost-West-Konfrontation und der Hoffnungen auf Entspannung sein mögen.

Dieser Konflikt der Zeitgeschichten bedeutet mehr als bloß den immer wiederkehrenden Konflikt der Generationen, die sich auf verschiedenartige Erfahrungen und ein verändertes Bezugs-feld berufen. Wir stehen vor einer Vergangenheit, in der die Widersprüche und die tiefe Verschiedenheit der Erinnerungen, die damit seit dem Auftreten der totalitären Bewegungen und unmenschlichen Regime bis zum heutigen Tage verknüpft sind, für Zeitgenossen wie Nachgeborene immer wieder auf bestürzende Weise aufflammen. Und zwar nicht nur in bezug auf die Folgen von Kommunismus und Nationalsozialismus, sondern auch mit der immer noch aktuellen Debatte über das Scheitern von Weimar, jenem in der deutschen wie internationalen Betrachtung stärksten Symbol für die Probleme des Niedergangs und der Selbstzerstörung einer modernen Demokratie überhaupt. So ist zeitlich weit voneinander Getrenntes doch ständig miteinander konfrontiert und zugleich konfliktreich verknüpft, besonders durch die kurze entscheidungsreiche Zwischenperiode von 1945 bis 1950, als aus den Konsequenzen des Krieges binnen weniger Jahre jene großen Weichenstellungen erfolgten, die bis heute gültig sind. Sie bewirkten eine polar, ja antagonistisch strukturierte „stabile Krise“ in Europa, mit dem relativen Frieden eines Kalten Krieges, dessen grundlegende Gegebenheiten ja entgegen vielen Prognosen andauern, solange Menschen im Osten ihr diktatorisch beherrschtes Land in der Regel nur unter Lebensgefahr verlassen können.

Jeder Blick auf die vergangenen Jahrzehnte hat jene Doppelschichtigkeit des Erfahrungshintergrunds zu berücksichtigen, die unserer neueren Zeitgeschichte seither eigentümlich ist. Mit dem Öffnen der Archive, der Nachlässe von Zeitgenossen und ihren Stellungnahmen als „Zeugen der Zeit“ in den Medien wird zugleich die anhaltende Bedeutung der großen Entscheidungen und Frontstellungen sichtbar, die schon aus dem Ersten Weltkrieg erwachsen sind.

Gab es damals drei epochale Antworten auf den Krieg und seinen Ausgang — liberal-soziale Demokratie, autoritär-nationalistische Regime und totalitäre Diktatur—, so sind diese Antworten auch nach dem Sturz von Faschismus und Nationalsozialismus in den Rechts-und Linksdiktaturen des autoritären Nationalismus und des totalitären Kommunismus als Herausforderung an die rechtsstaatliche pluralistische Demokratie präsent geblieben. Ja, viele der Entscheidungen und Folgen des Ersten Weltkrieges (wie Kolonialfragen und neue Staatenwelt, Europapolitik und Rolle der USA) sind nach dem Zweiten Weltkrieg überhaupt erst weltweit wirksam geworden. Diese Kontinuität der großen Probleme und Fragestellungen zeigen auch die so betont abgehobenen Revolten der letzten zwei Jahrzehnte. Sie erweisen sich nicht zuletzt als Wiederbelebung von Polarisierungen und Ideologisierungen der zwanziger Jahre, wenn sie sich nicht sogar geradewegs nach wie vor auf die Oktoberrevolution als das entscheidende Datum überhaupt für die neue Geschichte berufen —auf Weltrevolution und Internationalismus also — oder auf den Gedanken der nationalen Selbstbestimmung, die große Parole von 1918, aber auch auf das Postulat demokratischer Menschenrechte: alles Leitideen der ersten Nachkriegszeit.

Zugleich stehen wir vor tiefreichenden Veränderungen, die sich in den Fragestellungen und Methoden der Zeitgeschichte vollziehen: und zwar entgegen gängiger Meinung nicht erst seit der berühmten Fischer-Kontroverse um die Schuldfrage von 1914, sondern durchaus schon in den fünfziger Jahren, als auch der Verfasser in seinen Studien zur Auflösung der Weimarer Republik und zur NS-Machtergreifung strukturgeschichtliche Fragen aufgeworfen und um politisch-moralische Antworten gerungen hat, die der traditionellen Form von Geschichtsbetrachtung und der überlieferten Nationalstaatsgeschichte widersprachen. Diese Kontroversen wurden in den sechziger Jahren zunehmend politisiert, von den institutionellen Umwälzungen im Bildungs-und Hochschulwesen aufgegriffen und verschärft, zugleich überschattet und oft bedenklich verzerrt. Dabei kamen neue Forschungstendenzen von übernationaler Geltung und Wirkung zum Durchbruch: so neben der Einbeziehung interdisziplinärer, komparatistischer Methoden ein stürmisches Verlangen nach sozialwissenschaftlicher Fundierung und Erweiterung der Geschichtsforschung, womit zugleich die bisherigen Maßstäbe und Ergebnisse korrigiert oder in Frage gestellt wurden. Es kam zur teilweise radikalen Anfechtung auch jener Grunderfahrungen, die zumal in Deutschland so wesentlich aus der Auseinandersetzung mit den Katastrophen von 1933 und 1945 hervorgegangen waren.

V. Moderner Wandel und politisches Bewußtsein

Zwei große Zusammenhänge bestimmten zunächst die Strukturen und Tendenzen der neueren Zeitgeschichte nach dem Zusammenbruch des „Dritten Reiches“: Renaissance und Kooperation der Demokratien in Westeuropa und Entwicklung des Kalten Krieges. Der Ausgang des Zweiten Weltkrieges schien eine neue Ära zu eröffnen: Die Befreiung von Faschismus und Nationalsozialismus und die Vision einer Weltfriedensordnung der Vereinten Nationen setzten die großen Zeichen für die Erwartung, daß nun die Krisen der Zwischenkriegszeit der Vergangenheit angehörten.

In Wahrheit beginnt zugleich ein Zeitalter weltweiter Blockpolitik und ebenso ein Prozeß der Entkolonisierung, in dem das gespaltene Europa ganz vom Subjekt zum Objekt der Weltpolitik zu werden scheint. Doch die Prophezeiungen von der Weltwende, vom Ende Europas und des Abendlandes werden durch unvorhergesehene Ereignisse widerlegt. Der Kalte Krieg beschleunigt vielmehr die Rekonstruktion Westeuropas, und die europäisch-atlantische Einigungspolitik vermag dem schon 1914 begonnenen Niedergang Europas auf kaum erwartete Weise Einhalt zu gebieten.

Kalter Krieg und Dritte Welt bezeichnen in der weiteren Entwicklung die beiden großen Konfliktzonen bis zur Gegenwart. In der Mitte der sechziger Jahre aber, mit dem Durchbruch der weltweiten Unabhängigkeitsbewegung und den Ansätzen zur Entspannungspolitik, können wir nun eine weitere Zäsur erkennen: Tendenzen einer „Kulturrevolution“ —das Wort abgeleitet von den chinesischen Vorgängen, die als Maoismus auch im Westen eine Welle der Selbstverunsicherung verstärken — und sodann jene unerwarteten ökonomischen Krisenwellen, deren Folgen bis heute nachwirken, setzen die Bewußtseinsentwicklung in scharfen Kontrast zu der Periode der Rekonstruktion und des stetigen Aufstiegs und Fortschritts der westlichen Industriegesellschaft.

In demselben Maße, in dem der von der unmittelbaren Erfahrung des Dritten Reiches geprägte Bezugsrahmen verblaßt, kommt es zu vermehrten Kampfansagen an liberal-demokratische Wertmaßstäbe. Ihnen entsprechen erbitterte Angriffe auf den Totalitarismus-Begriff, die im Verein mit einer uferlosen Ausweitung der generellen Faschismustheorie nach Formeln der zwanziger und dreißiger Jahre geführt werden. Auch der westliche Demokratiebegriff wird als spätbürgerlich oder spätkapitalistisch, die liberal-parlamentarische Erneuerung Deutschlands und Westeuropas als restaurativ angefochten. Eine doch weitgehend scheinaufklärerische, weil nicht eigentlich vorurteilsfreie „Hinterfragungs“ -Demontage bisheriger Maßstäbe zeitgeschichtlicher und politik-wissenschaftlicher Arbeit, ihrer Vielseitigkeit und Offenheit, zugunsten ideologischer Mono-Erklärungen zeichnet sich ab.

Solche Tendenzen griffen weit über neomarxistische Dogmatismen hinaus auch auf die liberale Wissenschaft über. Auch nichtmarxistische Autoren haben sich von dem sozioökonomischen Impetus und dem sprachlichen Gestus einer Soziologisierung der Zeitgeschichte beeindrucken lassen. National wie international änderten sich Sprache und Stil der zeitgeschichtlichen Interpretationen. Aber zugleich stehen sie in der Erinnerung an die großen Durchbrüche und Polarisierungen, die Ideologiekämpfe und Lösungsverheißungen der „goldenen zwanziger Jahre“, denen die Reprints, Ausstellungen, intellektuellen Debatten des letzten Jahrzehnts in auffälligem Maße gewidmet sind.

Die neuere Zeitgeschichte, von der hier die Rede ist, besitzt mithin oder schlägt immer wieder tiefe Wurzeln in Erfahrungen und Denkformen der älteren Zeitgeschichte. Das Ineinanderwirken der so verschiedenen Dimensionen unserer Vergangenheit mag etwas Irritierendes, Desorientierendes an sich haben, aber es kann auch durchaus bereichernd, bewußtseinsschärfend wirken. Denn die Antworten, die nach 1945 gegeben wurden, sind noch immer bedenkenswert.

Aber gleichzeitig kommt es nun darauf an, die veränderten Faktoren der innen-wie außenpolitischen Entwicklung, die seit den sechziger Jahren vordringen, den Generationswechsel überschatten und auch die Lösungen der unmittelbaren Nachkriegszeit vielfach in Frage stellen, im Auge zu behalten: nicht zuletzt eine tiefe Gespaltenheit des Zeitgefühls zwischen dem anfangs euphorischen Fortschrittsglauben noch der frühen siebziger Jahre und einem dann um so stärker einbrechenden Verfallsbewußtsein, widergespiegelt in der doppelsinnigen Parole einer „Tendenzwende“, die seit 1974 je nach dem Standort positiv oder negativ verstanden und beschworen wird.

Eine Art Rhythmus der Generationen, jeweils im Abstand von etwa 15 Jahren bemerkbar, zeichnet sich ab: Zunächst (1945) die „skeptische Generation“ der politisch-ideologischen Ernüchterung und des Wiederaufbaus, dann seit Anfang der sechziger Jahre eine Generation der drängenden Kritik, der Rebellion und Re-Ideologisierung, schließlich seit Mitte der siebziger Jahre die Generation des Zweifelns an Werten und Sinngebung, einer Kulturkrise, die inmitten hochentwickelter Technik und Kommunikation ein neues Bedürfnis nach privater und religiöser Erfahrung nährt. Revolutionäre Tendenzen aus den späten sechziger Jahren leben fort, eine Kontinuität von 1968 wirkt auch als Kernbestand der sogenannten „neuen sozialen Bewegungen“, aber nun mit Gefühlen der Bedrohung, die angesichts der globalen Energie-und Umweltprobleme unter dem deutschen Stichwort „Angst“ sich mit alten Ideologien zu antikapitalistischen, antizivilisatorischen Frontstellungen verbinden, um seit 1980 in der Neuorganisation von (alternativen und grünen) Bewegungen einen zumal in der jüngeren Generation auch politisch wirkungsvollen Ausdruck zu finden.

Die Frage nach den längerfristigen Veränderungen des Bewußtseins im Zeichen dieser Entwicklung ist nicht leicht zu beantworten. Es verstärkt sich allenthalben ein Druck auf die liberale und rechtsstaatliche Grundstruktur der westlichen Gesellschaften, die bis in die siebziger Jahre hinein als Erfolgsgesellschaften galten. Eine Gegen-front dringt vor, die aus sehr verschiedenen Kräften und Impulsen besteht: so gegen die Ausweitung bürokratischer Strukturen, gewiß eine langfristige Tendenz, doch in ihrer Wirkung sehr gesteigert angesichts der neuen Hilfsmittel kollektiver Erfassung in der Datenkontrolle. Andererseits registrieren wir den Drang nach staatlicher Effizienz im Sinne des Wohlfahrtsstaats, die allgemeine Forderung nach sozialer Sicherung, umfassender sozialer Gerechtigkeit. Gleichzeitig sehen wir überall sonst in der Welt autokratische Strukturen vordringen; die ursprüngliche Erwartung, daß die Welt demokratisch werde, macht der Ernüchterung Platz, daß die liberal-pluralistisch, repräsentativ-demokratisch organisierten Staaten nach wie vor eine kleine Minderheit (von etwa 30 Staaten) unter den 160 Mitgliedsländern der Vereinten Nationen geblieben sind. Indessen verstärken sich auch die Züge zu apolitischem Verhalten, zu einem Soziologismus und Psychologismus, die mit wissenschaftlichem Anspruch durch prinzipielle Infragestellung die Auflösung traditioneller Werte der westlichen Kultur betreiben und dabei deren Bedeutung in ihrem größeren Zusammenhang unterschätzen oder übersehen.

In all dem wirkt vor allem das Erlebnis des unerhört raschen Wandels unserer Zivilisation. Was bedeutet Zeitgeschichte eigentlich noch bei einer so vielfachen Beschleunigung der Entwicklung, wie sie besonders durch die bedrängende Flut an Informationen im Zeitalter der Television auf den einzelnen, die Familie, die gesellschaftlichen Gruppen zukommen? Dem Druck machtvoller Medienorganisationen gewissermaßen die private Existenz abzuringen, bedeutet in der modernen Konkurrenz-und Leistungsgesellschaft für den einzelnen oft eine Überforderung. Wohl ist dies nicht allein auf das Fernsehen zurückzuführen, aber es ist kaum zu leugnen, daß die ungeheure Verdichtung weltweiter Information gerade in den letzten anderthalb Jahrzehnten dazu beigetragen hat, daß Neurosen und psychische Fluchtbewegungen zunehmen.

Schon vor 1984 war das Jahr Orwells als Möglichkeit sichtbar geworden: Seine Vision einer gleichgeschalteten Gesellschaft, elektronisch gesteuert und perfektioniert, die dem Menschen eine standardisierte Kultur überstülpt, enthält im Grunde das Ende der Geschichte. Und auch hier wirkt wiederum der ältere Kulturpessimismus, eine Renaissance von Gedanken und Befürchtungen der Zwischenkriegszeit herein. In den dreißiger Jahren hatte Orwell seine entscheidenden Erlebnisse: Seine Teilnahme am Spanischen Bürgerkrieg und die Anschauung der menschen-feindlichen Diktaturen Hitlers wie Stalins münden in die Erkenntnis und Erfahrung der totalitären Bedrohung von rechts wie von links; zuvor schon entstand Aldous Huxleys Science-Fiction-Utopie von einer wissenschaftlich perfekten Gesellschaft der Zukunft, die keine eigentlich menschenwürdige Gesellschaft mehr sein kann.

Im Grunde stehen wir wieder vor Fragen, die wie damals am Ende des Zweiten Weltkriegs unter dem Eindruck der modernen Diktaturen die sozialphilosophische Diskussion über Die offene Gesellschaft und ihre Feinde (Karl Popper 1945) betreffen: zumal die Frage, ob und wie es gelingen könne, ein offenes Politik-und Gesellschaftsverständnis zu erhalten unter Zwängen und Entwicklungen, die eigentlich eher auf geschlossene, technisch perfektionierte, dominierende Systeme hindrängen.

Neue Kraftproben zwischen Wettbewerbs-und Wahrheitsstaat, zwischen ideologischer Fixierung und fragiler Freiheit kündigen sich an — und damit wieder jenes Dilemma, das Karl Jaspers (1958) in seinen beiden Aspekten prägnant umrissen hat: „Der Osten hat eine Ideologie, der Westen keine, weil beliebig viele“. Doch zugleich: „Demokratie ist tolerant gegen alle Möglichkeiten, muß aber gegen Intoleranz selbst intolerant werden können“.

Angesichts alter und neuer totaler Wahrheitsansprüche gilt es, jene Offenheit anstelle geschlossener Ideologien zu bewahren, sie auszuhalten, aber auch als die eigentliche Errungenschaft der westlichen Geschichte zu verteidigen: die Freiheit des Denkens, auf der die politische Wahlmöglichkeit beruht, und umgekehrt die politische Wahlmöglichkeit, die erst die volle Freiheit des Denkens ermöglicht. Ein großer Meinungsspielraum ist die Grundbedingung unserer Kultur; es gilt ihn freilich immer aufs neue nicht nur gegen Zensur, sondern ebenso gegenüber der Verführungskraft eingängigen, einlinigen politischen Glaubens zu bewahren.

VI. Das deutsche Problem als Herausforderung

Auch in dieser Hinsicht kommt der geschichtlichen Dimension politischen Bewußtseins gerade im zweigeteilten Deutschland unverminderte Bedeutung zu. Geschichte als Gedächtnis der Menschen will, ausgesprochen oder nicht, die moralischen Wertfragen zur Anschauung und zur Entscheidung stellen, die zur Orientierung und Standortbestimmung der Gegenwart beitragen. Für eine noch so nüchterne und positivistische Geschichtsauffassung gilt, daß die Historie immer wieder von der Gegenwart aus geschrieben und neu gedeutet wird — und daß darum eine betont geforderte „Historisierung" in der Zeitgeschichte problematisch ist, sofern sie der Tendenz zur moralischen Relativierung politischen Handelns entgegenkommt. Denn immer geht es auch um die emotionalen und die ethischen Komponenten der geschichtlichen Anschauung, das Angebot zur Identifikation mit menschlichen und politisch-gesellschaftlichen Schicksalen der Vergangenheit.

Unsere historische Problematik bringt nun freilich die Bedingtheit nationalstaatlicher Geschichte mehr als irgendwo sonst zur Anschauung und zum Bewußtsein und könnte insofern auch für andere Staaten und Völker von einigem Wert sein. Jedenfalls enthält sie das Gebot und die Chance sowohl der innerpolitischen Offenheit wie zugleich einer Weltoffenheit, mit der die Bundesrepublik steht und fällt, von der sie lebt: Das ist sozusagen ihre Alternative. Zu ihrer „Identität“ gehört, als faktisch postnationale Demokratie sich besonders den demokratischen und übernationalen Wertstellungen einer Verfassungs-Nation verpflichtet zu fühlen. Auch ihre vielzitierte ökonomische Stärke ist ja durchaus nicht gegen Krisen gefeit: So erfolgreich die Soziale Marktwirtschaft operiert, als Staatsgrund bleibt sie in gewisser Weise vordergründig, ihre „Ordnungspolitik“ bedarf der geistigen wie der historischen Dimension im Sinne eines entschiedenen „Verfassungspatriotismus“ (Dolf Stemberger).

Es geht um die europäischen und kosmopolitischen Ansätze der neueren deutschen Zeitgeschichte ebenso wie um das Vermögen, die eigenen Traditionen des Föderalismus und der Selbstverwaltung —jene deutsche Tradition der Komplexität, allzuoft unterschätzt auf dem Weg zum Nationalstaat— als geschichtliche Werte aufzusuchen, zu vergegenwärtigen und den Nationalstaat nicht als letzte Instanz anzusehen.

Das kann und darf gerade nicht Verzicht auf geschichtliches Bewußtsein, Geschichtslosigkeit heißen. Im Gegenteil! Es heißt vielmehr, das Bewußtsein zu schärfen, wie vieles von dem, was im vergangenen Jahrhundert erstrebt und ersehnt wurde, doch heute der Verwirklichung nähergerückt ist. Nach der zeitgeschichtlichen „Abrechnung“ also auch die durchaus positiven Akzente einer langen Vorgeschichte der zweiten deutschen Demokratie: das Ringen um Verwirklichung der politischen Freiheit für alle Schichten und Klassen, um soziale Gerechtigkeit und materielle Verbesserung, um die innere Sicherung der Demokratie wie um ihre äußere Sicherheit — freilich unter jenen schweren Opfern und Erfahrungen, die es dabei und im Verhältnis zu anderen von unserer eigenen Geschichte betroffenen Völkern stets zu berücksichtigen gilt.

Verhängnisvoll wäre ein Rückfall in jene alte deutsche Neigung, in allem besonders tief und gründlich sein zu wollen: so einst mit idealistischen und romantischen Volkstumsideen vor der Bildung eines deutschen Staates, sodann im Ringen um die richtige deutsche „Weltanschauung“, wozu bald auch die antisemitische Ideologie gehörte, so in der Sinngebung und im Durchhalten zweier Weltkriege und schließlich im totalitären Zuschnitt einer menschenverachtenden Diktatur; aber nach dem Wiederaufbau nun auch in einer Überforderung der Demokratie als Staat durch ein identitär zugespitztes Demokratieverständnis, ja zuletzt eine deutsche Führungsrolle in der Öko-und Friedensbewegung. Können sich Energie und Idealismus nicht auch in ebenso gründlichem und dauerhaftem Einsatz für Europa, westliche Demokratie und Menschenrechte bewähren, statt überspitzten Zielvorstellungen anheimzufallen?

Daran ist schließlich auch zu denken, wenn immer wieder geklagt wird über die fortdauernde Belastung durch eine deutsche Vergangenheit, die nicht vergeht, und durch eine Zukunft, in der die Teilung Deutschlands nicht endet. Das alte „deutsche Problem“ stammte aus der historischen Spannung einer Nationswerdung zwischen politisch gespaltener Vielfalt und forcierender Über-erwartung von Einheit, mit der Folge eines fatalen Schwankens „zwischen Unter-und Über-schätzung des Staates“ (Rudolf Smend), zwischen notorischem Ungenügen an Deutschland und Höchstbewertung der nationalen Idee. Und heute? So schmerzlich die Trennung ist, die eine zweite deutsche Diktatur, nun kommunistischer Prägung, mit sowjetischer Hilfe über ein Viertel der Deutschen verhängt, so gewiß bietet die Bun-B desrepublik freiheitliche Identifikationsmöglichkeiten wie kein deutscher Staat zuvor. Sie aufs Spiel zu setzen, könnte den Deutschen im Osten so wenig wie im Westen nützen.

Ein wirkliches Offenhalten der deutschen Frage bleibt denn auch nur möglich und verantwortbar, wenn es auf der primären, wertesichernden Entscheidung für den Westen und die freiheitliche Demokratie beruht und wenn es bei allem Bemühen um Entspannung und Annäherung zwischen West und Ost jenen grundlegenden Unterschied zwischen Demokratie und Diktatur beachtet, den die Deutschen 1933 so leichtfertig und mit so schrecklichen Folgen für die Menschen und Völker Europas mißachteten, und wenn über den Rufen nach mehr deutschem Staats-und Nationalbewußtsein nicht vergessen wird, daß der systematische Mord an den Juden und die Zerstörung Europas ebenso zu unserem historischen Erbe gehören wie jene Entscheidungen nach der „deutschen Katastrophe“, die uns an der Seite der demokratischen Nationen um so eindeutiger auf die Grundwerte abendländischer Kultur, nicht zuletzt auf die Bewahrung und Verteidigung der Menschenrechte verpflichten.

Dazu gehört schließlich vor allem auch die Fortführung und Wiederbelebung des europäischen Gedankens, jener Leitidee eines neuen Europa, das nach Jahrhunderten der Kriege und Unterdrückung der Welt ein Modell der übernationalen Konfliktlösung und Zusammenarbeit zur Sicherung der Freiheit und des Friedens bietet. Es steht unter der Einsicht, an die ein großer Architekt deutsch-französischer und europäischer Einigung, Robert Schuman, noch am Ende seines Lebens (1963) erinnert hat: „Den Nationalismus der anderen können wir nicht widerlegen, wenn wir ihm unseren eigenen Nationalismus gegenüberstellen“. Um dem schleichenden Gift eines neuerlichen Europessimismus angesichts der künftigen Entwicklungsprobleme der Europäischen Gemeinschaft gewachsen zu sein, bedarf es gerade heute im Zeichen der Identitätsdiskussion des Blicks auf jene geschichtliche Erfahrung: daß nach den schweren Verirrungen der Weltkriegszeiten nicht zuletzt die Absage an den Nationalismus eine Aufarbeitung unserer Vergangenheit und den Wiederaufbau einer freiheitlichen Demokratie in Deutschland überhaupt erst möglich gemacht hat.

Fussnoten

Weitere Inhalte

Karl Dietrich Bracher, Dr. phil., Dr. hum. lett. h. c., Dr. jur. h. c., geb. 1922; o. Professor für Wissenschaft von der Politik und Zeitgeschichte an der Universität Bonn; Vorsitzender des Wissenschaftlichen Beirats des Instituts für Zeitgeschichte, München. Veröffentlichungen u. a.: Die Auflösung der Weimarer Republik, 1 9846; (mit G. Schulz und W. Sauer) Die nationalsozialistische Machtergreifung, 19743; Deutschland zwischen Demokratie und Diktatur, 1964; Die deutsche Diktatur, 19836; Das deutsche Dilemma, 1971; Europa in der Krise, 19792; Zeitgeschichtliche Kontroversen, 19845; Schlüsselwörter in der Geschichte, 1978; Geschichte und Gewalt, 1981; Zeit der Ideologien, 19853; (mit W. Jäger und W. Link) Republik im Wandel, 1986.