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Kommentar und Replik | APuZ 8/1987 | bpb.de

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APuZ 8/1987 Die Entwicklungproblematik Überlegungen zum Stand der Diskussion Überwindung der Not in der Dritten Welt durch marktwirtschaftliche Ordnung? Militante Konflikte in der Dritten Welt Kommentar und Replik

Kommentar und Replik

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Zur Berücksichtigung kultureller Faktoren in der Entwicklungspolitik

Zum Beitrag von Frank Bliss: „Die kulturelle Dimension von Entwicklung. Aspekte eines Defizits im entwicklungspolitischen Instrumentarium'* (B 35/86)

In seinem Beitrag „Die kulturelle Dimension von Entwicklung. Aspekte eines Defizits im entwicklungspolitischen Instrumentarium“ äußert sich Frank Bliss zu einem Problem, das das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit (BMZ) und mich persönlich seit vielen Jahren beschäftigt: der „kulturellen Dimension" von Entwicklung (und Entwicklungspolitik). Da der Verfasser ausdrücklich einen aktuellen Beitrag anzeigt und auf Wirksamkeit in der praktischen Entwicklungszusammenarbeit abzielt, will ich zu seinen Ausführungen ausführlich Stellung nehmen; ich tue dies bewußt aus der Sicht desjenigen, der Entwicklungspolitik zu gestalten und (u. a.dem Steuerzahler gegenüber) zu verantworten hat.

Frank Bliss stellt für den hier interessierenden Zusammenhang im wesentlichen vier Punkte heraus:

1. Entwicklung ist ohne Berücksichtigung der kulturellen Dimension nicht vollständig und deshalb notwendigerweise erfolglos; ein Umdenken ist daher nötig.

2. Die Bundesregierung betreibt die als notwendig erkannte Umorientierung nur halbherzig.

3. Der Ansatz des BMZ zur Erschließung der kulturellen Dimension für die Planung von Entwicklungsprojekten führt in die Irre.

4. Nur ein stärkerer Einsatz von Ethnologen in der Entwicklungszusammenarbeit kann hier Abhilfe schaffen.

Zu Punkt 1: Hier kann dem Verfasser nur ausdrücklich zugestimmt werden. Diese Zustimmung erstreckt sich auch auf die von ihm veranstaltete „Defizitanalyse“: Es ist nicht zu bestreiten, daß Entwicklung in früheren Jahren zu einseitig wirtschaftlich gesehen wurde, daß die Zusammenarbeit mit staatlichen Stellen in den Entwicklungsländern ihre Tücken hat und daß bisher häufig zwischen „Projekterfolg" und „Entwicklungserfolg“ (hier übernimmt Bliss Begriffe aus dem BMZ) nicht ausreichend unterschieden worden ist. In einem weiteren Punkt muß Bliss zugestimmt werden: Die öffentliche Diskussion über Entwicklung und Entwicklungspolitik hat in der Vergangenheit zur Verbesserung der Entwicklungszusammenar39 beit beigetragen, und ich gehöre zu denjenigen, die das auch für die Zukunft erhoffen.

Zu Punkt 2: Die Umorientierung, konkret: die Einbeziehung der als entwicklungswichtig erkannten kulturellen Faktoren in Planung und Durchführung von Projekten, ist im BMZ inzwischen in Gang gekommen. Gerade von einem Ethnologen, der seinen Standpunkt so sorgfältig vom „technokratischen“ abgrenzt, sollte man allerdings erwarten dürfen, daß er aus dem Ausbleiben spektakulärer, weltweiter Soforterfolge nicht auf einen Mangel an Ernsthaftigkeit in dieser Hinsicht schließt.

Zu Punkt 3: Ich muß hier etwas weiter ausholen, da offenbar zwischen der ethnologischen Art des Herangehens an die Probleme von Entwicklungsgesellschaften und derjenigen, zu der wir Entwicklungspolitiker durch das Aktionsfeld, in dem wir tätig sind, und durch den enormen Druck der Probleme gezwungen werden, eine zumindest zur Zeit nur schwer überbrückbare Kluft besteht.

Der ethnologische Ansatz, wie er in Deutschland in Forschung und Lehre herkömmlicherweise vertreten wurde und — von einigen wenigen Eskapaden in die Aktualität abgesehen — auch heute noch vertreten wird, läßt sich, ohne daß irgend jemandem schreiendes Unrecht zugefügt wird, idealtypisch wohl so beschreiben: Die Welt besteht aus einer unüberschaubar großen Zahl völlig eigenständiger „Ethnien“ (Turkana, Lappen, Samojeden, Zigeuner, Algonkin ...), meistens „Naturvölkern" mit schriftloser Kultur. Der Ethnologe hat die Aufgabe, die vorgefundenen Kulturbestände dieser Gruppen zu untersuchen; die hierfür ideale Methode ist die längerfristig angelegte „teilnehmende Beobachtung", die völlig voraussetzungslos zu erfolgen hat. Demgegenüber steht der Entwicklungspolitiker vor der folgenden Realität: Schriftlose Gruppen machen nur einen kleinen Teil der in unserem Zusammenhang interessierenden Weltbevölkerung aus (der Unterschied zwischen „schriftlos“ und „analphabetisch“ ist für Ethnologen, wie ich wenigstens dem Artikel von Bliss entnehme, nur schwer nachvollziehbar). Unsere Zielbevölkerung in der Dritten Welt besteht zum größten Teil aus Angehörigen von (z. T. alten) Schriftkulturen, deren Produktivkraftentwicklung (vor allem: in ihren eigenen Augen) zu wünschen übrig läßt.

Die Problemlagen dieser Bevölkerungen (verzerrte Sozialstruktur: Bevölkerungsdruck auf begrenzte Ressourcen; erosionsgefährdete Bergregionen etc.) sind vergleichbar und typisierbar. Der Entwicklungspolitiker ist nicht historisch, sondern zukunftsorientiert, muß sein Interesse also auf Zielvorstellungen und Wandlungspotentiale konzentrieren. Ob z. B. die sachgerechte Wartung einer Maschine deshalb unterbleibt, weil sie als belebtes Wesen gesehen wird, oder weil die Berührung von Metall mit einem Tabu behaftet ist, oder weil dies als die Sache einer (eventuell gar nicht vorhandenen) niedrigeren sozialen Schicht betrachtet wird — alle diese Fragen sind an sich nicht weniger legitim als z. B. die Erforschung der mongolischen Frühgeschichte. Ihre Beantwortung beleuchtet aber nur die eine Seite der Medaille; der praktische Entwicklungspolitiker fragt sich, wie die Zielgruppe zur sachgerechten Wartung der Maschine (angenommen, man hat sich auf dieses Entwicklungsziel geeinigt) gebracht werden kann. Und was hier für subsektorale Teilgebiete festgestellt wird, gilt selbstverständlich auch für umfassendere Entwicklungswege. Auch eine noch so gründliche Beschreibung aller vorfindbaren kulturellen Gegebenheiten bringt uns der Frage, was in diesem Milieu zu tun ist, nicht sehr viel näher. Schließlich besteht zwischen der langfristig angelegten teilnehmenden Beobachtung und der Notwendigkeit, Projekte (und andere Entwicklungsmaßnahmen) in überschaubaren Zeiträumen zu realisieren, natürlicherweise ein Spannungsverhältnis. Die Kritik von Frank Bliss und seine aus ihr abgeleiteten Forderungen sind unter diesem Blickwinkel zu sehen. Seine Hauptargumente gegen den im BMZ entwickelten sozio-kulturellen Ansatz, den auf Schlüsselfaktoren gestützten „planerischen Abkürzungsweg“, sind:

a) es kann keine weltweit anwendbaren sozio-kulturellen Planungskriterien geben;

b) der Zugriff auf „Schlüsselfaktoren" erspart nicht die Analyse des kulturellen Gesamtbestandes einer Gruppe.

Wenn es eine räumlich und zeitlich begrenzte Gültigkeit von gesellschaftswissenschaftlichen (im weitesten Sinn, also unter Einschluß der Ethnologie) Begriffsinstrumentarien gäbe, dann müßte irgend jemand sich irgendwann schon einmal über ihre Gültigkeitsgrenzen geäußert haben. Davon ist mir aber nichts bekannt. Ich kann mir schwer vorstellen, daß zur Erforschung jeder „Ethnie“ (soweit dieser Begriff überhaupt sinnvoll zu verwenden ist) ein eigener Begriffsapparat aufgebaut werden muß, ganz abgesehen davon, daß ja systematische Erforschung ein bereits vorhandenes Kategorienschema voraussetzt.

Offensichtlich ist aber die deutsche Ethnologie, die sehr unbefangen von der sozialen Stratifikation der traditionellen Gesellschaften, der Kunst außereuropäischer Völker und der Technologie der Naturvölker spricht, wenigstens in diesem Punkt meiner Meinung. Daß z. B. die Rationalität von Subsistenzbauern sich von der unsrigen in den Bedingungen, unter denen sie realisiert wird, unterscheidet, ist klar; die dabei verfolgten Ziele lassen sich aber, das haben mich meine Reisen in sehr verschiedene Entwicklungsländer gelehrt, problemlos in dieselbe Bedürfnishierarchie einordnen.

Begriffe wie Arbeitsteilung, Assimilation, Lineage (Abstammungs-und Verwandtschaftsverhältnisse), Institution usw. sind zweifellos universal, und mit dem Begriff „Legitimität der politischen Herrschaft" wird es sich nicht sehr viel anders verhalten. Was das zweite Argument betrifft, so möchte ich mich hier auf den wichtigsten Schlüsselfaktor „Legitimität" beschränken, obwohl auch zum Faktor „Komplexität/Entwicklungsstand“ einiges zu sagen wäre, besonders zum Unterscheidungsmerkmal „Schriftlichkeit“, dessen Entwicklungsbedeutung wissenschaftlich (aber wohl außerhalb der Ethnologie) abgesichert ist und ohne dessen Einbeziehung sich m. E. die Entwicklungsprobleme Schwarzafrikas nicht angemessen analysieren lassen. Die aus entwicklungspolitischer Sicht spezifische Leistung des Schlüsselfaktors „Legitimität“ besteht in folgendem: Wenn von einer Gruppe ein bestimmtes (entwicklungsorientiertes) Verhalten — im weitesten Sinn — erwartet wird, dann genügt es dem entwicklungspolitisch Handelnden, einen legitimen Führer zu identifizieren, der dieses Handeln herbeiführt; eine noch so detaillierte Befragung der einzelnen Gruppenmitglieder, deren theoretische Fruchtbarkeit ich nicht bestreiten möchte, führt unter dem Gesichtspunkt des praktischen Handelns nicht über den legitimen Führer hinaus.

Schumpeter liefert dafür auch die theoretische Begründung: „Kollektive handeln ... beinahe ausschließlich dadurch, daß sie eine Führung akzeptieren — es ist dies der beherrschende Mechanismus praktisch jedes kollektiven Handelns, das mehr ist als bloßer Reflex“ (Kapitalismus, Sozialismus und Demokratie, Neuauflage 1972, S. 429). Die Gewissensbisse meiner Mitarbeiter beim Rückgriff auf Schlüsselfaktoren als „planerischen Abkürzungsweg“ halten sich daher in Grenzen. Zu Punkt 4: Kein vernünftiger Mensch wird behaupten, daß die Beteiligung von Ethnologen an der Lösung entwicklungspolitischer Probleme für alle Zeiten ausgeschlossen bleiben muß. Eine fruchtbare Zusammenarbeit mit den Praktikern der Entwicklungspolitik ist aber erst nach einer Neuformulierung des Aufgabenbereichs und der Methodenlehre dieser Wissenschaft möglich (hier müßten die Methoden der empirischen Sozialwissenschaft einen gesicherten Platz bekommen). Eine im vorigen Jahr erschienene Einführung in die Ethnologie (Mohan Krischke Ramaswamy, Ethnologie für Anfänger. Eine Einführung aus entwicklungspolitischer Sicht, Opladen 1985) stellt mit dankenswerter Klarheit fest, daß die Frage der praktischen Umsetzung wissenschaftlicher Erkenntnisse von der Ethnologie lange vernachlässigt wurde, für die Zukunft aber zu fordern ist. Wenn Ethnologen auf breiterer Front und über längere Zeit am Abbau dieses Defizits gearbeitet haben werden, wenn also die Wandlungspotentiale von Croßgruppen zum Forschungsgegenstand geworden sind, dann ergeben sich für den Einsatz von Ethnologen in der Entwicklungspolitik zweifellos bessere Chancen als heute.

Volkmar Köhler, Parlamentarischer Staatssekretär beim Bundesminister für wirtschaftliche Zusammenarbeit 1. Ich freue mich, daß meine Kritik an der unbefriedigenden Diskussion innerhalb des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit (BMZ) über die Berücksichtigung kultureller Faktoren in der Entwicklungspolitik das Interesse des parlamentarischen Staatssekretärs im BMZ, Volkmar Köhler, gefunden und ihn zum Widerspruch veranlaßt hat. Mit seinen Anmerkungen bestätigt er die Wichtigkeit dieses Problems für die aktuelle Diskussion um eine Reform des entwicklungspolitischen Instrumentariums.

Volkmar Köhler hebt in seinem Kommentar eine Reihe von Positionen heraus, bei denen zwischen meinen Aussagen und der vom BMZ betriebenen Analyse und der angestrebten Politik keine Differenzen bestehen. Ich kann ihm hier nur voll zustimmen. Unterschiedliche Auffassungen sieht er hinsichtlich der Beurteilung der praktischen Maßnahmen, die vom BMZ zur besseren Berücksichtigung der Kulturfaktoren in die Wege geleitet wurden und die ich als in die falsche Richtung gehend charakterisiert habe. Von „halbherziger“ Umorientierung habe ich in diesem Zusammenhang jedoch nie gesprochen. Ich nehme dem BMZ gerne ab, daß jene Beamten, die darüber nachgedacht haben, wie die kulturelle Dimension von Entwicklung planerisch in den Griff zu bekommen ist, voll und ganz hinter ihren Überlegungen stehen. Im Hinblick auf den Ansatz von Uwe Simson (Aus Politik und Zeitgeschichte, B 16/86) habe ich jedoch nachzuweisen versucht, daß dieser Ansatz falsch ist. Kultur läßt sich nicht auf wenige „dominante Faktoren“ reduzieren, um sie dem mit der Situation völlig überforderten Techniker zu erschließen.

2. Zum besseren Verständnis fasse ich hier noch einmal die wesentlichen Aussagen meines Beitrages zusammen:

Die Einbeziehung der kulturellen Dimension von Entwicklung in die Projektüberlegungen des BMZ resultiert aus der Erkenntnis, daß bis in die Gegenwart hinein teilweise aufwendig konzipierte Entwicklungsvorhaben gescheitert sind, weil die lokalen kulturellen Gegebenheiten nicht berücksichtigt wurden. In der Broschüre „Aus Fehlern lernen“ (BMZ 1986) hat das Bundesministerium dies unumwunden zugegeben. Das ist zweifelsohne anzuerkennen, stellt doch eine solche kritische Selbstreflexion in der bundesdeutschen Politik die absolute Ausnahme dar. Unter Fachleuten sind die veröffentlichten Erkenntnisse jedoch ebensowenig neu wie innerhalb des Ministeriums. Trotzdem ist die Reaktion des BMZ eher als zwiespältig zu bezeichnen. Obwohl schon vorher verbal gehandelt wurde („Entwicklungspolitische Grundlinien“ sowohl der vormaligen sozial-liberalen wie der nachfolgenden christlich-liberalen Regierung), kam es bis heute nicht zu einer Konkretisierung dessen, was unter „Berücksichtigung sozio-kultureller Entwicklungsfaktoren“ zu verstehen ist. Von daher kann auch von einer Umsetzung in konkrete Projektplanung nicht gesprochen werden. Dann wurde endlich von Uwe Simson (BMZ) der grundsätzlich anerkennenswerte Versuch unternommen, das Thema zu „operationalisieren“. Das Ergebnis war, prägnant auf den Nenner gebracht: Wenn bei der Projektplanung drei wichtige „dominante kulturelle Faktoren“ berücksichtigt werden (1. Legitimität der politischen Herrschaft, 2. Entwicklungsstand der produktiven Kräfte und 3. ethnische Heterogenität), so ist damit ein „planerischer Abkürzungsweg“ gefunden, der es unnötig macht, daß die jeweilige Zielgruppe näher erforscht werden muß.

Dieser Ansatz wurde von mir aus kulturwissenschaftlicher Sicht einer umfassenden Analyse unterzogen mit dem Ergebnis, daß eine auf der Grundlage dieses Entwurfes durchgeführte Projektplanung scheitern muß, weil Kultur nicht durch Reduktion ihrer Komplexität zu erfassen ist.

3. Kehren wir noch einmal zum Versuch Uwe Simsons zurück, kulturelle Komplexität durch Reduktion in den Griff zu bekommen. Versteht er unter seinen „dominanten Faktoren“, wie von Volkmar Köhler interpretiert, ganze Bündel von Einzelfaktoren, so führt die Reduktion zu keiner Vereinfachung. Der vor Ort arbeitende Experte muß nämlich dann selbst sehen, wie er diese „dominanten Faktoren“ operationalisiert. Versteht er sie jedoch als isolierte Phänomene, so handelt es sich hierbei um eine höchstgradig ethnozentrische Vorgehensweise, die Kultur fremder Völker durch wenige selbst formulierte Schlüsselphänomene verstehen und erklären zu wollen. Daß allerdings Mitarbeiter der staatlichen Entwicklungshilfe beim Rückgriff auf die genannten Schlüsselbegriffe („dominante Faktoren“) als „planerischem Abkürzungsweg“ keine „Gewissensbisse" haben, kann ich mir durchaus vorstellen. Allerdings möchte ich eine Mehrheit auch der BMZ-Mitarbeiter vor diesem Vorwurf in Schutz nehmen. Hier herrscht sehr wohl Irritation über das gegenwärtige Dilemma, auf der einen Seite kulturelle Faktoren berücksichtigen zu sollen, auf der anderen Seite jedoch so gut wie keine Instrumentarien für die Umsetzung der Forderung an die Hand bekommen zu haben. 4. Das Dilemma des Experten oder Gutachters vor Ort läßt sich plastisch am Beispiel des von Köhler angeführten Schlüsselfaktors „Legitimität“ erläutern: Finde er einen „legitimen Führer“, dann werde das entwicklungspolitische Handeln quasi von allein herbeigeführt. Unserem Experten im Sudan z. B. wird ein alter Mann vorgestellt, den er in Ermangelung arabischer Sprachkenntnis mittels eines Dolmetschers aus Khartum befragt. Obwohl der Experte vielleicht ein exzellenter Tiefbauingenieur ist, vermag er weder festzustellen, ob der „legitime Führer“ wirklich das regionale Ober-haupt ist, noch ob es nicht auch andere ebenso legitime Führer gibt, bei deren Nichtbeachtung der Konflikt vorprogrammiert ist. Er erfährt nicht, ob die legitime Herrschaft sich auch in Autorität umsetzt, ob es Gruppen gibt, die ihr keine Gefolgschaft leisten. Nicht angesprochen wird die Frage, ob der Führer in der besprochenen Sache verhandlungsfähig ist oder ob nicht ein vielleicht religiöser Würdenträger gerade für diesen Komplex zuständig ist, usw. Dabei ist der genannte Faktor, wie unten gezeigt wird, nur einer unter sehr vielen, teilweise wichtigeren anderen. Dem Experten wird also, zudem innerhalb weniger Tage, zugemutet, was nicht einmal ein regional nur wenig erfahrener Kulturwissenschaftler mit absoluter Unfehlbarkeit leisten kann. Dabei hängen von seinen Befragungsergebnissen später Menschenschicksale und die Verwendung großer Geldmittel ab.

5. Die drei „dominanten Faktoren“ berücksichtigen in dieser Formulierung weder den tatsächlich dominanten Bereich der Verwandtschaft und Solidarität noch jenen der Religion oder viele andere erst nach ausgiebiger Forschungsarbeit im Projektgebiet erkennbare Faktoren. Ferner: Was soll der Techniker, der als Gutachter die Kulturfaktoren in den Griff bekommen müßte, mit der Feststellung, jene drei Faktoren (nach Simson) seien „dominant“?

Wichtiger als die Eröffnung eines Nebenschauplatzes terminologischer Auseinandersetzung ist die Durchsetzung struktureller Reformen im entwicklungspolitischen Instrumentarium. Dafür habe ich in meinem Beitrag einige Anregungen gegeben. Danach müssen Fachleute, die mit den Zielgruppen von Entwicklungszusammenarbeit in Kontakt treten, „kommunikationsfähig“ sein, d. h., sie müssen nicht nur die Landessprache beherrschen, sondern auch mit den kulturellen Gegebenheiten vertraut sein. Neben Technikern für „technische“ Hilfen müssen also Kulturwissenschaftler eingesetzt werden, die ausreichend Zeit für das Gespräch mit den Betroffenen haben. Bei der üblichen Planungszeit von mehreren Jahren verzögern diese vielleicht sechs Monate ein Projekt kaum, zumal erst dann, wenn die Betroffenen ihre Wünsche geäußert haben, mit einer Akzeptanz der Maßnahme gerechnet werden kann. Heute findet so gut wie keine Kommunikation mit den Betroffenen statt. Statt dessen werden jene einbezogen, die als nationale Eliten eher das eigene Interesse als das der unteren Bevölkerungsschichten im Auge haben.

Während der Realisierung eines Entwicklungsvorhabens, so meine weitere Anregung, sollte die Rückkoppelung mit den Betroffenen zu keinem Zeitpunkt aussetzen, ja es sollten sogar, wenn diese es wünschen, Inhalt und Ziel eines Projektes geändert werden. Schließlich sollte bei der Prüfung eines Vorhabens nicht der abwickelnde Experte, sondern die Zielgruppe eine Bewertung der Maßnahmen abgeben. Schließlich sollte gewährleistet werden, daß das Feedback aus dem Vorhaben für andere Maßnahmen verwertet werden kann.

Auch wenn diese Überlegungen weniger Projekte möglich machen sollten, da Planung, Abwicklung und Kontrolle vielleicht teurer wären (was keineswegs sicher ist), lassen sich kulturelle Entwicklungsfaktoren anders nicht ernsthaft berücksichtigen. Diese Umorientierung ist auch zu verantworten unter den Gesichtspunkten des Hilfebedarfs. Abgesehen von reiner Katastrophenhilfe kann Ent-B Wicklungszusammenarbeit nämlich niemals alle Menschen in einem armen Land erreichen wollen — selbst, wenn sie zehnmal so hoch wie heute wäre. Sie kann nur modellhaft wirken, zur Nachahmung ermuntern. Da dies nur dort erreicht wird, wo persönliche Anteilnahme der Betroffenen an „ihrem“ Projekt gewährleistet ist, kommt es nicht auf die Quantität, sondern auf die Qualität der einzelnen Maßnahme an. Zudem: Während ein positiv verlaufenes Projekt Multiplikatorwirkung hat, schadet ein schlechtes und bringt die Entwicklungskooperation generell in Verruf.

6. Im Hinblick auf die Anmerkungen von Volkmar Köhler läßt sich eindeutig feststellen, daß trotz guten Willens nicht einmal eine Umsetzung der, wie gerade noch einmal nachgewiesen, falsch interpretierten Kulturfaktoren in praktische Entwicklungspolitik stattfindet. Insofern sind — abgesehen von den absolut nicht erwarteten „spektakulären Soforterfolgen“ — auch keine lang-oder gar mittelfristigen Erfolge zu erwarten. „Off Tapes“ wird sowohl im BMZ wie auch von Mitarbeitern der GTZ zugegeben, daß oft tatsächlich nicht einmal auf eine minimale Berücksichtigung sozio-kultureller Rahmenvoraussetzungen für ein Projekt Wert gelegt wird. So verwundert es nicht, wenn eine Studie über ein landwirtschaftliches Projekt eingereicht wird, in der soziale Fragen in 15 Zeilen „abgehakt“ werden. Im übrigen ist von einer auch nur allmählichen Berücksichtigung der kulturellen Dimension von Entwicklung so lange nicht zu sprechen, wie man glaubt, den äußerst komplizierten Kulturgegenstand im Dialog z. B. mit arabischen Bauern vom Schreibtisch aus in Deutsch oder durch einen Techniker mit Hilfe eines den Bauern verhaßten städtischen Dolmetschers erfassen zu können. Von den 46 „Experten“ in Ägypten, die in 101 Projekten (1985) tätig sind (davon viele, die vom direkten Kontakt mit den Betroffenen „leben“), beherrschen ganze zwei die arabische Sprache; in anderen Ländern ist die Lage nicht besser.

7. Sehr ausführlich beschäftigt sich Volkmar Köhler mit der ethnologischen Methode, die er in Gegensatz zu dem „enormen“ Problemdruck der Entwicklungszusammenarbeit stellt. Ich kann mich nicht erinnern, in meinem Beitrag die Ethnologie als Gegenstand des Problems angeführt zu haben. Im wesentlichen ging es mir nicht um Personen oder Disziplinen, sondern um Verfahrens-wege einer zielgruppenorientierten Entwicklungsplanung und Projektabwicklung.

Ich nehme jedoch gerne das Thema der ethnologischen Mitwirkung in der Entwicklungszusammenarbeit auf, spiegelt es doch gängige Vorurteile gegenüber einem Fach wider, das sich mangelnden Aktualitätsbezug weniger vorwerfen lassen muß als vielmehr, solchen Vorurteilen nicht vehementer und mit gleicher Polemik geantwortet zu haben. Zum 1. Vorurteil, die Ethnologie beschäftige sich mit einzelnen Ethnien in der Weise, daß Aktualitätsbezug als „Eskapade“ anzusehen sei: Rund zwei Drittel aller in der Ethnologie eingereichten Magisterarbeiten und Dissertationen behandeln Fragen des sozialen oder kulturellen Wandels und haben damit unmittelbaren Aktualitätsbezug und Entwicklungsrelevanz. Keine andere Disziplin, auch nicht die Soziologie, Politikwissenschaft oder Volkswirtschaft, erreicht auch nur annähernd gleiche Werte. Zum 2. Vorurteil, die Ethnologie beschäftige sich besonders gern und lange mit kleinen Ethnien, die für die Entwicklungspolitik irrelevant seien: Längerfristige Grundlagenforschung in der Dritten Welt täte auch der Entwicklungspolitik gut, und die Berücksichtigung kleiner Einheiten ist ganz natürlich, wenn man ein regional begrenztes Projekt durchführt. Gemeint ist jedoch mit der Unterstellung etwas anderes. Gemeint ist, die Ethnologie beschäftige sich mit für die Entwicklungspolitik uninteressanten, weil kleinen Ethnien, während die „ 100 000 000 Bangladeshis“ (Hippel, E& Z 4/1986) Gegenstand der Entwicklungszusammenarbeit sein sollten. Sicher, der eine oder andere Ethnologe reduziert sein Tätigkeitsfeld auf einen Sektor der Kultur und vielleicht eine begrenzte Region. Kann sich aber eine Wissenschaft ernsthaft anders verhalten, wenn es um die Datensammlung geht? Was die Auswertung betrifft, so kann man auf der Basis gesicherter Daten dann ganze Länder und Kontinente behandeln. Auch hier gibt es z. B. zwischen Volkswirtschaft und Ethnologie keine Unterschiede. Was schließlich die Massen in Banghladesh betrifft: Erstens ist es sehr fraglich, ob jeder Bewohner dieses Landes unbedingt Objekt deutscher Entwicklungszusammenarbeit sein möchte, und zweitens ist es irreal, mit maximal 0, 4% Entwicklungsmitteln aus unserem Bruttosozialprodukt ganzen Ländern den Wohlstand bringen zu wollen. Hier gilt das oben Gesagte: besser gute und daher modellhafte Projekte als Entwicklungsaktionismus ohne Konzept mit dem ausgeschütteten (Kredit) Füllhorn.

Die übrigen Urteile Volkmar Köhlers über die Ethnologie kann ich voll akzeptieren. Wir Ethnologen sehen in den Menschen der Dritten Welt Angehörige einzelner Ethnien, was im übrigen Uwe Simson nicht leugnet, wenn einer seiner „dominanten Faktoren“ die ethnische Heterogenität erfaßt. Wenn der Autor dies als negativ ansieht, so sicher deshalb, weil nach herrschender Meinung ethnische Identität „nationale Formation“ stören kann. Das ist richtig. Eine Entwicklungspolitik jedoch, die ethnische Unterschiede leugnet, arbeitet aus-43 schließlich jenen Eliten in die Hände, die ihre eigene kulturelle Identität mit jener der Bevölkerungsmehrheit ihres Landes verwechseln. 8. Unter Berücksichtigung aller Argumente scheint mir das Kernproblem nicht zu sein, wie die Ethnologie Kulturforschung in der Dritten Welt mit auf unsere Industriegesellschaft ausgerichteten quantitativen Methoden betreiben kann, sondern wie die Entwicklungspolitik endlich „Aus Fehlern lernen“ kann, die sie erfreulicherweise so klar und deutlich zugibt. Wir werden sicher keine Gemeinsamkeiten zwischen Entwicklungsadministration und Ethnologie begründen können, wenn erstere ihre konzeptionellen Fehler auch noch der Wissenschaft verordnen möchte. Noch einmal: Entwicklungspolitik kann nicht „Großgruppen“ das Heil bringen, indem sie ihre „Wandlungspotentiale“ untersucht — was heißen will, indem sie nach „dünnen“ Stellen sucht, bei denen man den Hebel zur externen kulturellen Durchdringung („Mechanisierung“, „Industrialisierung“, „Kommerzialisierung“, „Exportwirtschaft“ usw.) erfolgversprechend ansetzen kann. Entwicklungspolitik muß dort einsetzen, wo sie am dringendsten benötigt wird. Da sie dort nur punktuell wirken kann, sollte sie so sorgfältig geplant werden, daß die Erfolgsaussichten optimal ausgelotet sind. Dies erfordert aber die Berücksichtigung aller Faktoren, die in der betreffenden Kultur, ob groß oder klein, für das Gelingen des Entwicklungsvorhabens relevant sind. Jene Faktoren findet man aber nicht, indem man in den deutschen Planungsbüros die Kultur auf das reduziert, was einem selbst aufgrund seiner eigenen Sozialisation als wichtig erscheint, und diese Reduzierung dann quasi weltweit allen Kulturen „verordnet“. Ein Wesenszug von Kultur ist nun einmal die Vielfalt ihrer regionalen und zeitlichen Ausprägungen. Frank Bliss

Fussnoten

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