I. Präsidentialistische Verfassungspraxis bis zum März 1986
Die V. Französische Republik bietet — bis zur Bildung der Regierung Jacques Chirac nach den Wahlen zur Nationalversammlung vom 16. März 1986 — ein besonders drastisches Beispiel dafür, wie weit die „lebende Verfassung“ des politischen Prozesses und der „tote Buchstabe“ des Verfassungstextes voneinander abweichen können.
Gemäß Art. 20 und Art. 21 „bestimmt und leitet“ die der Nationalversammlung verantwortliche Regierung „die Politik der Nation“; „der Premierminister leitet die Tätigkeit der Regierung“ und er ist hierfür mit den erforderlichen Kompetenzen ausgestattet. Der Präsident der Republik besitzt zwar weitergehende Befugnisse als seine Vorgänger in der III. und IV. Republik, doch sind gerade die gewichtigsten dieser Befugnisse als Elemente einer besonders gut ausgebauten „Reservemacht“ zu verstehen, die dem Staatschef die Übernahme einer politisch maßgeblichen Rolle nur dann ermöglichen sollen und allerdings auch gebieten, wenn das Zusammenwirken der Institutionen gestört ist: Ernennung — nicht Entlassung! — des Premierministers; Auflösung der Nationalversammlung; Anberaumung eines Referendums (mit erheblichen Einschränkungen); Vollmachten beim Notstand.
Geprägt von historischen Erfahrungen, insbesondere durch den Zusammenbruch im Jahre 1940, wollte General de Gaulle, auf den die den Präsidenten der Republik betreffenden Verfassungsartikel direkt zurückgehen, dem Staatschef die Möglichkeit geben, die Nation durch eine Krise zu führen. Nimmt man andere, ihm auch in „normalen“ Zeiten zur Verfügung stehende Kompetenzen hinzu — auf sie ist noch zurückzukommen —, so hat man gewiß einen Staatschef vor sich, der nicht nur repräsentative und symbolische Funktionen erfüllen soll aber nicht jemanden, dem die tagtägliche Bestimmung der Richtlinien der Politik aufgegeben wäre. So „dunkel“ und umstritten hinsichtlich der Auslegung mancher Bestimmungen — vor allem des hier einschlägigen Art. 5, der die Funktion des Präsidentenamtes allgemein umschreibt — der Verfassungstext auch ist, eine Präsidialdemokratie schreibt er sicher nicht vor, eher eine Art Premierminister-Demokratie. Die „lebende Verfassung“ hat bekanntlich ganz anders ausgesehen: Der Präsident der Republik spielte eine derart dominierende Rolle, daß man ihn als stärksten Regierungschef — der er de facto war — in einer westlichen Demokratie beschreiben konnte (Maurice Duverger). Er bestimmte die Richtlinien der Politik mit einem so großen Entscheidungsspielraum, wie ihn weder der britische Prime Minister noch der deutsche Bundeskanzler, schon gar nicht der amerikanische Präsident besitzen. Der Premierminister war nur „der zweite Mann an Bord“ (de Gaulle), der sich mit der Durchführung der präsidentiellen Richtlinien begnügen mußte, wobei er je nach personeller und politischer Konstellation einen unterschiedlich großen (bzw. kleinen) Freiraum besaß.
Wie ist es zu dieser Verfassungspraxis gekommen, die auch die Verfassungsväter 1958 nicht vorausgesehen, geschweige denn geplant hatten? Welche politischen Bedingungen mußten gegeben sein, damit sie den Gründer der V. Französischen Republik überlebte und solange fortbestehen konnte? Francois Mitterrand hat in seiner Botschaft an das Parlament vom 8. April 1986 die wichtigsten Gründe präzise benannt, die die Rolle des Präsidenten der Republik „über den Verfassungstext hinaus“ so dominierend werden ließen: die „Umstände“ bei der Entstehung der V. Republik; die Einführung der Direktwahl 1962; eine dauerhafte Übereinstimmung der politischen Konzeptionen des Staatschefs und der Mehrheit der Nationalversammlung.
Vorweg sei klargestellt, daß die Direktwahl für die Nachfolger de Gaulles, die weder seine historische Legitimität noch sein Charisma besaßen, eine zwar notwendige, aber — wie etwa ein Blick auf Österreich zeigt — keine hinreichende Bedingung für die präsidentielle Dominanz darstellt. Die „Umstände“, die die ersten Jahre der V. Republik begleitet haben, d. h.der bis April 1962 andauernde Algerienkrieg, haben es de Gaulle 2 ermöglicht, auch ohne eine konsistente Mehrheit in der Nationalversammlung — wenn nötig durch einen Griff ins Arsenal des „rationalisierten Parlamentarismus“ — die Rolle des „republikanischen Monarchen“ zu spielen. Hinzu kamen sein „präsidentialistisches Temperament“ (Andre Siegfried) und vor allem seine herausragende, historisch begründete Autorität, die es für seine Anhänger unvorstellbar werden ließ, ihn anzufechten. Infolgedessen erkannten Partei wie parlamentarische Mehrheit ihn als ihren „Chef" an, und der von ihm ja ernannte Premierminister fand sich mit seiner untergeordneten Position ab.
Dieses also von Anfang an bestehende Verhältnis zwischen Präsident und Premierminister wirkte prägend für die Nachfolger: Die Parteiführer oder auch andere ehrgeizige Politiker strebten künftig in den Elysee-Palast, nicht ins Hotel Matignon (dem Sitz des Premierministers). Die Spekulation hat einiges für sich, daß die V. Republik eine französische Variante der Kanzlerdemokratie geworden wäre, wenn sich de Gaulle 1958 entschieden hätte, Premierminister zu werden.
Was aber würde geschehen, wenn es in der Nationalversammlung keine Mehrheit mehr gäbe, die die Politik des Präsidenten und „seiner“ Regierung unterstützt? Denn das Fundament der dominierenden Stellung des Präsidenten war, vor allem für die Nachfolger de Gaulles, eine stabile Mehrheit, die hinter ihm bzw.seinem Premierminister gegen die Angriffe der Opposition stand und die durch die Zustimmung zu den gouvernementalen Gesetzesentwürfen, die modifiziert, aber kaum je substantiell verändert wurden, der Politik des Präsidenten zur Realisierung verhalf. Würde dieses Fundament einmal fortgespült, so stände das politische Regime vor seiner Bewährungsprobe, denn ein mögliches Auseinanderfallen von präsidentieller und parlamentarischer Mehrheit gilt als die „Achillesferse“ der Verfassung. Welche Möglichkeiten besitzt der Präsident in dieser Lage? Würde er noch eine politisch aktive Rolle spielen können oder stände er vor dem Dilemma, das Leon Gambetta für den Präsidenten Marschall MacMahon zu Beginn der III. Republik auf die vielzitierte Formel gebracht hatte: „Se soumettre ou se demettre“?
II. Die Staatschefs und die Perspektiven eines Verlusts der Mehrheit in der Nationalversammlung
Alle Präsidenten kamen in die Lage, sich derartige Fragen zu stellen, denn die Wahlen zur Nationalversammlung konnten ihnen dieses Fundament einer Mehrheit wegziehen. Als Gaullisten und Giscardisten 1967 nur eine hauchdünne Mehrheit gewannen, soll de Gaulle kommentiert haben: „Schade! Man hätte sehen können, wie man mit der Verfassung regieren kann!“ Aus dieser nach der Wahl hingeworfenen ironischen Bemerkung sollte man nicht auf eine „cohabitations“ -Absicht bei divergierenden Mehrheiten schließen. Vor keiner der drei während seiner Präsidentschaft stattfindenden Wahlen zur Nationalversammlung — 1962, 1967, 1968 — hatte er eine derartige Möglichkeit erörtert. Vielmehr engagierte er sich in den Wahlkämpfen so sehr, daß eine Niederlage der „Mehrheit“ auch als seine persönliche Niederlage hätte erscheinen müssen, die konsequenterweise seinen Rücktritt nach sich gezogen hätte. Dazu ist es nicht gekommen, doch wird man die Pressekonferenz vom 31. Januar 1964, in der de Gaulle sein Verfassungsverständnis ungeschminkt zum Ausdruck brachte, als eine deutliche Absage an jede Form von „cohabitation" verstehen müssen. Alle staatliche Autorität liege beim Präsidenten und eine „Dyarchie“, eben die Konstellation der „cohabitation“, könne es an der Staatsspitze nicht geben. Käme es zu einem Zerwürfnis zwischen dem Präsidenten und der Mehrheit der Nationalversammlung, so müsse „die Nation“ selbst entscheiden Die Gegner der „cohabitation“ 1986, insbesondere Raymond Barre, können sich also mit besseren Argumenten auf de Gaulle berufen als ihre Befürworter um Jacques Chirac.
Georges Pompidou wich der Frage vor den Wahlen vom März 1973 aus. Er ließ es bei dem sibyllinischen Hinweis bewenden, die Verfassung sei „anpassungsfähig“ (souple) und sie gebe dem Präsidenten eine Reihe von Möglichkeiten, einen Ausweg aus einer derartigen Krise zu finden Eine „friedliche Koexistenz“ mit der gerade sich bildenden Linksunion (1972) hielt er nicht für möglich. Valery Giscard d’Estaing war der erste Präsident der Republik, der vor einer Wahl zur Nationalversammlung (März 1978) erklärte, er werde bis zum Ende seiner Amtszeit bleiben, auch wenn die Opposition in der Nationalversammlung zur Mehrheit würde Gleichzeitig erklärte er, daß er als Präsident die Realisierung des Programms einer solchen Mehrheit nicht verhindern könnte. Ungeachtet wahltaktischer Absichten, die gewiß mitspielten, gab er damit klar zu verstehen, daß ein Präsident ohne Mehrheit in der Nationalversammlung ziemlich machtlos wäre, weil eben die Verfassung den über eine derartige Mehrheit verfügenden Premierminister und seine Regierung zur politisch entscheidenden Instanz machte. Ähnlich deutlich beteuerte Mitterrand vor den Wahlen vom 16. März 1986 mehrfach, er werde auch bei einem Sieg der Opposition nicht zurücktreten. Nach seinem Verhalten in einer solchen Situation gefragt, erwiderte er lakonisch, er werde die Verfassung anwenden und den Willen der Franzosen respektieren. Er brachte damit aber auch zum Ausdruck, daß er die neue Regierung, aus der neuen Parlamentsmehrheit hervorgegangen, regieren lassen werde. Allerdings schien er den Präsidenten nicht so passiv zu sehen wie Giscard d’Estaing, denn er erklärte auch, er werde nicht „untätig“ bleiben und auf keine seiner Befugnisse verzichten
III. Ein Novum in der V. Republik: Die Mehrheit des Präsidenten verliert die Wahlen zur Nationalversammlung
Was 1978 vor allem wegen des Zerfalls der Links-union nicht eingetreten war, wurde im März 1986 erstmals Wirklichkeit: Der Staatschef und die Mehrheit der Nationalversammlung gehören nicht nur divergierenden, sondern konträr zueinander stehenden politischen Gruppierungen an.
Die Jahre 1976— 1981 hatten gezeigt, daß der Präsident bzw. „sein“ Premierminister bei — auch tiefgreifenden — Meinungsverschiedenheiten innerhalb der Regierungskoalition sich unter Zuhilfenahme der Mittel des „rationalisierten Parlamentarismus“, insbesondere von Art. 49 Abs. 3 auch gegenüber der stärkeren Partei durchsetzen kann, da dieser in einem scharf polarisierten Parteiensystem nur die Möglichkeit bliebe, mit der Opposition gemeinsame Sache zu machen, indem sie deren Mißtrauensanträgen zustimmte. Das war eine rein theoretische, keine praktische Möglichkeit. Die Konstellation des Jahres 1986 ist damit nicht vergleichbar, denn der Präsident hat keine Mehrheit mehr, die er mit den verschiedenen Zuchtruten, die die Verfassung enthält, zusammenzwingen könnte. Gegen eine ihm entgegenstehende Mehrheit, die außerdem relativ kohärent ist sind sie wirkungslos.
Zudem verfügen der Premierminister und seine Regierung über diese Instrumente, und Premier-minister ist nun nicht mehr der Vertrauensmann des Präsidenten, sondern sein politischer Gegner.
Zur „cohabitation" — einem von Giscard d’Estaing erfundenen Wort, das den Sachverhalt nicht trifft, da es eine Liebesbeziehung suggeriert — konnte es kommen, weil innerhalb des bürgerlichen Lagers die „Verweigerer“ um-Raymond Barre in der Minderheit blieben. Die Mehrheit betrachtete die „cohabitation" als das kleinere und unvermeidliche Übel Eine Art „Streik“ bei der Regierungsbildung, d. h. die Ablehnung, sich dem Präsidenten als Premierminister zur Verfügung zu stellen, konnte weder der Öffentlichkeit, die die „cohabitation“ wünschte Vermittelt werden, noch konnte man damit den Rücktritt des Präsidenten erzwingen Vielmehr drohte eine solche „Politik“ kontraproduktiv zu werden, denn wenn der Präsident Neuwahlen herbeiführte, mußten die „Verweigerungsparteien“ damit rechnen, vom Wähler die Quittung für ihr „unverantwortliches Verhalten“ zu bekommen. Hinter diesen unterschiedlichen Einstellungen standen — unausgesprochen — persönliche Interessen: Chirac erhoffte sich von der Akzeptierung der „cohabitation“ und der Übernahme des Amtes des Premierministers bessere Aussichten für den Einzug in den Elysee-Palast 1988; Barre rechnete sich größere Chancen bei sofortigen Präsidentenwahlen aus, zu denen es aber nur durch einen erzwungenen Rücktritt des amtierenden Präsidenten kommen konnte.
Mitterrand wurde die „cohabitation“ wesentlich erleichtert durch den Wahlausgang: RPR und UDF erhielten nur eine knappe Mehrheit, die PS blieb deutlich stärkste Partei Bei einer massiven Mehrheit der bürgerlichen Parteien hätte sich Mitterrand wohl nur nahezu völlig unterwerfen oder doch zurücktreten müssen. Wäre weiterhin nach der seit 1958 praktizierten absoluten Mehrheitswahl gewählt worden, so hätte der „Bürgerblock“ diese Mehrheit auch erhalten. Die Einführung der Verhältniswahl, nach der am 16. März 1986 gewählt wurde hatte vor allem den Zweck, dem Präsidenten noch einen gewissen Spielraum zu wahren. Wie groß aber würde dieser Spielraum noch sein können? Welche Rolle konnte er noch spielen, wenn er auf seine nicht anzutastenden verfassungsmäßigen Kompetenzen zurückgeworfen war? Wie würde sich die Machtverteilung zwischen dem Präsidenten einerseits und dem Premierminister, der Regierung und der Mehrheit in der Nationalversammlung andererseits darstellen, wenn künftig der Satz galt: „die Verfassung, nichts als die Verfassung, die ganze Verfassung“
IV. Der Präsident und die Regierungsbildung
Ersten Aufschluß sollte bereits die Ernennung des Premierministers und die Regierungsbildung geben. Die — von der Gegenzeichnungspflicht befreite — Ernennung des Premierministers wurde bisher von allen Präsidenten als eine ihnen uneingeschränkt zustehende Prärogative wahrgenommen, ohne daß sich einer von einem Partei-oder Fraktionsgremium etwas hätte vorschreiben lassen. Der Präsident hatte lediglich zu beachten, daß der Premierminister in der Nationalversammlung eine Mehrheit hinter sich haben mußte. Einen aus der Parlamentsmehrheit deutlich herausgehobenen „Spitzenkandidaten“, dessen Ernennung nur noch eine Formalität wäre, gab es nicht, denn der Staatschef selbst war ja de facto dieser „Spitzenkandidat“. Es war ihm freigestellt, aus welcher der zur Mehrheit gehörenden Parteien er ihn auswählte, und es mußte nicht die stärkste sein (nicht bei Barre 1976); er mußte nicht den Abgeordneten ernennen, der als der führende Kopf der Mehrheit galt er konnte ihn auch von außerhalb des Parlaments holen (Pompidou 1962, Barre 1976). Der Präsident hatte bei seiner Entscheidung mitzubedenken, welche Nominierung für die Beziehungen zur Mehrheit in der Nationalversammlung sich besonders vorteilhaft auswirken würde — woran ihm gelegen sein mußte —, aber die Nationalversammlung konnte ihm niemanden aufzwingen. Der Präsident ernannte einen Mann (eine Frau als Premierminister gab es bisher noch nicht) seines Vertrauens.
Damit war es im März 1986 vorbei. Es mag sein, daß Mitterrand hoffte, Chirac bis zur spätestens 1988 fälligen Präsidentschaftswahl zu „verschleißen“ und damit einen der beiden ernsthaften Konkurrenten (der andere ist Barre) für den sozialistischen Kandidaten (Mitterrand selbst?) zu schwächen — ein Kalkül, das auch aufzugehen scheint. Er wollte wohl auch möglichst klar zum Ausdruck bringen, daß der neue Premierminister und die von ihm betriebene Politik nicht seine eigene war (mit Chaban-Delmas wäre die Situation weniger klar gewesen) — entscheidend aber war, daß er, als erster Präsident der V. Republik, de facto gar keinen Spielraum besaß. Chirac war von seiner Partei „erkoren“, vom schwächeren Koalitionspartner akzeptiert und von den Wählern bestätigt worden. Das Risiko, daß ein anderer von ihm ernannter Politiker der neuen Mehrheit — vorausgesetzt, er würde annehmen — von der Nationalversammlung desavouiert würde, wodurch auch seine eigene Position erheblich geschwächt, vielleicht unhaltbar würde, war so groß, daß Mitterrand tatsächlich nur die Wahl zwischen der Ernennung Chiracs und dem eigenen Rücktritt hatte Das gaullistische Axiom, daß die Regierung nicht aus den Parlamentsfrak-tionen hervorzugehen hatte, sondern ihren Ursprung beim Präsidenten hatte, galt nicht mehr.
Es sei nur beiläufig erwähnt, daß die Entlassung des Premierministers durch den Präsidenten, von der Verfassung nicht vorgesehen, aber — außer beim freiwilligen Rücktritt Chiracs am 25. August 1976 — bei allen Wechseln so praktiziert, künftig nicht mehr möglich sein wird. Ähnlich reduziert war die Mitwirkung Mitterrands bei der Auswahl der Minister. Seine Vorgänger und er selbst (1981 und im Juli 1984, bei der Bildung der Regierung Laurent Fabius) hatten sich die Besetzung bestimmter Posten Vorbehalten und darauf bestanden, daß bestimmte Persönlichkeiten ins Kabinett kamen und andere nicht. Im März 1986 blieb Mitterrand nichts anderes übrig, als Chiracs Vorschlagsliste abzuzeichnen, mit zwei bemerkenswerten Ausnahmen: dem Außen-und dem Verteidigungsminister. Hier konnte zwar der Präsident nicht mehr — im Unterschied zur Praxis vor 1986 — allein entscheiden, aber auch der Premierminister konnte sich mit seinen ursprünglichen Vorschlägen nicht durchsetzen. Man einigte sich rasch auf parteilose „Fachleute“ Es ist daher verständlich, daß der Präsident erstmals nicht von „seiner“ Regierung spricht, sondern von der des Premierministers.
V. Innen-und Wirtschaftspolitik: Der Premierminister bestimmt die Richtlinien der Politik
Von den zu Beginn erwähnten besonders gewichtigen Befugnissen des Präsidenten ist in der gegenwärtigen Situation keine einsetzbar. Ein Referendum kommt nicht in Frage, da der Vorschlag von der Regierung oder der Parlamentsmehrheit kommen muß (Art. 11). An einen Rekurs auf Art. 16 ist ebenfalls nicht zu denken, da eine einem Notstand ähnliche innere oder äußere Krise nicht vorliegt. Das Auflösungsrecht ist vor der nicht mehr fernen Präsidentschaftswahl nicht empfehlenswert, allenfalls danach. Bleibt als letzte Möglichkeit der Rücktritt des Präsidenten, wenn es mit der „cohabitation" wirklich nicht mehr weitergeht und sich Mitterrand (für sich oder einen anderen sozialistischen Kandidaten) gute Erfolgsaussichten verspricht.
Wie tauglich sind nun aber die „kleineren“, dem Präsidenten im „Alltagsgebrauch“ zur Verfügung stehenden Mittel, um auf die politischen Entscheidungen, deren Grundlinien er selbst nicht mehr bestimmen kann, zumindest Einfluß zu nehmen? Auf drei Kompetenzen kann er dabei zurückgreifen:
1. Er führt den Vorsitz im wöchentlich zusammentretenden Ministerrat (= Kabinett).
2. Er nimmt gemäß Art. 13 die Ernennung zu den zivilen und militärischen Staatsämtern vor.
3. Er hat, ebenfalls gemäß Art. 13, bestimmte Verordnungen zu unterzeichnen.
1. Der Kabinettsvorsitz, der üblicherweise beim Regierungschef liegt, ist in Frankreich ein traditionelles Vorrecht des Staatschefs, das er bereits in der III. und IV. Republik innegehabt hat. Schon diese Tatsache legt die Vermutung nahe, daß diese formelle Kompetenz allein nicht ausreicht, um darauf eine politische Schlüsselposition aufzubauen. Als Informationsquelle ist der Ministerrat nicht sehr ergiebig; im übrigen würde zur Informationsbeschaffung schon die Anwesenheit eines Staatssekretärs im Präsidialamt ausreichen. Die Tagesordnung wird vom Hotel Matignon erstellt und dem Präsidenten mitgeteilt. Er kann zwar etwas hinzufügen — nicht bei Gesetzesentwürfen, für die er kein Initiativrecht besitzt—, aber er kann kein Veto einlegen, kann also in diesem Stadium keine Vorhaben der Regierung blockieren Mitterrand hat einen derartigen Versuch, der eine eklatante Mißachtung des Wählerwillens darstellen würde, auch gar nicht unternommen. Er hatte sich auch nicht geweigert, die Beratung über das eventuelle Stellen der Vertrauensfrage nach Art. 49 Abs. 3 selbst im Zusammenhang mit sogenannten „Ermächtigungsgesetzen“ auf der Tagesordnung zu lassen, obwohl er dazu bereits in seiner Botschaft an das Parlament seine Bedenken geäußert hatte
Im Ministerrat selbst ist er nun völlig isoliert; er kann zwar jederzeit das Wort ergreifen, er kann — wie mehrfach geschehen — seine „ernsten Vorbehalte“ vorbringen, aber der Premierminister kann sich mit „seinen“ Ministern jederzeit darüber hinwegsetzen. Der Präsident kann weder einen von ihm gewünschten Beschluß herbeiführen noch einen unerwünschten verhindern. Schließlich kann der Premierminister den Ministerrat zwar nicht ausschalten, aber teilweise umgehen, indem er die Minister ohne den Präsidenten in einem sogenannten „conseil de cabinet“ zusammenruft. Chirac hat von dieser Möglichkeit auch schon einige Male Gebrauch gemacht (vor allem bei Haushaltsberatungen). Wichtiger sind die häufig anberaumten interministeriellen Ausschüsse, in denen ebenfalls der Premierminister den Vorsitz führt. Sie besaßen auch schon vor dem März 1986 als Gremien der Entscheidungsvorbereitung große Bedeutung, aber da dabei ein Mitglied des Beraterstabes des Präsidenten als „Aufpasser“ und als Übermittler der Vorstellungen des Elysee-Palastes anwesend war, wurde nichts am Präsidenten vorbei entschieden. Jetzt nimmt kein Berater des Präsidenten mehr an diesen Sitzungen teil, dies auch auf Mitterrands eigenen Wunsch hin, da er an der Ausarbeitung einer Politik, die er in vieler Hinsicht ablehnt, die er aber nicht verhindern kann, nicht beteiligt sein will, um auch nicht dafür verantwortlich gemacht werden zu können Die Ausklammerung des Präsidenten aus der Regierungspolitik wird auch daraus ersichtlich, daß er außerhalb des Ministerrats nur zum Außen-und Verteidigungsminister und zum Minister für Entwicklungshilfe und Zusammenarbeit regelmäßige Kontakte hat
2. Im Hinblick auf die Eventualität der „cohabitation“ wurde häufig die Möglichkeit des Präsidenten erörtert, die Politik der Regierung personalpolitisch erheblich zu behindern, indem er die Regierung zwingt, die Durchführung ihrer Politik Spitzenbeamten und Topmanagern anzuvertrauen, die diese Politik ablehnen. Die Ernennungsbefugnis des Präsidenten, die keineswegs eine Formalität ist, ist um so wichtiger, als mit einer zunehmenden Politisierung der hohen Verwaltung der Wechsel in den Spitzenpositionen bei einem parteipolitischen Machtwechsel immer umfassender wurde. Hinzu kommt, daß die Liste des Art. 13 durch eine Reihe von Verordnungen — mit der Unterschrift des Präsidenten, also auch nur mit seiner Zustimmung wieder zu modifizieren — erheblich erweitert wurde, wobei Mitterrand, wohl schon in Erwartung des Sieges der bürgerlichen Parteien, die Liste der nur mit seiner Unterschrift vorzunehmenden Ernennungen durch eine Verordnung vom 6. August 1985 auf etwa 170 Posten verlängerte
In der Praxis kann diese ziemlich eindrucksvoll erscheinende Kompetenz freilich nur mit Vorsicht und Zurückhaltung ausgeübt werden.
Wollte Mitterrand, der ja 1981 ff.selbst ausgiebige personelle Auswechslungen vorgenommen hatte, die Personalpolitik des Premierministers systematisch blockieren, so stieße er damit in der Öffentlichkeit kaum auf Verständnis. Nach allem, was von diesen mit besonderer Diskretion behandelten Fragen nach außen gedrungen ist, zu urteilen, hat es zwar gelegentliche Konflikte gegeben, und ein zu befürchtendes präsidentielles Veto, das nicht aufzuheben wäre, hat wohl auch einige besonders kräftig parteipolitisch akzentuierte Personalentscheidungen antizipierend korrigiert, aber insgesamt hat der Premierminister unter Respektierung eines kleinen „reservierten Bereichs“ des Präsidenten seine Wünsche durchgesetzt. Der Präsident hat, trotz einiger Friktionen, ratifiziert; er hat allenfalls marginal Einfluß genommen
3. Mitterrand hatte von Anfang an angekündigt, er werde Verordnungen (ordonnances) nur in begrenzter Zahl unterschreiben und bestimmte gar nicht Damit hatte er eine Konfliktzone angesprochen, in der es bisher zu den spektakulärsten Auseinandersetzungen gekommen ist.
Die Verordnungsgewalt ist in der V. Republik besonders wichtig, weil alle nicht im Art. 34 (Gesetzesbereich) aufgeführten Materien zum autonomen Verordnungsbereich der Regierung gehören. Gemäß Art. 21 liegt die Verordnungsgewalt beim Premierminister, der auch für die Ausführungsverordnungen bei den Gesetzen zu sorgen hat.
Nur die eigens im Ministerrat beratenen und beschlossenen Verordnungen, die nicht einmal ein Zehntel aller Verordnungen ausmachen, bedürfen zusätzlich der Unterzeichnung durch den Präsidenten. Diese Kategorie besteht aus den Ernennungsdekreten — davon war schon die Rede — sowie aus einigen Verordnungen (decrets), die insbesondere die Organisationsgewalt im Bereich der Regierung, die Grundprinzipien der Landesverteidigung, die Unabhängigkeit der Richter u. ä. betreffen. Hier hat es bisher keine Probleme gegeben Ein gewisses Aufsehen hat die Weigerung Mitterrands erregt, einige gesetzesvertretende Verordnungen (ordonnances) zu unterschreiben. Nach Art. 38, der mit Art. 80 GG vergleichbar ist, der französischen Regierung aber einen wesentlich größeren Spielraum läßt, kann die Regierung, um Zeit zu sparen und auch um unangenehme Parlamentsdebatten zu umgehen, sich vom Parlament per Gesetz ermächtigen lassen, durch gesetzesvertretende Verordnungen tätig zu werden. Chirac hat von dieser Möglichkeit vor allem bei wichtigen Problemen ausgiebig Gebrauch gemacht. Zwar sind sich die Verfassungsrechtler nicht einig aber nach herrschender Lehre hat der Präsident bei der Unterzeichnung hier ein Vetorecht. Aber auch wenn die Nichtunterzeichnung gegen die Verfassung verstieße, gäbe es — außer dem kaum gangbaren Weg der Anklage des Hochverrats (Art. 68) — keine Sanktionsmöglichkeiten. Wie angekündigt, verweigerte Mitterrand einige Male seine Unterschrift: bei den Reprivatisierungen, der Wahlrechtsreform und der Arbeitszeitregelung. Dabei ließ er sein Veto nicht parteipolitisch motiviert erscheinen, sondern führte hohe Prinzipien ins Feld: gegen die Reprivatisierungen das „nationale Interesse“ und die „nationale Unabhängigkeit“ (und zwar am 14. Juli!), gegen die Wahlrechtsreform die „republikanische Tradition“ und gegen die Arbeitszeitregelung den „sozialen Fortschritt“ und den „sozialen Zusammenhalt“ Alle drei Vorhaben hat Chirac, eine gewisse Verzögerung in Kauf nehmend, auf dem normalen Gesetzgebungsweg dennoch realisiert (zweimal in Verbindung mit Art. 49 Abs. 3).
Letztlich hat also der Präsident mit seinem umstrittenen Veto, mit dem er auch verdeutlichen wollte, daß er bei diesen Entscheidungen nicht involviert sein wollte, nichts verhindert.
Die Befugnisse des Präsidenten bilden auf dem weiten Feld der Innenpolitik, einschließlich der Wirtschafts-, Finanz-und Sozialpolitik, kein Gegengewicht gegen die Machtmittel des Premierministers. Bei diesem und den Parlamentariern, nicht beim Präsidenten, liegt das Recht der Gesetzesinitiative, und im modernen Rechts-und Interventionsstaat gilt mehr denn je: „Gouverner c’est legiferer“. Der Premierminister kann, ohne daß ihn der Präsident daran hindern kann, eine Vorlage mit der Vertrauensfrage verbinden, um sie auf diese Weise leichter über die parlamentarischen Hürden zu bringen. Chirac hat von dieser Möglichkeit schon mehrfach Gebrauch gemacht. Der Premierminister und seine Minister können das „vote bloque“ (Art. 44 Abs. 3) einsetzen, um unliebsame „amendements“ abzuwehren. Hingegen muß der Präsident alle vom Parlament beschlossenen Gesetze binnen zwei Wochen unterzeichnen (Art. 10 Abs. 1). Er kann zwar eine neue Beratung der Vorlage verlangen, aber da diese neuerliche Beratung zum selben Ergebnis führer dürfte, hat Mitterrand davon keinen Gebrauch gemacht. Die Anrufung des Verfassungsrats durch den Präsidenten kann das Inkrafttreten eines Gesetzes verzögern oder sogar ganz oder teilweise verhindern, aber diese Intervention ist meist unnötig, da auch 60 Abgeordnete oder 60 Senatoren das Anrufungsrecht besitzen und es häufig nutzen.
Der Premierminister besitzt auch, wie bereits erwähnt, die Verordnungsgewalt, allerdings eingeschränkt durch gewisse präsidentielle Befugnisse. Der Premierminister verfügt ferner über die Verwaltung (Art. 20), und er hat eine Art Kanzleramt zur Verfügung, das dem Stab des Präsidenten deutlich überlegen ist.
Folglich ist es nicht verwunderlich, daß im Bereich der Innenpolitik ein fast vollständiger Transfer der Entscheidungsmacht vom Elysee-Palast zum Hotel Matignon stattgefunden hat. Der Präsident kann gelegentlich gegen eine Entscheidung ein Veto einlegen — durch Unterschriftsverweigerung —, aber wenn er die Verfassung und den Wählerwillen respektiert, kann er damit nicht die Regierungspolitik blockieren. Die Richtlinien der Politik kann er nicht bestimmen. Dies ist nun Sache des Premierministers, dessen Kompetenzfülle nach dem Urteil Duvergers in etwa so groß ist wie die von Margaret Thatcher oder von Helmut Kohl
Insgesamt ist die Prognose Chaban-Delmas'eingetroffen: Der Premierminister und die Regierung regieren, der Präsident präsidiert Verfolgt man die Popularitätskurve Mitterrands vor und nach dem 16. März 1986, so scheint er als ein dem Tagesgetümmel entrückter Präsident erfolgreicher zu sein als ein in der Tagespolitik engagierter Präsident. Die Franzosen haben offenbar Gefallen gefunden an dem wiederentdeckten „Schiedsrichter“ (Art. 5), der hinter dem regierenden Präsidenten verschwunden war.
VI. Machtverteilung, Zusammenarbeit und Rivalität in der Außen-und Verteidigungspolitik
Eine merklich andere Situation findet man im Bereich der Außen-und Verteidigungspolitik vor Zwar haben alle bisherigen Staatschefs die von Chaban-Delmas schon 1959 aufgestellte und oft mißverstandene „Theorie“ von der „do-maine reserve“ der Außen-und Verteidigungspolitik zurückgewiesen, da sie ihre politische Aktivität nicht auf diesen Bereich beschränken lassen wollten, aber sie betrachteten ihn doch als ihre ureigenste Domäne, in der der Premierminister weniger mitzureden hatte als in der Innenpolitik. Außen-und Verteidigungsminister wurden vom Präsidenten selbst ausgesucht, und er arbeitete meist direkt mit ihnen zusammen, während bei den anderen Ministern im allgemeinen der Premierminister „zwischengeschaltet“ war.
Auch Mitterrand hatte vor dem 16. März 1986 mit Nachdruck darauf verwiesen, daß der Präsident aufgrund ihm von der Verfassung zugewiesener Kompetenzen in der Außen-und Verteidigungspolitik eine besondere Verantwortung trage Zweifellos gibt der Verfassungstext (Art. 5, 15, 52) dem Präsidenten besondere Zuständigkeiten, aber er erlaubt ihm nicht, sie allein zu bestimmen. Einmal davon abgesehen, daß die Verfügungen des Präsidenten der ministeriellen Gegenzeichnung bedürfen, besitzt auch der Premierminister hier Kompetenzen (Art. 20 und 21). Wenn es diesem schon die Verfassung nicht erlaubt, den Präsidenten so weit zu entmachten wie in der Innenpolitik, so kann er auch eine weithin akzeptierte Tradition hier nicht einfach umkehren. Das Verhalten der ausländischen Gesprächs-und Verhandlungspartner, die auf den Präsidenten „fixiert“ bleiben — wie offenbar auch der Wunsch der französischen Armeeführung, die Entscheidung über einen eventuellen Einsatz der Nuklearstreitmacht allein beim Staatschef zu lassen —, hat ebenfalls eine zu starke Erosion der Stellung des Präsidenten in diesen Bereichen verhindert. Andererseits hat Chirac alsbald klargemacht, daß er, anders als seine Vorgänger, nicht gewillt ist, dieses Feld dem Präsidenten allein zu überlassen.
Der Hauptgrund ist hier nicht die Absicht, eine andere Politik zu initiieren, sondern der Wunsch des Präsidentenkandidaten für 1988, sich auch außenpolitisch zu profilieren. Der Premierminister richtete sich einen eigenen außenpolitischen Beraterstab ein; er holte sich Jacques Foccart, unter de Gaulle und Pompidou die „graue Eminenz“ der Afrikapolitik, als Berater zurück; er unternahm, mit dem Präsidenten oder auch allein, Auslandsreisen; er trifft die von ihm (mit) ausgewählten Ressortminister häufiger als der Präsident. Vor allem versucht er, die Medien von seiner außenpolitischen Aktivität und Kompetenz zu überzeugen, wobei er gelegentlich seine Rolle übertrieben dargestellt hat
Bei einigen Fragen hat Chirac offenbar sogar ohne den Präsidenten gehandelt Es würde aber die Situation verzeichnen, wenn man daraus schließen wollte, der Premierminister vertrete Frankreich, wenn es um Verhandlungen gehe, der Präsident dürfe zu internationalen Gesprächs-Gipfeln fahren, bei denen geredet, aber nichts entschieden werde Zwar ist dem Bundeskanzler klar geworden, daß er die deutsch-französischen Beziehungen oder die Europapolitik nicht mehr allein im Tte--tte mit Mitterrand regeln kann, aber man kann ihre Gespräche deshalb nicht auf eine Stufe stellen mit einer „Konversation zwischen der englischen Königin und dem Prinzen von Monaco“
Als Teilung der Macht und im Sinne eines Zusammenwirkens von Präsident und Premierminister gibt es die „cohabitation" in der Außen-und in der Verteidigungspolitik; in der Innen-und Wirtschaftspolitik nimmt sie eher die Form einer „friedlichen Koexistenz“ zwischen einem ziemlich entmachteten Präsidenten und einem deutlich dominierenden Premierminister an. Während ein Zusammenwirken in der Innen-und Wirtschaftspolitik angesichts der erheblichen Differenzen auch kaum möglich erscheint, ist es in der Außen-und Verteidigungspolitik ohne allzu große Schwierigkeiten möglich, weil es — ungeachtet mancher Unterschiede bei der Einstellung zu einzelnen Problemen — im Grundsätzlichen einen breiten nationalen Konsens zwischen den bürgerlichen Parteien und den Sozialisten gibt.
VII. Zusammenfassung und Perspektiven
Die „cohabitation“ hat verdeutlicht, daß eine äußerst präsidentialistische Verfassungspraxis (bis März 1986) sich nicht zwingend aus dem Verfassungstext ergibt, sondern eine den Präsidenten als ihren wirklichen Chef anerkennende und die von ihm definierte Politik unterstützende Mehrheit in der Nationalversammlung als unverzichtbare Basis nötig ist. Steht dem Präsidenten eine politisch konträre Mehrheit gegenüber, so ist der Präsident auf seine in der Verfassung enthaltenen Kompetenzen zurückgestutzt. Die Verfassung zeigt nun ihr authentisches Gesicht: das einer Kanzlerdemokratie ä la franaise, in der der Präsident in der Innen-und Wirtschaftspolitik einen mitunter lästigen Störenfried spielen kann, ohne aber die nun vom Premierminister und seiner Regierung konzipierte und von ihrer Mehrheit in der Nationalversammlung gedeckte Politik verhindern zu können. Im Bereich der Außen-und Verteidigungspolitik dagegen kann der Präsident nicht in gleicher Weise aus dem Entscheidungsprozeß verdrängt werden; hier müssen sich Präsident und Premierminister zu einer gemeinsamen Politik „zusammenraufen“.
Findet eine Wahl zur Nationalversammlung statt, nachdem der Präsident schon einige Jahre amtiert, und verliert „seine“ Mehrheit diese Wahl — wie 1986 —, so entspricht die weitgehende Machtverlagerung auf den Premierminister auch dem Grundsatz demokratischer Legitimität, denn wenn die demokratische Legitimität des Präsidenten auch weiterbesteht — in diesem Fall bis 1988 —, so ist sie durch die jüngere Manifestation der ebenso demokratischen Legitimität der Nationalversammlung überlagert worden.
Wenn mit dem Abbau der präsidentiellen Dominanz die Hoffnung verbunden war, die Nationalversammlung werde nun eine größere Bedeutung erlangen, so ist diese Hoffnung enttäuscht worden. Ihre Rolle bleibt genauso bescheiden wie bisher und wie es von den Verfassungsvätern durchaus intendiert war, wenn auch nicht in diesem Ausmaß. Statt des bisher benutzten Begriffs der „lecture parlementaire" der Verfassung, die man der „lecture presidentialiste“ gegenüberstellt, sollte man treffender von einer „lecture gouvernementale" sprechen. Eine dritte Konfiguration kann nur hypothetisch diskutiert werden: wenn es in der Nationalversammlung gar keine stabile und kohärente Mehrheit gibt. Der Präsident wäre dann zwar nicht so mächtig, wie er es bis zum März 1986 war, aber er besäße bei wechselnden Mehrheiten einen größeren Spielraum, als ihn Mitterrand seit März 1986 hat. Mit einer konsistenten parlamentarischen Mehrheit verlöre die V. Republik viel von ihrer Stabilität und Effizienz. Wie wirksam die Instrumente des „rationalisierten Parlamentarismus“ noch sein könnter und in welchem Maße der Präsident ein Stabilisierungsfaktor sein könnte, ist nicht abzuschätzen. Mit dieser Situation wird man zu rechnen haben, falls das Verhältniswahlsystem über eine längere Zeit angewandt wird. Insofern kann man die Mehrheitswahl, die inzwischen — gegen den Willen Mitterrands — wieder eingeführt wurde, als eine tragende Säule des Verfassungsgefüges der V. Republik betrachten.
Die Konflikte und Reibungsverluste zwischen Präsident und Premierminister lassen die „cohabitation“ als ein auf Dauer untaugliches Regierungsmodell erscheinen. Der Bruch wurde bisher vermieden, weil diese Art friedlicher Koexistenz der Mehrzahl der Franzosen gefällt und weil derjenige, der sie beenden würde, bei der dann fälligen Wahl vom Wähler bestraft zu werden droht. Der Bruch wird vor allem auch deshalb vermieden, weil 1988 der Präsident neu gewählt werden muß. Gewinnt der Kandidat der bürgerlichen Parteien, so hätte man wieder die Situation, wie sie bis zum 16. März 1986 bestanden hat. Die Basis in der Nationalversammlung könnte durch Auflösung und Neuwahl — nun wieder nach der Mehrheitswahl — verbreitert werden. Es ist möglich, daß dann das rein präsidentialistische Modell wieder auflebt, es ist aber auch denkbar, daß die „cohabitation“ Spuren hinterläßt, daß sich die künftigen Premierminister nicht mehr so bedingungslos dem Präsidenten unterordnen, nachdem ihnen demonstriert wurde, über welche Möglichkeiten man im Hotel Matignon verfügt. Es könnte sich als neues Verfassungsmodell eine abgemilderte „Dyarchie“ entwickeln, die dadurch begünstigt wird, daß man es voraussichtlich mit einer Koalitionsregierung zu tun haben würde.
Gewinnt aber ein Sozialist — wohl Mitterrand oder Michel Rocard — 1988 die Präsidentenwahl, so wäre eine Konvergenz von parlamentarischer und präsidentieller Mehrheit erst nach einer Auflösung der Nationalversammlung und Neuwahlen herzustellen. Da die Gewinnchancen nicht sehr groß erscheinen, wird er möglicherweise nicht sofort auflösen. Entweder versucht er, mit wechselnden Mehrheiten zu regieren — die Auflösungsdrohung könnte das erleichtern —, oder er versucht, einen Teil des bürgerlichen Lagers in ein Bündnis mit der PS zu bringen Löst der sozialistische Präsident auf und es kehrt eine bürgerliche Mehrheit in die Nationalver-Sammlung zurück und der Präsident bleibt im Amt, dann ...
Diese Exkursionen in das Gebiet der „politiquefiction" sind nicht dazu geeignet, über die Verfassung und ihre „souplesse" ein ähnlich positives Urteil zu fällen wie etwa Maurice Duverger, der sie für die beste seit 1789 hält. Vielmehr wird die weiter bestehende „Achillesferse“ der auseinanderfallenden Mehrheiten in aller Deutlichkeit sichtbar. Will man sich nicht für ein rein präsidentielles oder ein rein parlamentarisches Regime entscheiden und auch nicht bei jeder Wahl eine lähmende Verfassungskrise riskieren, so empfiehlt sich die Reduzierung der Amtszeit des Präsidenten auf fünf Jahre und eine Koppelung von Auflösung der Nationalversammlung mit dem Rücktritt des Präsidenten