I. Die Problemstellung
Eine für die politische, soziale und kulturelle Entwicklung des Nahen Ostens während der letzten anderthalb Jahrzehnte bestimmende Entwicklung ist die sogenannte Re-Islamisierung gewesen. Ohne an dieser Stelle näher auf eine Definition einzugehen, soll hier die Feststellung genügen, daß es sich dabei um Bestrebungen handelt, die politische und soziale (in Einzelfällen auch wirtschaftliche) Ordnung in der islamischen Welt (vornehmlich im Nahen und Mittleren Osten) wieder auf eine „islamische“ Grundlage zu stellen. Im Extremfall bedeutet dies, das islamische Gesetz (Shari’a) in all seinen Bereichen wieder zur Geltung zu bringen.
Die Bewegung läßt sich bis etwa Anfang der siebziger Jahre zurückverfolgen. Sie beginnt mit dem Übergang der Vormachtstellung innerhalb des arabischen Raumes von den bis dahin dominanten arabisch-nationalistisch-sozialistischen Kräften (unter Führung des Ägypters Nassers) auf die islamisch-traditionalistischen Regime unter der Führung Saudi-Arabiens (namentlich unter dem 1975 ermordeten König Faisal). Sie ist charakterisiert durch ein Aufleben fundamentalistischer islamischer Propaganda in der ganzen Region des Nahen und Mittleren Ostens (mit spürbaren Auswirkungen auch in Indien sowie Südostasien, vor allem in Indonesien und Malaysia) und durch die Intensivierung der politischen Aktivitäten radikaler islamischer Gruppierungen. Aus Gründen, auf die noch einzugehen sein wird, hat die Bewegung etwa ab der Mitte der siebziger Jahre eine revolutionäre, gegen den politischen Status quo gerichtete Stoßrichtung genommen und ist mit der Revolution in Iran unter Ayatollah Ruhollah Khomeini 1979 zu einem ersten durchschlagenden politischen Erfolg gekommen.
Dem westlichen Beobachter — insbesondere dem, der sich, informiert durch die westliche Presse, an der Oberfläche der Sensationen von mit der „Re-lslamisierung“ verbundenen Ereignissen orientiert— erscheint das Wiederaufleben des politischen Islams als etwas Reaktionäres, gerichtet auf die Wiedererrichtung einer Ordnung, wie sie in ähnlicher Form in den ersten Jahrzehnten nach dem Tode des Propheten Muhammad (er starb 632 n. Chr.) Bestand hatte. Betrachtet man die Schriften und Erklärungen der Vorkämpfer der Re-Islamisierung selbst, so ergibt sich freilich ein differenzierteres Bild: Tatsächlich geht es um die Errichtung der „aetas aurea“, des „Goldenen Zeitalters“, dessen Elemente zwar aus der Vergangenheit geschöpft werden; doch sind diese nicht als Rekonstruktion der Vergangenheit zu verstehen, vielmehr dient ihre Wiederbelebung der Errichtung einer Ordnung, in der sich der Muslim alle Bereiche der „Moderne“, wie sie durch „den Westen“ geprägt ist, also insbesondere auch Technologie und Wissenschaft, eröffnet, diese aber zugleich in ein Wertesystem integriert, das auf der Tradition, namentlich der Religion (und Geschichte), gegründet ist.
Es geht also um die Errichtung einer alternativen „modernen“ Ordnung in der Gegenwart: alternativ zu den in der islamischen Welt heute bestehenden Ordnungen, die im Prozeß der Modernisierung (d. h. Verwestlichung) der letzten anderthalb Jahrhunderte ihre islamische Eigentümlichkeit und ihre islamischen Wurzeln zum Teil verloren haben. Ziel ist es, die materielle und geistige Gleichstellung mit dem — noch immer als überlegen empfundenen — Westen zu verwirklichen, ohne sich als Muslim, der nur in einer islamisch bestimmten Ordnung als solcher leben und ein solcher sein kann, aufzugeben.
Damit wird die „Re-Islamisierung“ der siebziger und achtziger Jahre als weiteres Glied einer Kette ähnlicher Entwicklungen verstanden, deren Beginn an den Anfang des 19. Jahrhunderts zurückreicht. Sie ist eine neuerliche Reaktion auf jene fundamentale Herausforderung, die aus dem Zusammenprall des auf allen Gebieten — zivilisatorisch, technisch, wissenschaftlich und politisch — überlegenen Westens mit einem islamischen Nahen Osten hervorging, der sich auf allen Gebieten im Niedergang befand. Die islamische Welt sah sich mit einem Mal in der Unterlegenheit, d. h. in einem Zustand gegenüber einer nicht-islamischen Zivilisation, den es nach ihrer von dem Islam geprägten Weitsicht nicht geben durfte. Zugleich geriet sie mit dem Fortschreiten des 19. Jahrhunderts in immer tiefere politische Abhängigkeit und unter kulturelle Überfremdung.
Der Kern der Herausforderung bestand in der Frage, wie die islamische Welt nunmehr wieder den Gleichstand mit dem Westen (wenn schon nicht die Überlegenheit über diesen) erzielen würde, ohne die Grundnormen der islamischen Religion, die auch weiterhin für die politische Ordnung bestimmend sein sollten, aufzugeben. Wie würde der Muslim die die westliche Überlegenheit konstituierenden Elemente übernehmen können, um daraus wieder individuelle wie kollektive Stärke zu gewinnen, und gleichwohl unverwechselbar Muslim sein und individuell wie im Kollektiv ein von der islamischen Religion geprägtes Leben führen können?
Den militanten Islam, der auf die Wiedererrichtung einer „islamischen Ordnung“ gerichtet ist, hat man als „fundamentalistisch“ bezeichnet.
Dies deswegen, da die Elemente dieser Ordnung aus dem Koran und der Sunna, d. h.dem nach der Überlieferung vom Propheten Muhammad selbst noch Gebilligten, geschöpft werden. Dieser Begriff freilich, der eigentlich der protestantischen Theologie entstammt, erfaßt kaum die tatsächlichen religionspolitischen Ziele und Programme der Bewegung. Deshalb hat es sich im Laufe der letzten Jahre zunehmend durchgesetzt, vom „Islamismus“ zu sprechen — eine Prägung, die den handlungsbetonten Charakter einer „islamischen Ideologie“ in den Vordergrund stellt. Eine arabische Entsprechung für „Fundamentalismus“ gibt es nicht. Im folgenden sollen die Begriffe „fundamentalistisch“, „islamistisch“ und „militant-islamisch“ nebeneinander gebraucht werden.
II. Islam und Modernisierung — die politische Komponente
Die Antworten auf die Frage nach dem Weg der Entwicklung, der die islamische Welt aus ihrer Misere und Rückständigkeit führen soll, lassen sich heute an zwei Extremen orientieren: der Türkei und dem revolutionären Iran. In ersterer sind durch die Revolution Kemal Atatürks die Religion auf der einen und Politik und Gesellschaft auf der anderen Seite radikal getrennt worden; im revolutionären Iran Khomeinis erscheinen sie als ebenso radikal wieder verschmolzen.
Beide Fälle haben gemeinsam, daß sie ihre Antwort auf die gestellte Problematik nicht im religiösen Raum — etwa durch eine theologische Reform der Grundlagen und wesentlichen Aussagen des Islams—, sondern im politischen Raum, d. h. in der Beziehung zwischen Religion und Staat gesucht haben.
Tatsächlich entspricht dies einer Tradition, die nahezu bis in die Anfänge der Auseinandersetzung zwischen der islamischen Welt und dem Westen zurückreicht: Zwar hat ein breiter Strom von Theologen den Versuch gemacht, den Islam und die Elemente, in denen man die Überlegenheit des Westens begründet sah, zu versöhnen; im wesentlichen ging es dabei darum, die „fortschrittlichen“ Elemente im Islam von den eher zeitgebundenen zu trennen. Andere aber haben in der politischen Befreiung von den immer dominanter werdenden westlichen Mächten die Voraussetzung für eine Regeneration des Islams und der islamischen Welt gesehen.
Der eindrucksvolle Exponent dieser —politischen — Strömung innerhalb des neueren Islams ist der Theologe Jamal ad-Din al-Afghani (1838/39— 1891) gewesen. Für ihn stand die politische Agitation im Mittelpunkt der Erneuerung; es galt, die islamische Welt im Zeichen des Islams zu einen, um so auf breiter Front den Kampf aufnehmen zu können. al-Afghani hat die Fortschrittsfähigkeit des Islams nicht bestritten — zwischen dem Islam und einer im Sinne des Westens verstandenen Modernität hat er keinen Widerspruch gesehen. Aber Reform und Anpassung waren nur aus einer Position der Würde heraus zu vollziehen— die Befreiung war die Voraussetzung der Wiedergewinnung der Würde. War sie erst einmal erreicht, so würde es kein Problem darstellen, eine Gesellschaft zu formen, die auf einem Islam beruhen würde, in dem alle konstituierenden Elemente von „Modernität“ aufgehoben sein würden. Die islamische Gesellschaft würde sich erneuern, aus der Unterlegenheit emporsteigen und doch zugleich innerhalb der Koordinaten der Religion existieren können.
Der Versuch, Islam und Modernität im politischen Raum zu versöhnen, ist bisher fehlgeschlagen: al-Afghani ist gescheitert, ohne eine durchschlagende politische Wirkung entfaltet zu haben; und auch die Versuche der herrschenden Elite des Osmanischen Reiches seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts bis zum Ende des Ersten Weltkriegs, Reformen in Politik und Gesellschaft des Reiches durchzuführen, ohne die religiöse Grundlage in Frage zu stellen, haben nicht gefruchtet und den Zusammenbruch des Reiches nicht aufhalten können. Damit war der kemalistischen Revolution und somit einer radikalen Alternative der Boden bereitet.
Auch Kemal Atatürk ging es um die Würde und die Renaissance eines durch innere Krisen und äußere Kräfte niedergegangenen Volkes. In seiner Interpretation freilich war der Islam ein Element der Rückständigkeit gewesen; in dem islamischen Vielvölkerstaat waren schließlich nicht nur neue (nationale) Kräfte entstanden, die sich gegen die islamische Grundlage des Staates erhoben hatten, sondern das Festhalten am Islam als einer politischen und gesellschaftlichen Kraft hatte verhindert, daß der Modernisierungsprozeß zu einer inneren Stärkung des Reiches beigetragen hatte. Es galt also, den Islam als politisch-gesellschaftliches Phänomen aufzugeben — allenfalls als private Religion des einzelnen konnte er seine Berechtigung haben. An die Stelle des Islams als der tiefsten Identifikation des Muslim trat der Nationalismus, durch den der einzelne in einer jetzt auf Sprache, Rasse und Geschichte gründenden Gemeinschaft seine eigentliche Identität fand. Dieser neue Nationalismus (den er naturgemäß nur für die Türken konstituieren konnte) würde sich nunmehr ohne Hemmungen und schlechtes Gewissen der Moderne öffnen können; Modernisierung würde freilich gleichbedeutend mit weitestgehender Verwestlichung sein.
Mit Atatürk war den Bemühungen um die Bewältigung der Existenzkrise der Muslime und der islamischen Gesellschaft eine neue Dimension eröffnet. Tatsächlich lassen sich die Bemühungen der neuen Eliten, die nach dem Ersten Weltkrieg die Führungsrolle im Nahen Osten übernommen haben, ihre Gesellschaften auf neue, letzten Endes säkularistisch verstandene Grundlagen zu stellen, irgendwie auf Atatürk beziehen. Nirgendwo freilich ist die Revolution so weitreichend und radikal vollzogen worden wie in der Türkei. Aus dem Scheitern dieser Experimente außerhalb der Türkei konnte dann Anfang der siebziger Jahre jener Fundamentalismus wieder an Kraft gewinnen, der jeden Säkularismus radikal verwarf und schließlich mit der „Islamischen Republik Iran“ das Gegenstück zur säkularistisehen Türkei schuf, und somit einmal mehr eine radikal islamische Variante in die Suche der Muslime nach einer ihnen gemäßen Ordnung in einer vom „Westen“ bestimmten Welt einführen.
III. Vision versus Perversion
Die Nachahmung der kemalistischen Version von „Moderne“ nicht zuletzt durch den letzten Schah (Muhammad Reza) hat für Ayatollah Khomeini in die Perversion einer islamischen Gesellschaft geführt. Für ihn und für seine islamisch-revolutionäre Gefolgschaft im Iran beinhaltet diese „Perversion“ drei grundlegende Aspekte:
— Das politische System Irans war zur Despotenherrschaft eines einzelnen Mannes degeneriert. Weder das iranische Volk als ganzes noch einzelne gesellschaftliche Schichten bzw. politische Gruppen (etwa die schiitische Geistlichkeit oder politische Parteien) hatten die Möglichkeit, an dem Geschick des Landes mitzuwirken. Nach der Interpretation Khomeinis war dies die Folge davon, daß sich der Schah über die Grundprinzipien einer islamischen politischen Gemeinde hinweggesetzt und die moralische und ethische Basis eines islamisch bestimmten Staatswesens verlassen hatte. Die Herrschaft des Schahs stand im Widerspruch zum Ideal von der islamischen Gesellschaft, bzw.dem islamischen Staat, innerhalb deren jeder Gläubige dem anderen gleich ist.
Zwar mußte es auch in einer islamischen Gemeinschaft einen Führer geben, doch muß die Führerschaft auf dem Konsens der Gläubigen, ihrer Zustimmung und Mitwirkung beruhen. Das System Irans war in extremer Weise politisch ungerecht geworden. — Die politische Ungerechtigkeit war mit sozialer Ungerechtigkeit untrennbar verbunden. Der iranische Despot und mit ihm eine kleine Clique von Schmarotzern (so der Befund Khomeinis) hatten sich einen großen Teil der materiellen Mittel angeeignet, die eigentlich dem ganzen Volk gehörten. Besonders mit dem Anstieg der Öleinnahmen hatten sich die Einkommensunterschiede dramatisch zugespitzt und die sozialen Gegensätze verschärft: Während die einen ihre politische Stellung nutzten und sich unvorstellbare Reichtümer aneigneten, verfiel die Masse der Bevölkerung in den Städten sowie auf dem Lande immer größerer Armut. — Die herrschende Clique hatte ihre Stellung dadurch gefestigt, daß sie sich auf ausländische Mächte stützte und zur Forcierung einer im Inne-25 ren betriebenen Entwicklung (besonders der Industrialisierung) ausländische Handlanger (sprich: Berater) ins Land holte. Die massive Industrialisierung (von der das Volk nichts hatte)
und die Einfuhr westlicher Technologie (die das Volk nicht verstand) legten eine Decke der Verwestlichung über die islamische Gesellschaft. Der iranische Muslim wurde fremden Werten und Normen ausgesetzt, für die er in seiner Identität keine Entsprechung und Beziehung fand und deren Einführung er nur als ein Instrument auffassen konnte, ihn umfassend in neue innere und äußere Abhängigkeiten zu bringen. Die Folge war ein tiefes Gefühl der Entfremdung einer Masse von Iranern von ihrer islamischen Tradition und dem ihr entsprechenden sozialen und geistigen Gefüge.
Vor dem Hintergrund dieser Analyse bzw. dieses Sachverhalts ergab sich die dreifache Zielrichtung der von Khomeini 1978 „übernommenen“ Revolution:
— Zum einen ging es um die Wiederherstellung einer von den Muslimen als „gerecht“ akzeptierten politischen Ordnung. Mit dem Schlagwort der „Islamischen Republik“ war eine Gemeinschaft propagiert, die dem Ideal der islamischen umma, d. h.der klassenlosen islamischen Gesellschaft der Frühzeit, nahekommen sollte. In ihr würde wieder politische Gerechtigkeit walten, da sie auf der umfassenden Geltung des islamischen Rechts und Gesetzes beruhen würde. Daß die Geistlichkeit selber nunmehr die Macht ausüben sollte, war allerdings eine spezifisch schiitische Variante dieses auf die ideale Gesellschaft zurückgerichteten Strebens. Formen von Herrschaft, die immer Gefahr lief, in Despotie umzuschlagen, würden keinen Nährboden finden.
— In der neuen Ordnung würden die Massen in gleicher Weise an dem Einkommen des Staates teilhaben: Die politische Gerechtigkeit würde somit zugleich die gesellschaftliche Gerechtigkeit bedingen. Die „Mustaz’afin“, d. h. die Unterdrückten, würden die Rolle des Proletariats und der Unterprivilegierten verlassen und zu gleichgestellten Mitgliedern der islamischen Gesellschaft werden. Zugleich würde die wirtschaftliche Ordnung, die bislang auf den Prinzipien eines westlich bestimmten und ausbeuterisch orientierten Kapitalismus beruhte, geändert werden müssen. In einem islamischen Wirtschaftssystem würden neue Prioritäten gesetzt und neue Mechanismen des Erwerbs und der Verteilung des Einkommens geschaffen werden müssen. Soziale Gerechtigkeit und die Einführung eines spezifisch islamischen Wirtschaftssystems würden also Hand in Hand gehen müssen.
— Die Abhängigkeit von ausländischen — insbesondere westlichen — Mächten, wirtschaftlichen Konzernen und kulturell-zivilisatorischen Kräften würde mit der Revolution beendet sein. Die Gewinnung einer umfassenden Unabhängigkeit — nicht nur im politischen, sondern eigentlich mehr noch im kulturellen Sinne— würde die Voraussetzung der Wiedergewinnung einer eigenen iranischen, und das würde wesentlich heißen, islamisch bestimmten Identität. Dem „großen Satan“, der sich in den vergangenen Jahrzehnten im Iran breitgemacht hatte, d. h.den USA mit ihrem weitreichenden Einfluß, mußte ein bedingungsloser Kampf angesagt werden.
IV. Regime ohne Legitimation
Es ist hier nicht der Ort, die tatsächliche Entwicklung Irans seit der Gründung der „Islamischen Republik Iran“ darzustellen und den hohen revolutionären Anspruch mit der politischen Wirklichkeit seither zu vergleichen. Unabhängig von dem Verlauf dieser Entwicklung wird aus der fundamentalistisch geprägten Interpretation der politischen Realität, auf deren Grundlage die Revolution zum Imperativ wird, und aus der auf die ideale Gemeinschaft gerichteten Vision deutlich, daß die „Islamische Revolution“ keine Angelegenheit nur des Irans, der Iraner oder der iranischen Geistlichkeit ist; sie ist vielmehr ein an alle Muslime gerichteter Anspruch, ihre politische Umwelt entsprechend zu verändern.
Gewiß hat die Revolution Züge, die der Außen-stehende (vor allem der Islamwissenschaftler) als spezifisch schiitisch erkennt; und gewiß war die Situation Irans in den ausgehenden siebziger Jahren so spezifisch gelagert, daß eine Wiederholung des abgelaufenen revolutionären Prozesses in anderen Teilen des Nahen und Mittleren Ostens schwer vorstellbar erscheint. Festzuhalten bleibt demgegenüber, daß nach Auffassung der revolutionären Kräfte selbst (die auch nicht müde wurden zu betonen, daß es sich um eine „islamische Revolution“ in Iran gehandelt hat) die Revolution für alle Muslime in allen Teilen der islamischen Welt — hier vor allem im Nahen und Mittleren Osten — ohne Unterschied zwischen Sunni-B ten und Schiiten gemacht wurde. Zugespitzt bedeutet dies, daß die Revolution von Anfang an „exportorientiert“ gewesen ist.
Daraus ergeben sich im Hinblick auf die Zukunft der revolutionären Bewegung und damit der politischen Entwicklung in der ganzen Region zwei Fragen:
— Besteht eine „vorrevolutionäre“ Situation, die mit Iran vergleichbare Charakteristika aufweist, auch in anderen Ländern der Region? Und wenn ja, — welches sind die Mittel bzw. die Träger der Ausbreitung der Revolution über die Region?
Die Zukunft des Nahen und Mittleren Ostens im Gefolge der islamischen Revolution in Iran hat ihren Brennpunkt also in der Frage nach der „Legitimität“ der bestehenden Regime. Sind sie berechtigt und anerkannt, die Macht auszuüben, oder weist ihre Herrschaft der Herrschaftsausübung des Schahs vergleichbare Mängel und Fehler auf? Wenn ja, dann ist ihre Herrschaftsausübung in ähnlicher Weise illegal und illegitim wie sie es — nach Auffassung der religiös-revolutionären Kräfte in Iran — bei dem Regime des Schahs gewesen ist. In diesem Falle wäre eine Fortsetzung der islamischen Revolution ein historisch gebotener Vorgang und die Abschaffung der bestehenden Regime die einzig denkbare Alternative zum Status quo.
Tatsächlich fällt es nicht schwer, Elemente der Krisensituation in Iran auch in anderen Teilen des Nahen und Mittleren Ostens zu identifizieren. Der beschleunigte Modernisierungsprozeß der vergangenen anderthalb Jahrzehnte hat ohnehin gegebene politische und soziale Spannungen verschärft. Die meisten der im Nahen Osten bestehenden Regime operieren auf einer nur schmalen oder kaum vorhandenen Basis von Legitimation. Dies gilt nicht nur für Militärregime (wie das im April 1985 gestürzte Regime des sudanesischen Diktators Numeiri), sondern auch — mit Abstufungen— für solche, die auf Einheitsparteien ähnelnden dominierenden Staats-parteien (z. B. die Ba’ath-Partei) beruhen.
In gleicher Weise, wenn auch vielleicht weniger zugespitzt, trifft dies für die Monarchien zu, die entweder von charismatischen Persönlichkeiten (Jordaniens König Hussein und Marokkos Hassan II.) oder von religiös fundierten Familienregimen wie insbesondere in Saudi-Arabien regiert werden. Die mit der Beschleunigung des Industrialisierungsprozesses und der Verbesserung des Erziehungswesens herangewachsenen neuen Eliten werden — nach ihrer eigenen und insbesondere nach Auffassung militanter religiöser Kräfte— nicht ausreichend zu der von ihnen beanspruchten Mitbestimmung zugelassen.
Gänzlich unterminiert wird die Legitimität der bestehenden Regime in den Augen islamisch-militanter Kräfte aber durch die bestehenden Abhängigkeitsverhältnisse zwischen nahezu allen Regimen der Region auf der einen und auswärtigen Mächten auf der anderen Seite. Dies gilt namentlich für die massive Präsenz der USA (und amerikanischer Staatsbürger), die — wie im Falle von Iran — stellvertretend für die Unterwerfung der islamischen Welt unter das politische, ökonomische, kulturelle und religiöse Diktat des Westens gesehen wird.
Hinzu kommt verschärfend der arabisch-israelische Konflikt: Das Fortschwelen dieser Krise, deren „Lösung“ von islamischen Extremisten nur als mit der Auflösung des Staates Israel gegeben angesehen wird, wird dem Umstand zugeschoben, daß zahlreiche arabische Regime bereit sind, mit Israel —und den dahinterstehenden USA — im Sinne einer verhandelten Lösung und damit einer Beraubung der legitimen Rechte der Palästinenser zu „konspirieren“. Abhängigkeit von außen (vor allem von den USA) und unterstellte Bereitschaft, die Existenz Israels zu akzeptieren, werden als Preis dafür angesehen, daß die im Inneren von Verfall bedrohten Regime von außen gegen den Willen der Bevölkerung an der Macht gehalten werden.
Die islamistischen Kräfte kommen in ihrer Analyse zu der Einschätzung, daß nahezu im ganzen Nahen und Mittleren Osten eine Situation besteht, die derjenigen vergleichbar ist, aus der heraus in Iran die islamische Revolution erwachsen ist. Angesichts der „Tatsache“, daß die Region im großen und ganzen von Feinden des Islams und Abtrünnigen regiert wird, gilt es, ein Verdikt über alle Regime auszusprechen — eine Waffe des politischen Kampfes, die bereits von frühen Oppositionsgruppen innerhalb des Islams bald nach der Entstehung dieser Religion geschmiedet worden ist. Über „ungerechte“ Herrscher und die um sie gruppierten „Lakaien“ wurde der „Takfir“ ausgesprochen; d. h., sie wurden zu Ungläubigen erklärt, die — und dies ist ipso facto impliziert — durch den „Heiligen Krieg“ (Jihad) zu bekämpfen waren. Damit war eine unversöhnliche Konfrontation zwischen den Kräften des Islams auf der einen und den Kräften des Unglaubens auf der anderen Seite aufgebrochen.
V. Der „ideologische“ Golf-Krieg
Die Projektion der Revolution und der revolutionären Ziele auf andere Teile des islamischen Nahen und Mittleren Ostens ist mithin von vornherein ein Teil des „islamischen Charakters“ der iranischen Revolution gewesen. Ja, die islamische Revolution würde sich nur rechtfertigen, wenn ihr Anspruch nicht auf Iran beschränkt, sondern auf die islamische Welt (in erster Linie den Nahen und Mittleren Osten) ausgedehnt würde.
In diesem Sinne ist der irakisch-iranische Krieg als eine unmittelbare Folge der islamischen Revolution in Iran und ihres über die Landesgrenzen hinaus wirkenden Anspruchs zu verstehen.
Gewiß ist es nach aller Evidenz der Irak gewesen, der durch seinen Angriff vom September 1980 den Krieg mit Iran ausgelöst hat. Doch wenn auch an dieser Stelle nicht auf die Chronologie bzw.den Kriegsverlauf eingegangen werden kann, so bleibt festzuhalten, daß ein wesentliches Element des Angriffs in dem Streben des irakischen Staatspräsidenten Saddam Hussein gelegen hat, die von Iran ausgehende Bedrohung, die sich auch als wachsender Druck im Innern des Irak artikulierte, auszuschalten. Angesichts der inneren Krise des Regimes in Teheran zum Zeitpunkt des Kriegsausbruchs mußte sich bei Saddam Hussein die Erwartung verfestigen, daß ein Stoß über die Grenze nach Khuzistan das Regime Ayatollah Khomeinis zum Zusammenbruch bringen würde.
Wenn bis dahin von einem Zustand einer ideologischen Konfrontation, die weitgehend in Propagandaparolen (und gelegentlichen Provokationen an der irakisch-iranischen Grenze) ihren Ausdruck fand, gesprochen werden konnte, so wurde diese mit dem Schlag Saddam Husseins zu einem ideologischen Krieg. Als es den iranischen Truppen Mitte 1982 schließlich gelang, den irakischen Angreifer über die Grenze zurückzuwerfen, hätte, wenn es um weniger tiefgreifende Dimensionen der Kriegführung gegangen wäre, die Möglichkeit bestanden, einen Ausgleich in militärischen und politischen Ehren herbeizuführen. Daß dies nicht geschah, sondern Iran nunmehr den Krieg seinerseits als Angriffskrieg fortsetzte, muß als signifikant dafür angesehen werden, daß sich in Teheran (unter Führung von Khomeini selbst) diejenigen durchgesetzt hatten, die dem Export der Revolution vorrangigen Stellenwert über alle anderen (etwa innenpolitischen oder wirtschaftlichen) Erwägungen einzuräumen bereit waren.
Bereits bei Ausbruch des Krieges hatte sich eine große Anzahl arabischer Regime hinter dem irakischen Aggressor gesammelt. Angesichts der ansonsten bestehenden tiefgreifenden Verwerfungslinien zwischen einigen von ihnen auf der einen und dem sozialistisch-ba’athistischen Regime Saddam Husseins auf der anderen Seite war diese Solidarität kaum anders zu erklären als aus der gemeinsamen Befürchtung, daß tatsächlich aus dem Anspruch des revolutionären islamischen Regimes in Teheran eine ernsthafte innere und äußere politische Destabilisierung erwachsen könnte. Saddam Hussein wurde zur Barriere gegen die als durchaus real angesehene islamisch-revolutionäre Flut. Sein Sieg hätte zunächst einmal die Ausschaltung dieser gemeinsamen Bedrohung bedeutet. Der Umstand, daß sich Saddam Hussein offensichtlich getäuscht hatte und Iran schließlich zum Gegenangriff überging, vergrößerte diese Bedrohung nur noch.
Zwar ist mittlerweile deutlich geworden, daß auch die Rechnung der iranischen Seite auf einen relativ leichten Sieg über Saddam nicht aufgegangen ist; auch ist angesichts der bestehenden Materialüberlegenheit des Irak kaum damit zu rechnen, daß es noch einen Sieger und einen Besiegten in diesem Krieg geben wird. Je deutlicher dieser Tatbestand aber wird, um so mehr gewinnt die Zukunft des ba’athistischen Regimes im Irak symbolische Bedeutung: Für die eine Seite bedeutet sein Überleben die Bannung der religiös-revolutionären Kräfte; für die andere ist sein Sturz (auf welche Weise er immer herbeigeführt werden mag) der letztendliche Sieg des Guten über das Böse. Er würde verdeutlichen, daß die islamische Revolution tatsächlich einen „universalen Anspruch“ hat, und erst dieser würde der Revolution in Iran jene weitreichende gesamt-islamische Bedeutung verleihen, die die religiöse Führung Irans ihr beimißt. Solange die beiden Protagonisten des Konflikts an der Macht (und am Leben) sind, dürfte mithin keine Aussicht auf ein Ende des Krieges bestehen.
VI. Die „islamistische Internationale“
Neben der direkten Projektion der islamischen Revolution auf dem Wege der kriegerischen Auseinandersetzung und des bewaffneten Kampfes ist die Unterstützung gleichgesinnter Kräfte und Gruppen, wo immer sie agieren, eine zweite Dimension der — freilich eher indirekten — Aus-B Strahlung der islamischen Ideologie. In der Vergangenheit war es die in den zwanziger Jahren gegründete Gesellschaft der Muslim-Brüder, die nicht nur ideologisch den Ideen und Idealen der iranischen Revolutionäre nahekam, sondern die auch immer wieder durch militante Aktivitäten gegen bestehende Regierungen — namentlich in Ägypten und Syrien — hervorgetreten ist. Diese Bewegung ist zwar heute gespalten, und ein Teil ist von der militanten Strategie der Verwirklichung revolutionärer Zielsetzungen, wie sie in Iran verfolgt wird, abgerückt. Ein extremer Flügel aber, der wiederum in zahlreiche Organisationen gespalten ist, hat seit etwa Mitte der siebziger Jahre den bewaffneten Umsturz mit dem Ziel der Schaffung einer strikt islamischen Gesellschaft auf seine Fahnen geschrieben. Neben zahlreichen Gewalttätigkeiten ist eine dieser Bewegungen auch für die Ermordung des ägyptischen Präsidenten Sadat im Oktober 1981 verantwortlich. An der Ideologie dieses militanten Flügels (der ideologisch und organisatorisch wiederum mit Teheran verbunden ist) inspirieren sich heute zahlreiche Bewegungen und Gruppierungen (bisweilen nur sehr klein in ihrer Anhängerzahl), die sich nahezu im gesamten Raum des Nahen und Mittleren Ostens — vornehmlich in der arabischen Welt — gebildet haben. Der Schwerpunkt ihrer Aktionen liegt zwar in Ägypten, im Sudan, in Syrien (zumindest bis zur Konfrontation mit der Regierung von Hafiz al-Asad Anfang 1982) und im Libanon, doch lassen sich Ableger auch in den Ländern des Maghreb (die man bis vor nicht langer Zeit für immun gegen den islamischen Fundamentalismus gehalten hatte) sowie in Jordanien, auf der besetzten Westbank und sogar auf der Arabischen Halbinsel feststellen.
All diese Gruppierungen bilden keine einheitliche Bewegung, wenn sie auch seit der Gründung der „Islamischen Republik Iran“ eine Art Koordinierungszentrum gefunden haben. Wichtig ist, daß sie in den Zielsetzungen, d. h. im Sturz der bestehenden Ordnungen und deren Ersetzung durch eine „islamische“ Staats-und Gesellschaftsform, weitgehend übereinstimmen. Zugleich sind sie entschlossen, den Wandlungsprozeß nicht auf dem Wege der Evolution, sondern durch radikale Methoden der Gewaltanwendung herbeizuführen. Die organisatorische, ideologische und programmatische Verflechtung dieses disparaten Spektrums islamischer militanter Bewegungen ist zutreffend als „islamistischer Internationalismus“ bezeichnet worden. Ihre Aktivitäten sind Teil jenes großangelegten Kampfes des „richtigen“ gegen den „falschen“ Islam.
Die Stoßkraft islamistischer Gruppen entfaltet sich hauptsächlich im Nahen und Mittleren Osten. Demgegenüber lassen sich in Indonesien mit über 80% (ca. 125 Mio. Muslime) und Malaysia mit etwa 50% der Bevölkerung (ca. 8. Mio. Muslime), die sich zum Islam bekennen, trotz bestehender Querverbindungen einiger Gruppen zum Iran Khomeinis und zum Libyen Gaddafis nur periphere Erscheinungen des Phänomens registrieren. Indonesiens laizistisches System hat sich trotz einer seit der Staatsgründung bestehenden islamischen Opposition als dauerhaft erwiesen. Und militante Gruppen, die sich aus städtischen Schichten und Studentenkreisen rekrutieren und für die Einführung eines islamischen Staates kämpfen, haben kaum eine breitere Basis in der Bevölkerung.
In Malaysia ist zwar eine „Re-Islamisierung“ in den letzten Jahren unübersehbar. Doch ist diese nicht ohne die bestehenden Probleme in den Beziehungen zwischen dem malayischen (und durchweg islamischen) mit dem chinesischen und indischen Bevölkerungsanteil zu sehen. Ein „islamistischer“ Stoßkeil, der auf eine weitere Islamisierung eines Systems wirkt, in dem der Islam ohnehin Staatsreligion ist, macht sich hier kaum bemerkbar.
Auf den Philippinen schließlich geht es im Kampf der Muslime (vornehmlich auf Mindanao) mit der christlichen Zentralregierung vornehmlich um die Erringung eines gerechten Anteils am politischen und wirtschaftlichen Leben des Landes.
VII. „Von Kerbela nach Jerusalem“
Die durch den militanten Islamismus unter Druck geratenen Regierungen reagieren auf unterschiedliche Weise: Die einen handeln nach dem Prinzip „Wehret den Anfängen“; namentlich die Regierungen der Maghreb-Staaten Tunesien, Algerien und Marokko (aber auch König Hussein von Jordanien) sind mit harter Hand gegen die Ansätze militant-islamischer Provoka-tion vorgegangen. In letzter Zeit sind dort die Anhänger dieser Bewegung in Gerichtsverfahren zu teilweise langjährigen Gefängnisstrafen verurteilt worden.
Andere Regierungen versuchen den Druck dadurch aufzufangen, daß sie Zugeständnisse an den Kernpunkt der fundamentalistischen Propa29 ganda, die Wiedereinführung des islamischen Rechts (Shari’a), machen. Dies ist etwa in Ägypten der Fall gewesen, wo seit der Ermordung Präsident Sadats und der Machtübernahme durch den weniger starken und entschlossenen Hosni Mubarak mit der Erweiterung des Geltungsbereichs der Shari’a — vornehmlich im Bereich des Zivilrechts — experimentiert worden ist. Die in dieser Richtung spektakulärste Reaktion war im Sudan zu verzeichnen, als im September 1983 der damalige Präsident Numeiri die volle Wiedereinsetzung der Shari’a in allen Bereichen verkündete und praktizierte. Als Reaktion auf das Nachgeben gegenüber den islamischen Kräften in Ägypten und im Sudan ist eine deutliche Steigerung der Spannungen zwischen Muslimen und Christen in diesen Ländern zu verzeichnen; im Sudan haben die Maßnahmen Numeiris zu einem Wiederaufleben des Bürgerkrieges im teilweise christlichen Süden des Landes geführt.
Die bislang entschlossensten Gegenmaßnahmen sind seitens der Regierung in Syrien getroffen worden, die Anfang 1982 zu einem Vernichtungsschlag ausgeholt hat. Bei den Kämpfen zwischen Regierungstruppen und den Anhängern der Muslim-Brüder, die sich auf die Stadt Hama konzentrierten, sollen Zehntausende von Menschen ums Leben gekommen sein.
Insgesamt freilich läßt sich die Wirkung des militanten Islams nicht übersehen — sie ist überall fühlbar, auch dort, wo seine Anhänger nur in Splittergruppen organisiert und weit davon entfernt sind, die Macht zu übernehmen. Die politisch und wirtschaftlich pragmatischen Kräfte sind in die Defensive gedrängt. Dies führt nicht nur zu Irritationen in der politischen und wirtschaftlichen Entwicklung, sondern gestaltet auch die Kommunikation der islamischen Eliten im Nahen und Mittleren Osten mit dem Westen schwieriger. Angesichts der starken anti-westlichen Ressentiments auf Seiten der islamistischen Kräfte sind in den letzten Jahren Teile der nahöstlichen Eliten zurückhaltender geworden, mit dem Westen in enge Verbindung zu treten; allzu enge Kontakte könnten als Kollaboration und mithin als Verrat an der Sache des Islams ausgelegt werden.
Die bislang konkreteste politische Auswirkung islamistischer Agitation im Nahen Osten freilich ist die Radikalisierung im arabisch-israelischen Konflikt. Für die Islamisten ist die Existenz Israels eine schlichtweg unakzeptable Tatsache; Kompromisse mit der Realität der Existenz dieses Staates, die die Fehlentwicklung der islamischen Geschichte in den letzten Jahrhunderten schlechthin symbolisiert, werden als Verrat am Islam und als Abfall von ihm markiert.
In gewisser Weise kann man die diversen Frontstellungen des militanten Islams in den letzten Jahren von seiner Haltung gegenüber Israel her ableiten. An dieser Stelle muß deshalb noch einmal ein Blick auf die Zielsetzungen und Stoßrichtungen im irakisch-iranischen Krieg geworfen werden.
Ayatollah Khomeini hat wiederholt den Krieg mit dem Irak in eine islamische Symbolik gekleidet: Der Kampf Irans, so hat er erklärt, gehe über Kerbela nach Jerusalem. Die Symbolik spricht eine deutliche Sprache: Kerbela, eine der heiligsten Städte der Schiiten, steht unter der Herrschaft des „Satans“ Saddam Hussein. Diese zu beenden und die heilige Stadt wieder unter die Verwaltung der „wahren Muslime“ zu bringen, d. h. Kerbela zu „befreien“, ist das erste Kriegs-ziel.
Mit dem Sturz von Saddam Hussein kann es freilich nicht sein Bewenden haben, denn — in der Interpretation der islamistischen Kräfte — Kerbela ist überall im islamischen Nahen und Mittleren Osten. Weite Teile der Region stehen heute unter der Verwaltung von Abtrünnigen des Islams — ob dies nun die Herrschenden auf der Arabischen Halbinsel, in Ägypten oder im Maghreb sind. Die „Befreiung von Kerbela“
steht mithin stellvertretend für die Befreiung des islamischen Nahen und Mittleren Ostens von allen inneren Feinden, jenen also, die am Islam Verrat begangen haben — mithin also mit dem Anathema (Takfir) belegt worden sind. Dieser erste Schritt der „Befreiung“ bedeutet in der khomeinistischen Vision nichts anderes als die Absetzung nahezu aller an der Macht befindlichen Herrscher und den Sturz der von ihnen dominierten, mit un-islamischen, weil dem Westen entstammenden Elementen durchsetzten Ordnungen. Wenn dieser erste, aber gleichwohl weitreichende Schritt getan worden ist, kann der zweite ins Auge gefaßt werden: die Befreiung Jerusalems.
Stand die Befreiung Kerbelas für die Befreiung von den aus dem Inneren des Islams hervorgegangenen Feinden, so steht die Befreiung Jerusalems für die Befreiung von den äußeren Feinden, den Juden (Zionisten) und den sie stützenden auswärtigen Mächten, namentlich den USA. Wenn die islamische Welt von allen jenen Abtrünnigen befreit ist, die, um ihre eigene Haut zu retten und ihre als illegitim betrachtete Herrschaft aufrechtzuerhalten, Kompromisse mit dem Brückenkopf des Westens einzugehen bereit sind, dann werden die Gläubigen in einem geschlossenen Ansturm jenes politische Gebilde beseitigen, das die Herausforderung des Westens mit militärischer Arroganz symbolisiert und manifestiert. Mit der Beseitigung Israels, der die Einigung aller wahrhaftig gläubigen Muslime vorausgegangen sein wird, wird jenes Ziel erreicht sein, das schon im 19. Jahrhundert von dem streitbaren alAfghani (s. o.) angestrebt wurde: die Wiedergewinnung der politischen Würde durch die Abschüttelung der Dominierung durch den Westen oder seine Stellvertreter. Zugleich wird damit die Voraussetzung geschaffen sein, um die Antwort auf die Herausforderung durch den Westen, die über nahezu zwei Jahrhunderte nicht gefunden werden konnte, zu geben. Mit der Errichtung „islamischer“ politischer Systeme, der Bestimmung der nahöstlichen Gesellschaften durch das islamische Gesetz und der Beseitigung westlicher Dominanz (symbolisiert in der Beseitigung Israels) sind die Grundlagen für jene „aetas aurea“ gelegt, in der die islamische Welt jenen als untragbar empfundenen historischen Zustand der Unterlegenheit und Abhängigkeit überwunden haben wird.
Politisch berühren sich an dieser Stelle der irakisch-iranische Krieg (und die dahinterstehende ideologische Konfrontation) mit dem arabisch-israelischen Konflikt (und seiner zugrundeliegenden nationalen Dimension). Je länger die Palästinafrage ungelöst dahinschwelt, um so mehr gewinnen die radikalen Kräfte an Gewicht, die die Lösung der nationalen palästinensischen Problematik lediglich in der Überwindung des Staates Israel sehen. Sie werden unterstützt und bestätigt durch jene militanten islamischen Kräfte, die gleichfalls eine „Lösung“ nur in maximalistisehen Zielen formulieren können. Unter den Arabern werden jene bestärkt, die seit jeher propagiert haben, daß es nur eine „Endlösung“ geben könne; sie werden darin von jenen sekundiert, die diese Endlösung weniger aus nationalen Gründen als aus religiösen Erwägungen fordern.
Militanter palästinensischer (arabischer) Nationalismus und extremistischer Islam bilden einen Sprengstoff, der in den kommenden Jahren in Teilen der Region detonieren und die Fundamente der bestehenden Systeme erschüttern könnte. Dies um so mehr, als auch der militante palästinensische (arabische) Nationalismus den Kampf gegen Israel mehr und mehr mit der Konfrontation gegen die „gemäßigten“ arabischen Regime verbindet.
Für eine Weile war der Libanon Schauplatz eines solchen Kampfes ä tous azimuts. Zum einen hatte die bestehende Regierung unter Präsident Amin Gemayel ihre Legitimation verspielt, als sie am 17. Mai 1983 (wie zuvor der „Verräter“ Sadat) einen Vertrag mit Israel schloß. Zum anderen war der Libanon ein wertvoller Schauplatz für jene angestrebte Auseinandersetzung mit dem benachbarten Israel. Diese beiden Elemente (neben anderen, auf die hier nicht eingegangen werden kann) erklären wesentlich nicht nur die Präsenz einer großen Anzahl von Iranern im Libanon nach 1981, sondern auch die seit der israelischen Invasion von 1982 rasch anwachsende Stärke eines militant-fundamentalistischen Flügels sowohl unter den Schiiten als auch unter den Sunniten im Libanon.
Im übrigen haben auch die terroristischen Aktivitäten im Jahre 1985 in der Wahl der Ziele und der Art der Ausführung gezeigt, wie nahezu untrennbar vermischt arabisch-nationale und militant-islamische Zielsetzungen sind. Mit Israel (Ermordung von drei Israelis in Larnaka und Entführung des Passagierdampfers Achille Lauro) und Ägypten (Entführung einer ägyptischen Verkehrsmaschine nach Malta) wurde ein „äußerer“ wie ein „innerer“ Feind getroffen, dessen Bekämpfung radikalen arabischen Kräften ebenso wie militanten islamischen Kräften angelegen ist.
Auch der libysche Revolutionsführer Gaddafi verbindet einen — allerdings sehr eigenen — islamischen Fundamentalismus mit arabisch-nationalem Engagement, deren Brennpunkt die Beseitigung Israels und die Befreiung des palästinensischen Volkes ist. Auch sein Kampf vollzieht sich an mehreren Fronten zugleich — derjenigen mit dem israelischen Feind ebenso wie derjenigen gegen die arabischen Gegner, die durch Kompromißbereitschaft und politisches Taktieren die „arabische Sache“ verraten haben. Auch in seiner Konzeption geht also der Kampf mit den arabischen Regimen, deren Mehrheit er für illegitim, mithin also für abzuschaffen hält, mit dem Kampf gegen Israel einher. Die Unterstützung des internationalen Terrors beruht auf der Auffassung, daß der Feind nur so wirksam zu treffen ist. Angesichts der Allianz seiner Gegner — sowohl Israels als auch der kompromißbereiten Araber — mit vornehmlich den USA sind auch diese in den Kampf einzubeziehen und zu treffen, wo immer sich eine Möglichkeit dazu bietet. In Anbetracht der Tiefe der Krise des islamischen Nahen und Mittleren Ostens und der politischen, sozialen und kulturellen Sackgasse, in die die Entwicklung der letzten Jahrzehnte geführt hat, wird der militante Islam auch in den nächsten Jahren eine bestimmende politische Kraft in der Region bleiben, die darauf gerichtet ist, Ordnungen zu schaffen, die mit der „Moderne“ kompatibel sein sollen, zugleich aber dem Muslim einen ihm eigentümlichen politischen, sozialen, religiösen und kulturellen Rahmen für sein Leben als Individuum und in der Gemeinschaft setzen. Das bedeutet, daß der Druck islamisch-fundamentalistischer Kräfte auf die bestehenden Regime anhalten und möglicherweise zu Veränderungen in Teilen der Region führen wird. Damit ist natürlich die Frage nach der Zukunft der Region gestellt, die im gegebenen Kontext eine Frage nach der Zukunft der islamischen Bewegung sein muß.
VIII. Fundamentalismus — eine Minderheit im Islam
Auch wenn es naturgemäß unmöglich ist, die islamischen Strömungen auch nur annähernd zahlenmäßig zu erfassen, kann mit Sicherheit festgestellt werden, daß die organisierten islamisch-militanten Kräfte innerhalb der islamischen Gemeinde als ganzer — und noch einmal sei hervorgehoben, daß sich diese Darstellung nur auf den islamischen Nahen und Mittleren Osten beschränkt, daß aber für Südostasien viele der gemachten Aussagen Gültigkeit besitzen — nur eine Minderheit darstellen.
Die Masse der Muslime lebt in dem doppelten Interesse, einerseits ein Leben nach der islamischen Religion führen zu können, andererseits ihre Lebensverhältnisse, d. h. ihr Einkommen und ihre soziale Stellung, zu verbessern. Im Vordergrund steht das Trachten, an den Errungenschaften der modernen Zivilisation teilzuhaben;
von der Errichtung eines islamischen Staates, der gemäß dem Willen der Islamisten auf dem islamischen Gesetz beruhen müßte, träumen nur wenige. Solange die jeweiligen Regierungen das religiöse Empfinden nicht verletzen und den materiellen Interessen der muslimischen Bürger Rechnung tragen, sind sie bereit, sich mit nahezu jeder Regierungsform — gleichgültig, ob sie demokratisch, militärgestützt oder monarchisch ist, und ob sie sich aus sozialistischen oder islamischen Ideologien legitimiert — abzufinden.
Betrachtet man das Abschneiden islamistischer Parteien an freien Wahlen — etwa während der siebziger Jahre in der Türkei (1973 und 1977) sowie Pakistan (1975) —, so wird deutlich, daß diese jeweils nur einen marginalen Teil der Wählerschaft gewinnen konnten. In den Wahlen im Sudan erhielt im April 1986 die „National Islamic Front“ unter Hasan al-Turabi, dem Führer der sudanesischen Muslim-Brüder, nur etwa 8% der Stimmen.
Religiöser Führer der schweigenden islamischen Mehrheit ist die orthodoxe Geistlichkeit. Im Unterschied zu den militanten Fundamentalisten, die lediglich den Koran und die Sunna als Grundlage des Gesetzes und die ersten Jahrzehnte des islamischen Reiches als historisch verbindliche Erfahrungen des islamischen Staates betrachten, verkörpert die islamische Orthodoxie die reichhaltige und vielfältige Entwicklung der islamischen Theologie, wie sie sich vor allem in den ersten Jahrhunderten nach dem Auftreten des Propheten Muhammad entfaltet hat.
Charakteristisch ist zugleich, daß die orthodoxe Geistlichkeit durch die islamische Geschichte hindurch den real existierenden Staat (und die bestehenden Regime) über revolutionäre Experimente, in wessen Namen auch immer, erhoben und sich durchweg auf die Seite der bestehenden Regierungen gestellt hat, die sie mit religiösen Argumenten zu rechtfertigen suchte. Dies ist in neuerer Zeit nicht anders gewesen, als etwa der ägyptische Präsident Nasser seinen „arabischen Sozialismus“ und sein Nachfolger Sadat seine Verhandlungen mit Israel durch die höchstgeistliche Instanz der Al-Azhar-Universität in Kairo absegnen ließen.
Neben der Orthodoxie ist die Mystik (mit einem arabischen Begriff: der Sufismus) ein weiterer breiter Strom im Islam. Entstanden aus der Frustration über den rigiden Gesetzescharakter der orthodoxen Religionsausübung, weist sie dem einzelnen einen Weg zu einer emotionalen Gotteserfahrung. Organisiert in religiösen Orden hat der Sufismus durch die islamische Geschichte hindurch eine politische Rolle gespielt; dies setzt sich — mit Schwerpunkten namentlich in Ägypten und im Sudan— auch in der Gegenwart fort.
Im Falle des Sudans sind die beiden größten politischen Parteien, die vor dem Coup von General Numeiri (1969) die politische Führung des Landes innehatten und auch aus den Wahlen vom April 1986 als die stärksten Gruppierungen hervorgegangen sind, die „Umma“ und die „Democratic Unionist Party“, praktisch mit den beiden großen sufischen Bruderschaften „Ansar“ und „Khatmiyya“ identisch. Der Sudan bietet somit ein interessantes Beispiel für die Tatsache, daß zwischen den Fundamentalisten (organisiert in den Muslim-Brüdern) einerseits und den mystischen Strömungen als den stärksten politischen Kräften andererseits starke Unterschiede hinsichtlich der politischen und religiösen Ordnung, die es in dem Land nunmehr zu errichten gilt, bestehen. Jedenfalls haben sich die Führer der gemäßigten religiösen Parteien für eine Abschaffung der Re-Islamisierungsmaßnahmen, wie sie von Numeiri verhängt worden sind, ausgesprochen. Angesichts des weithin vorherrschenden orthodoxen Islams und der politischen Weltverbesserungsvisionen der islamischen Fundamentalisten befinden sich diejenigen auf nahezu verlorenem Posten, die, ausgehend von Modernisierungsansätzen im 19. Jahrhundert, den Islam als theologisches Gebäude reformieren wollen. Stellvertretend für diese Gruppe sei die Bewegung der „Republikanischen Brüder“ genannt, deren führender Kopf, Mahmud Muhammad Taha, eine Neu-interpretation des Korans im Lichte der Erfordernisse der modernen Welt gefordert und versucht hat. Der Theologe wurde Anfang 1985 im Sudan von einem Regime, das, um seine Existenz zu retten, seit September 1983 zu einer umfassenden Islamisierung des Sudans im Sinne des militanten Islamismus geschritten war, wegen Ketzerei verurteilt und hingerichtet. Die Vertreter eines reformierten Islams sind heute weniger an Lehrstätten in der islamischen Welt als im europäischen und amerikanischen Ausland zu finden.
Die Breitenwirkung der relativ kleinen Schar militanter Islamisten in der Gegenwart erklärt sich nicht zuletzt aus der vielschichtigen Krisenkonstellation im Nahen und Mittleren Osten, wie sie oben skizziert wurde. Ein Katalysator islamistischer Kommunikation ist dabei die materielle Not, in die immer breitere Schichten in immer weiteren Teilen des Nahen Ostens geraten. Hier ist ein Nährboden entstanden, in dem militante islamische Kräfte ihre Saat aufgehen sehen. Massenunruhen in den letzten Jahren —nicht selten geradezu als „Brotunruhen“ charakterisiert — haben meistens einen deutlich definierbaren materiellen Hintergrund gehabt. Es sind dann solche Erhebungen gewesen, die jene im Sinne ihrer politischen und sozialen Ziele zu instrumentalisieren versucht haben.
Die Stärke der Botschaft und der Propaganda der Islamisierung liegt in der Spontanität ihrer Kommunikation mit der Bevölkerung. Anders als die Ideologen vergangener Jahrzehnte, die Ideen verkündeten, die irgendwo im Westen entstanden waren oder die sie zum Teil von westlichen Universitäten mitgebracht hatten und deshalb den Massen letztlich nur schwer verständlich (wenn nicht unverständlich) waren, verkünden jene ihre Lehre in Bildern, Symbolen und einer Sprache, die jeder Muslim von klein auf zu verstehen gelernt hat, da sie ihm mit dem elementaren Unterricht in seiner Religion und der Verkündung des Korans vermittelt worden sind. In einer Situation sozialer und wirtschaftlicher Spannungen geht davon eine starke Mobilisierungskraft auf die Massen aus. Zugleich sind ihre Thesen „überzeugend“ einfach: Wenn erst die islamische Ordnung errichtet sei — in jenem Sinne, wie es in Iran der Fall zu sein scheint —, werde die Misere der Muslime, in diesem Falle der verarmten Massen, ein Ende haben.
Angesichts der Simplizität der Thesen und der Wirkung auf die breiten Unterschichten der Bevölkerung ist auch die orthodoxe Mehrheit der Geistlichen in die Defensive gedrängt — ein Vorgang, der gerade auch in Ägypten, nicht zuletzt in Kreisen der orthodoxen al-Azhar, beobachtet werden konnte. Welcher Muslim könnte offen der Forderung nach der Wiedereinführung des islamischen Gesetzes widersprechen, ohne sich mit einem Ruch von Ketzerei zu umgeben? Wer könnte wagen zu bezweifeln, daß die Shari’a wieder die Grundlage der Gesetzgebung werden sollte? Der orthodoxe Islam wird somit in einen „Rechtsrutsch“ gedrängt, und die orthodoxe Geistlichkeit, die sich seit langem mit einer fortschreitenden Säkularisierung in weiten Teilen der islamischen Welt abfinden mußte (und abgefunden hat), muß nun ihrerseits Konzessionen an einige der Thesen und Forderungen der Islamisten machen, um nicht einen Teil ihres Anhangs an diese zu verlieren.
IX. Die „Islamische Republik Iran“ — Widerspruch zwischen Anspruch und Wirklichkeit
Bei der Suche nach den Perspektiven der Entwicklung des islamischen Nahen und Mittleren Ostens im Zeichen des Islamismus stellt sich mithin die Frage nach den Ergebnissen, die diese Bewegung erreicht bzw. nicht erreicht hat. Hat sie die islamische Welt der verheißenen „aetas au-rea“ nähergebracht? Bei der Beantwortung dieser Frage fällt der Blick naturgemäß auf die Islamische Republik Iran, den Staat, in dem nach dem Anspruch seiner Gründer zum ersten Mal seit der Neuordnung der islamischen Welt im Gefolge des Zusammenbruchs des Osmanischen Reiches am Ende des Ersten Weltkrieges das islamische Gesetz wieder umfassende Geltung in Politik und Gesellschaft — und in gewissem Maße auch in der Wirtschaft— finden sollte.
Ohne auf die politischen Entwicklungen seit dem Beginn der Islamischen Republik einzugehen, dürfte man kaum um die Feststellung herumkommen, daß ihr Weg aus einem relativ liberalen und demokratischen Beginn, der mit der Ära Mehdi Bazargan (bis November 1979) gleichzusetzen ist, in eine totalitäre islamistische Diktatur geführt hat. Diese schließt nicht nur die Partizipation von Gruppen und Organisationen unterschiedlicher politischer und gesellschaftlicher Orientierung aus, sondern sie unterdrückt zugleich jeden, der als „andersdenkend“ empfunden wird. Zugleich führt das Regime einen Krieg fort, der ihm zwar zunächst aufgezwungen worden ist (wenn auch nicht ohne Mitschuld), der aber seit 1982 nicht zuletzt auch dazu dient, den Druck im Inneren durch eine Kampagne zur Solidarisierung gegen den äußeren Feind zu überspielen.
Eine alternative Ordnung, die Gleichheit, Gerechtigkeit und politische Mitverantwortung eines jeden — im Sinne der Rückbesinnung auf die frühislamische Gesellschaft — mit der umfassenden Geltung des islamischen Gesetzes verbindet, konnte in Iran nicht errichtet werden. Die Enttäuschung und Desillusionierung darüber hat nicht nur dort weithin Platz gegriffen, sondern auch dazu geführt, daß viele Muslime im Nahen und Mittleren Osten, die in der khomeinistischen Bewegung zunächst einen Weg aus der politischen Sackgasse sahen, sich wieder von Iran abgewandt haben. Das „ugly face“ der „Islamischen Republik Iran“ läßt weithin Zweifel an der Realisierbarkeit des Konzepts einer „Islamischen Republik“ überhaupt aufkommen.
War die islamische Revolution in besonderem Maße für die „islamischen Massen“ (Mustaz’afin) gemacht, um diese zu jener moralischen wie materiellen Gerechtigkeit zu führen, die das islamistische Gegenbild zu der ungerechten und klassenorientierten Ordnung des Schah-Regimes gewesen ist, so lassen sich auch in diesem Punkt nach sieben Jahren des Bestehens der Islamischen Republik kaum Fortschritte erkennen. Ja, es sind nicht einmal ansatzweise Wegmarken zu sehen, entlang derer die Entwicklung zu einer neuen „islamischen“ Gesellschaftsordnung hätte führen können. Zwar wurden Einrichtungen geschaffen, die konkrete Entwicklungsmaßnahmen zur Verbesserung der materiellen Lage der unteren Schichten der Bevölkerung durchführen sollten (wie die „Mustaz'afin-Stiftung" und der „Feldzug des Wiederaufbaus“), doch sind deren — teilweise mit erheblichen Mitteln ausgestatteten— Aktivitäten bislang punktuell geblieben und haben nicht zu einer tiefgreifenden Umwandlung der iranisch-islamischen Gesellschaft geführt.
Bezeichnend für die Schwierigkeiten auf dem Wege der Errichtung einer „islamischen“ Ordnung ist nicht zuletzt die ergebnislose Diskussion über die Einführung eines islamischen Wirtschaftssystems. Unmittelbar nach der Revolution waren weitreichende Pläne der Umgestaltung der Entwicklungskonzeption diskutiert worden; ansatzweise wurden auch Nationalisierungen, etwa von Banken und einigen Schlüsselunternehmen, durchgeführt. Damit aber war die „Umgestaltung“ bereits beendet. Ursache dafür war nicht nur der immer mehr erforderlich werdende Pragmatismus angesichts der auf die Versorgung der Armee mit Kriegsmaterial, die Betreibung einer Kriegswirtschaft und die Befriedigung der Konsumbedürfnisse der Bevölkerung ausgerichteten wirtschaftlichen Zwänge. Vielmehr wurde bald deutlich, daß es innerhalb der neuen Führungsschicht selbst fundamentale Unterschiede über Grundbegriffe der Wirtschaftspolitik, vor allem das Problem des Eigentums, gab.
Während eine Gruppe — nicht zuletzt auch innerhalb des Parlaments (Majlis) — für weitreichende Verstaatlichungen und eine tiefgreifende Bodenreform eintrat, stellten sich andere dem entgegen, indem sie auf das im Koran eingeräumte Recht auf Eigentum verwiesen. So wurden im Parlament bereits beschlossene Maßnahmen im „Wächterrat“, der die Gesetze des Parlaments auf ihre Vereinbarkeit mit dem Islam hin zu prüfen hat, blockiert. Im Laufe der Zeit wurden schließlich unter der Regierung des Schahs begonnene Großprojekte, gegen die man sich zunächst als Auswüchse eines durch den Westen pervertierten Wirtschaftssystems gewendet hatte, wiederaufgenommen.
Die politische, soziale und wirtschaftliche Realität der „Islamischen Republik Iran“ zeigt also die weite Kluft zwischen dem hohen Anspruch und der Wirklichkeit. Diese aufzeigen heißt freilich nicht, daß der Dynamik der islamischen Bewegung im Nahen und Mittleren Osten bereits das Ende eingeläutet ist. Enttäuscht durch die Mißstände in ihren jeweiligen Ländern sehen viele Muslime heute im Iran weniger ein gescheitertes Experiment als vielmehr noch immer eine Verheißung dafür, daß grundsätzlich die islamistische Bewegung eine Chance hat, über die bestehenden „Ordnungen“ zu siegen.
Iran ist freilich nicht das einzige Beispiel dafür, daß der islamistischen Bewegung im Kontext der politischen Selbstbestimmung der Muslime in ihB ren jeweiligen unterschiedlichen politischen und gesellschaftlichen Ordnungen selbst Grenzen gesetzt sind. So hat die umfassende und radikale „Re-Islamisierung“ des Sudans durch den Militärdiktator Numeiri (September 1983) den Verfall seiner Herrschaft nicht aufhalten können. Es sind eben jene Massen gewesen, die er durch diese Maßnahme zu besänftigen trachtete, die durch ihre Demonstrationen schließlich seinen Sturz herbeigeführt haben. Das — ebenfalls militärische — Übergangsregime suchte einen Weg, die islamische Hypothek der Numeiri-Ära abzuwerfen und eine neue demokratische Ordnung zu errichten. Angesichts der tiefgreifenden politischen und weltanschaulichen Verwerfungslinien, die unter dem Numeiri-Regime nicht zuletzt durch die Maßnahmen der Re-Islamisierung vertieft worden waren, hat sich dies freilich als eine sehr schwierige Aufgabe erwiesen, über deren Erfolg erst die Zukunft entscheiden wird.
Trotz der grundsätzlichen Entschlossenheit dazu wird sich die im April 1986 gewählte Regierung unter Sadiq al-Mahdi, dem Führer der „Umma" -Partei, schwertun, eine neue Verfassung auszuarbeiten, die dem Islam einen Stellenwert einräumt, wie er den vielschichtigen politischen, religiösen und ethnischen Verhältnissen in dem Land entspricht. Die relativ kleine Gruppe der Muslim-Brüder (s. o.) ist dagegen, die durch Numeiri eingeräumte Rolle der Shari’a wieder zu beseitigen; dies aber wäre eine der Voraussetzungen, unter denen die Befreiungsbewegung im nicht-islamischen Süden erst bereit wäre, ihren Kampf gegen den Norden einzustellen.
X. Das türkische Experiment mit dem Säkularismus
Angesichts des Druckpotentials der islamistischen Bewegung und der damit zusammenhängenden Unsicherheit im Nahen und Mittleren Osten fällt der Blick auf die Türkei als einem konsequent säkularistischen politischen und gesellschaftlichen System (s. o.). Ohne Zweifel ist auch in diesem Land eine „Re-Islamisierung“ festzustellen. Diese begann freilich bereits bald nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges (mit der Einführung des Mehrparteiensystems); sie scheint sich aber gegen Ende der siebziger Jahre beschleunigt zu haben.
Auffallend ist, daß eine wachsende Zahl von Türken die äußeren Regeln des Islams (etwa Gebete, Fasten im Monat Ramadan und Pilgerfahrt nach Mekka) befolgt. Diese Entwicklung hat in den siebziger Jahren dadurch einen Höhepunkt erfahren, daß sich islamische Kräfte in der „Nationalen Heilspartei“, einer islamistischen Partei, politisch artikulieren konnten.'(Wie oben bereits angedeutet, hat diese freilich bei Wahlen nur einen kleinen Teil der türkischen Wählerschaft hinter sich sammeln können.)
Bei dem Versuch, eine Antwort auf die Frage zu geben, ob sich das Land möglicherweise in Richtung auf eine stärker politische Re-Islamisierung — gegebenenfalls, wie einige behaupten, auf eine „Islamische Republik“ — zubewege, müssen (neben anderen) zwei grundlegende Aspekte des türkischen politischen Systems in Betracht gezogen werden:
— Zum einen die starke Rolle des Militärs als des Gralshüters des Kemalismus. Was immer aus dieser „Ideologie“ im Verlaufe des politischen, sozialen, wirtschaftlichen und kulturellen Wandlungsprozesses geworden sein mag — zwei Bestandteile sind zentral und unangefochten geblieben: der Nationalismus und der Säkularismus. In der Türkei ist das Militär nicht ein Machtfaktor, der gelegentlich von außen in das politische System hineinwirkt; es ist integraler Bestandteil der politischen Ordnung, auch wenn dies nicht in der Verfassung explizit zum Ausdruck gebracht wird. Die türkische Armee hat im September 1980 zum dritten Mal seit der Errichtung des Mehrparteiensystems eingegriffen, um den türkischen Staat vor dem Verfall zu retten — eine Einschätzung, die zum Zeitpunkt des Geschehens von der überwältigenden Mehrheit der Türken geteilt worden ist. Ein — wenn auch untergeordnetes — Element, das schließlich die Entscheidung zum Eingreifen mitbestimmt hat, ist die Agitation der „Nationalen Heilspartei“ gewesen, die sie unter ihren Anhängern, namentlich in Zentralanatolien, entfaltet hat.
— Zum anderen die künftige Entwicklung des politischen Systems der Türkei. Wird es der türkischen Elite gelingen, wieder ein funktionierendes demokratisches System zu errichten, in dem — wie in weiten Teilen der Epoche seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs — die türkischen Bürger umfassend und frei an dem politischen und gesellschaftlichen Leben teilhaben können? Das freie Spiel der politischen Kräfte in frei gegründeten und gewählten Parteien ist die sicherste Garantie dafür, daß sich die Bevölkerung gemäß ihren politischen, sozialen und wirtschaftlichen Interessen artikuliert und nicht aus einer Haltung der Frustration und aus Protest in den Islam und in die Forderung nach einer Wiedereinführung des islamischen Gesetzes als eines Allheilmittels flüchtet.
Wie die türkische Geschichte seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs beweist, hat sich der türkische Wähler stets nach konkreten Interessen sowie politischen Neigungen verhalten. Ihn interessierten die Programme, die die Parteien anboten bzw. die von den Parteiführern versprochen wurden. Daß diese in vielen Fällen islamische Emotionen ausgenutzt haben, um die Wählergunst für sich zu gewinnen, widerspricht keineswegs dem Prinzip des Säkularismus und bedeutet nicht die Rückkehr zu einem islamischen Staat. Eine islamische Politik an sich — was immer dies an konkreten Programmen bedeuten mag — ist der überwältigenden Mehrheit der türkischen Bevölkerung nicht ausreichend interessant erschienen. In allen Wahlen seit 1950 hat sich diese für die beiden großen Parteien der Mitte — „Demokratische Partei“ (Nachfolger: „Gerechtigkeitspartei“) und „Republikanische Volkspartei“ — entschieden.
Es ist der diktatorische Charakter zahlreicher Regime in den islamischen Staaten des Nahen und Mittleren Ostens, der das Wirken des militanten Islams als einer Form der politischen Opposition begünstigt. Angesichts einer Situation, in der sich der einzelne wie spezifische Schichten und Gruppen nicht artikulieren können, wird der Islam zur Speerspitze einer Protestbewegung, in der sich unterschiedliche politische, gesellschaftliche und ideologische Gruppierungen zusammenfinden können.
Dies ist am Beispiel der islamischen Revolution in Iran exemplarisch deutlich geworden. Hinter Khomeinis zunächst vagem Schlagwort von der „Islamischen Republik“ konnten nahezu alle Teile der Opposition gegen das Schah-Regime agieren. Die Vorstellungen über den Inhalt einer solchen waren zunächst nicht konkretisiert; vielmehr bedeutete die „Islamische Republik“ die Vision einer politischen Ordnung ohne das verhaßte Regime des Schahs, das man gemeinsam bekämpfte.
Als es dann später um feste Inhalte ging, zeigte sich freilich bald, daß die fundamentalistischislamischen Kräfte unter Revolutionsführer Ayatollah Khomeini ihre eigenen Vorstellungen von einer solchen hatten, die von denen ihrer revolutionären Mitstreiter anderer Couleur erheblich abwichen.
Die „Dritte Türkische Republik“ steht noch ganz am Anfang; doch lassen sich durchaus zahlreiche Anzeichen für eine schließliche Wiederherstellung voller demokratischer Zustände erkennen.
Die nächsten freien Wahlen, an denen dann alle inzwischen gegründeten Parteien teilnehmen sollen, werden voraussichtlich erst 1988 abgehalten werden; bereits die Regionalwahlen vom März 1984, an deren korrekter Durchführung kein Zweifel besteht, haben indessen den Trend von früher bestätigt: Der türkische Wähler spricht sich für die Parteien der Mitte aus. Die einzige religiöse Partei, die „Refah Partisi“ („Wohlfahrtspartei“), die Nachfolgerin der „Nationalen Heilspartei“, konnte bei diesen Wahlen nicht mehr als etwa vier Prozent der Stimmen erringen. Die Türkei ist noch immer der einzige der islamischen Staaten im Nahen und Mittleren Osten, der einen rigorosen Säkularisierungsprozeß durchgemacht und dessen Führungselite trotz eines spürbaren inneren und äußeren Drucks an einer konsequent laizistischen Ordnung festgehalten hat. In einer Zeit, in der der Nahe Osten im Zeichen eines voranschreitenden „fundamentalistischen“, militanten Islams steht, hat das türkische Experiment nichts von seiner Attraktivität und Aktualität eingebüßt. Sollte aber der Säkularismus in der Türkei überwunden werden und sollten islamische Kräfte in Politik und Gesellschaft wieder eine zunehmende Rolle spielen, also wenn die Türkei gewissermaßen „fällt“, dann freilich dürfte feststehen, daß der Säkularismus als zentrales Element des Modernisierungsprozesses in der islamischen Welt, d. h. auch als eine Variante einer positiven und erfolgreichen Antwort auf die Herausforderung der islamischen Welt durch den Westen, nicht gangbar ist.
XI. Ist der Islam zur Moderne fähig?
Die Krise des Nahen und Mittleren Ostens, die mit dem Beginn des 19. Jahrhunderts ihren Anfang nahm und sich heute als „Re-Islamisierung“ in religiösem Aktivismus artikuliert, war und ist wesentlich eine Orientierungskrise. Dies gilt auch da, wo sie sich in militanten und militärischen Konfrontationen zuspitzt, wie es in der Gegen-wart im irakisch-iranischen Krieg der Fall ist. Dieser Krieg ist nur die Spitze jenes Berges von Konflikten und Spannungen, der sich hinter der Fassade der „Re-Islamisierung“ seit dem Ende der siebziger Jahre im Nahen und Mittleren Osten verbirgt. Der Raum für eine geistige Auseinandersetzung mit der Krise (der im Verlauf der letzten anderthalb Jahrhunderte wiederholt weit gewesen ist und eine facettenreiche intellektuelle Auseinandersetzung von hohem Niveau erlaubte) ist eng geworden. Mit der „Re-Islamisierung“ ist das geistige Klima in der gesamten Region frostig geworden: Selbständiges Denken, ob eigenen Traditionen entstammend oder durch westliche Elemente bestimmt (oder beides vereint), ist suspekt. Zwar gibt es heute mehr Universitäten als je zuvor in der Region; und nahezu jedes Regime läßt es sich angelegen sein, Verbänden von Schriftstellern und anderen Intellektuellen und Akademikern seine Unterstützung zu leihen. Doch sind dort nicht kreative geistige Leistungen gefragt; vielmehr sind sie häufig das organisatorische Rahmenwerk, innerhalb dessen die jeweiligen Machthaber geistige „Auseinandersetzungen“ zulassen.
Die „Krise des Intellektuellen“, über die im arabischen Raum seit dem Ende des Ersten Weltkrieges so viel geschrieben wurde, hat heute eine starke physische Komponente der Einschüchterung und gewaltsamen Beschränkung. Die staatlichen Autoritäten, sich ihrer eigenen Legitimation nicht sicher und noch zunehmend verunsichert durch den militanten Islam, tun das Ihre, um ihre Stellung durch allzu große Nachgiebigkeit gegenüber intellektuellen Potenzen nicht noch weiter zu unterminieren. Und die Islamisten, lautstark und gut organisiert, sind darauf aus, ihre simplen, aber „unwiderlegbaren“ Thesen zu oktroyieren, was zugleich bedeutet, eine differenziertere Meinungsäußerung mundtot zu machen.
Die eigentliche Frage, die die Geister der Muslime seit anderthalb Jahrhunderten bewegt, bleibt also offen: Ist der Islam zur Moderne fähig? Lassen sich „moderne“ politische, gesellschaftliche und wirtschaftliche Realitäten mit der Forderung nach der Wahrung einer eigenen, unverwechselbaren islamischen Identität vereinbaren? Der Beweis, daß dem so sei, ist noch keineswegs erbracht; alle diesbezüglichen Ansätze, ob sie im Bereich des Geistig-Theologischen oder Praktisch-Politischen lagen, sind nicht zu einem dauerhaften Resultat geführt worden. Wo Modernisierung in dem weiten Raum des islamischen Nahen und Mittleren Ostens stattfand, hat sie sich weitestgehend auf säkularer Grundlage, d. h. in einem von religiöser Einwirkung freien Raum vollzogen.
Wenn dieser auch in der Türkei am weitesten ist, so lassen sich doch auch in anderen säkularisierten Systemen, etwa in Ägypten, dem von der Ba’ath-Partei regierten Syrien und Irak, in Jordanien, Tunesien, Algerien etc., Erfolge nicht übersehen. In Saudi-Arabien und anderen Golfstaaten steht der Test noch aus, ob die religiös fundierten Ordnungen die Belastung durch die „westlichen“ Elemente, die mit dem wirtschaftlichen Entwicklungsprozeß ins Land gekommen sind, aushalten werden.
Der Anspruch der iranischen Ayatollahs wie der Führer der militant-islamischen Bewegungen in anderen Teilen des Nahen Ostens (die zu einem erheblichen Teil nicht einmal Theologen, sondern religiös engagierte Laien sind), die Krise der islamischen Welt von einer Politik auf islamischer Grundlage her zu lösen, muß mithin als verfrüht angesehen werden. Die Ayatollahs und mit ihnen die herausragenden Geistlichen in anderen Teilen des Nahen und Mittleren Ostens scheinen zunächst als Theologen und nicht als Politiker gefordert.
Anknüpfend an Traditionen des 19. Jahrhunderts, die mit dem Ersten Weltkrieg abgebrochen wurden, wäre eine theologische Reform des Islams zu suchen, die es gestattet, wesentliche religiöse Gehalte mit den Grundelementen einer vom „Westen“ bestimmten Ordnung des 20. Jahrhunderts zu verbinden. Der fundamentalistische Islam, der sich in einer heftigen Konfrontation mit dem Westen artikuliert, erscheint schwerlich in der Lage, die Grundlage für eine erfolgreiche Auseinandersetzung des Islams mit der Moderne abzugeben. Wenn sich somit — in noch recht vagen Symptomen freilich — trotz der nach außen gezeigten Dynamik bereits ein Scheitern des fundamentalistischen Experiments ankündigt, stellt sich angesichts des geistigen und ideologischen Vakuums natürlich die Frage: Was wird danach kommen?