I. Einleitung
Es gibt viele Anzeichen dafür, daß Wirtschaftsreformen in anderen sozialistischen Ländern — wie die dortige Wirtschaft und Politik generell — seitens der UdSSR mit großem Interesse verfolgt werden. Zunächst stößt man immer wieder auf Berichte in der Tages-und Fachpresse, auf Konferenzberichte sowie auf Buchpublikationen, in denen Reformprojekte insgesamt oder einzelne systempolitische Maßnahmen beschrieben und kommentiert werden. Anteilnahme an der Systementwicklung anderswo im Sozialismus signalisieren auch wiederholte Stellungnahmen führender sowjetischer Politiker, etwa der General-sekretäre der KPdSU.
Ein weiteres Indiz für das sowjetische Interesse sind die großen Forschungseinrichtungen zur Analyse wirtschaftlicher und politischer Vorgänge in den sozialistischen Ländern. So verfügt die sowjetische Osteuropaforschung mit dem von Akademiemitglied Oleg Bogomolow geleiteten „Institut für die Ökonomik des sozialistischen Weltsystems“ über das größte Osteuropainstitut der Welt. Das gleichfalls zur Akademie der Wissenschaften gehörende Fernostinstitut tritt heute nicht zuletzt als leistungsfähiges Zentrum der sowjetischen Chinaforschung in Erscheinung.
Neben wissenschaftlichen beschäftigen sich zunehmend auch politische Institutionen mit Wirtschaftsreformen in anderen Planwirtschaften. So gibt es seit 1981 innerhalb des „Staatlichen Plan-komitees“ (Gosplan) eine „Kommission zum Studium der Erfahrungen der sozialistischen Länder“, die die Entwicklung von Wirtschaftspolitik und Wirtschaftssystemen vor allem in Osteuropa beobachten und auswerten soll. Die von ihr ermittelten Ergebnisse dürften auf höchster Ebene durch die Politbüro-Kommission zur „Vervollkommnung der Lenkung und Effizienzsteigerung der Volkswirtschaft der UdSSR“ verarbeitet werden Zur Beobachtung der chinesischen Reform gibt es dem Vernehmen nach eine Kommission im ZK-Sekretariat.
Schließlich befaßt sich die UdSSR auch über die Institutionen des „Rates für gegenseitige Wirtschaftshilfe“ mit den Wirtschaftssystemen sozialistischer Länder, vor allem in Osteuropa. Innerhalb des „Komitees für die Zusammenarbeit auf dem Gebiet der Planungstätigkeit“ besteht eine ständige Arbeitsgruppe, die Reformexperimente auf wirtschaftlichem und sozialem Gebiet auswertet -Auch die auf dem RGW-Gipfel vom Juni 1984 beschlossene ständige Konferenz der ZK-Sekretäre für Wirtschaftsfragen, die erstmals im Mai 1985 in Moskau zusammentrat, soll den Erfahrungsaustausch über die Entwicklung der sozialistischen Wirtschaftssysteme vertiefen Aus dieser Auflistung geht zum einen hervor, daß „sowjetisches Interesse“ somit konkret das Interesse vieler Institutionen und Personen bedeutet.
Deren Perzeptionen können mehr oder weniger voneinander abweichen. Sie spiegeln Konflikte und Unsicherheiten über Lageeinschätzung und politische Optionen, sei es in bezug auf die sowjetische Haltung zu anderen sozialistischen Ländern, sei es im Hinblick auf Reformen in der UdSSR selbst. Dies ist im Rahmen der folgenden Erörterungen stets im Bewußtsein zu behalten. Zum anderen dürfte die zunehmende Publizität im Hinblick auf Reformen in anderen Ländern nur die Spitze eines Eisberges darstellen. Vieles von dem, was diskutiert wird, vor allem auf höherer politischer Ebene, bleibt wegen der erheblichen innen-und außenpolitischen Brisanz des Gegenstandes hinter verschlossenen Türen.
II. Gründe für das sowjetische Interesse
Die Gründe für das offenkundige sowjetische Interesse an Wirtschaftsreformen in anderen sozialistischen Ländern sind auf verschiedenen Ebenen zu suchen. Einmal muß die UdSSR wegen dringender eigener Reformen daran interessiert sein, von den systempolitischen Erfahrungen anderer Planwirtschaften zu profitieren.
Mit diesem Lerninteresse verbindet sich das Kontrollinteresse, dessen Bedeutung vermutlich weit höher einzuschätzen ist. Die UdSSR hat nämlich die unverkennbare Absicht, die politische und wirtschaftliche Entwicklung im Weltsozialismus unter Kontrolle zu halten — vor allem innerhalb Osteuropas, soweit wie möglich aber auch darüber hinaus. Schließlich hängen von den Strukturen der Wirtschaftssysteme auch die Möglichkeiten der wirtschaftlichen und politischen Kooperation zwischen der Sowjetunion und den anderen sozialistischen Ländern ab. So kommt zum Lern-und Kontrollinteresse das Kooperationsbzw. Koordinierungsinteresse hinzu.
Die unterschiedlichen Interessen führen zu prinzipiell unterschiedlichen Einstellungen: Während aus dem Lerninteresse die Anpassung der Sowjetunion an das Vorbild anderer Länder folgen würde, ergibt sich aus dem Kontroll-und Kooperationsinteresse das Bestreben, anderen sozialistischen Ländern eine Anpassung an die UdSSR abzufordern. 1. Lerninteresse Was das Lerninteresse betrifft, so hat die sowjetische Absicht, aus den Erfahrungen anderer sozialistischer Länder systempolitischen Nutzen zu ziehen, wiederum eine Reihe spezifischer Ursachen. Zunächst ist darauf hinzuweisen, daß sich die UdSSR seit Ende der siebziger Jahre in einem neuen und verstärkten Prozeß der Suche nach besseren organisatorischen Strukturen und Methoden der administrativen Planwirtschaft befindet Dieser Prozeß fällt mit ähnlichen Entwicklungen in anderen sozialistischen Ländern zusammen. Die Verwirklichung der dringend notwendigen „Beschleunigung der sozial-ökonomischen Entwicklung“ — so lautet seit Michail Gorbatschows Machtantritt das Leitmotiv der sowjetischen Wirtschaftspolitik — erfordert eine nachhaltige Intensivierung der Wirtschaftsprozesse. Gorbatschows wirtschaftspolitisches Kon-zept ist auf ein Maßnahmenbündel (policy mix) hin angelegt, das neben wirtschaftspolitischen Elementen wie der Verbesserung zentraler Wirtschaftsführung, Festigung der Arbeitsdisziplin, Änderungen im Lohnsystem, Umstrukturierung der Investitionspolitik und Ausnutzung von Außenhandelsmöglichkeiten auch Veränderungen im Wirtschaftssystem, neue Reformen also, vorsieht
Für neue systempolitische Maßnahmen — und dies führt unmittelbar zum Lerninteresse — fehlt allerdings eine zuverlässige konzeptionelle Basis. Die Gründe hierfür sind wichtig und sollen erläuert werden:
— Auf der einen Seite mangelt es an Erfahrungen mit Reformvarianten, wie sie jetzt angestrebt werden: Reformen, die im Grundsatz beim Prinzip administrativ-direktiver Wirtschaftsplanung bleiben, zugleich aber größere Spielräume für dezentrale Entscheidungen der Vereinigungen und Betriebe vorsehen, und zwar in unterschiedlichem Ausmaß von Sektor zu Sektor. Nun gab es freilich auch im Kontext der bisherigen sowjetischen Reformen dezentralisierende Maßnahmen, doch waren diese aus vielen Gründen nicht sehr erfolgreich. Deshalb wurden sie meist so schnell wieder zurückgenommen oder zumindest verwässert, daß eine konzeptionelle Verallgemeinerung, auf die sich zukünftige Reformen stützen könnten, allenfalls begrenzt möglich war.
— Auf der anderen Seite müssen die erheblichen Defizite an wirtschaftspolitisch nutzbarer ökonomischer Theorie in der UdSSR hervorgehoben werden. Der erste unter den neueren sowjetischen Führern, der hierauf mit Bedauern hinwies, war Jurij Andropow Er sah in diesem theoretischen Mangel geradezu eine der Hauptursachen für den diskontinuierlichen Prozeß der Wirtschaftsreformen in der jüngeren Wirtschaftsgeschichte der UdSSR. Es sei nicht zuletzt das Defizit an praktikabler, d. h. für ökonomisches Handeln relevanter Theorie gewesen, das immer wieder zu unbegründetem und daher wenig erfolgreichem Ad-hoc-Improvisieren gezwungen hätte
In der Tat: Im bisherigen Prozeß der Wirtschaftsreformen wurde keine Theorie ökonomischer, politischer und sozialer Interaktion geschaffen, auf die sich die Wirtschaftspolitik in einer stärker dezentralisierten Planwirtschaft mit einem hohen Anteil zentral nicht mehr steuerbarer Wechselbeziehungen zwischen den Akteuren der verschiedenen Entscheidungsebenen stützen könnte.
Für dieses Defizit an ökonomisch praktikabler Theorie, das in der UdSSR zweifellos größer ist als in vielen anderen sozialistischen Ländern, gibt es wiederum verschiedene Ursachen. Einige wenige Stichwörter müssen hier genügen, sie sind andererseits aber wichtig für die Beurteilung zukünftiger sowjetischer Reformperspektiven.
Es seien erwähnt: — der Mangel an mikroökonomischen Denktraditionen in der russisch-sowjetischen Geschichte der Wirtschaftswissenschaften;
— die ideologischen Vorbehalte gegen eine Theorie wirtschaftlicher Interaktionen, denn eine empirisch gehaltvolle Interaktionstheorie muß zugleich auch immer eine Konfliktstheorie sein und verstößt insofern gegen das traditionelle Postulat einer „solidarischen Gesellschaft“ (Gregory Grossman);
— die moralischen Bedenken gegen eine solche Theorie, die bessere und schlechtere Alternativen des Verhaltens untersucht, hierdurch als möglich ausweist und somit gleichzeitig auch immer etwas vom Charakter einer „Theorie systemwidrigen Verhaltens“ annimmt, sowie schließlich, aber keinesfalls zuletzt:
— die politischen Vorbehalte gegen eine Theorie, die die Wahl politischer Optionen „wissenschaftlich“ bewertet und sich damit zum Schiedsrichter gegenüber den politischen Akteuren aufwirft Begründen nun die erwähnten Erfahrungs-und Theoriedefizite generell ein sowjetisches Interesse, von anderen zu lernen, so macht die zu Recht oder Unrecht angenommene „Modellfähigkeit“ anderer sozialistischer Länder diese Länder zum bevorzugten Objekt für das Lerninteresse der UdSSR. Die Annahme einer solchen „Modellfähigkeit“ wird in sowjetischen Stellungnahmen explizit oder implizit auf folgende Gesichtspunkte gestützt:
— auf das in Prinzip und Hauptinstitutionen mit dem der UdSSR übereinstimmende Wirtschaftssystem — vor allem bezüglich des sozialistischen Eigentums an den Produktionsmitteln und der administrativen Wirtschaftsplanung.; — auf die ähnliche Problemlage in der Wirtschaftspolitik, die Notwendigkeit nämlich, die Produktionsprozesse gleichfalls zu „intensivieren“, d. h. anstelle weiterer Bemühungen um Steigerung des Faktoreneinsatzes einen Kurs der Produktivitätsverbesserung einzuleiten und zu diesem Zwecke u. a. auch systempolitische Maßnahmen, Reformen also, einzusetzen;
— auf das in anderen sozialistischen Ländern mittlerweile erreichte breite Spektrum von Reformmaßnahmen, die zudem nicht in Form einzelner Experimente, sondern im Rahmen ganzer (wenn auch vergleichsweise kleiner) Volkswirtschaften durchgeführt werden;
— schließlich auf gewisse Erfolge der dortigen Reformen, nicht zuletzt in der Selbstdarstellung der betreffenden Länder — etwa in der von sowjetischen Ökonomen mit besonderem Interesse studierten DDR.
Inwieweit de facto von Lernmöglichkeiten und Modellfähigkeit ausgegangen werden kann und welche tatsächlichen „Übernahmeprozesse“ zu beobachten sind, ist später ausführlicher zu erörtern. Das Resultat wird bescheidener ausfallen, als vielleicht zunächst vermutet.
2. Kontrollinteresse
Neben dem Lerninteresse wurde als zweites sowjetisches Interesse das Kontrollinteresse genannt. Die Sowjetunion versteht sich ideologisch und machtpolitisch als Führungsmacht des Welt-sozialismus. Aus diesem Führungsanspruch ergibt sich für die UdSSR ein elementares Interesse an Kontrolle, insbesondere der zum unmittelbaren Hegemonialbereich der UdSSR gehörenden kleineren osteuropäischen Länder. Dieses Kontrollinteresse hat verschiedene Aspekte und führt zu unterschiedlichen Typen von Kontrolle. Im Kontext dieses Beitrags sind unter ihnen System-kontrolle, Sicherheitskontrolle, Stabilitätskontrolle, Loyalitätskontrolle, Leistungskontrolle und Konkurrenzkontrolle von besonderer Bedeutung.
Was die Systemkontrolle betrifft, so gehört es nach wie vor zu den politischen Grundinteressen der UdSSR, ein möglichst hohes Maß an system-politischer Übereinstimmung zwischen ihr selbst und den Ländern ihres Hegemonialbereiches herzustellen. Dies bedeutet nicht das Anstreben einer vollständigen Systemkongruenz. Im Gegenteil: Differenzierungen auf gemeinsamer Grundlage werden nicht nur akzeptiert, sondern als Leistungsvoraussetzung und als Quelle nutzbarer Erfahrungen sogar begrüßt.
Dennoch bleibt ein grundsätzliches sowjetisches Interesse an systempolitischen Gemeinsamkeiten bestehen. Denn solche Gemeinsamkeiten gehören zum zentralen ideologischen Legitimierungspotential des Kommunismus in der UdSSR. Ein Zurück zum „Sozialismus in einem Lande“ mit zerbröckelnder Systembasis in Osteuropa würde die Herrschaft der KPdSU auch zu Hause über kurz oder lang in Frage stellen, zumal wenn sich anderswo erfolgreiche sozialistische Systeme „mit menschlichem Antlitz“ etablieren würden und den Sozialismus sowjetischen Typs repressiv und antiquiert erscheinen ließen.
Die Systemkontrolle der UdSSR bezieht sich auf mindestens drei zentrale Elemente: — Übereinstimmung in den wesentlichen Institutionen politischer Herrschaft wie insbesondere dem Machtmonopol der Kommunistischen Partei: — Übereinstimmung in den wesentlichen Institutionen sozialistischer Ökonomie wie sozialistischen Eigentumsverhältnissen und staatlicher Wirtschaftsplanung; — Übereinstimmung in der ideologischen Grundlegung kommunistischer Politik, Wirtschaft, Gesellschaft und Entwicklung, d. h. in den Grundlagen des Marxismus-Leninismus.
Abweichungen im Systembereich dürften um so weniger hingenommen werden, je gehäufter sie auftreten. Konkret heißt dies: Ein Ungarn stellt sich für sowjetische Systemkontrolle anders dar als eine mögliche „Kadarisierung“ ganz Osteuropas, wenn es auch in mancherlei Hinsicht bereits Herausforderung genug ist oder zumindest als solche empfunden wird.
Unter der Rubrik Sicherheitskontrolle geht es zunächst um die militärische Präsenz der UdSSR in Osteuropa. Das strategische Vorfeld soll unter Kontrolle bleiben, die bestehenden sicherheitspolitischen Arrangements dürfen nicht zur Disposition gestellt werden. Darüber hinaus gehören aber auch die politische und die wirtschaftliche Stabilität in Osteuropa zu den Sicherheitsinteressen der UdSSR. Diese wiederum sind in sowjetischer Perzeption eng mit der Stabilität sozialistischer Wirtschaftssysteme verbunden (Stabilitätskontrolle).Die Sicherheitsbelange berühren sich mit einem weiteren Typ von Kontrolle zur Wahrung sowjetischer Interessen in Osteuropa: der Loyalitätskontrolle. Der UdSSR muß es darauf ankommen, ein erneutes politisches Manifestwerden von sowjetfeindlichen Einstellungen zu verhindern, wie sie im Zusammenhang mit Systemveränderungen in Politik und Wirtschaft von Zeit zu Zeit im RGW/Waschauer-Pakt-Bereich aufgetreten sind (Beispiele: DDR [1953], Polen [1956, 1980], Ungarn [1956], CSSR [1968]).
Wiederum von großer Bedeutung im ökonomischen Kontext ist die Leistungskontrolle: Die Sowjetunion ist in Anbetracht begrenzter eigener Wirtschaftskraft an ökonomischer Leistungssteigerung innerhalb ihres Hegemonialbereichs interessiert. Heute stellen die RGW-Staaten insgesamt eher eine wirtschaftliche Last für die UdSSR dar. Seit dem Ende der Phase der Ausbeutung der kleineren osteuropäischen Länder im Zuge der Sowjetisierung nach dem Zweiten Weltkrieg, d. h.seit Mitte der fünfziger Jahre, sind die RGW-Länder Empfänger direkter oder indirekter Zuwendungen seitens der Sowjetunion geworden
Die UdSSR bemüht sich, hier eine Veränderung zu ihren Gunsten zu erreichen. Zumindest sollen zukünftig massive sowjetische Hilfen in akuten Notfällen vermieden werden, und längerfristig ist auch die Einschränkung der bisherigen Subventionspraxis geplant. Darüber hinaus sollen die Transferbeziehungen zwischen der UdSSR und den übrigen RGW-Staaten nach Möglichkeit in stärkerem Maße zugunsten der sowjetischen Wachstumsbeschleunigung umgepolt werden, wie es auch die Beschlüsse des Moskauer RGW-Gipfels von 1984 vorsehen All dies ist ohne Leistungsverbesserung der osteuropäischen Wirtschaftssysteme nicht möglich.
Es sei jedoch angemerkt, daß die Wirtschaftsverbindungen zwischen der UdSSR und den kleineren osteuropäischen Ländern keineswegs auf Austauschbeziehungen mit den erwähnten Transfereffekten beschränkt sind. Mögen sich letztere seit längerem mehr zugunsten Osteuropas und zu Lasten der UdSSR ausgewirkt haben, so gilt das Umgekehrte für die zweite Gruppe von Effekten, die als Struktureffekte bezeichnet werden sollen.
Auf dreierlei Weise hat die UdSSR auf die Wirtschaftsstrukturen ihrer Partnerländer Einfluß genommen und zum Entstehen von Produktionsstrukturen beigetragen, die mehr sowjetischen Importbedürfnissen als den Erfordernissen der eigenen wirtschaftlichen Modernisierung entsprachen und die sich insofern nachteilig für die kleineren RGW-Länder auswirkten: durch die sowjetische Verhandlungsmacht in bilateralen Außenwirtschaftsbeziehungen, durch die sowjetischerseits betriebene, den freien weltwirtschaftli-chen Austausch beschränkende ökonomische Blockbildung sowie durch die Vorgabe des sowjetischen Modells für Industrialisierungsstrategie und Wirtschaftssystem.
Damit ist zugleich die dritte Gruppe von Effekten, die der Systemeffekte, angesprochen. Der von sowjetischer Seite verordnete Zwangsimport der sozialistischen Planwirtschaft sowjetischen Typs verhinderte in vielen Fällen das rechtzeitige Entstehen eigenständiger Wirtschaftsmechanismen und trug so zu vielen Systemdysfunktionen bei, die die Wirtschaftsleistung der kleineren RGW-Länder beeinträchtigen, ohne der UdSSR zu nützen. Jene Reformen, die wiederum die im Mittelpunkt dieses Beitrags stehenden sowjetischen Lern-, Kontroll-und Kooperations-bzw. Koordinierungsinteressen auslösten, haben hier ihren Ausgangspunkt.
Ein besonderes Kontrollinteresse hat die UdSSR schließlich im Hinblick auf die Volksrepublik China. Hier geht es nicht um Kontrolle im Rahmen hegemonialer Vorherrschaft, sondern um Konkurrenzkontrolle. Sowohl als sozialistische Großmacht wie auch als Entwicklungsmodell wächst China mehr und mehr in die Rolle eines Wettbewerbers der Sowjetunion hinein. Die gegenwärtigen Wirtschaftsreformen in der Volksrepublik China sind für die UdSSR eine doppelte Herausforderung: einmal wegen ihres weitreichenden Charakters und zum anderen aufgrund ihres derzeitigen Erfolgs. Das sowjetische Bestreben, auf der einen Seite systempolitische Führerschaft zu behaupten, auf der anderen Seite aber die Beziehungen zu Peking zu normalisieren und die Volksrepublik China als sozialistisches Land wieder mehr in das eigene Lager einzubinden, schlägt sich in einer charakteristischen Mischung von Kritik und Anerkennung nieder Anerkannt wird der Aufschwung der chinesischen Wirtschaft im Agrarsektor und in der Industrie seit der Wende zu den achtziger Jahren. Kritisiert werden einmal Grundpositionen der chinesischen Reformer, denen man vorwirft, vom unverzichtbaren Junktim zwischen Industrialisierung und sozialistischer Planwirtschaft abzurükken. Kritisiert werden auch eine Reihe konkreter Folgeerscheinungen der Reformpolitik in China wie inflationäre Tendenzen, neue soziale Ungleichheit und Arbeitslosigkeit. Bei alldem wird jedoch zunehmend ein objektives und informationsreiches Bild der chinesischen Wirtschaft vermittelt, etwa in den Artikeln, die die Zeitschrift des Fernost-Instituts unter der Rubrik „Wirtschaftsreform in China“ veröffentlicht. Die angestrebte Entspannung mit Peking läßt diese Objektivität opportun erscheinen, möglich wird sie durch die Gewißheit, daß ein „Modell China“ für die UdSSR nicht existiert. 3. Kooperations-bzw. Koordinierungsinteresse In bezug auf die Wirtschaftsreformen in den anderen sozialistischen Ländern ist nicht nur ein sowjetisches Lern-und Kontrollinteresse, sondern in zunehmendem Maße auch ein ausgeprägtes Kooperations-bzw. Koordinierungsinteresse festzustellen. Dabei geht es der UdSSR vor allem darum, die wirtschaftliche Reformentwicklung in Osteuropa eng mit dem Aufbau eines leistungsfähigen Integrationsmechanismus für den gesamten RGW-Wirtschaftsraum zu verbinden Um dieses Ziel zu erreichen, möchte sie im Rahmen einer langfristigen Entwicklungsstrategie für den RGW bis zum Jahre 2000, die in Grundzügen auf dem RGW-Gipfel im Juni 1984 sowie auf den seither abgehaltenen RGW-Ratstagungen festgelegt und in bilateralen Übereinkünften zwischen der UdSSR und den einzelnen RGW-Staaten konkretisiert worden ist, eine stärkere Harmonisierung der nationalen Wirtschaftsmechanismen in kooperationsrelevanten Bereichen gewährleisten. Als dafür besonders geeignete Methoden empfiehlt die Sowjetunion eine verstärkte Koordinierung der Wirtschaftspolitik, vor allem der Investitiqnspolitik, eine Systematisierung des Erfahrungsaustauschs über alle Fragen der weiteren Entwicklung des Wirtschaftsmechanismus, eine Vereinheitlichung des Informationswesens, verbindliche Absprachen über technische Standards sowie eine Angleichung der rechtlichen Regelungen für Vereinigungen und Betriebe Insgesamt zeigt sich, daß das Kooperationsinteresse in einem engen Zusammenhang mit dem Kontrollinteresse steht.
III. Die Darstellung der Reformen anderer sozialistischer Länder in sowjetischen Quellen
Die skizzierten unterschiedlichen Interessen geben nun ein nützliches Raster ab zum Verständnis sowjetischen Verhaltens. Sie determinieren dieses Verhalten jedoch keineswegs auf eindeutige Weise. Dies liegt nicht nur an den Meinungsverschiedenheiten in der UdSSR hinsichtlich der verbindlichen Perzeption dieser Interessen. Es liegt auch an den Widersprüchen zwischen den einzelnen Interessen selbst. Legen etwa Lerninteresse und Leistungskontrolle ein Konzedieren von breiteren Reformspielräumen nahe, so folgt aus System-, Sicherheits-und Loyalitätskontrolle die sowjetische Neigung, die Reformmöglichkeiten in Osteuropa eher zu beschränken. Läßt das Lerninteresse andere sozialistische Systeme als Modelle in Frage kommen, so erscheinen diese Länder vom Kontrollinteresse her gesehen eher als Herausforderungen. Konzentriert sich das sowjetische Interesse unter dem Stichwort „Modell“ insbesondere auf die DDR, Bulgarien und Ungarn, so sind unter dem Stichwort „Herausforderung“ vor allem Polen, die Volksrepublik China und wiederum Ungarn hervorzuheben.
Allerdings ist zu beachten, daß sich nicht jede sowjetische Kritik auf Systementwicklungen be'zieht. Warnungen an die ungarische Adresse etwa reflektieren mehr Moskaus Befürchtungen, Ungarn könne sich durch eine zu sehr auf westliche Belange eingehende Außen-und Außenwirtschaftspolitik von den sowjetischerseits definierten gemeinsamen Interessen des Ostblocks entfernen. Auch Rumänien ist in mancherlei Hinsicht außenpolitisches Ärgernis, systempolitisch aber weder Modell noch Herausforderung. Die SSR wird freundlich, aber ohne großes Interesse für systempolitische Entwicklungen erwähnt, nachdem die Herausforderung des „Prager Frühlings“ Geschichte geworden ist und sich die Tschechoslowakei zum blockpolitischen Sachwalter Moskaus gemacht hat. Als mögliches Modell ist die CSSR wiederum zu wenig originell. Wie zu Beginn hervorgehoben, finden sich in sowjetischen Quellen zahlreiche Stellungnahmen zu den Wirtschaftsreformen in anderen sozialistischen Ländern. Die wichtigsten sind naturgemäß die der sowjetischen Spitzenpolitiker, vor allem die des Generalsekretärs der KPdSU, Michail S. Gorbatschow. In seinem „Politischen Bericht“ auf dem XXVII. Parteitag sprach er über die Entwicklungen in anderen sozialistischen Ländern allerdings nur in recht allgemeiner Form — und deutete dabei eine gewisse Lernbereitschaft an: „Heute ist es besonders wichtig, aufgrund der Entwicklungen nicht eines einzigen, sondern mehrerer Länder den Charakter der sozialistischen Lebensweise zu analysieren sowie die Prozesse der Vervollkommnung von Demokratie, Leitungsmethoden und Kaderpolitik neu zu überdenken. Eine aufmerksame, rücksichtsvolle Haltung zu den gegenseitigen Erfahrungen und deren praktischer Verwertung sind eine riesige Reserve der sozialistischen Welt.“
Die Hervorhebung „rücksichtsvoller Haltung“
ließ wohl besonders die ungarischen Reformer erleichtert aufatmen. Auf der anderen Seite ist Gorbatschow zweifellos bestrebt, die systempolitischen Entwicklungen in Osteuropa unter Kontrolle zu halten und auch zu verhindern, daß neue Reformbemühungen in der UdSSR, wie schon öfters in der Nachkriegszeit, als Signal für einen weiterreichenden systempolitischen Aufbruch in Osteuropa mißdeutet werden. Deshalb betonte er in seiner Dnepropetrowsker Rede vom Juni 1985, daß die Bruderländer den „sozialistischen Charakter“ der sowjetischen Bemühungen wohl einzuschätzen verstünden — ein deutlicher Wink, bei eigenen Reformen auf gleicher Grundlage zu prozedieren und vor allem die „riesigen Möglichkeiten der Planwirtschaft“ zu nutzen
Im Kontext politikbezogener Wirtschaftswissenschaft hat das Akademiemitglied Bogomolow die sowjetische Einstellung zu Reformen in den europäischen RGW-Ländern besonders klar und wiederholt zum Ausdruck gebracht Seine Gesamteinschätzung läßt sich folgendermaßen zusammenfassen:
— Aufgrund der gegenwärtigen wirtschaftlichen Problemlage werden notwendigerweise in allen osteuropäischen RGW-Ländern „Maßnahmen zur Vervollkommnung des Wirtschaftsmechanismus“, d. h. Reformen durchgeführt.
— Diese Maßnahmen weisen eine Reihe gemeinsamer Grundzüge auf: Festigung der zentralen Planung zur Durchsetzung gesamtstaatlicher Interessen, Ausbau von Entscheidungsspielräumen und der wirtschaftlichen Rechnungsführung in den Vereinigungen und Betrieben, verstärkter Einsatz von ökonomischen Regulatoren anstelle direktiver Planauflagen zur Wirtschaftslenkung, Reformen im Verteilungssystem, um eine bessere Entsprechung zwischen Entlohnung und Leistung sicherzustellen, Integration von Wirtschafts-und Sozialpolitik, Weiterentwicklung der „sozialistischen Demokratie“ in Produktion und Leitung. — Zugleich sind in jedem Land jedoch Besonderheiten in der Systementwicklung zu registrieren. Die Wirtschaftsreformen der RGW-Länder unterscheiden sich in bezug auf Intensität, Tempo, Komplexität sowie durch viele konkrete Regelungen. Ihre Ergebnisse sind im ganzen ermutigend, reichen aber zur Erfüllung der Anforderungen der „intensiven Phase“ der Wirtschaftsentwicklung noch nicht aus. Insofern muß die Suche nach neuen Institutionen und wirksamen Methoden der Planung und Leitung weitergehen. — Die Vervollkommnung der Leitungssysteme und ihre gegenseitige Abstimmung gehört zu den Hauptvoraussetzungen für eine verstärkte Wirtschaftsintegration im RGW-Raum. Deshalb kann von einem wachsenden gemeinsamen Interesse an der Erörterung der Reformfrage und am Austausch von Erfahrungen ausgegangen werden. Dabei dürfen die sozialistischen Länder einander ihre Entwicklungen nicht aufdrängen. Der Austausch von Erfahrungen kann — so Bogomolow — jedoch dazu beitragen, „bewährte allgemeine Grundsätze der sozialistischen Wirtschaftsführung unter Berücksichtigung der spezifischen Bedingungen der einzelnen Länder anzuwenden“.
Für die UdSSR sind somit das Studium der allgemeinen Grundrichtung osteuropäischer Reformen und ihre spezifische Konkretisierung gleichermaßen aufschlußreich. Dabei konzentriert sich das sowjetische Interesse — vom Sonderfall China abgesehen — vor allem auf die drei Länder DDR, Bulgarien und Ungarn.
Bei der DDR findet vor allem das recht erfolgreiche — und auch von Gorbatschow wiederholt gelobte — „administrative streamlining" in der Industrie Beachtung Als bemerkenswert gelten: — die Organisation der Kombinate, insbesondere die engere Verbindung von Forschung, Entwicklung und Produktion; — die straffe Struktur der Ministerien sowie die mehr auf Interaktion als auf Unterordnung beruhende Regelung der Planbeziehungen zwischen Ministerien und Kombinaten;
— schließlich die spezifische Mischung von obligatorischen Kennziffern und „ökonomischen Hebeln“, der spürbare Fortschritte bei der Material-und Energieeinsparung sowie bei der Beschleunigung des technischen Fortschritts zugeschrieben werden.
Außer über die Industrie der DDR wird mit Interesse berichtet über:
— Erfahrungen mit spezialisierten Landwirtschaftsbetrieben, — private Kleinbetriebe in Handwerk und Handel,
— Genossenschaften im Dienstleistungsbereich sowie über — spezifische Formen der Abstimmung zwischen Handel und Konsumgütererzeugung.
Die Berichterstattung über Bulgarien ist einmal auf meist positiv bewertete Entwicklungen in der Landwirtschaft sowie im Konsumgüter-und Dienstleistungssektor konzentriert. Bei der bulgarischen Industrie interessieren vor allem die Erfahrungen mit:
— der Umwandlung von Ministerien in Organisationen auf der Basis von „Wirtschaftlicher Rechnungsführung“, — Methoden erweiterter betrieblicher Selbstfinanzierung, — neuen Typen von Kooperationsbeziehungen zwischen den Wirtschaftsvereinigungen, — Ansätzen, die Beziehungen zwischen Ministerien und Vereinigungen auf vertikale Vertragsbeziehungen umzustellen, sowie — Versuchen, die Fünfjahresplanung durch eine Senkung der Anspruchsniveaus effizienter zu machen, d. h. die traditionell „angespannte“ Planung durch eine Planung mit Spielräumen und Reserven zu ersetzen.
Auch über den „Neuen Wirtschaftsmechanismus“ Ungarns wird in vielen Beiträgen objektiv und ohne erkennbare ideologische Voreingenom-menheit berichtet Dabei wird der spezifische Charakter des ungarischen Wirtschaftssystems durchaus deutlich. So wird darauf hingewiesen, daß Volkswirtschaftsplan und Betriebssphäre in Ungarn stärker voneinander abgegrenzt sind als anderswo und deshalb „ökonomischen Regulatoren“ wie Preisen, Kreditzinsen, Steuern, Wechselkursen und Subventionen besondere Bedeutung zukommt. Freilich wird Ungarn insgesamt zu Recht kein Modellcharakter für die UdSSR zugesprochen. Es gelten aber einzelne Elemente des ungarischen Systems als beachtenswert, etwa im Bereich der Landwirtschaft sowie im Konsum-und Dienstleistungssektor. Diese Elemente haben auch eine Reihe lokaler sowjetischer Experimente beeinflußt, etwa in der Moldau und in Georgien.
Neben der skizzierten versachlichten Linie der Ungarn-Berichterstattung gibt es nun allerdings auch ideologische Warnungen, wobei Ungarn als Adressat in der Regel nicht ausdrücklich erwähnt wird. So wandte sich ein in Ost und West vielbeachteter (vermutlich von ZK-Funktionär Oleg Rachmanin unter dem Pseudonym O. Wladimirow verfaßter) Prawda-Artikel im Juni 1985 gegen Versuche, Privateigentum auf Kosten des sozialistischen Eigentums auszudehnen, die staatliche Wirtschaftsplanung zu schwächen und marktwirtschaftliche Wettbewerbsbeziehungen einzuführen All dies müsse zu ernsthaften wirtschaftlichen, sozialen und ideologischen Konsequenzen führen. Die kritische Warnung Rachmanins wurde durch unmittelbar folgende Artikel anderer Autoren, darunter auch Bogomolow abgeschwächt. Hierbei wurde deutlich, daß sowjetische Stellungnahmen zu Reformentwicklungen anderswo im Sozialismus auch eine Funktion in der eigenen internen Auseinandersetzung um den zukünftigen Reformkurs der UdSSR haben, insbesondere in einer Periode wirtschaftspolitischer Neuorientierung.
Das sowjetische Interesse, aus den Erfahrungen anderer sozialistischer Länder Nutzen zu ziehen, wird in der Regel mit dem Hinweis verbunden, Institutionen und Verfahren dürften nicht „mechanisch“ übernommen werden. Zur Begründung heißt es „Elemente und Ansätze der Wirtschaftsführung, die eine positive Auswirkung auf die Entwicklung der Wirtschaft eines entsprechenden Landes haben, führen bei ihrer blinden Kopierung unter anderen Bedingungen in der Regel nicht zu den erwarteten Ergebnissen“. So gelte es, bei der Übertragung von Erfahrungen „schöpferisch und komplex“ vorzugehen. Was aber auch immer von positiven Entwicklungen anderswo zu nutzen sei, vor allem käme es darauf an, sich auf „die vertiefte Analyse der umfassenden eigenen sowjetischen Erfahrungen zu stützen“. Alle Perioden der Wirtschaftspolitik müßten dabei studiert werden: der Kriegskommunismus, die „Neue Ökonomische Politik“, Industrialisierung und Kollektivierung sowie auch alle weiteren Veränderungen. Lernen aus der Vergangenheit wie von der Praxis anderer setze allerdings voraus, daß es gelänge, entsprechende theoretische Ansätze zu entwickeln. Der analytische Kreis hat sich wieder geschlossen.
IV. Probleme der Übertragung von Reformerfahrungen anderer Länder auf die UdSSR
Beim Versuch, die Frage nach Möglichkeiten und Grenzen eines „Erfahrungstransfers“ von Land zu Land zu beantworten, ist der Einschätzung vieler sowjetischer Beobachter zuzustimmen: Es ist schwierig, die in osteuropäischen RGW-Ländern erprobten Formen von Planung, Leitung und Wirtschaftsmechanismus auf die UdSSR zu übertragen bzw. zu gewährleisten, daß sie dort vergleichbar funktionieren.
Einen ersten Schwachpunkt macht die Art und Weise deutlich, wie Wirtschaftsreformen anderer Länder von sowjetischen Autoren behandelt werden, jedenfalls soweit dies in Veröffentlichungen geschieht. Die publizierten Stellungnahmen sind rein beschreibend angelegt und enthalten sich weitgehend einer kritischen, komparativen Analyse, wie sie für die Prüfung der Übertragbarkeit erforderlich wäre.
Dies gilt für alle drei Typen von Berichterstattung, die sich in sowjetischen Fachpublikationen unterscheiden lassen:
— für zusammenfassende Beiträge vom Bogomolow-Typ, die das sowjetische Interesse generell begründen und auf die erwähnten attraktiven Einzelbeispiele verweisen; — für länderspezifische Berichte, wie sie meist auf den hinteren Seiten von Fachzeitschriften oder unter Rubriken wie „Erfahrungen unserer Freunde“ auch in der Tagespresse veröffentlicht werden;
— schließlich auch für die vertrauten, meist nicht weiter kommentierten Hinweise auf erfolgversprechende Vorbilder in den Veröffentlichungen führender sowjetischer Reformökonomen wie beispielsweise Nikolaj Fedorenko oder Boris Kuraschwili
Die Dimension kritischen Vergleichens fehlt auch in den zahlreichen Berichten von gemeinsamen Konferenzen der RGW-Länder. Auch hier wird parallel berichtet und kaum komparativ analysiert. Allerdings ist anzunehmen, daß in den für die Partei-und Staatsführung der UdSSR angefertigten, nicht veröffentlichten Berichten diese Dimension Berücksichtigung findet.
Weitere Probleme hängen mit dem Zugang zu relevanten Informationen zusammen. Zunächst versucht jedes Land in der Eigendarstellung, „seine“ Reformentwicklung in einem möglichst positiven Licht erscheinen zu lassen. Dies kann ausländische — in diesem Fall sowjetische — Beobachter täuschen, und wenn die Dimensionen des „corriger la fortune“ von Land zu Land unterschiedlich ausfallen, hilft auch Alec Nove’s „law of equal cheating“ nicht weiter. Doch auch bei intensiver Bemühung um objektive Beurteilung ist es äußerst schwierig, Reformeffekte empirisch zu überprüfen.
Schließlich gibt es das erwähnte Problem der Übertragbarkeit von Reformlösungen eines Landes auf ein anderes Land. Können, um ein erstes Beispiel zu nennen, die Erfahrungen mit den Kombinaten der DDR auf die UdSSR übertragen werden? Über 130 zentral geleiteten Kombinaten stehen mehr als 4 000 Produktionsvereinigungen in den verschiedenen Landesteilen der UdSSR gegenüber. Auf etwa zehn Industrieministerien der DDR kommen mehrere Dutzend sowjetische Gegenstücke. Ganz abgesehen von traditionsbedingten Unterschieden in Arbeitsstil und Organisationsvermögen: Schon die mit der anderen Größenordnung der Sowjetunion verbundenen „diseconomies of scale" müssen die Effizienz beeinträchtigen.
Kann, um ein zweites Beispiel zu erwähnen, der marktorientierte „Neue Wirtschaftsmechanismus“ Ungarns — dort bereits mit vielen Funktionsproblemen belastet — unter sowjetischen Bedingungen auch nur einigermaßen zufrieden-stellend funktionieren?
Zweifel daran sind nur allzu berechtigt, sowohl aus der Sicht westlicher Beobachter Osteuropas und der UdSSR als auch aus der Perspektive möglicher Moskauer „Anwender“.
Für jede Übernahme aus anderen Ländern, aber auch für jede eigene weitreichende Reform gelten die Grenzen einer, von der anderer sozialistischer Länder verschiedenen, spezifisch sowjetischen Struktur von Wirtschaft, Gesellschaft und Politik. Besonders wichtig sind dabei — die Größe des Landes und seine unausgeglichene Wirtschaftsstruktur, die jede weitreichende Reform mit besonderen Risiken belasten;
— die Multinationalität der UdSSR mit der Gefahr staatsgefährdender zentrifugaler Tendenzen bei weitreichenden, marktsozialistischen Reformen; — die bereits erwähnten, für Rußland und die UdSSR traditionellen Defizite an mikroökonomischem Denken und unternehmerischem Potential bei gleichfalls traditionell hoher Interventionsneigung des Staates;
— die Weltmachtrolle der UdSSR mit der Konsequenz, ökonomische Kräfte disponibel zu halten und zu diesem Zweck das traditionelle Verfügungsinstrumentarium zentraler Lenkung — wenn auch nicht im Detail, so doch im Prinzip — zu konservieren;
— das besondere Gewicht des militärisch-industriellen Komplexes, aber auch anderer, etwa mit der Regionalpolitik verbundener öffentlicher Aufgaben und Ausgaben, die marktwirtschaftlichbudgetär nur schwer finanzierbar wären, sowie schließlich, aber nicht zuletzt:
— die mittlerweile vergangene lange Zeit unter dem zentral-administrativen Wirtschaftssystem mit seinen verhaltens-und strukturprägenden Effekten. Insgesamt kann angenommen werden, daß die UdSSR nur begrenzt von anderen sozialistischen Ländern zu lernen vermag, wenn unter „lernen“ die mehr oder weniger direkte Übernahme von anderswo erprobten Institutionen verstanden wird. Dies wird auch durch die Erfahrungen der Vergangenheit bestätigt. Gewiß: Die systempolitische Entwicklung in Osteuropa zeigt eine Reihe von Ähnlichkeiten. Diese dürften jedoch vor allem als problembedingte Parallelentwicklungen und kaum als Übernahmen aus anderen Ländern zu verstehen sein. Absehen muß man hier natürlich immer vom Zwangsimport des gesamten sowjetischen Wirtschaftssystems durch die Länder Osteuropas nach dem Zweiten Weltkrieg.
Für alle Reformelemente, die sich in der UdSSR seit den sechziger Jahren entwickelt haben, gibt es sicher prinzipiell ähnliche Beispiele in anderen sozialistischen Ländern. Doch für keine Maßnahme kann ein direktes, von der UdSSR nachgeahmtes Vorbild genannt werden. Auch die gelegentlich angeführten Fälle der agroindustriellen Integration in Bulgarien (und später in der UdSSR) oder der Kombinate und anderer Vereinigungstypen in der DDR (und wiederum später in der UdSSR) widersprechen dem nicht. Erstens gibt es durchaus Unterschiede zwischen den bulgarischen bzw. ostdeutschen Organisationen und denen der UdSSR. Zweitens gab es in beiden Bereichen sowjetische Experimente, die wiederum früher waren, etwa die Formen agroindustrieller Kooperation in der Moldau oder die sogenannten „Firmen“ als Betriebszusammenschlüsse in der Industrie der Ukraine bereits zu Zeiten Chruschtschows.
Die relativ geringe Bedeutung von Wirtschaftsreformen in anderen sozialistischen Ländern als direkte Modelle für die Sowjetunion bedeutet jedoch nicht, daß die Systempolitik der UdSSR von Reformentwicklungen anderswo gänzlich unbeeinflußt bliebe. Im Gegenteil: Es lassen sich durchaus vielfältige Zusammenhänge aufzeigen. Zum einen verstärken Reformen in anderen Ländern — vor allem, wenn sie mit Erfolgen verbunden sind — den Reformdruck, unter dem die sowjetische Führung aufgrund der Diskrepanz zwischen Wirtschaftslage und ökonomischen Entwicklungszielen ohnehin steht. Die UdSSR muß zur Untermauerung ihrer Führungsposition am Nachweis interessiert sein, über ausreichende wirtschaftliche Handlungskapazitäten zur Lösung der anstehenden Probleme zu verfügen, und will sicher den Eindruck vermeiden, das „systempolitische Schlußlicht“ unter den sozialistischen Ländern zu sein.
Zum anderen erweitern die Wirtschaftsreformen in anderen sozialistischen Ländern den reform-politischen Erfahrungshorizont auch für die UdSSR, nicht (wie beschrieben), indem sie Modelle anbieten, die im Detail übertragen werden könnten, wohl aber durch das Aufzeigen prinzipieller Möglichkeiten, wirtschaftliche Institutionen und Mechanismen im Kontext sozialistischer Systeme umzugestalten oder sie mit markt-bzw.
privatwirtschaftlichen Elementen anzureichern.
Der Wert der Erfahrungen der kleineren Länder des RGW besteht zudem darin, daß neue Organisationsformen und Methoden der Wirtschaftsführung vielfach im Maßstab ganzer Volkswirtschaften und nicht nur als partielle Experimente eingeführt werden. Freilich mögen die Entwicklungen anderswo auch zu Entscheidungen darüber beitragen, wohin die systempolitische Reise der UdSSR nicht gehen soll. In jedem Fall können die Erfahrungen der anderen jedoch einen Beitrag zu größerer eigener konzeptioneller Sicherheit leisten.
Schließlich bieten die Reformen einiger osteuropäischer Länder sowjetischen Reformern mit weiterreichenden Veränderungsvorstellungen vielfältige Identifizierungsmöglichkeiten, was wiederum auf den Modernisierungsprozeß in Wirtschaft und Gesellschaft der UdSSR zurückwirkt. Die kleineren RGW-Staaten haben auch für das ökonomische und soziologische Denken eine wichtige „West-Ost-Schleusenfunktion“, deren Bedeutung für Wandlungsprozesse in der UdSSR nicht unterschätzt werden sollte.
V. Die sowjetische Systempolitik unter Gorbatschow und ihre Bedeutung für andere sozialistische Länder
Welches sind nun auf diesem Hintergrund die zukünftigen Strukturen sowjetischer Systempolitik? Welche Ergebnisse sind von ihr zu erwarten? Welche Bedeutung hat die Entwicklung des Wirtschaftssystems in der UdSSR für den Reform-spielraum der Länder Osteuropas?
Seit seinem Machtantritt im März 1985 hat Generalsekretär Gorbatschow immer wieder erklärt, daß Wachstumsaufschwung und Intensivierung der Wirtschaftsprozesse ohne eine gründliche „Vervollkommnung“, „Verbesserung“ oder „Umgestaltung“ von Planung, Leitung und Wirtschaftsmechanismus nicht zu erreichen sind Auf dem XXVII. Parteitag wurde dann sogar eine „radikale Reform“ gefordert. Es wurde jedoch zugleich deutlich, daß die zukünftige sowjetische Systempolitik trotz dieses Entschiedenheitssignals im Rahmen der aus der Vergangenheit bekannten Versuche bleiben wird, das Sy-stem der Planwirtschaft durch organisatorische Verbesserungen und modernere Planungsverfahren zu rationalisieren, durch neue Plankennziffern-und Prämiensysteme effizienter zu machen, durch Teildezentralisierungen stärker aufzulokkern und zur Wirtschaftslenkung in stärkerem Maße indirekte Steuerungsinstrumente einzusetzen. Durch Entlastung der zentralen Planung von unnötigen Details soll zugleich die teilweise verlorengegangene Steuerbarkeit der Wirtschaft wiederhergestellt werden.
Diese Grundprinzipien sowjetischer Systempolitik orientieren sich in vielem am Reformkurs der Vergangenheit. Doch sie enthalten auch neue Elemente bzw. greifen alte, aber nicht zum Zuge gekommene Ansätze neu auf wie etwa Elemente der Kossygin-Liberman-Reform von 1965. Von der Spätphase der Ära Breschnew heben sich neben der unverkennbaren Handlungsentschlossenheit die stärkere Betonung von Dezentralisierungs-und Ökonomisierungserfordernissen, aber auch die Idee einer stärkeren Sektoralisierung von systempolitischen Veränderungen ab. So kündigte Gorbatschow auf dem XXVII. Parteitag weitergehende Dezentralisierungen für Landwirtschaft, Konsumgüterproduktion und Dienstleistungssektor an. Inzwischen kam es auch zu einer Reihe entsprechender Beschlüsse von Parteiführung und Regierung Gemeinsame Grundidee der Regelungen für konsumnahe Bereiche ist die Verbindung von erweiterten betrieblichen Dispositionsspielräumen mit einer Einschränkung und größeren Stabilität direktiver Plankennziffern, einer stärkeren Marktorientierung der Wirtschaftsaktivitäten sowie einer signifikanten Erhöhung der Rolle ökonomischer Normative als Instrumente indirekter Steuerung.
Von besonderer Bedeutung ist die systempolitische Weiterentwicklung im Rahmen der sowjetischen Industrie, die im Laufe dieses Jahres vollständig auf veränderte, im Rahmen eines „großangelegten Experiments“ entwickelte und erprobte Planungs-, Lenkungs-und Prämierungsverfahren umgestellt sein soll.
Übertriebene Erwartungen an die sowjetische Reformpolitik versuchte der Generalsekretär allerdings selbst zu dämpfen Die UdSSR stünde erst am Anfang des Weges. Für die Umgestaltung des Wirtschaftsmechanismus seien unter den Bedingungen der UdSSR mit ihrer großen und komplizierten Wirtschaft Zeit und energische Anstrengungen erforderlich. Es könne Schwierigkeiten geben, und man sei auch nicht gegen Fehlkalkulationen gefeit.
Gründe für Schwierigkeiten wurden auf dem XXVII. Parteitag nur allzu deutlich. Einerseits wurde die bürokratische Unbeweglichkeit und Willkür angeprangert, andererseits auf noch nicht überwundene ideologische Vorbehalte aufmerksam gemacht, wie z. B. gegen eine erweiterte Nutzung der „Ware-Geld-Beziehungen“ oder eine verstärkte Anwendung von Formen parametrischer Steuerung. Gegenüber solchen Stellungnahmen betonten Gorbatschow und Ministerpräsident Ryschkow die unveränderte Gültigkeit der „Grundsätze des Sozialismus“, deren Umsetzung allerdings am Nutzen für die „sozialökonomische Beschleunigung“ pragmatisch zu messen sei.
Die Aussichten des reformpolitischen Konzepts Gorbatschows können als offen gelten. Gewiß:
Die zukünftige Systempolitik der UdSSR behält die aus der Vergangenheit bekannte Mischung von direkten Lenkungsinstrumenten und ökonomischen Hebeln bei, und eine solche Mischung hat unaufhebbare Funktionswidersprüche. Vor allem erlaubt sie es, ja lädt sie förmlich dazu ein, die direkten administrativen Interventionen wieder zu erweitern, sei es abrupt oder gleitend. Dies droht insbesondere, wenn preisbedingte Fehlallokationen zu Diskrepanzen zwischen Betriebsergebnissen und den politisch gesetzten zentralen Prioritäten führen. Aus solchen und noch weiteren Gründen beurteilen westliche Beobachter die Aussichten zukünftiger „Reformen innerhalb des Systems“ in der Regel skeptisch und halten — wie auch manche Stimme aus der sich belebenden sowjetischen Reformszenerie — tiefgreifende, marktsoziaiistische Reformen für erforderlich. Es fragt sich jedoch, ob nicht eine solche Perzeption einerseits die Spielräume systemimmanenter Verbesserungen unterschätzt, andererseits aber Möglichkeiten und Erfolgsaussichten tiefgreifender Reformen — generell, insbesondere aber unter den gegenwärtigen sowjetischen Bedingungen — zu hoch ansetzt.
Was die Chancen zukünftiger begrenzter Reformen betrifft, so darf das Anknüpfen an alte Reformprinzipien nicht von vornherein mit der Gewißheit neuer Mißerfolge gleichgesetzt werden. Wie schon gesagt: Prinzipielle Funktionsmängel werden bleiben. Jedes Wirtschaftssystem hat solche. Aber ebenso sicher ist, daß eine Reihe bisher nur unzureichend genutzter Möglichkeiten für Funktionsverbesserungen der administrativen Wirtschaftsplanung vorhanden ist
So können die organisatorischen und verfahrenstechnischen Arrangements konsistenter gemacht, die Implementierung systempolitischer Veränderungen zügiger gestaltet, die Reformen durch prozeß-und strukturpolitische Maßnahmen besser flankiert, ihre personelle und motivationelle Basis verbessert werden. Mehr eigene Erfahrung, lernen von anderen (wenngleich die Möglichkeiten hierzu begrenzt sind) und mehr Forschung mit wirtschaftspolitischer Relevanz könnten gleichfalls zu systempolitischen Fortschritten beitragen. Schließlich darf nicht übersehen werden, daß es der sowjetischen Führung realistischerweise ja auch nicht um den Sprung in die beste aller ökonomischen Welten, sondern lediglich — aber lediglich wäre viel — um partielle Verbesserungen des Leistungsstandes der Wirtschaft gehen kann.
Was die Probleme und Grenzen radikaler, systemverändernder Reformen betrifft, so wurde mit Recht immer wieder auf die bremsende Wirkung politischer und gesellschaftlicher Faktoren hingewiesen. Mindestens ebenso gravierend sind jedoch die bereits erörterten, reformbeeinträchtigenden Elemente der sowjetischen Wirtschaftsund Sozialstruktur.
Unter diesen Strukturbedingungen ist es eine unabdingbare Voraussetzung jeder weiterreichenden Reform, daß zuvor reformadäquate, und das heißt vor allem gleichgewichtsorientierte und damit zum Abfangen reformbedingter „Schocks“
geeignete, quasi „prä-marktwirtschaftliche“ Wirtschafts-und Sozialstrukturen geschaffen werden bzw. entstehen können. Die Realisierung der gegenwärtigen Strategie einer technokratisch-konservativen Modernisierung muß zwar keineswegs zwangsläufig in radikale Reformen einmünden, kann aber wohl zur Etablierung reformbegünstigender Wirtschafts-und Gesellschaftsstrukturen beitragen.
Modernere Wirtschaftsformen, ein höheres Niveau der Technik, zunehmende Managerverantwortung, vertiefte außenwirtschaftliche Beziehungen, ein gehobenes Ausbildungsniveau und ein besserer Stand der Wirtschafts-und Organisationswissenschaft könnten in fernerer Zukunft Reformbedingungen schaffen, die auf kürzere und mittlere Sicht nicht gegeben sind. So könnte dem XXVII. Parteitag aus späterer Sicht eine größere Bedeutung zukommen, als ihm manche eher enttäuschte Kommentatoren im Westen heute zu konzedieren bereit sind.
Was bedeutet die gegenwärtige sowjetische Reformkonzeption, was bedeutet die weitere systempolitische Zukunft der UdSSR für die Entwicklung der Wirtschaftssysteme in den kleineren Ländern des sowjetischen Hegemonialbereichs?
Ohne Zweifel hängen aufgrund des erörterten Moskauer Anspruchs auf Systemführerschaft und Systemkontrolle die Perspektiven für Reformen in Osteuropa, insbesondere die Aussichten weitreichender, marktorientierter Reformen, sehr wesentlich von der Reformentwicklung in der UdSSR selbst ab. Die Meinungen in Moskau über den exakten Spielraum für andere Länder sind offensichtlich geteilt.
Dennoch gibt es so etwas wie eine herrschende Meinung. Diese wird vermutlich nicht von dem erwähnten scharfmacherischen Prawda-Artikel Wladimirow-Rachmanins vom Juni 1985 repräsentiert. Auf dem Hintergrund von Erklärungen Gorbatschows dürfte ein Artikel typischer sein, der etwas später in der Zeitschrift „Nowoe wremja“ veröffentlicht wurde. Der dort geäußerten Auffassung nach soll es in allen sozialistischen Ländern darum gehen, „die Vorzüge der sozialistischen Ordnung umfassender für die Lösung der politischen, sozialen und ökonomischen Aufgaben zu nutzen und sich um die bessere Verbindung der Vorzüge der zentralen Planung mit der realen Gewährleistung der Selbständigkeit und Verantwortlichkeit einzelner Vereinigungen, Betriebe und Arbeitskollektive, um die Vervollkommnung der Leitung der Volkswirtschaft zu bemühen“
Dies sind nun freilich genau jene Formeln, die gegenwärtig für die Kennzeichnung der eigenen sowjetischen Reformbemühungen gebraucht werden. Für die anderen sozialistischen Länder dürften sie Spielraum für systemimmanente Verbesserungen mit durchaus nicht unbeträchtlicher Spannbreite bedeuten. Spielraum für eine tiefer-gehende, marktorientierte Reform kann aus ihnen allerdings nicht abgeleitet werden.
Die Auswirkungen der sowjetischen Systemkontrolle auf den Reformprozeß in Osteuropa müssen sich jedoch ändern, wenn sich die Reform-szenerie in der UdSSR selbst belebt. Aufgrund der Systemführerschaft Moskaus kann für den Fall weiterreichender sowjetischer Reformen auch mit wesentlich erweiterten Reformspielräumen für Osteuropa gerechnet werden. Es dürfte neben der negativen hier auch eine positive Inter-dependenz geben. Letztlich können sich Osteuropa und die UdSSR systempolitisch nur insgesamt transformieren.
Von außen ist der Reformprozeß in sozialistischen Ländern nur bedingt zu beeinflussen. Die westliche Außenpolitik wird allerdings zu bedenken haben, auf welche Weise sie — in allen Grenzen — auf den äußeren Rahmen der dortigen systempolitischen Entwicklung einwirkt. Sie tut gut daran, die Interdependenzen zwischen der UdSSR und den Staaten Osteuropas in ihr strategisches Kalkül einzubeziehen. Es gilt auch zu berücksichtigen, daß die sowjetische Führung auf zunehmende Wirtschaftsscbwierigkeiten und sich verschärfende außenpolitische Spannungen mit Rezentralisierungen und zunehmendem administrativem Druck reagieren wird. Der sich dann wieder verengende Reformspielraum der Führungsmacht würde zugleich die Reformmöglichkeiten in den Ländern ihres Hegemonialbereichs beschränken.