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Amerikanisch-sowjetische Beziehungen nach Reykjavik | APuZ 1-2/1987 | bpb.de

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APuZ 1-2/1987 Amerikanisch-sowjetische Beziehungen nach Reykjavik Die Institutionalisierung des KSZE-Prozesses. Perspektiven und ihre Bewertung Ende der KVAE — Ende der politischen Vertrauensbildung in Europa? Erfolgsbedingungen der Politik militärischer Vertrauensbildender Maßnahmen

Amerikanisch-sowjetische Beziehungen nach Reykjavik

Ernst-Otto Czempiel

/ 35 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Auf der Gipfelkonferenz von Reykjavik hat sich in den Beziehungen zwischen den beiden Supermächten eine „Revolution“ (Kissinger) ereignet. Erstmals in der Geschichte der Rüstungskontroll- und Abrüstungsbemühungen haben sich die Staatschefs der beiden Supermächte auf die Beseitigung von Mittelstreckenraketen in Europa, die Reduzierung aller strategischen Waffen um 50 Prozent und die Beseitigung (fast) aller ballistischen Raketen in einer späteren Periode geeinigt. Zwar wurde kein Vertrag geschlossen, weil der sowjetische Generalsekretär dies mit seiner Forderung, alle Teileinigungen zu einem Paket zu verschnüren und praktisch an die Aufgabe von SDI zu binden, verhinderte. Faktum bleibt, daß Einigungen über erheblich niedrigere Niveaus strategischer Waffen möglich und in Reykjavik konkret geworden sind. Nicht umsonst schätzt der amerikanische Publizist James Reston die Gipfelkonferenz als das größte Ereignis seit der Erfindung der Atombombe ein. Die Einigungen von Reykjavik kamen für die Westeuropäer völlig überraschend, die zwar stets von der Notwendigkeit der Abrüstung gesprochen, sie aber durch die Weiterentwicklungen des strategischen Kalküls nicht vorbereitet haben. In Westeuropa wird nur zu gerne übersehen, daß die Vereinigten Staaten jenseits der aktuellen Interessen der jeweiligen Administrationen das Strukturinteresse verfolgen, einen Nuklearkrieg mit der Sowjetunion zu vermeiden. In dieses Interesse gehört auch die Konzeption, in Westeuropa nicht mit strategischen Nuklearwaffen, am besten überhaupt nicht mit Kernwaffen, vertreten zu sein. Man kann also getrost davon ausgehen, daß die Rüstungskontrollverhandlungen in Genf dort Weiterarbeiten werden, wo die beiden Staatschefs in Island aufgehört haben. Westeuropa tut gut daran, sich darauf einzustellen. Das Hauptfeld der amerikanisch-sowjetischen Auseinandersetzung liegt in der Dritten Welt. Der nukleare Konfrontationsverzicht, der sich in Reykjavik so deutlich zeigte, dient auch der Absicherung dieser Rivalität vor einem Abgleiten in eine militärische, womöglich noch nukleare Auseinandersetzung. Die Vereinigten Staaten gehen — so steht es in der Reagan-Doktrin — davon aus, daß sich der sowjetische Einfluß seit dem Beginn der achtziger Jahre auf dem Rückzug aus der Welt befindet. Die USA unterstützen die demokratischen Revolutionen und hoffen, damit diesen Rückzug zu befördern und den eigenen Einfluß zu vergrößern. Die Sowjetunion unter Gorbatschow setzt statt dessen, wie schon Chruschtschow 1957, auf Asien, insbesondere auf Indien. Bei seinem Besuch dort im Herbst 1986 hat Gorbatschow seinen Plan einer asiatischen Sicherheitskonferenz erneut vorgeschlagen und das Interesse Asiens an einer Entmilitarisierung des Indischen Ozeans unterstützt. Mit der in Wladiwostok angekündigten ersten Verringerung sowjetischer Truppen in Afghanistan will Gorbatschow offensichtlich auch die sowjetisch-chinesischen Beziehungen verbessern. Den Europäern ist es in den ersten Monaten nach Reykjavik gelungen, die Vereinigten Staaten zu einer gewissen einschränkenden Modifikation ihrer Position zu bewegen. Die Grundsatzrede von Außenminister Shultz im November 1986 läßt jedoch erkennen, daß diese Modifikationen nicht zu einer grundsätzlichen Revision der von den USA in Reykjavik eingenommenen Position führen werden.

Das Vierteljahr, das seit der Gipfelkonferenz von Reykjavik verstrichen ist, hat ihrer Bedeutung nichts anhaben können. Sie muß nach wie vor als Wendemarke der amerikanisch-sowjetischen Beziehungen gelten, mit bedeutenden Folgen für die Handhabung des Ost-West-Konfliktes und für die Gestaltung der Weltpolitik. Reykjavik kann insofern durchaus verglichen werden mit der Moskauer Gipfelkonferenz von 1972, die mit dem SALT-I-Vertrag und der Verständigung über die Grundregeln im amerikanisch-sowjetischen Verhältnis die Phase der Entspannung eingeleitet hat. Zwar ist in Reykjavik nichts beschlossen worden. Dafür wurde erstmals in der Geschichte der Gipfelkonferenzen nicht über Rüstungskontrolle und kooperative Rüstungssteuerung, sondern über reale Abrüstung der Interkontinental-und Mittelstreckenraketen gesprochen. Annäherung wurde erreicht, ein Abkommen nur knapp verfehlt.

Reykjavik hat erkennen lassen, daß die beiden Supermächte im Begriff sind, sich über eine solche wirkliche Abrüstung zu verständigen. Sie haben, sozusagen, der Abrüstung ins Auge geschaut. Sie haben einen Blick geworfen auf eine Welt, in der Kernwaffen nur noch eine stark reduzierte, vielleicht sogar überhaupt keine Rolle mehr spielen werden. Die größte Überraschung dabei war, daß sie auf eine solche Welt gar nicht vorbereitet waren. Die Supermächte und die beiden Allianzen hatten zwar ständig von der Abrüstung gesprochen, sie aber weder ernst genommen noch betrieben. Es gibt im Westen (und wohl auch im Osten) keine ausgearbeiteten konfliktstrategischen Konzepte für den Fall, daß mit der Halbierung beziehungsweise völligen Eliminierung der Interkontinentalwaffen der Boden des Abschreckungssystems und mit der Beseitigung aller Nuklearwaffen in Europa das Fundament der bisher gültigen Strategie der Flexible Response entfernt wird.

Hier beginnen die Ambivalenzen von Reykjavik. Wäre es dort gelungen, sich über die Abschaffung der Mittelstreckensysteme und die Halbierung der Interkontinentalwaffen zu verständigen, so hätten sich insbesondere die Europäer gefreut. Die Entspannung in Europa wäre maßgeblich verstärkt, die Gefahr eines Nuklearkrieges erheblich verringert worden. Andererseits hätte sich infolge der geopolitischen und konventionellen Überlegenheit der Sowjetunion die politische Lage der Europäer erheblich verschlechtert, wäre ein konventioneller Krieg denkbar und wieder führbar geworden.

In den westeuropäischen Hauptstädten ist also die Trauer über den Mißerfolg von Reykjavik durchaus geteilt. In den USA sieht es nicht anders aus. Präsident Reagan hat sich immer eine Welt ohne Nuklearwaffen gewünscht; diesem Ziel hat er auch seine Strategische Verteidigungsinitiative (SDI) von 1983 gewidmet. Hätte er in Reykjavik Erfolg gehabt, so hätte er allerdings nicht nur sein gesamtes strategisches Aufrüstungsprogramm mit den MX-Raketen im Mittelpunkt desavouiert, er hätte auch sein Lieblings-programm, die Strategische Verteidigungsinitiative, ruiniert. Sie wäre entbehrlich in einer Welt, in der es keine ballistischen Kernwaffenraketen mehr gibt. In einer solchen Welt könnten aber die Vereinigten Staaten nicht nur ihre europäischen Verbündeten nicht mehr schützen — Extended Deterrence beruht vornehmlich auf Nuklearwaffen —, sie müßten auch eine Einflußminderung hinnehmen. Das gilt auch für die Sowjetunion. Wenn sich die beiden Supermächte ihrer Nuklearpotentiale begäben, wäre ihre Vormachtstellung in der Welt zu einem großen Teil dahin. Sie wären zwar noch Groß-, aber keine Supermächte mehr. Dieser Titel würde dann an Frankreich, Großbritannien, China und möglicherweise an viele kleinere Staaten übergehen, die ihre Atomwaffen behalten bzw. entwickeln. Auch in Washington kann also nicht eitel Trauer darüber geherrscht haben, daß die Absichten des Präsidenten nicht verwirklicht werden konnten.

Das Interessante an diesen Ambivalenzen besteht darin, daß es sie gibt. Bei den Rüstungskontrollabkommen der Vergangenheit ging es immer nur darum, der weitergehenden Aufrüstung bestimmte Obergrenzen zu verschreiben. Die strategischen Grundkonzepte der erweiterten und der wechselseitigen Abschreckung galten unverändert fort. Dies ist in Reykjavik offenbar nicht mehr der Fall gewesen. Die Ambivalenz des Treffens rührt daher, daß beide Seiten ernsthaft versucht haben, die Interkontinental-und die Mit-3 telstreckenraketen zu verringern. Damit wurden auch die strategischen Konzepte, denen diese Waffensysteme dienen, zur Disposition gestellt. Der amerikanische Präsident hat den europäischen Verbündeten gezeigt, daß die energische Rüstungsminderung, die sie immer verlangt haben, ihren strategischen und ihren politischen Preis hat. Der sowjetische Generalsekretär Gorbatschow hat mit seiner Forderung nach einer Gesamtregelung die Teillösung bei den Mittelstreckensystemen verhindert und sich auf diese Weise die SS-20 erhalten. Infolgedessen brauchte Präsident Reagan seine Konzessionen nicht einzulösen und die Strategische Verteidigungsinitiative, wenn auch für den erhöhten Preis einer zusätzlichen Begründung, nicht aufzugeben.

Die Supermächte waren also noch einmal davongekommen, sie hatten ein radikales Abkommen im Kernwaffenbereich nur um Haaresbreite verfehlt. Hätte Gorbatschow nicht alle Teilregelungen mit der Beschränkung von SDI verbunden, so hätten die beiden Supermächte in Reykjavik beschlossen, alle Mittelstreckenraketen in Europa zu beseitigen und ihnen innerhalb von zehn Jahren auch alle ballistischen Interkontinentalraketen folgen zu lassen.

Es ist denkbar, daß die Chance zu einem solchen Abkommen nicht wiederkehrt. Sie wurde vor Reykjavik als einmalig bezeichnet, vielleicht ist sie es. Andererseits aber können die Verhandlungsgegenstände von Reykjavik kaum als Zufallsergebnis gelten. Es muß auf beiden Seiten Gründe geben, die eine Verringerung der Nuklearpotentiale interessant erscheinen lassen. Die Ambivalenz ist positiv zu werten, weil sie sich zur Abrüstungsseite hin erstreckt. Der frühere amerikanische Außenminister Henry Kissinger hat die Konferenz von Reykjavik und ihre Ergebnisse eine „Revolution“ genannt und er hat recht. Die Vereinigten Staaten und die Sowjetunion sind offenbar auf dem Wege, das System der atomaren Abschreckung zu verlassen, jedenfalls drastisch zu verringern. Obwohl die Konferenz selbst scheiterte, wird die Welt nach Reykjavik nicht mehr die gleiche sein wie davor, weil die Nuklearwaffen im Verhältnis der Supermächte zueinander nicht mehr die gleiche Rolle spielen. Ihre Relativierung ist eklatant, ihre Reduzierung erscheint möglich. Das wäre in der Tat dann eine Revolution. Wo liegen ihre Ursachen, was wurde in Reykjavik verabredet, und wie können die möglichen Konsequenzen der Konferenz für das amerikanisch-sowjetische Verhältnis aussehen?

I. Kernwaffen im amerikanisch-sowjetischen Verhältnis

Die „Revolution von Reykjavik“ kommt nur für denjenigen überraschend, der zwischen den strukturellen und aktuellen Interessen der amerikanischen Außenpolitik nicht unterscheidet. Beispielsweise muß die Einstellung der Reagan-Administration gegenüber der Rüstungskontrolle und der Abrüstung durchaus als skeptisch bezeichnet werden, bei einigen Angehörigen der Administration ist sie durchweg ablehnend. Präsident Reagan hat, statt die Rüstungskontrollpolitik seiner Vorgänger fortzuführen, sie zeitweise ausgesetzt und statt dessen ein großes Aufrüstungsprogramm durchgeführt. Er hat den SALT-II-Vertrag stets als schädlich angesehen und die von ihm gesetzten Obergrenzen für Mehrfach-sprengköpfe und luftgestützte Marschflugkörper nur mit äußerster Mühe eingehalten. Im November 1986 hat er die Grenzen mit der Indienstnahme des 131. Bombers mit Marschflugkörpern überschritten. Er tat dies trotz massiver Kritik des Kongresses und der europäischen Verbündeten. Reagan ließ sogar den Hinweis auf die sowjetischen Vertragsverletzungen, mit denen er zunächst den eigenen Ausstieg legitimiert hatte, fallen. Er gab am 27. Mai 1986 bekannt, daß Umfang und Ausstattung der amerikanischen strategischen Streitkräfte sich ausschließlich nach der sowjetischen Bedrohung und nicht nach irgendeiner Vertragsverletzung richteten. Er legte auch die Standing Consultative Commission auf Eis, die, mit dem ABM-Vertrag von 1972 gegründet, als wichtigstes amerikanisch-sowjetisches Gremium für die Bearbeitung und Bereinigung von Meinungsverschiedenheiten und Vertragsverstößen gedient hatte Obwohl sich die amerikanisch-sowjetischen Beziehungen seit 1983 gebessert und im November 1985 zu einer ersten Gipfelbegegnung geführt hatten, profitierte die Rüstungskontrolle davon nicht. Im Frühjahr und im Frühsommer 1986 kam aber dann eine neue Bewegung auf. Am 24. Februar 1986 legte die amerikanische Delegation in Genf einen Vertragsentwurf vor, der die Beseitigung aller Mittelstrekkensysteme in Europa und in Asien vorsah. Die Sowjetunion ihrerseits unterbreitete am 11. Juni 1986 eine Reihe von Konzessionen im strategischen Bereich. Sie verzichtete auf die Anrechnung amerikanischer Forward Based Systems, ließ luftgestützte und seegestützte Marschflugkörper zu und verband ihre Bereitschaft zu einer beträchtlichen Senkung der strategischen Kernwaffen mit der Hinnahme bestimmter, wenn auch begrenzter Forschungen im SDI-Bereich.

Diese Vorschläge lösten in den Vereinigten Staaten lebhaftes Interesse aus, weil sie Kompromißmöglichkeiten erkennen ließen. Präsident Reagan antwortete am 25. Juli und gab sich zufrieden mit einer Kürzung der Interkontinental-waffen um 40 Prozent. Er erklärte sich bereit, die Kündigungsfristen des ABM-Vertrages auf fünf Jahre zu verlängern, und wählte für seine Beschreibung des SDI-Programmes Begriffe, die eine gewisse Kompromißbereitschaft bezüglich der Forschung zumindest anzudeuten schienen Präsident Reagan ergriff damit die Gelegenheit, die ihm die sowjetischen Vorschläge boten, beim Schopf, um ein Abkommen zu erreichen. Er hatte ein solches Abkommen immer als sein eigentliches Ziel bezeichnet und sah jetzt die Chance dafür gekommen.

Allerdings gab es dafür auch inneramerikanische Anlässe. Präsident Reagans Glaubwürdigkeit stand zur Disposition, wenn er die Chance zu einem Abrüstungsabkommen im Nuklearbereich, in dessen Zeichen er schließlich sein gesamtes Aufrüstungsprogramm gestellt hatte, verstreichen ließ. Er mußte sogar befürchten, daß der Kongreß ihm keinen Dollar mehr für die Strategische Verteidigungsinitiative bewilligen würde, sollte sich herausstellen, daß sie ein Abkommen mit der Sowjetunion blockierte. Die amerikanische Legislative war zwar durchaus für eine Aufbesserung der amerikanischen Militärmacht zu haben gewesen, sie trat gleichzeitig wenn nicht für eine Abrüstung, so doch für eine Kontrolle der strategischen Rüstungen zwischen der Sowjetunion und den Vereinigten Staaten ein. Sie versprach sich davon verbesserte geopolitische Stabilität sowie die Möglichkeit, Finanzmittel auf dem Rüstungssektor einzusparen und sie zu anderen Zwecken zu verwenden.

Der aktuelle Auftakt zu Reykjavik ist damit hinreichend sichtbar. Auf der Grundlage des amerikanischen Interesses, die strategischen Interkontinentalsysteme um 50 Prozent zu kürzen und die Mittelstreckenwaffen in Europa abzuschaffen, eröffnete die sowjetische Bereitschaft, sich hinsichtlich der Weltraumverteidigungsforschung, der Forward Based Systems und der französisch-britischen Nuklearstreitkräfte flexibel zu verhalten, die Chance zu einem Abkommen. Reagan ergriff sie, trotz der ablehnenden Haltung eines Teils seiner Administration, weil sie mit seiner Überzeugung, seiner Politik und seinen Erklärungen übereinstimmte und von den Erwartungen des Kongresses sowie den Strömungen in der öffentlichen Meinung nahegelegt wurde.

Sind die aktuellen Anlässe, die zu Reykjavik führten, hinreichend (wenn auch natürlich nicht vollständig) klar, so reichen sie zur Erklärung nicht aus. Was hat den amerikanischen Präsidenten Reagan bewogen, in seiner Reaktion auf einen Vorschlag Generalsekretär Gorbatschows von Mitte Januar den Abzug aller Mittelstrecken-Systeme aus Europa und Asien gutzuheißen, die Idee, alle Kernwaffen abzuschaffen, zu begrüßen und sie umzusetzen in den Vorschlag, als ersten Schritt die strategischen Offensivwaffen beider Seiten um 50 Prozent zu kürzen Die Aufstellung der amerikanischen Mittelstreckensysteme in Westeuropa ist noch immer nicht ganz abgeschlossen, und daß eine fünfzigprozentige Kürzung der Interkontinentalsysteme die Probleme strategischer Stabilität nicht verbessert, sondern verschärft, war seit langem kein Geheimnis.

Die Antwort auf solche Fragen findet man nicht in den aktuellen Prozessen, sondern in den Strukturen, die sie bedingen. Unter diesem Aspekt zeigt sich, daß die Vereinigten Staaten und die Sowjetunion seit dem Ende der fünfziger Jahre ein überragendes Interesse gemeinsam haben, nämlich den Atomkrieg zu vermeiden. Dieses Interesse leitete die Entwicklung der Strategie der flexiblen Antwort durch die Vereinigten Staaten zu Beginn der sechziger Jahre an; es wurde nachhaltig gestärkt durch die Erfahrungen der KubaKrise, die die Möglichkeiten und Gefahren einer direkten Konfrontation der beiden Supermächte schlagartig sichtbar werden ließ. Auf amerikanischer Seite nahm das Interesse weiter in dem Maße zu, in dem sich die Sowjetunion seit Anfang der siebziger Jahre zu einer militärisch gleich starken Supermacht herangerüstet hatte. Die Nixon-Administration hatte daraus die Konsequenz gezogen, das gemeinsame Interesse — die Vermeidung des Kernwaffenkrieges — gemeinsam zu verwirklichen. Das Ergebnis war die bis zum partiellen Duopol entwickelte Gemeinsamkeit der beiden Supermächte in dieser Frage während der siebziger Jahre; sie fand ihren schriftlichen Ausdruck in den , basic principles’ von 1972. Präsident Reagan hatte an dieser Politik vor allem die — von ihm diagnostizierte — amerikanische Schwäche auszusetzen, die er dann mit seinem riesigen Aufrüstungsprogramm auszugleichen suchte. Wenn ihn vielleicht zusätzlich seine Ideologie dazu veranlaßte, Kompromisse mit dem „Reich des Bösen“ möglichst zu vermeiden, so sagte ihm andererseits seine pragmatische Erfahrung als Politiker, daß kein Weg um die Verständigung herumführte. Vielleicht würde im Bereich der strategischen Kernwaffen eine ungebremste Aufrüstung die Sowjetunion wirtschaftlich ruinieren — bei den Mittelstreckenraketen in Europa saß die Sowjetunion am längeren Hebel.

Die USA hatten traditionell vermieden, die Sowjetunion von westeuropäischem Boden aus nuklear zu bedrohen, und sie hatten nur auf Drängen der Westeuropäer, voran der Bundesrepublik, nachgegeben. Auch Präsident Reagan, der die Nachrüstung zunächst als weiteres Element amerikanischer Überlegenheit begrüßt hatte, lernte bald, daß sie auch als Geisel in europäischen Händen dienen konnte. So war sie von Bundeskanzler Schmidt auch aufgefaßt worden. Die De-Nuklearisierung Europas und die Umstellung der Abschreckung auf rein konventionelle Kapazitäten muß also im Interesse der Vereinigten Staaten liegen, wenn sie vermeiden wollen, über Europa in einen Nuklearkrieg mit der Sowjetunion hineingerissen zu werden. Aus den entgegengesetzten Gründen sind die Westeuropäer an einer solchen Automatik interessiert, weil nur sie den Abschreckungseffekt gegenüber der Sowjetunion bewirkt.

Diese einander ausschließenden Strukturinteressen jenseits und diesseits des Atlantiks haben die NATO und die Diskussion um die wahre Bedeutung der Strategie der flexiblen Antwort seit fünfundzwanzig Jahren belastet. Die Vereinigten Staaten haben versucht, dem europäischen Interesse auf mehrfache Weise gerecht zu werden, nachdem die die Europäer allein befriedigende Lösung, die Strategie der massiven Vergeltung, sich angesichts des sowjetischen Atomwaffenbesitzes nicht mehr halten ließ. Die erste — und bis heute gültige — Lösung war die Entwicklung der Strategie der Flexible Response, über deren Inhalt sich die NATO noch heute nicht im klaren ist. Den zweiten Versuch stellt die Entspannungsund Rüstungskontrollpolitik der siebziger Jahre dar. Die sowjetische Bedrohung brauchte nicht mehr abgeschreckt zu werden, wenn sie abgeschwächt werden konnte. Dies war in der Rüstungskontrollpolitik der siebziger Jahre durchaus vorgesehen, auch wenn es nicht mehr dazu kam.

Eine dritte Möglichkeit, die amerikanisch-europäische Interessendifferenz zu überbrücken, lag in der Konventionalisierung der Abschreckung.

Sie wird von den USA seit 1952 kontinuierlich gefordert und von den Europäern ebenso traditionell nur widerwillig akzeptiert. Indem sie ständig auf eine Stärkung der konventionellen Komponente der Verteidigung in Westeuropa drängte, hat es die Reagan-Administration an der Weiterführung dieser Tradition nicht fehlen lassen. Aber auch die kooperative Komponente, die sich im Gipfeltreffen von Reykjavik und in dessen Vorfeld abzeichnete, ist, wie der Blick auf die Strukturen zeigt, weder neu noch überraschend.

Der Einsatz von Nuklearwaffen läßt sich nur dann wirklich vermeiden, wenn sie nicht vorhanden sind. Ihr völliger Abzug aus Mitteleuropa läßt sich nicht gegen die Sowjetunion, wohl aber einvernehmlich mit ihr bewerkstelligen. Ist er vollzogen, dann kann die Konfliktsituation in Mitteleuropa endgültig als stabilisiert angesehen werden. Lokal auftretende Konflikte könnten, sollten sie überhaupt entstehen, weitgehend risikofrei eingedämmt werden. Darüber hinaus würde die Konventionalisierung dafür sorgen, daß sich die militärische Kontrolle über politische Bewegungen verstärkte. Davon würde freilich in erster Linie die Sowjetunion profitieren, wobei sich das Ausmaß dieses Gewinnes mit Hilfe der Verhandlungen über Truppenstärken und vertrauensbildende Maßnahmen regulieren ließe.

Was die Struktur der amerikanischen Interessen und ihrer Verwirklichungsmöglichkeiten nahe-legt, wird von aktuellen Überlegungen noch verschärft. Europa hat längst aufgehört, im Zentrum des Ost-West-Konfliktes zu stehen, geschweige denn in dem der Welt. Für die Machtrivalität zwischen den Vereinigten Staaten und der Sowjetunion, die sich immer mehr in den Vordergrund des Ost-West-Konfliktes schiebt, befindet sich Europa an der Peripherie. Die Machtverteilung ist hier abgeschlossen, die Fronten sind klar, die Lage ist stabil. Hier läßt sich mit militärischer Machtentfaltung nichts mehr holen, höchstens etwas gefährden.

Der Konflikt zwischen Washington und Moskau wird nicht in Europa, sondern in der Dritten Welt entschieden werden. Sie spielt mit den Stichworten: Regionale Friedensinitiative, Menschenrechte, Terrorismus seit langem eine große Rolle in der Sowjetunion-Politik der Reagan-Administration. In diesem Konflikt läßt sich mit nuklearen Interkontinentalwaffen wenig ausrichten; im Gegenteil, sie verurteilen die beiden Supermächte fast zur Immobilität. Sollten sie in einen Interessenkonflikt in der Dritten Welt un-B mittelbar verwickelt werden, besteht stets die Gefahr der direkten Konfrontation mit Kernwaffen. Sie zu reduzieren, indem man die Kernwaffen reduziert, könnte die amerikanische Weltpolitik wieder beweglicher machen, bis hin zum lokalen Einsatz begrenzter militärischer Macht.

Da dies aber auch für die Sowjetunion gelten würde, vermindert sich die Attraktivität einer solchen Überlegung. Sie erhöht sich wieder beträchtlich, wenn man an die Stelle der beiderseitigen Reduzierung der Interkontinentalwaffen SDI setzt. Dieses Lieblingskind des Präsidenten intensiviert die Ambivalenz der amerikanischen Position in der Rüstungskontrolle erneut, zumal niemand weiß, welchem Zweck die Strategische Verteidigungsinitiative eigentlich gewidmet ist. Ursprünglich wollte der Präsident mit ihr alle Interkontinentalraketen obsolet werden lassen: Da sie am Verteidigungssystem scheitern würden, könnte man sie auch abschaffen. Aus dieser Begründung würde logisch folgen, daß die Raketen-verteidigung ihrerseits entfallen könnte, wenn die Interkontinentalraketen vorher abgeschafft würden. Genau dies hat Generalsekretär Gorbatschow in Reykjavik vorgeschlagen, und genau dies hat Präsident Reagan dort abgelehnt. Das läßt den Schluß zu, daß der amerikanische Präsident seine Vision einer atomraketenfreien Welt aufgegeben und statt dessen SDI die Aufgabe überwiesen hat, wenn nicht die USA insgesamt, so doch die amerikanischen Interkontinentalraketen gegen einen sowjetischen Angriff zu schützen. Eine solche Situation — vorausgesetzt, sie ließe sich über eine zureichend große Zeit aufrechterhalten — würde dann die amerikanische Weltpolitik von der selbstabschreckenden Wirkung der Nuklearwaffen befreien und ihr gegenüber der Sowjetunion einen beträchtlichen Vorteil zuweisen. Daß dieser Vorteil über lange Zeit hin aufrechterhalten werden kann, glaubt auch in Washington niemand, und so trägt Reagans Standpunkt gegenüber SDI dazu bei, daß die Ambivalenz der amerikanischen Position hier geradezu ins Schillern gerät.

Es wundert daher nicht, daß es auch nach drei Monaten noch schwerfällt, die Bedeutung von Reykjavik verläßlich und eindeutig abzuschätzen. Der Versuch wird weiter erschwert dadurch, daß die Motive des sowjetischen Generalsekretärs Gorbatschow sich nicht erkennen, sondern höchstens vermuten lassen. Unter ihnen dürfte die Absicht, die USA als Nein-Sager im Abrüstungsgeschäft hinzustellen und auf diese Weise von ihren europäischen Alliierten zu trennen, gewiß eine wichtige Rolle spielen. Sie ist auch nicht aussichtslos. Die undeutliche Position Washingtons, in der sich partielle, aber aktuelle Interessen genauso artikulieren können wie langfristig-strukturelle, scheint es dem Freund schwer und dem Gegner leicht zu machen. Sortiert man aber die Interessen ihrem Gewicht entsprechend, so erhalten diejenigen die Oberhand, die auf eine Verständigung mit der Sowjetunion im Nuklear-bereich drängen. Strukturinteressen wiegen schwerer als die konservative Lust an der Überlegenheit. Es paßt in dieses Bild, daß zu dem langsamen Rückzug aus den Positionen von Reykjavik nicht nur amerikanische Kritiker, sondern vor allem europäische Verbündete beigetragen haben.

II. Reykjavik oder die Rückkehr zur Routine?

Was in Reykjavik abgelaufen ist, läßt sich einigermaßen übersehen. Die USA kamen zu dem Treffen in der Absicht, weitreichende Vorschläge für die Abschaffung von Mittelstreckenraketen und die Verminderung von Kernwaffentests zu diskutieren und dabei wichtige Impulse für entsprechende Abkommen zu geben. Die Sowjetunion kam statt dessen mit einem geschlossenen Paket, das nicht nur eine Beseitigung der Mittelstreckenraketen enthielt, sondern auch die früher in Reden und Briefen ausgetauschten Vorstellungen über die Verminderung oder Abschaffung von Nuklearwaffen aufnahm, und es verband mit der Forderung nach strikter Einhaltung des ABM-Vertrages für zehn bis fünfzehn Jahre. In den Diskussionen wurden beträchtliche Einigungen in Teilbereichen erzielt, nämlich über die — Beseitigung aller Mittelstreckenraketen in Europa, wobei die Sowjetunion Mittelstreckensysteme mit 100 Sprengköpfen in Asien und die Vereinigten Staaten mit 100 in den USA behalten würden; — Reduzierung aller strategischen Waffen — der land-und seegestützten Raketen, der Bomber und luftgestützten Marschflugkörper — in den kommenden fünf Jahren um 50 Prozent; — Beseitigung aller ballistischen Raketen in der sich daran anschließenden zweiten Fünfjahresperiode; — Verbesserung der Verifikationsmethoden für den Schwellenvertrag und den Vertrag über die friedliche Nutzung von Kernenergie; — Beibehaltung des ABM-Vertrages für weitere zehn Jahre.

Eine Zeitlang war unklar, ob Reagan der Gorbatschowschen Forderung zugestimmt hatte, in der zweiten Fünfjahresperiode alle strategischen Waffen (oder gar alle Kernwaffen) abzuschaffen und nicht nur die ballistischen. Nach der autoritativen Erklärung von Außenminister Shultz vom 19. Oktober 1986 kann diese Frage als geklärt gelten: Reagan hat lediglich die Abschaffung aller ballistischen Raketen in dieser zweiten Periode angeboten

Daß es in Reykjavik nicht zu einer Einigung über die Inhalte kam, lag an zwei sowjetischen Forderungen. Die erste betraf die Auslegung des ABM-Vertrages und die Forderung, Forschungen und Tests für ein Raketenabwehrsystem im Weltraum auf das Laboratorium zu beschränken. Die zweite Forderung schnürte alle Teilbereiche und die darin enthaltenen sowjetischen Konzessionen zu einem Paket zusammen, das von der amerikanischen Seite nur angenommen oder abgelehnt werden konnte. An diesem „Alles oder Nichts“ der sowjetischen Forderung ist die Gipfelkonferenz von Reykjavik letztlich gescheitert, so daß die Teileinigungen wirkungslos blieben. Daraus resultierten Zorn und Enttäuschung, die die ersten Stunden und den ersten Tag nach der Gipfelkonferenz beherrschten. Sie machten aber alsbald einer optimistischeren Einschätzung Platz, die nicht nur beabsichtigte, die Frustration in den westlichen Öffentlichkeiten zu vermindern. Sie reflektierte vielmehr die Einsicht, daß durch Reykjavik erstmals Einigungen über den Abbau nuklearer Waffen in greifbare Nähe gerückt worden waren. Verglichen mit den Rüstungskontrollabkommen, in denen lediglich gemeinsame Obergrenzen verabredet werden konnten, war dies ein fundamentaler Fortschritt. Er hatte das Einverständnis beider Seiten offenbart, die Mittelstrekkensysteme in Europa total und bei den strategischen Nuklearwaffen zunächst die Hälfte zu beseitigen. Dies war, wie der Senior der amerikanischen Publizisten James Reston bemerkt, der größte Fortschritt „seit der Erfindung der Atombombe“

Außenminister Shultz hat festgestellt, daß dort „viel mehr erreicht worden ist, als man je für möglich gehalten hätte“ Das alte Ziel der Reagan-Administration, nämlich die von den Kernwaffen verursachte Gefahr zu reduzieren und schließlich ganz abzuschaffen, sei in Sichtweite geraten. Das war nicht übertrieben, wenn man bedenkt, daß Generalsekretär Gorbatschow nach seinen eigenen Worten innerhalb von zwei Minuten alle Vereinbarungen unterschrieben hätte, wenn Präsident Reagan dem Verzicht auf Weltraumtests zugestimmt hätte. Aber auch ohne diese formelle Übereinkunft bleibt viel zu loben übrig. Die Supermächte haben sich in Reykjavik endlich dazu entschlossen, den so zahlreich an sie herangetragenen Forderungen nachzugeben, die Mittelstreckenraketen abzuschaffen und die strategischen Offensivsysteme um die Hälfte zu kürzen. Der stets erklärte Sinn des Doppelbeschlusses der NATO von 1979 wäre in Reykjavik fast verwirklicht worden.

Von einem solchen Fortschritt können die beiden Supermächte nicht mehr abrücken. Generalsekretär Gorbatschow wird es schwerfallen zu erklären, warum er einen so greifbar nahen Erfolg an SDI-Tests scheitern ließ, die zumindest mit den Mittelstreckenraketen keinen Zusammenhang aufweisen. Beide Seiten haben denn auch erklärt, daß die Teileinigungen von Reykjavik den Ausgangspunkt der Rüstungskontrollverhandlungen in Genf abgeben sollen, die, nach einer Zwischenrunde im Dezember, seit Anfang Januar fortgesetzt werden. Ihnen hat Reykjavik eine neue Richtung und eine neue „Lage“ vorgegeben. Auch das ist ganz neu. Die Staatschefs haben sozusagen ein Ergebnis schon ratifiziert, das die Unterhändler noch gar nicht erreicht hatten. Sie brauchen es jetzt nur mit den notwendigen Details auszustatten, aber sie können die Waffenplafonds kaum mehr verändern. Natürlich wäre es besser gewesen, wenn die beiden Staatschefs in Reykjavik ihre Unterschrift unter diese Übereinkünfte gesetzt und sie damit auch schriftlich fixiert hätten. Immerhin aber haben sie gezeigt, daß Abkommen mit diesen Zahlen von ihnen nicht nur für wünschbar, sondern auch für möglich gehalten werden. Vor Reykjavik war, beispielsweise, im Mittelstreckenbereich nur von der Verkürzung auf 140 Sprengköpfe auf beiden Seiten gesprochen worden. War dies schon ein beachtlicher Fortschritt, so wurde er durch Reykjavik noch bei weitem übertroffen. Beide Supermächte sind der Meinung, daß sie ohne eine einzige Mittelstreckenrakete in Europa auskommen können. Sie sind darüber hinaus der Meinung, daß sie innerhalb von zehn Jahren auch keine ballistischen Atomraketen mehr brauchen werden. Sie haben damit auf der Konferenz von Reykjavik das reale Bild einer Welt entworfen, in der es erheblich weniger Nuklearwaffen geben wird. Davon werden auch die Kurzstreckenraketen in Europa betroffen. Gorbatschow hat sich schon in Reykjavik bereit erklärt, sie einzufrieren und später auch wegzuverhandeln.

Mit solchen Verabredungen wird die Welt nach Reykjavik nicht mehr die gleiche sein wie davor.

Die Gipfelkonferenz hat den Ost-West-Konflikt verändert, indem sie gezeigt hat, daß die Rüstungsdynamik sehr wohl unterbrochen werden kann. Freilich würde es das erste Mal sein, daß Rüstungskontrolle in Abrüstung umschlüge. Insofern ist Skepsis angebracht. Auch ist in Reykjavik ja nichts beschlossen, ist Beschließbares nur umrissen worden. Andererseits aber muß gelten, daß sich die Supermächte niemals auf die Zahlen von Reykjavik eingelassen hätten, wenn sie nicht auch bereit wären, sie einzuhalten. Unter diesem Aspekt wird man Reykjavik am ehesten mit dem Treffen zwischen Präsident Ford und Generalsekretär Breschnew 1974 in Wladiwostok vergleichen können. Auch dort sind Waffenplafonds verabredet, aber nicht vertraglich beschlossen worden. Dennoch haben sie die Rüstungskontrollverhandlungen über den SALT-II-Vertrag eingeleitet. Es kann also sehr wohl richtig sein, was in Washington und in Moskau gleichermaßen behauptet wird, nämlich daß Reykjavik der Ausgangspunkt für die laufenden Verhandlungen in Genf sein wird.

Allerdings ist durch die Nicht-Unterzeichnung eines Vertrages in Reykjavik etwas verloren gegangen, was die Amerikaner das „momentum“ nennen, also die Eigendynamik einer Bewegung in einer guten Konstellation. Bismarck hatte dies bekanntlich mit dem Mantel Gottes verglichen, der durch die Geschichte weht und vom Staatsmann im richtigen Moment ergriffen werden muß. Es kann also sehr wohl sein, daß der „Moment von Reykjavik“ nicht mehr wiederkehrt. Diesen Vorwurf hat Garbatschow sofort nach Reykjavik dem amerikanischen Präsidenten gemacht, hat ihn seitdem unaufhörlich wiederholt. Er muß sich seinerseits fragen lassen, ob er nicht mehr erreicht hätte, wenn er weniger verlangt haben würde. Die Null-Lösung bei den nuklearen Mittelstreckenwaffen (INF) und die Halbierung aller strategischen Offensivwaffen innerhalb der nächsten fünf Jahre hätte Präsident Reagan wahrscheinlich anstandslos unterschrieben. Beide Abkommen hätten die atomaren Waffenarsenale erheblich verringert, den Weg zu weiterer Abrüstung deutlich beschritten und damit die Welt wesentlich sicherer gemacht. Statt dessen hat der sowjetische Generalsekretär auf „Alles oder Nichts“ gesetzt, und die Welt hat verloren.

Der Schwungverlust von Reykjavik gab denjenigen Zeit zum Eingreifen und Nachhaken, die von der Reykjavik-Formel am meisten betroffen worden wären. Das sind nicht konservative Amerikaner oder Militärs; es sind die Europäer. Sie müssen eigentlich dem sowjetischen Generalsekretär Gorbatschow dafür dankbar sein, daß er mit seinem Poker in Reykjavik eine Einigung verhindert und damit die beiden Elemente bewahrt hat, auf die sich die europäische Sicherheit vornehmlich gründet: die Ankoppelung des amerikanischen Nuklearpotentials und die Aufrechterhaltung der erweiterten Abschreckung.

Man wird also in erster Linie die Handschrift der Europäer erkennen können, wenn man die Veränderungen registriert, die Reagan seit Reykjavik vorgenommen hat. Die westeuropäischen Verbündeten Washingtons waren, gelinde gesagt, entsetzt über die Verhandlungen auf Island. Sie beklagten die erneute Manifestation des amerikanischen Unilateralismus, mit dem Präsident Reagan, ohne die Europäer zu fragen, über ihre Sicherheitsinteressen entschied. Sie kritisierten die Null-Lösung im INF-Bereich, die mit den amerikanischen Mittelstreckenraketen auch die Ankoppelung des amerikanischen Nuklear-schirms beseitigen würde. Der Sowjetunion blieben demgegenüber nicht nur die Mittelstreckenraketen kürzerer Reichweite, sondern auch noch ihre konventionelle Überlegenheit.

Westeuropa hätte sich vielleicht mit den vor Reykjavik diskutierten 140 INF-Sprengköpfen auf beiden Seiten angefreundet, da es ohnehin nicht um Kapazitäten, sondern um Symbole geht. Gerade deshalb wird die Null-Lösung in Europa, die alle amerikanischen Mittelstreckenraketen (wenngleich nicht die Forward Based Systems) aus Europa entfernt, für so bedrohlich angesehen.

Bei den atomaren Langstreckenraketen aber geht es nicht nur um Symbole, hier geht es um Substanz. In westeuropäischen Augen beruht die Sicherheit Europas hauptsächlich auf der wechselseitigen Abschreckung der beiden Supermächte, die auf amerikanischer Seite vornehmlich durch die land-bzw.seegestützten ballistischen Raketen gewährleistet wird. Sie halten die Sowjetunion in Schach, sie kompensieren gegebenenfalls die abgezogenen Mittelstreckenraketen. Mit ihnen hat — so sehen es die Europäer — Präsident Reagan in Reykjavik das gesamte System der erweiterten Abschreckung weggegeben, von dem die Sicherheit Westeuropas lebt.

Richard Perle, Assistant Secretary of Defense und einer der maßgebenden konservativen Architekten der amerikanischen Rüstungskontrollpolitik, hat die Europäer vergeblich zu trösten versucht: Amerikanische Bomber mit ihren luft-gestützten und Schiffe mit ihren seegestützten Cruise Missiles könnten die gleiche Abschrekkungsfunktion ausüben wie die land-und seegestützten Fernraketen. Das wird in Europa zwar gern gehört, aber kaum geglaubt. Es fehlt eben die für die Europäer zentrale Ankopplung des amerikanischen Mutterlandes an den Schutz Westeuropas, die allein durch die strategische Nuklearmacht der Vereinigten Staaten gewährleistet würde.

Die Europäer vermuten zu Recht hinter Reykjavik das seit Ende der fünfziger Jahre erkennbare amerikanische Interesse, diese automatische Ankoppelung zu vermeiden. Der die NATO seit 1960 belastende Streit um die Verläßlichkeit des amerikanischen Nuklearschirms wurde durch die Vereinbarungen von Reykjavik neu aufgewärmt

Andererseits müssen sich die Europäer sagen lassen, daß sie die Amerikaner später auch die Reagan-Administration, ständig zu Abkommen im Mittelstreckenbereich gedrängt haben. Jetzt, wo die USA entsprechende Abkommen zu schließen bereit sind, stoßen sie wieder auf die europäische Kritik. Das Phänomen ist nicht neu; man hat es bisher mit der Neigung der Europäer zum Nörgeln erklärt. Reykjavik zeigt, daß die Gründe sehr viel ernsterer Natur sind. Weder die NATO, noch die europäischen Politiker haben sich offenbar jemals darum gekümmert, wie sich die von ihnen geforderte Abrüstung mit ihrer Sicherheit vereinbaren ließe. Es gibt in der Tat, wie die amerikanische Kommentatorin Flora Lewis hervorgehoben hat keinerlei Pläne für die Umsetzung der von der NATO seit 1981 ständig geforderten Null-Lösung in Sicherheitsstrukturen. Die Westeuropäer und die NATO haben zwar stets von der Rüstungskontrolle und der Abrüstung gesprochen, sich aber offensichtlich niemals um sie gekümmert. Auch dies wird sich nach Reykjavik ändern müssen. Nachdem Abrüstung eine reale Zukunftsperspektive geworden ist, werden sich die westeuropäischen Militärs und Sicherheitseliten endlich mit der Frage beschäftigen müssen, wie denn „Sicherheit mit weniger Waffen“ realistisch zu bewerkstelligen sei.

Zunächst haben die Europäer einen einfacheren, den traditionellen Weg nämlich gewählt, indem sie die USA zum Rückzug aus den Positionen von Reykjavik veranlaßten. Ende Oktober 1986 hatten die Vereinigten Staaten ihrer Verhandlungsdelegation in Genf neue Direktiven zugestellt. Sie stützten sich auf die Vereinbarungen von Island und sahen die Beseitigung aller ballistischen Nuklearraketen innerhalb von zehn Jahren und aller Mittelstreckenraketen in Europa unmittelbar vor Die Sowjetunion ihrerseits legte ihre Vorschläge dazu Anfang November vor. Als sich die beiden Außenminister am 5. und 6. November in Wien trafen, war die Basis der Gemeinsamkeit schon sehr viel schmaler geworden. Die Sowjetunion ritt auf dem alten Argument herum, daß Reagan in Reykjavik die Abschaffung aller nuklearen Offensivwaffen und nicht nur die der ballistischen Raketen innerhalb der kommenden zehn Jahre versprochen habe, jetzt also einen Rückzieher mache. Die USA kritisierten Moskau dafür, daß es vom Verzicht auf SDI nicht nur die Reduzierung der strategischen Rüstungen, sondern auch die der Mittelstreckenraketen abhängig mache. Auf beiden Seiten war damit schon der Rückzug in die Routine gegenseitiger Vorwürfe erkennbar, der Versuch, die Schuld am Scheitern von Reykjavik einseitig zu verteilen und damit die Öffentlichkeit zu beeindrucken. Bei dem propagandistischen Nachhut-Gefecht der beiden Supermächte in Wien blieb es indes nicht. Knapp eine Woche danach kam der Flankenangriff der Europäer. Die britische Premierministerin Margaret Thatcher reiste Mitte November nach Washington und überzeugte den amerikanischen Präsidenten davon, daß er in Reykjavik zu weit gegangen sei. Sie wischte die Abschaffung aller ballistischen Nuklearraketen und die Null-Lösung in Europa vom Tisch, ließ lediglich die Halbierung der strategischen Kernwaffen intakt, band sie allerdings gleichzeitig an die Beseitigung der konventionellen Überlegenheit der Sowjetunion Am 17. November räumte Außenminister Shultz ein, daß eine kleine Streitmacht ballistischer Raketen als „Versicherung“ sinnvoll sein könnte Einen Tag später, in seiner Rede im Washingtoner Hilton-Hotel vom 18. November, trat der Präsident selbst den Rückzug aus Reykjavik an. Er ließ die Bereitschaft zur Abschaffung aller ballistischen Raketen in zehn Jahren fallen, ersetzte die Null-Lösung im INF-Bereich durch die Forderung nach drastischen Kürzungen, betonte statt dessen die Notwendigkeit der Berücksichtigung konventioneller Ungleichgewichte und hoffte auf die Abschaffung aller chemischen Waffen Das war kein „Mißverständnis“ mehr, das war eindeutig. Die Europäer, der amerikanische Generalstab, die Konservativen in den USA und der NATO-Oberbefehlshaber hatten Reagans Rückzug von Reykjavik in die Routine erzwungen. Der Weg zu Rüstungsabkommen mit der Sowjetunion werde nun wieder zäh und lang sein, sagte der amerikanische Außenminister Shultz in seiner Grundsatzrede vom 17. November 1986 Aber er rückte in dieser Rede weder von der Null-Lösung bei den Mittelstreckenraketen noch von der Aufgabe aller ballistischen Fernraketen ab. Er kündigte Verhandlungen über ein Gleichgewicht der Short Range Intermediate Nuclear Forces = Nukleare Mittelstreckenraketen mit kurzer Reichweite (SRINF), später über deren Verringerung an Er pries die Vorzüge einer „kernwaffengeminderten“ Welt (less nuclear world) an, in der Bomber und Marschflugkörper eine gesicherte Zweitschlagskapazität mit der Möglichkeit zur Korrektur von Fehlentscheidungen böten. Eine insgesamt verringerte nukleare Kapazität, kombiniert mit erhöhter konventioneller Stärke, würde eine Lage schaffen, in der der Westen seine eigentlichen Vorzüge, die wirtschaftliche und politische Dynamik, voll ausspielen könnte

Wenn also die NATO-Verteidigungsminister auf ihrer Herbsttagung 1986 nicht mehr von der Null-Lösung und von der Beseitigung aller ballistischen Raketen sprachen, so muß dies mit Vorsicht interpretiert werden. Einerseits haben die USA hier den Einwänden ihrer europäischen Verbündeten nachgegeben, die nicht ohne Ersatz die amerikanischen Mittelstreckenraketen und die erweiterte Abschreckung verlieren wollen. Andererseits haben die Vereinigten Staaten aber ihre Strukturinteressen beibehalten, die sie auf einen Abbau der Atomraketen mit ihren Präemptionszwängen ebenso verweisen wie auf eine Sicherung Westeuropas gegen einen sowjetischen Angriff.

Haben die Vereinigten Staaten also den Weg zurück von Reykjavik in die Routine der Rüstungskontrollverhandlungen in Genf angetreten, so wird dies doch nicht mehr die Routine von gestern sein. In Reykjavik haben sich amerikanisch-sowjetische Interessenidentitäten gezeigt, die über das übliche Interesse, mit Hilfe von Rüstungskontrollvorschlägen die Öffentlichkeit zu manipulieren und die jeweilige Allianz zu managen, weit hinausgehen. Die strategischen Nuklearwaffen sind ausgereizt; ihre weitere Vermehrung bringt weder Stabilität noch politischen Gewinn. Eine Verringerung hingegen brächte beides, und in amerikanischen Augen besonders dann, wenn gleichzeitig die Umschichtung von land-und seegestützten Raketen auf Marschflugkörper und Bomber gelänge. Die Bedrohung durch Erstschläge wäre beseitigt, die Sicherheit durch Zweitschläge gewährleistet. Dies ist, so scheint es, die amerikanische Formel für die Zukunft des amerikanisch-sowjetischen Verhältnisses. Angesichts dessen werden sich die Europäer endlich aufraffen müssen, über ihre Sicherheitsgewährleistung in einem Szenario verringerter Nuklearrüstungen nachzudenken. Das Lösungsstichwort kann sicherlich nicht weitere Konventionalisierung heißen, es kann aber auch nicht ausschließlich in der amerikanischen Nukleargarantie gesucht werden. Die Möglichkeit realer Abrüstung zwingt dazu, sich ernsthaft damit zu beschäftigen, Sicherheit durch Abrüstung zu studieren. Dieses Defizit westlicher Politik müßte schleunigst angegangen werden, wobei auch zu diskutieren wäre, ob Sicherheit nicht nur durch militärische, sondern auch durch politische Lösungen — beispielsweise die westeuropäische Einigung — zu gewährleisten ist. Reykjavik erzwingt auch eine Revolution der bisherigen Sicherheitsdebatten.

III. Reykjavik und die regionale Sicherheit

In Reykjavik ist keineswegs nur über die Nuklearrüstung und SDI gesprochen worden. Sie enthalten nur die militärischen Bedingungen der die Supermächte eigentlich interessierenden weltpolitischen Probleme. Außenminister Shultz nannte in seinem Bericht über Reykjavik die Rüstungskontrolle an vierter Stelle, zog ihr die Diskussion um die Menschenrechte, um die bilaterale Ko-

Operation und um die Lösung regionaler Probleme vor Diese Anordnung verrät auch eine Rangordnung. Während Europa nur zu gerne die Blicke der beiden Supermächte auf sich ziehen will, richten sie sich in erster Linie gegeneinander und dann auf die Machtverteilung in der Welt. Dementsprechend fand um die regionalen Konflikte in Reykjavik eine „heftige Diskussion“ statt Aber es gab auch kooperative Annäherungen. Schon Anfang August, also noch vor Reykjavik, hatten beide Seiten 13 Austauschprogramme im Kultur-und Wissenschaftsbereich vereinbart, mehr als es zu Zeiten Präsident Carters gegeben hatte Seit dem Sommer subventionieren die USA amerikanische Weizenverkäufe in die Sowjetunion. In Reykjavik wurde verabredet, Verhandlungen zu beginnen über die Nichtweiterverbreitung von Kernwaffen sowie über nukleare Sicherheit, über Such-und Rettungsaktionen auf den Weltmeeren, über die Zusammenarbeit in der Raumfahrt und bei der Bekämpfung des Terrorismus.

Natürlich ging es auch um stärker antagonistische Themen, allen voran die Menschenrechte. Dabei spielte die Emigration von Juden aus der Sowjetunion ihre nun schon traditionelle, große Rolle. In Washington ist mit Aufmerksamkeit beachtet worden, daß es im Sommer zu israelisch-sowjetischen Gesprächen über die Wiederaufnahme diplomatischer Beziehungen kam. Sie blieben ohne Erfolg, machten aber offensichtlich einen Anfang. Wenig beachtet blieben in Reykjavik die wechselseitigen Ausweisungen von Diplomaten, die sich im Sommer vollzogen und seitens der Sowjetunion durch den Abzug aller sowjetischen Hilfskräfte für die amerikanische Botschaft in Moskau angereichert wurden.

Von größerem Interesse im bilateralen Bereich ist die Diskussion um die Einrichtung von Zentren zur Verringerung des Risikos eines Atomkrieges. Die Idee stammte ursprünglich von den Senatoren Nunn und Warner, beide Mitglieder des Streitkräfte-Ausschusses des amerikanischen Senates. Sie wurde in Moskau mit größerer Bereitschaft aufgenommen als in der Administration in Washington, die sich nur zögernd der Idee anschloß. Eine erste Verhandlungsrunde fand im Mai 1986, die zweite im August statt. Sie beschäftigten sich mit der Aufgabenstellung für diese Zentren, die in der Information über Raketen-tests und Manöver der strategischen Streitkräfte bestehen könnte. Vorab sollen die Zentren in Moskau und in Washington von jeweils der anderen Seite, später sollen sie mit gemischten Besetzungen beschickt werden. Das Vorbild der erfolgreichen Verhandlungen über vertrauensbildende Maßnahmen in Stockholm ist hier unverkennbar, ebenso aber auch das vorrangige Interesse, das Risiko eines nuklearen Zufallskrieges so klein wie möglich zu halten. Nur auf dieser Voraussetzung kann der Kampf um Macht und Einfluß in den Regionen der Dritten Welt in aller Härte geführt werden.

Dieser Machtkampf beherrscht das Zentrum des amerikanisch-sowjetischen Verhältnisses. Nur eine solche Interpretation kann die amerikanische Position langfristig erklären. Faßt man den amerikanisch-sowjetischen Konflikt nach wie vor als Teil des alten Ost-West-Konfliktes auf, so ist zwar eine Entspannung möglich, nicht aber die Rüstungskontrolle und schon gar nicht die Abrüstung. Denn dieser Konflikt dreht sich vornehmlich um Zentraleuropa und um die seitens der Sowjetunion nur mit militärischer Gewalt aufrechterhaltene Machtverteilung. Die Spannungen lassen sich vermindern, nicht aber die Rüstung.

Faßt man den Ost-West-Konflikt dagegen als ideologischen Konflikt auf, wie es der neue sowjetische Generalsekretär Gorbatschow einzuführen versucht, dann könnten sich beide Seiten auf Rüstungskontrolle und Abrüstung einlassen, nicht aber auf die Entspannung. Das erlaubt Aufschlüsse auf die sowjetische Position. Sie ist — vielleicht — zur Abrüstung bereit, aber nicht zuletzt deswegen, weil sie sich davon eine Verbesserung ihrer Ausgangsposition im politischen Konflikt um Europa und um die Dritte Welt verspricht. Dieser Interpretation entspricht eine amerikanische Variante, die den Konflikt mit der Sowjetunion vorrangig als bilateralen Machtkonflikt ansieht. Er ermöglicht — erzwingt sogar gegebenenfalls — die Entspannung, die den Nuklearkrieg vermeidet. Dazu kann und muß auch die Rüstungskontrolle, eventuell die Abrüstung beitragen. Sie findet allerdings dort ihre Grenze, wo militärische Macht sich in politische Macht übersetzen läßt, die in der Auseinandersetzung um die Einflußverteilung in der Dritten Welt entscheidend ist. Deswegen legen die USA (und vielleicht auch die Sowjetunion) den Akzent auf die nukleare Abrüstung und klammern ihre konventionellen Rüstungen, vor allem im maritimen Bereich, aus

Die regionale Auseinandersetzung zu gewinnen ist das erklärte Ziel der Reagan-Administration — wie das aller ihrer Vorgänger Die Reagan-Administration hat das Erreichen dieses Ziels einer Mischung aus militärisch unterstütztem Druck auf die Sowjetunion einerseits, Verständigung mit ihr andererseits anvertraut. Dafür hat sich der Name der „Reagan-Doktrin“ eingebürgert. Ihre Teilstücke sind von Präsident Reagan im März 1986 zusammenhängend dargestellt worden Ihre Grundthese lautet, daß die Sowjetunion, die während der siebziger Jahre ihren Einfluß in der Welt aufgrund der amerikanischen Schwächeposition stark erweitern konnte, sich nunmehr wieder auf dem Rückzug befindet. Sie scheitert an dem weltweit anzutreffenden Interesse an Demokratisierung, Selbstbestimmung und an der Verwirklichung der Menschenrechte. Die Vereinigten Staaten sehen ihre Aufgabe darin, diese demokratischen Revolutionen zu unterstützen und dabei den Einfluß der Sowjetunion zu brechen, der sich auf die nationalen Befreiungskämpfe verließ. Nachdem die Phase der Entkolonialisierung abgeschlossen ist, wollen die Vereinigten Staaten versuchen, den mit ihr eingedrungenen sowjetischen Einfluß in der Dritten Welt wieder zu eliminieren. Sie wollen „beweisen, daß kommunistische Revolutionen rückgängig gemacht werden können — und damit einen entscheidenden Mythos schaffen. Wenn dies nämlich gelingt, argumentiert die Reagan-Doktrin, wird der Boden unter dem Kreml erschüttert werden, wie schon lange nicht mehr“

Die Reagan-Doktrin verbindet hier zwei Ziele, die eigentlich streng getrennt verfolgt werden müßten, sollten sie Erfolg haben: die Förderung der demokratischen Revolution und der Menschenrechte einerseits, die Verdrängung des sowjetischen Einflusses andererseits. Die Förderung der machtpolitischen Interessen der Vereinigten Staaten ist nur auf den ersten Blick identisch mit der Durchsetzung demokratischer Herrschaftssysteme in der Welt; beim zweiten Blick zeigt sich, daß die erfolgreiche Demokratisierung ein Maß von Selbstbestimmung verlangt, das zwar die Erweiterung amerikanischen Einflusses nicht ausschließt, mit ihr aber dann kollidiert, wenn sie als Machtpolitik vorangetrieben wird. Diese Trennungslinie zu definieren und in der politischen Praxis durchzuhalten, ist nicht einfach Es ist aber wichtig, weil es andernfalls zu den Stellvertreterkriegen der Supermächte kommt, wie sie beispielsweise in Afghanistan und Nicaragua schon auftreten. Im Nahen Osten begegnen sich die beiden Supermächte auf Schritt und Tritt, wovon die Positionen Israels und Syriens profitieren. Der amerikanische Versuch, Kontakte zum Iran aufzunehmen, gehört in dieses Bild — weniger allerdings die damit verbundenen bizarren Geldströme von der Schweiz zu den nicaraguanischen Contras. Der Iran wurde zu Zeiten des Schahs von den Vereinigten Staaten stets als regionale Vormacht am Persischen Golf angesehen, die auch als Bollwerk gegen die Ausweitung des sowjetischen Einflusses diente. Es ist daher nur logisch, wenn die Vereinigten Staaten prüfen, ob der Iran nach der Herrschaft Chomeinis in die gleiche Rolle wieder eintreten könnte.

Die Sowjetunion ihrerseits hat mit dem Amtsantritt Gorbatschows die Stagnation einer überalterten Führung überwunden, vor allem ihre Politik in der Dritten Welt aktiviert. Die Situation ähnelt der in der zweiten Hälfte der fünfziger Jahre, als die Sowjetunion nach dem Tode Stalins die werbende Kraft der kommunistischen Ideologie in der Dritten Welt einzusetzen versuchte. Wie Chruschtschow 1955 hat Gorbatschow 1986 Asien, und hier vor allem Indien, zum Adressaten seiner neuen Außenpolitik gewählt. Er versteht die Sowjetunion, deren Territorium zum größten Teil zu Asien gehört, als wichtige asiatisch-pazifische Macht Dabei produziert Gorbatschow eine außerordentlich moderne Interpretation von Außenpolitik, der er die Aufgabe stellte, „so manche althergebrachten Modelle des politischen Denkens und der Anschauungen über Krieg und Frieden, über die Verteidigung, über die Sicherheit einzelner Staaten und die internationale Sicherheit von Grund aus zu verändern“

Den Worten sind Taten schon gefolgt. Die Sowjetunion hat nicht nur ihre Pazifik-Flotte ausgebaut; sie hat begonnen, diplomatische Beziehungen zu den neuen Inselstaaten im Pazifik wie Vanuatu (den früheren Neuen Hebriden) aufzunehmen und Fischereirechte in anderen, wie beispielsweise Kiribati (den früheren Gilbert-Inseln) zu erwerben. Sie stützt sich dabei auf den Ärger dieser Staaten über die Zahlungsverweigerung amerikanischer Fischereiunternehmen, und sie nützt auch die zunehmend scharfe Kritik an der Anwesenheit amerikanischer nuklearwaffenbestückter Schiffe im Pazifik. Sie hat schon den ANZUS-Pakt zwischen Neuseeland, Australien und den USA praktisch ruiniert.

Im Gegensatz dazu versucht die Sowjetunion unter Gorbatschow, außerordentlich weich und flexibel vorzugehen, sogar die Beziehungen zu den ASEAN-Staaten zu pflegen und die zu China weiter zu verbessern. Dem stehen noch immer die drei von Peking genannten Vorbedingungen im Wege: Abzug aus Afghanistan und aus der Äußeren Mongolei sowie die Beendigung der Unterstützung Vietnams in Kamputschea. Der vierwö- chige China-Besuch des Ersten Stellvertretenden Ministerpräsidenten der UdSSR Archipow im Sommer 1986 und die Ankündigung eines ersten, wenn auch geringen Truppenrückzugs aus Afghanistan durch Gorbatschow zeigen den Aufwand, den Moskau auf China verwendet. Dabei muß es natürlich das Gleichgewicht zu Indien berücksichtigen, das der sowjetische Generalsekretär im November 1986 besucht hat. Hier versuchte er wiederum, seinen Plan einer Asiatischen Sicherheitskonferenz im Stile Helsinkis zu befördern und das Interesse der asiatischen Staaten, den Indischen Ozean von der Supermachtpräsenz freizuhalten, für seine Zwecke auszunutzen. Natürlich hofft er auf eine weitere Revolution auf den Philippinen, die den USA ihre Militärbasen dort kosten würde, während die Sowjetunion die ihren in Südvietnam behalten würde. Die politische Offensive der Sowjetunion erstreckt sich auch auf Afrika und Zentralamerika, wo sie die Kritik an der Apartheidspolitik der Südafrikanischen Republik bzw. die an den sozialen Zuständen auszunutzen versucht.

Mit dem einschränkenden Hinweis auf gewisse regionale Schwerpunktsetzungen kann man durchaus davon sprechen, daß die Sowjetunion unter Gorbatschow alles daran setzt, Reagans These von ihrem historischen Rückzug aus der Weltpolitik zu widerlegen. Sie bemüht sich auf breiter Front um Einflußgewinn und wird dabei wohl auch vor unkonventionellen, unerwarteten Maßnahmen nicht zurückschrecken. Eine einschlägige Andeutung davon findet sich in dem Vorschlag Gorbatschows in Reykjavik, die Vereinigten Staaten sollen der Sowjetunion UKW-Sender in den Vereinigten Staaten zur Ausstrahlung politischer Sendungen zur Verfügung stellen; im Gegenzug würde die Sowjetunion auf die Störung der „Stimme Amerikas“ verzichten. Gorbatschow hat sich auch beklagt, daß es in den USA nicht genügend sowjetische Zeitungen und Filme gebe und daß Sendungen mit sowjetischem PR-Material von den amerikanischen Zollbehörden beschlagnahmt würden.

Die Auseinandersetzung über die Verteilung von Macht und Einfluß in der Welt ist also in vollem Gang; sie ist durch Reykjavik nicht beeinflußt worden. Zwar wurde auf dem Island-Gipfel darüber auch gesprochen, naturgemäß in einem polemisch-offensiven Stil. Besonders in bezug auf das sowjetische Verhalten in Afghanistan und Zentralamerika ließen es die Amerikaner nicht an der notwendigen Klarheit fehlen. Aber es gab andererseits, wie Außenminister Shultz hervorhebt, eine Übereinstimmung; nämlich hinsichtlich der „Nützlichkeit des weiteren Austausches von Ansichten über diese Dinge und des Versuches, wo immer es geht, einen gemeinsamen Grund zu finden“ Diese Gespräche werden nicht nur auf der höchsten Ebene der Staatschefs geführt. Sie finden seit 1985 regelmäßig auf einer gehobenen Ministerialebene statt.

Diese amerikanisch-sowjetischen Gespräche über die Krisenherde in der Dritten Welt stehen nur scheinbar im Widerspruch zu der globalen Machtrivalität der beiden Supermächte. Sie dienen vielmehr dazu, diese Rivalität abzusichern gegen die Gefahr, über das Verhalten von Drittstaaten in eine direkte militärische Konfrontation zu geraten. Ihr Zweck ist es, wie ein Berater Präsident Reagens es bezeichnet hat, „sicherzustellen, daß jeder von uns beiden so viel von der Haltung des anderen versteht, daß wir Vorsichtsmaßnahmen ergreifen können, um uns nicht gegenseitig in die Haare zu geraten, und daß wir dafür sorgen können, daß wir nicht unbeabsichtigt die Gefahr einer Konfrontation zwischen uns schaffen oder verschärfen“ Dieses gemeinsame Interesse ist in Reykjavik erneut besprochen und laut Shultz bekräftigt worden.

Die in Reykjavik bestärkte Gemeinsamkeit hinsichtlich des Konfrontationsverzichtes in der Dritten Welt, die Abschirmung der globalen Machtrivalität gegen ihr Abgleiten in einen Krieg, womöglich noch in einen Nuklearkrieg, schließt den Kreis der Interessen, den die Supermächte in Reykjavik abgeschritten sind. Sie haben ihre Übereinkommen nicht beschließen, wohl aber besprechen und offensichtlich auch vertiefen können. Deren Zentrum liegt in der Vermeidung des Nuklearkrieges und in der Bereitschaft, neue Wege für dieses Ziel zu beschreiten, auch wenn die Alliierten das ihnen so lieb und vertraut gewordene Instrumentarium von Strategien und Waffensystemen nicht mehr wiedererkennen werden.

Westeuropa tut gut daran, sich darauf einzustellen. In ihrem bilateralen Machtkonflikt rangiert das Ziel der Vermeidung des Nuklearkrieges hoch vor allen anderen Zielen der beiden Supermächte. Sie werden sich weder von ihren europäischen Alliierten noch von den Ländern der Dritten Welt in eine militärische Auseinandersetzung reißen lassen, von der sie selbst betroffen würden. Es scheint, als würden die Formeln von Reykjavik einen ähnlichen Stellenwert erhalten wie seinerzeit die Entwicklung der Strategie der flexiblen Antwort. Unter den veränderten Rüstungsbedingungen der Gegenwart haben die beiden Staatsmänner in Reykjavik nach neuen We-gen gesucht, den militärischen Konfrontationsverzicht sicherzustellen. Sie schließen auf amerikanischer Seite nach wie vor die Gewährleistung der europäischen Sicherheit ein, aber unter Bedingungen und mit Hilfe von Strategien, über die die Vereinigten Staaten allein entscheiden.

Auf dieser Basis von Reykjavik, die durch die nachfolgenden, dem Bündnismanagement dienenden Interpretationen und Abschwächungen nicht beeinträchtigt worden sein dürfte, wird sich die Machtrivalität der beiden Supermächte in der Dritten Welt intensivieren. Das schließt die Erste Welt nicht aus, sondern ein: Wenn Positionsgewinne hier möglich sein sollten, werden beide Seiten sie anstreben. Das gilt übrigens auch allianzintern: Westeuropa wird im kommenden Jahr eine neue Welle des amerikanischen Protektionismus, verbunden mit einer höchst offensiven Handelspolitik, auf sich zukommen sehen. Im übrigen aber geht es natürlich um Positionsgewinne außerhalb Europas. Diese machtpolitische Konkurrenz, bei der sich die Vereinigten Staaten weltweit der Herausforderung durch eine innovativ vorgehende sowjetische Führung ausgesetzt sehen, wird die kommenden Jahre des amerikanisch-sowjetischen Verhältnisses bestimmen. In Reykjavik wurden die Grundregeln dieser Rivalität besprochen und vermutlich festgelegt.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Henry Kissinger, The , Reykjavik Revolution*: Putting Deterrence in Question, in: Washington Post vom 18. II. 1986, S. A 19.

  2. Washington Post vom 31. 8. 1986, S. D 1.

  3. Leslie Gelb in: International Herald Tribune (zitiert als IHT) vom 1. 8. 1986.

  4. U. S. Policy Information and Texts (zitiert als US-PIT) Nr. 26, 25. 2. 1986, S. 13— 15.

  5. George P. Shultz, Reykjavik: The Issues are clearer now, in: USPIT, Nr. 157, 23. 10. 1986, S. 6.

  6. James Reston, Now the President Changes His Tune, in: IHT vom 4. 12. 1986, S. 4.

  7. Shultz (Anm. 5), S. 5.

  8. Siehe dazu die beiden Artikel des früheren CIA-Direktors Stansfield Turner in: IHT vom 30. und 31. 10. 1986, S. 4.

  9. Unter den zahlreichen Belegen vgl. vor allem Helga Haftendorn, Das doppelte Mißverständnis, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, (1985) 2, S. 244 ff.

  10. Flora Lewis, Reykjavik Forces a Rethinking of Arms Control, in: IHT vom 3. 12. 1986.

  11. IHT vom 29. 10. 1986, S. 1.

  12. IHT vom 17. 11. 1986.

  13. Washington Post vom 19. 11. 1986, S. A 1-2.

  14. Ebenda.

  15. Vgl. die Beschreibung der Position General Rogers durch Jan Reifenberg, in: FAZ vom 27. 11. 1986, S. 7.

  16. USPIT Nr. 173, 18. 11. 1986, S. 1 ff.

  17. Ebenda, S. 8.

  18. Ebenda, S. 11.

  19. Shultz (Anm. 5), S. 5.

  20. John M. Pointdexter, It Was The Soviets Who Miscalculated, in: IHT vom 20. 10. 1986.

  21. IHTvom 8. 8. 1986.

  22. Vgl. dazu Peter Rudolf, Die Maritime Strategie der USA. Analyse und Kritik. HSFK-Report, (1986) 8, November 1986.

  23. Dazu Ernst-Otto Czempiel, Der Stand der amerikanisch-sowjetischen Beziehungen, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 5/86, S. 3 ff.

  24. USPIT Nr. 39, 17. 3. 1986, S. 9— 22.

  25. IHT vom 12. 4. 1986, S. 1.

  26. Dazu Ernst-Otto Czempiel, Gewaltfreie Intervention zugunsten von Demokratisierungsprozessen. Vortrag, gehalten vor der 4. Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für auswärtige Politik, 1986, i. E.

  27. Rede des sowjetischen Parteichefs Gorbatschow über die Asien-Politik der Sowjetunion am 28. Juli 1986 (Auszug), in: Europa Archiv, 41 (1986) 16, S. D 457ff., D 459.

  28. Ebenda, S. D 458.

  29. Shultz (Anm. 5), S. 5.

  30. John F. Matlock, USPIT Nr. 97, 8. 7. 1986, S. 14.

Weitere Inhalte

Ernst-Otto Czempiel, Dr. phil., geb. 1927; Professor für Auswärtige und Internationale Politik an der Universität Frankfurt; Forschungsgruppenleiter an der Hessischen Stiftung Friedens-und Konfliktforschung, Frankfurt. Veröffentlichungen u. a.: Amerikanische Außenpolitik. Gesellschaftliche Anforderungen und politische Entscheidungen, Stuttgart 1979; Internationale Politik. Ein Konfliktmodell, Paderborn 1981; Amerikanische Außenpolitik im Wandel. Von der Entspannungspolitik Nixons zur Konfrontation unter Reagan (Hrsg.), Stuttgart 1982; (zusammen mit Carl-Christoph Schweitzer) Weltpolitik der USA. Einführung und Dokumente, Bonn 1984; Friedens-strategien. Internationale Organisation, Demokratisierung und Handel als Mittel des Systemwandels, Paderborn 1986.