I. Einleitung
1. Der gemeinsame Weg von Politikwissenschaft und politischer Bildung Die politische Bildung entwickelte sich nach dem Zweiten Weltkrieg im engen Verbund mit der bundesrepublikanischen Politikwissenschaft Wenn Friedrich Oetinger im Vorwort zu seinem berühmten „Partnerschaftsbuch“ schreibt, es sei nach dem Kriege darum gegangen, historische „, Erfahrung in Pädagogik umzusetzen“ so richtete sich dieser Anspruch an Politikwissenschaft und politische Bildung zugleich. Beide galten nach dem Kriege als Hoffnungsträger, die maßgeblich daran mitwirken würden, der zweiten Republik das Schicksal der ersten zu ersparen. Wer denkend, forschend, lehrend und publizierend solchen Erwartungen zu entsprechen suchte, war — in einem weiteren Verständnis des Begriffs — ebenso Politikwissenschaftler wie „politischer Bildner“. Sonderaufgaben nahm die politische Bildung nur wahr, soweit sie sich um die Bestimmung von allgemeinen und detaillierten Lernzielen sowie darum kümmerte, Fragen ihrer Vermittlung in Lehr-und Lernprozessen zu klären.
Für den Weg, den die bundesrepublikanische Politikwissenschaft gemeinsam mit der politischen Bildung ging, kann von folgenden allgemeinen Merkmalen ausgegangen werden:
— Die Politikwissenschaft etablierte sich nach dem Zweiten Weltkrieg und entwickelte sich in die sechziger Jahre hinein unter besonderen Bedingungen: Im Erfahrungshorizont der jüngsten deutschen Geschichte konzentrierte sie sich auf demokratisch-ordnungspolitische Fragestellun-gen, die zu Lasten von Forschungskonzeptionen und -themen gingen, die nicht in dieses normativ„theoretische Pathos“ paßten (Lepsius).
— Seit der zweiten Hälfte der sechziger Jahre befand sich die Politikwissenschaft wiederum in einer besonderen Situation: Mit dem wachsenden Abstand von der jüngsten deutschen Geschichte ergab sich ein Erfahrungshorizont von schwierigen Gegenwartsproblemen, in dem bislang zurückgestaute Forschungskonzeptionen und -themen in den Vordergrund drängten.
— Die unter speziellen Voraussetzungen entstandenen Grundorientierungen führten zu einem innerwissenschaftlichen Streit. Nur mühsam war er in den siebziger Jahren kontrollierbar, kühlte sich schießlich ab, um dann aber 1983 mit der Spaltung der Deutschen Vereinigung für Politikwissenschaft wieder aufzuflammen. 2. Politische Bildung in „kläglichem Zustande“
In der Diskussion um politische Bildung und Didaktik ist in den letzten Jahren vor allem bemängelt worden, daß sie sich an den Schulen in „kläglichem Zustande“ befinde Zu dieser Diskussion will die folgende Argumentationsskizze einen Beitrag leisten. Dabei sind von einer Zusammenfassung des Entwicklungsgangs der politischen Bildung keine neuen Fakten zu erwarten. Sie sind unter anderem von Insidern für einzelne Etappen des Streits und mit je persönlicher Färbung immer wieder aufbereitet worden
Im phasenübergreifenden Rückblick geht es zum einen und im Schwerpunkt dieses Aufsatzes um die pointierte Umschreibung einer besonderen Ausgangstage, in der die Weichen für politische Bildung gestellt wurden. Zum zweiten soll gezeigt werden, daß die bisherige Entwicklungsrichtung in Frage gestellt wurde, seit sich in der zweiten Hälfte der sechziger Jahre die Rahmenbedingungen änderten. Vor diesem doppelten Hintergrund läßt sich erkennen, daß in neueren Bemühungen um die politische Bildung „alte Diskussionen“ fortgesetzt werden. Zum dritten ist daher zu fragen, ob der Eintritt in eine Lage, in der die früheren Bedingungen nicht mehr gelten, die Aufgabenstellung politischer Bildung nicht beeinflussen müßte.
II. Konsens im Erfahrungshorizont der jüngsten deutschen Geschichte
1. Bonn darf nicht Weimar werden Es kennzeichnet die herausragenden „Meinungsführer“ der politischen Bildung, daß sie allesamt aus der Geschichte lernen und dazu beitragen wollen, Bonn nicht Weimar werden zu lassen
In besonders eindringlicher Weise hat sich Kurt Gerhard Fischer immer wieder auf die jüngste historische Erfahrung bezogen. Sie bestimmt schon seine ersten, kleineren Beiträge in „Gesellschaft, Staat, Erziehung“ und durchzieht seine Arbeit als „politischer Bildner“ bis heute. 1958 erinnert er beispielsweise an Lehrer, die in der Weimarer Republik entweder „beiläufig oder planmäßig die Farben der Republik lächerlich machten...“ oder aber „nichts taten, dem drohenden Unheil vorzubeugen...“. Aus dieser Erinnerung heraus weist er dann, gestützt auf einschlägige Bestimmungen des Grundgesetzes und des Bundesbeamtengesetzes, Lehrern die Aufgabe zu, als „Beamte der Demokratie“ zu wirken Zwanzig Jahre später hält es dann Fischer immer noch für unverzichtbar, Bemühungen um die „Theorienbildung für politische Bildung“ mit folgendem persönlichen Bekenntnis zu verbinden: „Meine Zuwendung zu diesem Denkbereich (der politischen Bildung; K. G.) gründet in der Hoffnung, durch meine Bemühungen beizutragen, daß nach menschenmöglichem Ermessen alles getan werden sollte, daß unseren Kindern und Enkeln ... erspart bleiben möge, was die Jugendzeit meiner Generation auf die eine oder andere Weise zur Hölle gemacht hat, anders gesagt: daß uns auf absehbare Zeit ein neuer »Rückfall in die Barbarei'erspart bleiben möge.“
In diesem Punkte trifft sich Fischer auch mit dem — ansonsten gerade ihm gegenüber — streitbaren Klaus Hornung, der politische Erziehung als Therapie gegen „. totalitäre 4 Irrlehren“ und „gegen eine mögliche Wiederholung“ versteht
Impulse, die aus der unmittelbar zurückliegenden Vergangenheit stammen, lassen andere Autoren eher pauschal und zum Teil nur verschlüsselt erkennen. Zum Beispiel werden Bernhard Sutors Vorstellungen über „Politische Didaktik“ auf die Erfahrung bezogen, „daß politische Herrschaft mißbraucht werden kann“ Wolfgang Hilligen macht 1967 gegen einen Forschungsbericht, der aus dem Frankfurter Institut für Sozialforschung kommt und in seiner gesellschaftskritischen — vor allem von Jürgen Habermas beeinflußten — Stoßrichtung später noch einmal zur Sprache kommen muß folgendes geltend: „Wer die Diktatur erlebt hat, glaubt manchmal Anlaß zu der Sorge zu haben, als sei es eine Frage des Lebensalters, also schwer tradierbarer Erfahrungen, wie hoch oder wie niedrig man von Spielregeln denkt, von den Dingen also, über die man nicht abstimmen darf (Messerschmidt).“
Diese Äußerung legt zugleich die Substanz des Leitbildes frei, das unter dem Eindruck von Weimarer „Regellosigkeit“ und speziell in der Erinnerung an die nationalsozialistische Verhöhnung demokratischer Ordnungsprinzipien entwickelt wurde: Es sollen Spielregeln unumstößlicher Geltungskraft eingeführt werden. Pädagogisch gewendet heißt das: Die Bürger sollen zur „Regeltreue“ erzogen werden
Damit ist der Kern dessen umschrieben, was Willigen in der Zurückweisung der Demokratieauffassung des genannten Forschungsberichts „Grundkonsens“ nennt Die Formel, die später in den Varianten „Konsens“ und „Minimalkonsens“ auftritt, fehlt in den ersten Nachkriegsjahren, weil das Selbstverständliche keiner Bezeichnung bedarf. In Verbindung mit dem Leitbild des „regeltreuen“ Bürgers umreißt der Konsensbegriff die Aufgaben, die politischer Bildung im Rahmen der generellen Aufgabenstellung der zweiten Republik zugedacht waren: Bonn nicht Weimar werden zu lassen. 2. Politische Bildung zur „Regeltreue“
Das Bestreben, aus einer allgemeinen Demokratieunsicherheit heraus Leitideen des republikanischen Zusammenlebens zu entwickeln und durch politische Bildung zu fördern, erinnert stark an die Umstände, unter denen die amerikanische Verfassung entstand. In den sogenannten Federalist Papers, die der Verabschiedung der Verfassung (1787) den Weg ebnen sollten, speziell in Madisons Federalist 10, verbindet sich die Bereit-schäft, ein freies Spiel der Kräfte und Gruppierungen („factions“) zuzulassen, mit dem Bemühen, zugleich den Interessenkampf zu steuern. Dabei geht es im besonderen darum, die Repression minderheitlicher Gruppierungen durch eine dominierende Mehrheitsgruppe abzuwehren. Konflikte werden einerseits ermöglicht, andererseits auch durch freiheitssichernde Vorkehrungen („checks and balances") reglementiert
Ralf Dahrendorf hat sein Konfliktkonzept, das in der ersten Hälfte der sechziger Jahre entstand, in deutlicher Orientierung am amerikanischen Vorbild entwickelt Für die politische Bildung wurde es vor allem über die erste Auflage von Hermann Gieseckes einflußreicher „Didaktik der politischen Bildung“ bedeutsam. Von Dahrendorf dazu angeregt, machte Giesecke den Konfliktgedanken zur Schlüsselkategorie der Auswahl von Lehrinhalten und der Organisierung von Lernprozessen
Betrachtet man die im Nachkriegsdeutschland angestellten Überlegungen etwas genauer, den konfliktreich ablaufenden Politikprozeß durch Spielregeln zu bändigen, so ist eine Unterscheidung nach zwei Arten von Regeln wichtig. Sie lassen sich durch eine Stellungnahme von Iring Fetscher illustrieren, die zugleich zeigt, daß sich politische Bildung in Verbindung mit dem Negativbeispiel Weimar/NS-Diktatur oft auch am Negativbild Sowjetideologie/Sowjet-Diktatur orientierte, zu dessen Kenntnis Fetscher seit der zweiten Hälfte der fünfziger Jahre eine Fülle von Publikationen beisteuerte Beim ersten Regeltyp handelt es sich um Rechtsnormen, die der Gefahr entgegenwirken, „daß der Freiheitsspielraum zu groß bemessen wird, so daß er Feinden der Demokratie deren legale Zerstörung erlaubt.. .“
Der zweite Regeltyp umschließt informelle Umgangsregeln und verlangt Anerkennung „von Toleranz, fair play und freiem Wettbewerb“
Nun gehören Dahrendorfs, Gieseckes und Fetschers Beiträge eher in die Endphase angestrengter Versuche, aus der jüngsten Vergangenheit zu lernen. Indessen geht das pädagogisch-politische Denken schon seit Beginn der fünfziger Jahre in die angedeutete Richtung. Die Hervorhebung von „Regeltreue“ ist auf der Stufe der Lehrbücher greifbar, die für den „Gemeinschaftskundeund Sozialkundeunterricht“ der fünfziger Jahre gedacht sind. Hier überwiegen Institutionenkunde, Verfassungskunde und die Einübung in Regeln des Individualverhaltens
Zum gedanklichen Hintergrund dieses Zustands der schulischen Bildung gehören auch Beiträge der traditionell „geisteswissenschaftlichen Pädagogik“, wie sie von Karl Spranger, Erich Weniger und Theodor Litt vertreten wird. Beispielsweise setzt sich letzterer entschieden dafür ein, den „Kampf der politischen Überzeugungen nicht zu verleugnen, sondern in seine Rechte einzusetzen“. Dies liege „im Sinne der Staatsform, der uns zuzubilden die geschichtliche Stunde uns zur Pflicht macht“ Wenn auch nicht übersehen werden darf, daß der von Litt vertretene Konfliktgedanke unter dem Vorbehalt des Wirkens einer — wie abstrakt auch immer umschriebenen — Oberinstanz steht, die „regelrechtes Funktionieren“ garantiert so hat sich hier die „geisteswissenschaftliche Pädagogik“ dem allgemeinen Trend eingeordnet. Das ist auch nicht weiter verwunderlich, wenn man die Unsicherheit bedenkt, in der sie sich nach dem Kriege befand. Thomas Ellwein hat auf ihr Schwanken zwischen einer traditionellen abstrakt-ethischen Orientierung und der Öffnung für technisch-naturwissenschaftliche Praxisbezüge hingewiesen
Ließ sich somit die bisherige „geisteswissenschaftliche“ Traditionslinie nicht mehr problemlos fortsetzen, so mußte sich der „Lerndruck“ der jüngsten deutschen Geschichte um so stärker geltend machen. Der Nachkriegspädagoge, der diesem Druck in der ersten Hälfte der fünfziger Jahre am deutlichsten nachgab, war Friedrich Oetinger, der mit den verschiedensten Fassungen seines schon erwähnten „Partnerschaftsbuchs“ die Nachkriegsdiskussion besonders nachhaltig bestimmte Sein Versuch, aus der Geschichte zu lernen, ging von der Beobachtung aus, daß sich Menschen, die in der geisteswissenschaftlichen Tradition erzogen wurden, als „verführbar“ erwiesen hätten. Politisch-soziale Bildung, auf ein persönliches Ethos eingeengt, habe es möglicht gemacht, daß „wir (Deutsche; K. G.) eine leichte Beute jedes neuen Staatsbilds und jeder neuen politischen Ideologie werden konnten, der es gelang, uns von der Sittlichkeit ihrer Endzwecke zu überzeugen“ Solche Überlegungen Oetingers überschnitten sich mit Versuchen der entstehenden Politikwissenschaft, die ideengeschichtlichen Wurzeln des Scheiterns der ersten Republik und des nationalsozialistischen Unrechtsregimes freizulegen
In den konstruktiven Teilen seiner Studien arbeitete Oetinger an der Entwicklung der Leitidee des „regeltreuen“ Bürgers mit. Es ist nicht immer klar genug gesehen worden, daß er ganz selbstverständlich vom Konfliktgedanken ausgeht. Seine Ausrichtung'am englischen fair play und am Konkurrenzverhältnis zwischen englischer Regierung(spartei) und Opposition(spartei) macht das sehr deutlich Dabei zeigt sich zugleich, daß die politische Bildung — nicht anders als die Politikwissenschaft — sich neben den USA auch ein stilisiertes englisches System zum Vorbild nimmt Freilich wird bei Oetinger am englischen Konkurrenzmodell der Gedanke der „Team-Gemeinschaft“ herausgehoben und damit jener Partnerschaftsgedanke betont, der Oetingers eher konfliktdämpfendes Spielregel-verständnis kennzeichnet.
Indem politische Bildung dieses Konzept aufnimmt, soll sich in den gesamtgesellschaftlichen und gesamtstaatlichen Verhältnissen dadurch etwas ändern, daß die zwischenmenschlichen Umgangsformen in Familie, Schule und Beruf „genossenschaftlicher“ werden Auf diese informelle Weise soll der Rechtsstaat gewissermaßen von unten her verwirklicht werden, von dem Oetinger erkennt, daß ihm „die tatsächliche Erprobung im täglichen Leben der Nation“ gefehlt i habe
Überblickt man zusammenfassend die Entwicklung, die das aus der historischen Erfahrung herauswachsende Leitbild des „regeltreuen“ Bürgers von Oetinger bis zur ersten Auflage von Gieseckes „Didaktik der politischen Bildung“ (1965)
nimmt, so zeigt sich folgendes: Das Prinzip der „Regeltreue“, das im System gelten und von politischer Bildung gestützt werden soll, hat sich aus der Enge gesellschaftlich-staatlicher Mikrobereiche befreit. Es gilt formell und informell als freiheitssicherndes Prinzip, das Konflikte zähmt, ohne sie zu knebeln. 3. Politische Bildung ohne Marx und ohne Popper War die Übereinstimmung darin, daß es vor allem auf den „regeltreuen“ Bürger ankomme, die einzig mögliche Lehre aus der jüngsten Geschichte? Zur zusammenfassenden Antwort auf diese Frage gehört vor allem der Hinweis darauf, daß in der Nachkriegszeit und speziell unter den Bedingungen westlicher Besatzung und östlicher Bedrohungserfahrungen eine große Demokratie-unsicherheit herrschte. Für das im Keim durchaus vorhandene Bedürfnis, einen ganz anderen Erziehungsweg zu wählen und politische Bildung in antikapitalistischer Absicht zu betreiben, gab es in solcher Lage nur geringe Entwicklungsmöglichkeiten. Versuche, Marx ins Spiel zu bringen, hatten in der politischen Bildung ebenso winzige Chancen wie in der Politikwissenschaft, wo beispielsweise Wolfgang Abendroth nicht umhin konnte, seine marxistischen Ambitionen weitgehend zurückzunehmen
Für eine reflektierte, am Vorbild der Naturwissenschaft ausgerichtete wissenschaftstheoretische Position kann der österreichisch-englische Philosoph Karl Popper stehen. Auf dem von ihm vorgezeichneten Weg möglichst leidenschaftslos und schrittweise vorzugehen, dabei jeden Schritt sorgfältig abwägend, wäre vor allem auch aus der Sicht drängender bildungspolitischer Herausforderungen kaum annehmbar gewesen. Gefordert waren ebenso schnelle wie zupackende Vorschläge und Urteile. Dafür stehen etwa Äußerungen des jüngeren Kurt Gerhard Fischer, der sich später als „Popperianer" bekannte und dessen Forderung nach „Beamten der Demokratie“ hier schon zitiert wurde.
Aus denselben Gründen hätte der sowohl in Popperschen als auch in Marxschen und anderen Positionen steckende Theorieehrgeiz nicht in die Nachkriegslandschaft gepaßt. Unter dem Diktat von „Erziehung — jetzt“ kam es nicht auf Reflexionen über die minutiöse und in sich schlüssige Anleitung politischer Erziehungsarbeit an. Nachfrage bestand nach ebenso wacher wie instinktsicherer Aufnahme der „in der (Nachkriegs-) Luft“ liegenden Fragestellungen.
III. Gegenkonsens im Erfahrungshorizont der sechziger und siebziger Jahre
Schon seit dem Ende der fünfziger Jahre und seit sich der Abschied Konrad Adenauers vom Kanzleramt reibungslos vollzogen hatte, ließ sich ernsthaft kaum mehr bestreiten, daß Bonn nicht Weimar geworden war. Auf dieser Grundlage stand dann die politische Bildung — im Verbund mit der Politikwissenschaft — vor neuen Herausforderungen, als sich in der zweiten Hälfte der sechziger Jahre die sozioökonomischen und die institutionellen Rahmenbedingungen änderten. Jetzt entstand Spielraum für bislang verdrängte wissenschaftstheoretische Orientierungen, die einen Wandel der geltenden Leitidee des Bürgers und den Aufbau eines Gegenkonsenses stützten. All dies kann hier nur in wenigen Strichen und ohne ausführliche Belege nachgezeichnet werden 1. Politische Bildung mit Marx und mit Popper Die Rückkehr von Marx in die wissenschaftliche Auseinandersetzung, die sich in der zweiten Hälfte der sechziger Jahre anbahnte, war zweifellos auch für die politische Bildung ein herausragendes Ereignis. Vermittelt über die kritische (Gesellschafts-) Theorie der sogenannten Frankfurter Schule, die Marxsche Gedankengänge durch unorthodoxe Skepsis filterte, kamen diese gewissermaßen über die Hintertür ins Spiel. Als Schlüsseltext muß der schon genannte Forschungsbericht des Frankfurter Instituts für Sozialforschung gelten Die entschiedene Kritik an der bisherigen regelbetonten Ausrichtung der po-litischen Bildung ist durch prinzipielle Erwägungen, im besonderen durch Jürgen Habermas’ vielfach zitierte und diskutierte Kritik an einer Auffassung von Demokratie abgestützt, nach der diese mit einem „Set von Spielregeln“ zusammenfalle
Es lag hauptsächlich an der ersten Nachkriegsrezession von 1966/67 und dann auch an der zweiten Rezessionslage der Jahre 1974/75, daß nunmehr neben den Regeln des Politikprozesses seine sozialen und ökonomischen Grundstrukturen „entdeckt“ wurden. Jetzt ergab sich auch im Umkreis der politischen Bildung ein Interesse daran, den Einfluß zu ermitteln, den die genannten Strukturen auf die Sozialisation von Bürgern ausübten
Dabei hatte die Sensibilisierung dafür, daß die soziale und ökonomische Seite des Politikprozesses Aufmerksamkeit verdiente, auch etwas mit Vorgängen im Institutionensystem zu tun. Im Anschluß an die Spiegelaffäre (1962) waren es vor allem die Auseinandersetzungen um die Notstandsgesetze (1960— 1968), die das Vertrauen in die unumstößliche Geltung formeller, grundgesetzlicher Regelungen „ankratzten“. Parallel dazu machte das Entstehen der Großen Koalition (1966— 1969) klar, daß die informellen Regeln der Parteienkonkurrenz — entgegen dem bisherigen Anschein — durchaus suspendiert werden konnten.
Wenn sozialökonomische in Verbindung mit institutionellen Verunsicherungen geeignet waren, die bisherige Fixierung auf die „Spielregel-Demokratie“ in Frage zu stellen, so war damit die bundesrepublikanische Konsolidierung keineswegs gefährdet. Konnten daher die lange Zeit vorrangigen normativen Orientierungsprobleme in den Hintergrund treten, so bestanden für die Politikwissenschaft und die politische Bildung Vorausetzungen dafür, sich im Sinne von Poppers Wissenschaftsprogramm amerikanischen Einflüssen zu öffnen. Der Aufschwung der Curriculumforschung, die sich dann durchaus auch mit marxistischem Gedankengut verbinden ließ, ist von hierher zu verstehen Erst jetzt erhielt die zum Teil schon auf das Ende der fünfziger Jahre datierte „didaktische Wende“ in der politischen Bildung eine empirische Grundlage.
Wo Popper und Marx wieder in der Diskussion waren, standen zugleich wissenschaftstheoretische Fragen auf der Tagesordnung. In der politischen Bildung muß geradezu von einer Phase des theoretischen „Sturms und Drangs“ gesprochen werden. In Anlehnung an eine „Theorie-Trias“, die in der Politikwissenschaft seit Ende der sechziger Jahre entwickelt und variiert wurde glaubten „politische Bildner“, jetzt wissenschaftstheoretisch unbedingt Farbe bekennen zu müssen 2. Politische Bildung zur „Emanzipation"
Wenn die erste Auflage von Hermann Gieseckes „Didaktik der politischen Bildung“ den Kurs anzeigt, den diese im Erfahrungshorizont der jüngsten deutschen Geschichte nahm, so verweist die 1972 erschienene, völlig überarbeitete siebte Auflage auf einen Richtungsschwenk, der unter den skizzierten neuen Bedingungen vollzogen wurde. Umschrieben wird ein neuer historischer Standort, von dem aus — gegen den „überlebten“ Konsens der Nachkriegsjahre — ein Gegen-konsens aufgebaut werden soll Insoweit befindet sich der Neuansatz und der mit ihm verknüpfte Streit um die politische Bildung immer noch im Schatten von Weimar. Die „akademische“ Auseinandersetzung war in der ersten Hälfte der siebziger Jahre sehr eng mit (partei-) politischem Streit um Richtlinien für schulische Curricula verknüpft, der hier ausgespart werden muß
Im Gegenwartshorizont, wie er seit der zweiten Hälfte der sechziger Jahre bestand, und unter dem Einfluß der umrissenen neuen Wissenschaftslage wird Gieseckes Konfliktkategorie mit neuen Akzenten versehen. In der ersten Auflage noch anthropologisch-naturhaft verstanden wird der Konflikt nunmehr „als die eigentliche politische Handlungssituation“ bestimmt, die — und hier macht sich der Einfluß von Marx geltend — „auf gesellschaftliche Widersprüche“ zu-rückgeht Mit Konfliktlagen verbindet sich jetzt das aus dem Grundgesetz abgeleitete Mitbestimmungspostulat. Zum Beispiel in Betrieb, Schule sowie Hochschule soll es eingelöst werden. Die dazu notwendigen Fähigkeiten hat politische Bildung zu entfalten Man sieht, daß es nicht mehr vorrangig um Konfliktregelung, sondern um möglichst weitgehende Ausschöpfung des vorgegebenen Regelsystems geht. In der Logik dieser Entwicklung lag es dann auch, daß die Verarbeitung der Spiegelaffäre, die in der ersten Auflage noch als Beispiel für die Regelbedürftigkeit von Konflikten herangezogen wurde seit der siebten Auflage wegfällt.
Schon vor Gieseckes siebter Auflage ist es im besonderen Rolf Schmiederer, der die Aufmerksamkeit auf Fragen der Mitbestimmung zu konzentrieren sucht. Er orientiert sich am „Ziel der Emanzipation des Menschen, d. h.der Freisetzung des Menschen aus verschuldeter wie unverschuldeter Abhängigkeit, und an der Beseitigung aller jener Strukturen, die dieser Emanzipation entgegenstehen“ In der etwas nüchterneren Sprache späterer Aussagen geht es Schmiederer um die Erziehung zu „politischem Engagement“ das für ihn bedeutet, „in der politischen Auseinandersetzung aktiv Stellung zu nehmen und sich für die Verwirklichung sozialer Interessen und Ideen, Vorstellungen und Ziele einzusetzen“ Eine solche Vorbereitung auf Praxis im Erwachsenenleben schließt für Schmiederer die Vermittlung von Kenntnissen ein, die Schüler dazu befähigen, schon in ihrem Umfeld konkrete Praxiserfahrungen zu sammeln
Der Versuch, unter neuen Verhältnissen gegen den „alten Konsens“ Druck zu machen, führt bei Kurt Gerhard Fischer und bei Wolfgang Hilligen dazu, daß sie die von ihnen entwickelten Zielnormen politischer Bildung („Einsichten“ /„Optionen“) einer Überprüfung unterziehen. Zu Fischers 1960 noch stark regelbetonten Maximen treten 1969 Aussagen wie: „Demokratische Politik strebt nach maximaler Mitwirkung aller Bürger ... Respektierung von Gleichheit und Selbstbestimmung sind ihr oberster Maßstab.“ Auch Billigens Leitkategorien heben am Anfang der sechziger Jahre noch stark auf Regelhaftigkeiten des Politikprozesses ab und werden zu einem „Ordnungssystem“ zusammengebunden In die von Hilligen seit 1967 formulierten „Optionen“ wird dann ein bislang fehlendes Emanzipationsziel eingebaut: „Überwindung struktureller sozialer Ungleichheiten.“
Im Rahmen „kritischer Pädagogik“ und „kritischer politischer Bildung“ werden — mit einer Tendenz zu überzogener Abgenzung — zum Teil auch orthodox marxistische Akzente gesetzt. Indessen lassen selbst die in ihrer Kritik entschiedensten Texte keinen Zweifel daran aufkommen, daß real bestehende sozialistische Gesellschaften keineswegs als vorbildlich gelten dürfen. Im Unterrichtsgeschehen soll vielmehr die Basis der „Einübungen des staatsbürgerlichen Urteilsvermögens“ dadurch erweitert werden, daß neben den Leitbildern kapitalistischer Demokratien „die sozialistischen Prämissen samt ihren Möglichkeiten zur ständigen Verbesserung der Verhältnisse ... mehr als bisher in den Mittelpunkt des politischen Unterrichts rücken“
Der Gegenkonsens, der sich seit der zweiten Hälfte der sechziger Jahre herausbildet, enthält im Kern folgendes Leitbild des Bürgers: Dieser stößt auf Grenzen seiner Selbstentfaltung. Er möchte mehr aus sich machen als die gewachsenen Strukturen zulassen. Deshalb strebt er aus ihrer Enge heraus. Politische Bildung sensibilisiert ihn dafür, über den Status quo hinauszudenken, wobei die praktische Anleitung zu dessen Überwindung sehr unscharf bleibt.
IV. Zur aktuellen Konsens-und Dissenslage
Die Polarisierung, in die die politische Bildung seit der zweiten Hälfte der sechziger Jahre geriet, darf einerseits nicht darüber hinwegtäuschen, daß keineswegs alle Gemeinsamkeiten verloren-gingen. Andererseits gibt es zwischen den Vorstellungen des „regeltreuen“ und des „sich emanzipierenden“ Bürgers auch unvereinbare Merkmale. Sowohl das Verbindende als auch das Trennende beider Leitbilder ist zu berücksichtigen, wenn es im folgenden eine Reihe von Konsensstrategien einzuschätzen gilt, die für das aktuelle Profil der politischen Bildung bestimmend sind. 1. (Minimal-) Konsens und (Minimal-) Dissens Noch im Überschwang der geschilderten Bemühungen, einen Gegenkonsens aufzubauen, wird das Regelsystem des Grundgesetzes als unverzichtbare Grundlage politischer Bildung anerkannt. So entschieden etwa Giesecke seine auf Mitbestimmung ausgerichtete Parteilichkeit betont, so unmißverständlich bleibt sie „gebunden an diejenigen politischen Konventionen und Regeln, die eine den partikularen Interessen gemeinsame Politik und politische Pädagogik überhaupt erst konstituieren können“ Speziell dann auch Bernhard Claußen, der die neueste und differenzierteste Umsetzung kritischer Gesellschaftstheorie in politische Bildung vorgelegt hat, läßt keinen Zweifel daran, daß sich „der Veränderungswille kritischer Politikdidaktik“ im Einklang mit dem Grundgesetz entfalten soll. Dieser Wille wende sich nicht gegen den „bereits erreichten Entwicklungsstand (Repräsentation von humaner Vernunft in den Grundrechten)“. Er versuche diesen vielmehr „als Ausgangspunkt weiterführender Bemühungen um die Ausbreitung humaner Vernunft“ zu bewahren Umgekehrt kennzeichnet es das Leitbild des „regeltreuen“ Bürgers, daß dieser, indem er Regeln anwendet, sich selbst bestimmt und verwirklicht, sich „demokratischer Tatendrang“ insoweit nicht nur auf emanzipatorischer Linie bewähren kann. Worin liegen aber — neben den soeben beschriebenen Elementen eines (Minimal-) Konsenses — die nicht harmonisierbaren Dissensbestandteile beider Leitbilder (Minimal-Dissens)? Zum einen ist deutlich, daß Bürger, denen es auf eine Veränderung von sozioökonomischen Grundstrukturen ankommt, das bestehende Regelsystem möglichst weitgehend ausschöpfen wollen. In dem Bestreben, seine Belastbarkeit zu testen, gehen sie auch das Risiko begründbarer, punktueller Regelverletzung ein. Dem steht bei „regeltreuen“ Bürgern die Neigung gegenüber, auf jeden Fall im völligen Einklang mit den geltenden Regeln zu handeln. Das verlangt von ihnen eine eher behutsame und zurückhaltende Ausnutzung der Möglichkeiten, die das Regelgefüge bietet.
Worin der skizzierte (Minimal-) Konsens auf der Ebene von Inhalten und Methoden des Unterrichts besteht, ließ sich auf einer Konferenz in Weinstadt-Beutelsbach erkennen, zu der die baden-württembergische Landeszentrale für politische Bildung im Herbst 1976 namhafte Didaktiker und Schulpraktiker einlud Als unstrittig erwies sich auf dieser Tagung, daß Schüler im Unterricht nicht indoktriniert und an der Herausbildung eines eigenen Urteils gehindert werden sollen. In diesem Sinne gab es Übereinstimmung in einem „Überwältigungsverbot“ Dieses schloß die Übereinkunft ein, daß im Unterricht kontrovers zu diskutieren sei, was in Politik und Wissenschaft zu Kontroversen Anlaß biete. Insoweit war man sich auch darüber einig, daß es im Unterricht darauf ankomme, unterschiedliche Interessenlagen und -Standpunkte offenzulegen
Die neben diesen Kernbestandteilen eines (Minimal-) Konsenses vorhandenen Elemente eines (Minimal-) Dissenses lassen sich einem Beitrag von Kurt Gerhard Fischer entnehmen, der in einer Auseinandersetzung mit Klaus Hornung drei Jahre nach der Konferenz in Weinstadt-Beutelsbach folgende Punkte für strittig hielt — die Einarbeitung des Lernens aus der jüngsten Geschichte in ein Konzept politischer Bildung; — die genaue Bestimmung des „kritischen Moments“ politischer Bildung; — die wissenschaftstheoretische Fundierung und Legitimation politischer Bildung; — „das Spezifische demokratischer politischer Bildung“ 66a).
Der übergreifende letzte Kontroverspunkt verweist auf die hier bezeichneten Leitbilder des „regeltreuen“ und des „sich emanzipierenden“ Bürgers, die sich — wie gezeigt — zwar teilweise überschneiden, aber doch nicht verschmelzen lassen.
Der ebenso unmutige wie besorgte Unterton, in dem Fischer seine Bilanz kontroverser Punkte aufmacht, steht für eine sich bis in die Gegenwart fortsetzende Neigung, das Verbindende stärker zu betonen als das Trennende. Im ganzen sind drei Strategien erkennbar, die das Gemeinsame im (Minimal-) Konsens zu maximieren und damit gleichzeitig das Unterschiedliche im (Minimal-) Dissens zu minimieren suchen. 2. Strategien der Maximierung von (Minimal-) Konsens und der Minimierung von (Minimal-) Dissens
Mit einer ersten Konsensstrategie ist der Name von Kurt Gerhard Fischer und vor allem auch von Wolfgang Hilligen verbunden Wie sich schon darstellen ließ, treten beide Autoren in ihren obersten Zielnormen für den Gedanken der Emanzipation ein, den sie als „maximale Mitwirkung aller Bürger ..." (Fischer) und als „Überwindung struktureller sozialer Ungleichheiten“ (Hilligen) verstehen. Diese Zielsetzungen passen zum Leitbild des „sich emanzipieren-den“ Bürgers. Indem sie aber zugleich mit Zielen verbunden werden, die zum Leitbild des „regeltreuen“ Bürgers gehören versuchen beide Autoren auf eine Übereinkunft hinzuarbeiten, die, stellt man den Bezug zur Konferenz in Weinstadt-Beutelsbach her, dort gerade nicht gelang. Um den (Minimal-) Konsens zu maximieren, wird der bestehende (Minimal-) Dissens herabgespielt. Positionen, die sich in der bundesrepublikanischen Entwicklung als unvereinbar erwiesen, werden in ein Verhältnis gegenseitiger Ergänzung gebracht.
Dieselbe Bewertung gilt auch für Billigens These, daß „komplexe Gegenstände wie Gesellschaft, Erziehung und Unterricht... einander ergänzender (komplementärer)“ wissenschaftstheoretischer Zugriffe bedürften Zum Beispiel mag dieses Ergänzungsverhältnis ausnahmsweise für Hilligen und Fischer gelten: In einer synchronen Verarbeitung historischer Erfahrungen sind beide Autoren für Aussagen der kritischen Gesellschaftstheorie offen. Diese gemeinsame Plattform betritt Fischer als „vorwissenschaftliches Glacis“ seiner an Popper orientierten Position und kann sich so mit dem von Habermas beeinflußten Hilligen verständigen. In der Regel werden sich freilich „Popperianer“ nicht in dieser Weise „normativ aufladen“ und in die Nähe der Frankfurter Schule drängen lassen.
Genausowenig wird sich der Abstand zu einer praktisch-philosophischen Position überwinden lassen, die an der aristotelischen Anthropologie ausgerichtet ist und „federführend“ von Bernhard Sutor vertreten wird. Sie liegt einer zweiten Konsensstrategie zugrunde, der kaum mehr Erfolgschancen eingeräumt werden können als dem Unternehmen Hilligen-Fischer.
Hilligen selbst hat schon in der ersten Hälfte der siebziger Jahre klar herausgearbeitet, was ihn von Sutor trennt: Mit dem Vokabular von Billigens schon zitierter neuesten Version seiner „Option 2“ ausgedrückt, ist in Sutors Konzeption politischer Bildung kein Platz für Perspektiven der „Überwindung struktureller sozialer Ungleichheiten“ In seiner Konsensstrategie auch von anderen Autoren unterstützt, bemühte sich nun freilich Sutor intensiv darum, sein Konzept weiterzuentwickeln, zu differenzieren und zu modifizieren Im besonderen verzichtete er bewußt darauf, seine anthropologische Ausgangsbasis im Grundgesetz abzustützen, um sich so nicht mehr dem Mißverständnis auszusetzen, die Verfassung als Kampfinstrument zu gebrauchen Gleichwohl bleibt es dabei, daß unter den von Sutor angegebenen Gesichtspunkten („Kategorien“) die Akzente politischer Bildung anders gesetzt werden als bei Fischer-Billigen. Wo es in erster Linie um die abwägende Bearbeitung von Zielkonflikten geht hat — in Übereinstimmung mit dem Leitbild des „regeltreuen“ Bürgers — das Regelhafte des Politikprozesses Vorrang. Weniger interessiert dagegen, welche Möglichkeiten Bürger im Rahmen des geltenden Regelsystems haben, auf Veränderungen hinzuwirken. Entsprechend wird dem Staat in einem von Sutor gemeinsam mit Dieter Grosser, Manfred Hättich und Heinrich Oberreuter verfaßten Unterrichts-konzept die Rolle eines freiheitssichernden „Konfliktregelungsmechanismus“ zugeschrieben. Dieser verhindere „die mit dem Anspruch auf Allgemeinverbindlichkeit verbundene qualitative Überhöhung einzelner Wertvorstellungen oder Interessenbündelungen“ Das bedeutet zum Beispiel, daß der Aktionsradius von Bürgerbeteiligung mit vielfältigen Argumenten bewußt eng bemessen wird wogegen bei Fischer-Hilligen die emanzipatorische Zielsetzung, wie sich schon belegen ließ, in besonderer Weise betont wird. Alles in allem hat Sutors Strategie einer Maximierung des (Minimal-) Konsenses nur eine begrenzte Erfolgsperspektive, weil sie — allen eingebauten Flexibilitäten zum Trotz — auf der Linie jenes (Minimal-) Konsenses liegt, der sich im Erfahrungshorizont der jüngsten deutschen Geschichte herausbildete. Entsprechend kann die „komplementäre“ Strategie von Fischer-Hilligen ihren Anspruch deshalb nicht einlösen, weil sie — ihrer betonten Offenheit zum Trotz — auf der Linie des Gegenkonsenses liegt, der im Erfahrungshorizont der zweiten Hälfte der sechziger und der siebziger Jahre entstand. Mit anderen Worten: Wer einerseits aus der Sorge heraus, Bonn könnte doch Weimar werden, vor einer möglichst weitgehenden Ausschöpfung von „Spielregel-Demokratie“ zurückscheut, wird sich — wie Sutor u. a. — letztlich kaum mit Fischer-Hilligen einverstanden erklären können. Wer sich andererseits — mit Fischer-Hilligen — den Eindrücken einer relativ konsolidierten Bundesrepublik öffnet und dazu neigt, aus „SpielregelDemokratie“ möglichst viel Emanzipation herauszuholen, wird sich kaum Sutor u. a. anschließen können.
Was die hier nur kurz abzuhandelnde dritte Konsensstrategie angeht, so sieht es auf den ersten Blick so aus, als habe sie mit dem Konsensproblem nichts zu tun. Unter dem Eindruck einer starken „Theorielastigkeit“ politischer Bildung scheint die Forderung ohne weiteres einleuchtend, Lehrpläne und Lehrstoffe auf dem Wege „pragmatischer Vereinbarungen“ zu bestimmen Das gilt zumal dann, wenn sie dem „Unbehagen am technokratischen Curriculum“ Ausdruck gibt
In besonders eindrücklicher Weise hat Rolf Schmiederer der abgehobenen Theorie die Parole und den Buchtitel „Politische Bildung im Interesse der Schüler“ entgegengesetzt. Gerade bei Schmiederer läßt sich freilich nicht übersehen, daß hinter „Common-sense-Argumenten“ der Versuch steckt, das auf der wissenschaftstheoretischen Ebene liegende Streitpotential zu entschärfen. Auf der Plattform eines »„pragmatischen Minimalkonsenses“, so enge Grenzen ihm auch gesetzt sein mögen soll es möglich sein, „politische Bildner“ unterschiedlicher theoretischer und auch politischer Ausrichtung zu versammeln
Zur Relativierung dieser Konsensstrategie muß daran erinnert werden, daß politische Bildung um theoretische Perspektiven, und seien sie versteckt, nicht herumkommt. Gleichwohl braucht sich theoretische Arbeit nicht notwendig auf die schon erwähnte stilisierte „Theorie-Trias“ zu stützen, die sich in der Politikwissenschaft „etabliert“ hat
V. Schlußfolgerungen für die weitere Entwicklung des Faches
1. Das Dissensproblem in der politischen Bildung Zusammenfassend läßt sich erkennen, daß herausragende „Meinungsführer“ der politischen Bildung lernfähig genug waren, den (partei) politisch aufgeheizten Streit zwischen unterschiedlichen konzeptionellen Richtungen unter Kontrolle zu halten und abzumildern. Daher versteht sich auch — und hier liegt ein auffälliger Unterschied zur Politikwissenschaft —, daß die Deutsche Vereinigung für Politische Bildung kaum je von Spaltung bedroht war. Indessen ist es eine Sache, in ihren Auffassungen divergierende Fachvertreter dadurch bei der Stange zu halten, daß ihnen der Eindruck vermittelt wird, sie leisteten je komplementäre Beiträge zum Gesamt-profil eines Faches, deren Spannungsverhältnis ausgehalten werden müsse. Eine andere Sache ist es, wenn wahre Konsensbesessenheit zu Bestrebungen führt, den Bereich der Übereinstimmung weiter auszudehnen, als es dem tatsächlichen Gemeinsamkeitsvorrat eines (Minimal-) Konsenses einerseits und den nicht wegzudisputierenden Merkmalen eines (Minimal-) Dissenses andererseits entspricht. So gesehen stellen sich für die politische Bildung vorrangig Probleme der Anerkennung von Dissens. Sie gehen auf die Demokratieunsicherheit der Nachkriegsjahre zurück und wurden seit der zweiten Hälfte der sechziger Jahre dadurch bekräftigt, daß der Aufbau eines Gegenkonsenses neue Unsicherheiten schuf. Kann es und muß es in Zukunft bei der „Angst vor dem Dissens“ bleiben?
Die bloße Aufforderung, man möge sich gefälligst mit der nicht zu übersehenden Tatsache unterschiedlicher Leitbilder politischer Bildung abfinden, wird wohl kaum dazu ausreichen, konsensbetonten Übereifer zu mäßigen und entsprechende Dissensbereitschaft zu mobilisieren. Dies gilt zumindest so lange, wie Erinnerungen an die jüngste deutsche Geschichte nachwirken und durch Ereignisse der Gegenwart aufgefrischt werden. Zur angemessenen Einschätzung der Konsens-und Dissenslage könnten freilich Überlegungen beitragen, die auf den eingangs benannten „kläglichen Zustand“ Bezug nehmen, in dem sich die politische Bildung an Schulen befindet. 2. Mehr Dissensfähigkeit Im aktuellen bundesrepublikanischen Politikprozeß gibt es Anzeichen dafür, daß die Demokratie-unsicherheit schwindet. Beispielsweise wäre es im unmittelbaren Schatten von Weimar kaum mög-lich gewesen, die Republik ohne Not dem fiebrigen Test eines Wahlkampfs und eines unsicheren Wahlergebnisses zu unterziehen. Eben dies geschah jedoch in der Wahl vom Frühjahr 1983, die durch eine umstrittene Grundgesetzinterpretation ermöglicht wurde. Auch gibt es vielfache Hinweise darauf, daß in der Bundesrepublik das Verständnis für die Dissensträchtigkeit des Politik-prozesses gewachsen ist Am Bereich der politischen Bildung scheint freilich diese Entwicklung weitgehend vorbeigegangen zu sein.
Zu fragen ist, ob politische Bildung in ihrem Konsensübereifer dazu nicht selbst einen großen Beitrag geleistet hat. Zu überlegen wäre, was sie an sich selbst und für sich selbst in der Gegenrichtung tun könnte. Sie mache sich selbst, den Politikern und deren Wählern klar, daß Parteien ganz selbstverständlich den Anspruch erheben, sich in ihren Programmen auf neue Problemlagen einzustellen und dies im Dissens zu tun. Sie mache sich selbst, den Politikern und deren Wählern klar, daß sich in ihrer Regie die Bemühungen überkreuzen, den historischen ebenso wie den gegenwärtigen Problemstoff zu bearbeiten und dabei die Sensibilitäten unterschiedlicher Generationen zu berücksichtigen. Hat politische Bildung nicht ein Anrecht darauf, dies im Dissens zu tun?
Politische Bildung mache sich selbst, den Politikern und deren Wählern klar, daß sich die unsicheren Rahmenbedingungen der Nachkriegslage geändert haben: daß vom Mechanismus des kapitalistischen Systems unbestreitbare Disziplinierungswirkungen ausgehen; daß das Grundgesetz und die dominierende Linie seiner Interpretation einen allgemeinen „Mäßigungshorizont“ geschaffen haben, in dem extreme Linke und extreme Rechte nur eine Randexistenz führen.
Politische Bildung mache sich selbst, den Politikern und deren Wählern klar, daß sie es sich in solcher Lage leisten könnte, nicht mehr in erster Linie „Konsensmaschine“ zu sein. Nur solche Selbsterziehung und nach außen wirkende Erziehung zur Dissensbereitschaft wird politischer Bildung die Chance geben, sich als unvermeidlich dissensträchtige Disziplin zu etablieren und nicht mehr Konsens zu versprechen, als sie bei realistischer Einschätzung ihrer Aufgaben zu erreichen vermag. Nur so könnte sie auf längere Sicht hoffen, aus ihrer vielfach beklagten Unterprivilegierung in den Schulen herauszufinden.