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Kommentar und Replik | APuZ 50/1986 | bpb.de

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APuZ 50/1986 Die Geschichte des deutschen Widerstands im Lichte der neueren Forschung Überarbeitete und erweiterte Fassung eines Vortrages, gehalten auf der britisch-deutschen Historikertagung in Leeds vom 5. bis 9. Mai 1986. Die deutsche Fassung wurde zugleich mit Literaturhinweisen versehen. Die nationalkonservative Opposition 1933-1939. Von der Kooperation zum Widerstand Der Kreisauer Kreis und das Ausland Kommentar und Replik

Kommentar und Replik

/ 22 Minuten zu lesen

Geschichte als parteiliches Konstrukt? Kritische Bemerkungen zu Johannes Klotz: „Die . Deutschland-Berichte der Sopade" (B 31/86) 1)

Der Beitrag von Johannes Klotz über die „Deutschand-Berichte“ der Sopade ist in mehrfacher Hinsicht bemerkenswert. Erfreulich ist zunächst sein Publikationsort. Die in der Vergangenheit stets zu beobachtende (und eigentlich ja selbstverständiche) wissenschaftspolitische Liberalität von Herausgebern und Redakteuren der „Parlament“ -Beiage „Aus Politik und Zeitgeschichte“ hat sich offenbar nicht verändert. So jedenfalls erkläre ich mir die Tatsache, daß ein Autor wie Klotz, der sich selbst ausdrücklich der bekanntlich umstrittenen, weil der DDR-Cesellschafts-und Geschichtswissenschaft nahestehenden sogenannten „Marburger Schule“ zurechnet (S. 27 f.), seinen Aufsatz in der Beilage plazieren konnte. Begrüßenswert ferner Klotz’ Intention, auf die Deutschland-Berichte der Sopade aufmerksam zu machen. Denn sie stellen in der Tat eine einmalige und bisher noch kaum ausgewertete Quelle zur Sozialgeschichte des deutschen Faschismus und zum Widerstand von „unschätzbare(m) Wert für die historische und politische Forschung“ (S. 38) dar. Ärgerlich ist jedoch — und deshalb kann der Beitrag nicht unwidersprochen bleiben — das bei Klotz vorfindliche, für die „Marburger Schule“ nicht untypische Darstellungs-und Interpretationsverfahren; es läßt sich (polemisch zugespitzt, aber nicht unfair) so charakterisieren: — die Grundposition, von der aus über die Arbeiterbewegung geschrieben wird, zielt auf eine einseitige Kritik an der Sozialdemokratie bei gleichzeitiger (mehr oder weniger expliziter) Exkulpation der KPD, deren Tradition und Theorie man sich tendenziell verpflichtet fühlt;

— im Zweifelsfall hat die dogmatische Theorie Vorrang vor der komplizierten, sperrigen Empirie;

— Leistungen und Fehlleistungen historischer Akteure werden nicht situationsbedingt zu erklären versucht, sondern diesen werden sozusagen posthum Lern-und Verhaltensziele vorgegeben, die sie doch nicht mehr erreichen können; Maßstab für diese Ziele sind nicht die damaligen (natürlich nur mühsam zu rekonstruierenden) situationsspezifischen Erkenntnis-und Handlungsmöglichkeiten und -grenzen, sondern das post festum für die damalige Situation forsch als „richtig“ Erkannte (das sich wiederum oft genug mit den seinerzeitigen KPD-Positionen deckt);

— sozialgeschichtlich wird (nach-) lässig aus zweiter oder dritter Hand gearbeitet;

— politisch ungefährliche Fakten entnimmt man westlicher Literatur, historisch-politische Einordnungen und Wertungen dagegen übernimmt man meist von den Autoren des eigenen Kreises oder gleich aus der DDR-Literatur;

— anderslautende Urteile westlicher Forscher werden als „falsch“ abgetan oder schlicht ignoriert. Es liegt auf der Hand, daß solche Vorgehensweisen zu darstellerischen und interpretatorischen Verzerrungen führen müssen. Daß und wie dies bei Klotz der Fall ist, will ich nachfolgend anhand einiger Textproben aus seinem Beitrag zeigen. Welche der genannten Merkmale jeweils auf das betreffende Beispiel zutreffen, wird der Leser unschwer selbst erkennen.

Textprobe 1: „Zuletzt belegte die Marburger Dissertation von Wolfgang Saggau ..., daß die Schwächen des SPD-Parteivorstandes im Kampf gegen den (aufkommenden) Faschismus in unmittelbarem Zusammenhang mit erheblichen Defiziten in der Analyse des Faschismus standen — trotz des umfangreichen Quellenmaterials, das über die Stimmungslage der Bevölkerung Auskunft gab." (S. 28). Diese Aussage ist zunächst insofern widersprüchlich, ja unsinnig, als sie sich offenkundig auf die Zeit vor 1933 bezieht, dabei aber mit einem „umfangreichen Quellenmaterial“ (gemeint sind dem Textzusammenhang nach die Deutschland-Berichte) argumentiert, das erst nach 1933 entstand. Was die Arbeit von Saggau betrifft, so belegt sie vor allem die fragwürdige Methode ihres Verfassers Immerhin muß auch Saggau trotz aller SPD-Kritik zugeben, daß es für ihn im Zuge seiner Recherchen erstaunlich war festzustellen, „in welchem quantitativen wie auch qualitativen Maße detaillierte und umfangreiche Informationen zur Faschismusproblematik bereits damals vorlagen und fast ausnahmslos auch publiziert wurden ..." Dazu rechnet er ausdrücklich auch „theoretische Bemühungen zur Kennzeichnung des Wesens und Charakters der faschistischen Massenbewegung wie des faschistischen Systems“. Vor allem aus weiteren neueren Untersuchungen drängt sich die Einsicht auf, daß die früher so plausible Gleichung, nämlich Defizite in der Faschismusanalyse = Defizite in der antifaschistischen Praxis, so nicht mehr gelten kann. Denn der veränderte (wenngleich nach wie vor unbefriedigende) Forschungsstand legt heute die ganz andersartige — und viele schwieriger zu erklärende! — These nahe: Obwohl \n der SPD vor 1933 ein beträchtliches Reservoir an fundierten Faschismusanalysen existierte, gab es keine effektive antifaschistische Politik. Und schließlich: Welche vor 1933 erstellte Faschismusanalyse verdient eigentlich, gemessen an ihrem Anspruch, den Faschismus verhindern zu helfen, nicht das Prädikat „defizitär“? Soll der Defizit-Vorwurf nicht beliebig bleiben, muß er inhaltlich ausgewiesen werden. Da Klotz dies nicht tut, setzt er sich dem Verdacht aus, willkürliche normative, mithin irrelevante Kritik zu üben.

Textprobe 2: „Die Analyse (von Klotz — R. St.) geht davon aus, daß das Bürgertum (das, als politisch-ideologischer Begriff verstanden, das Gesamtinteresse der herrschenden Klasse ausdrückt) seine Vorstellungen über die Krisenlösung und die Abwehr des Sozialismus in den Jahren 1929 bis 1933 keineswegs von Anfang an einheitlich auf den Faschismus gerichtet hatte... Letztlich erfolgte erst 1933 die politische Konzentration des Bürgertums auf der Basis des Faschismus.“ (S. 28 f.) Dazu ist zu sagen, daß „das Bürgertum“ „als politisch-ideologischer Begriff“, das dann auch noch das „Gesamtinteresse der herrschenden Klasse“ ausdrückt, ein metaphysisches Konstrukt, eine heuristisch wertlose Schimäre darstellt, mit der dem „real existierenden Bürgertum“, das in sich stark sozial geschichtet und politisch fraktioniert war, nicht beizukommen ist.

Für die Weimarer Republik ist weder eine „herrschende Klasse“ noch deren „Gesamtinteresse“ empirisch exakt auszumachen (wie denn überhaupt eine Gesellschaftsgeschichte der zwanziger und dreißiger Jahre noch aussteht). Sodann optierte auch 1933 „das“ Bürgertum keineswegs geschlossen nationalsozialistisch. Die Ernennung Hitlers erfolgte sogar, wie Reinhard Neebe zeigen konnte, bei „gespaltener Industriefront“ während, worauf Heinrich August Winkler hingewiesen hat, eine gesellschaftliche Gruppe eine herausragende Rolle spielte, die Klotz unerwähnt läßt und die nicht einfach unter den Begriff „Bürgertum“ subsumiert werden kann: die ostpreußischen aristokratischen Großagrarier „Theorien“, so Habermas, „sind Ordnungsschemata, die wir in einem syntaktisch verbindlichen Rahmen beliebig konstruieren. Sie erweisen sich für einen speziellen Gegenstandsbereich dann als brauchbar, wenn sich ihnen die reale Mannigfaltigkeit fügt.“ Der erste Satz mag auf Klotz zutreffen, aber der zweite?

Textprobe 3: „Im Januar 1934 veröffentlichte sie (die Sopade -R. St.) einen Aufruf, das . Prager Manifest*. Es enthielt zwar widersprüchliche und verschieden auslegbare Formulierungen, aber auch Weisungen und Erkenntnisse für eine selbständige, wirklich antifaschistische Arbeiterpolitik“. (S. 29) Die dazugehörigen Anmerkungen stellen klar, daß für das . Prager Manifest* folgende Autoritäten maßgeblich sind: die DDR-„Geschichte der deutschen Sozialdemokratie“ (der auch das Zitat im Zitat entstammt), eine Berliner Diplomarbeit und die beiden „Marburger“ Saggau und Klotz. Kommentar insoweit überflüssig. Das überraschende Sopade-Lob der DDR-Wissenschaftler erklärt sich daraus, daß das . Prager Manifest* sich kommunistischen Positionen teilweise annäherte. Allerdings hätte man gerne gewußt, wie sich eigentlich, wenn nicht ex cathedra, methodisch ermitteln läßt, was eine „wirklich antifaschistische Arbeiterpolitik“ war und was nicht.

Textprobe 4: „Die Kontakte zwischen sozialdemokratischen und kommunistischen Widerstandskämpfern in Deutschland verbesserten sich trotz der — nur wenige Monate nach der Veröffentlichung des Manifests und der darin geforderten Aktionseinheit — ablehnenden Haltung der sozialdemokratischen Parteiführung in Prag ... Die So-pade arbeitete... allen Versuchen, eine antifaschistische Volksfrontbewegung ins Leben zu rufen, entgegen ... Die politisch-ideologischen Traditionen und Bindungen an die sozialdemokratische Parteiführung erwiesen sich im Zusammenwirken mit der Entfernung vieler illegaler Widerstandskader stärker als das Wirken jener sozialdemokratischen Gruppierungen, welche die Autorität des Parteivorstandes bezweifelten, den politischen Kampf gegen den deutschen Faschismus anführen zu können. Deshalb konnten auch Versuche der Sopade erfolgreich sein, im weiteren Verlauf der Entwicklung des Widerstandskampfes getroffene Abkommen oder die Zusammenarbeit zwischen Sozialdemokraten und Kommunisten wieder aufzukündigen. Die Kritik an der risikoreichen und opferbereiten illegalen Tätigkeit der Kommunisten tat ein übriges.“ (S. 30 f.)

Wie man sieht, schlägt das positive Urteil von Klotz über das . Prager Manifest* sofort in heftige Kritik an der Sopade um, wenn es um das heikle Verhältnis zwischen Kommunisten und Sozialdemokraten geht. Dabei ist seine Darstellung nicht unbedingt falsch, aber einseitig und verzerrt. Denn daß die Sopade Gründe für ihre Reserviertheit gegenüber der KPD gehabt haben könnte, die nicht sie, sondern die KPD zu vertreten hatte, liegt außerhalb des Erkenntnisinteresses und der Fragehaltung von Klotz.

Drei Hinweise mögen verdeutlichen, was gemeint ist: Im Aufruf der KPD vom 26. Juni 1933 war zu lesen: „Sechstens: Selbst unter der schärfsten Bedrohung durch den Faschismus ist ein Bündnis mit den sozialfaschistischen Führern gegen den Faschismus völlig unmöglich. Nur auf dem Wege der Einheitsfront von unten kann die Einheit der Arbeiterklasse hergestellt werden.“ Auch in ihrem Aufruf vom 7. Juni 1934 — fast fünf Monate nach der Veröffentlichung des „Prager Manifestes“ — hieß es nach wie vor: „Die Sozialdemokratie wird immer... ein Werkzeug der Konterrevolution, der Bourgeoisie, des Kapitalismus sein und bleiben. Darum: Niemals wieder bürgerliche Demokratie, niemals wieder Sozialdemokratie!“

Hinzu kommt, daß die Deutschland-Berichte der Sopade für August/September 1934 zu der Fest-Stellung gelangten, „daß die Prinzipien der illegalen Arbeit in den einzelnen Gruppen außerordentlich verschieden sind. Die Kommunisten arbeiten mit einem rücksichtslosen Einsatz ihres Menschen-materials. Sie opfern auch vielfach heute noch bedenkenlos ihre illegalen Mitarbeiter, wenn sie sich davon einen Augenblickserfolg propagandistischer Art versprechen ... Die Zusammenarbeit mit den Kommunisten auch nur im Rahmen örtlicher Verbindungen wird von den sozialdemokratischen Gruppen fast durchweg auch mit der Begründung abgelehnt, daß die Spitzelgefahr bei dieser Zusammenarbeit so groß ist, daß jede derartige gemeinsame Arbeit beinahe automatisch eine Gefährdung unserer Genossen zur Folge hat. Diese Spitzelgefahr besteht auch heute noch.“

Diese Hinweise dürften genügen, um deutlich zu machen, daß man komplexen historischen Problemen mit politischer Einäugigkeit nicht gerecht werden kann.

Textprobe 5: „Bezüglich der Einschätzung des Faschismus in Deutschland dominierte (in der Sopade -R. St.) zwischen 1934 und 1939 die Auffassung, es handele sich um einen . totalen Staat*, , in dem die Ausweitung der Macht der Staatsorgane zum Selbstzweck geworden sei und die Politik das Schicksal der Wirtschaft bestimme. Der Faschismus war demnach keine Form der kapitalistischen Herrschaft, und die wirtschaftspolitischen Maßnahmen des faschistischen Staates standen im Widerspruch zu den eigentlichen Entwicklungsgesetzen der Ökonomie. * Diese schon von der SPD in der Weimarer Republik mehrheitlich angenommene Trennung von Politik und Ökonomie widerspiegelte sich natürlich auch im Bewußtsein der Arbeiterklasse und wirkte sich auf Form und Inhalt des antifaschistischen Kampfes aus.“ (S. 31)

Das Zitat im Zitat entstammt, was nun kaum noch anders zu erwarten war, einer „Marburger** Arbeit. Daß der deutsche Faschismus tendenziell ein „totaler Staat“ war, der sich durch den Primat der Politik über die Ökonomie auszeichnete, ist spätestens seit der bekannten „Argument“ -Debatte zwischen Tim Mason und DDR-Historikern ein zwar mittlerweile differenzierungsbedürftiges, aber wegen seines beträchtlichen Maßes an Realitätsdekkung noch keineswegs überholtes Theorem der Faschismusdiskussion. Um dies an einem Schlüssel-problem zu zeigen: Die Erklärung des Genozids an den Juden und der übrigen (hier als bekannt vor-auszusetzenden) furchtbaren faschistischen Verbrechen fällt den Anhängern des Primats der Poli-tik erheblich leichter als denen des Primats der Ökonomie (zu denen man, dem obigen Zitat zufolge, auch Klotz wird rechnen dürfen) — Auschwitz läßt sich jedenfalls eher aus der faschistischen Ideologie und ihrer Umsetzung durch eine verselbständigte Exekutive als aus irgendwelchen Interessen oder Sachzwängen kapitalistischer Ökonomie ableiten. Ferner impliziert der Primat der Politik keineswegs die Auffassung, der Faschismus sei keine „Form der kapitalistischen Herrschaft“ (was immer das genau sei). Meines Wissens hat kein sozialdemokratischer Autor je bestritten, daß es sich um ein spezifisches politisches System auf kapitalistischer Grundlage handelt. Die Behauptung gar, die „Trennung von Politik und Ökonomie“ sei — noch dazu „mehrheitlich“ — schon von „der“ Weimarer SPD vertreten worden, ist so nicht haltbar Und schließlich dürfte — besonders post festum — die NS-Wirtschaftspolitik langfristig-tendenziell in der Tat eher als dysfunktional denn als system-konform zu beurteilen sein: Sie war Politik für einen nicht nur nicht gewinnbaren, sondern sogar selbstzerstörerischen Krieg. Die Folgen bekam auch die Bourgeoisie zu spüren. (Das schließt nicht aus, daß sie vorher jede— auch zutiefst inhumane — vom Faschismus offerierte Gewinnmöglichkeit zu nutzen versuchte.) Dies war in den dreißiger Jahren höchstens ansatzweise vorauszusehen. Gleichwohl scheint es, als hätten die Sopade-Leute die Gegenwart ihrer Zeit und die sich abzeichnende Zukunft tendenziell angemessener beurteilt als heute Klotz die Vergangenheit.

Textprobe 6: „Diese (von den Deutschland-Berichten registrierte — R. St.) Mißstimmung und Enttäuschung unter den Kleingewerbetreibenden hatte jedoch keine politischen Gründe gehabt, sondern sie war ein Reflex materieller Sorgen und Nöte, der dann ökonomisch und sozial, aber insbesondere sozialpsychologisch vom faschistischen System ausgeglichen wurde. Denn zwischen 1933 und 1935 wurden wichtige ökonomische und soziale Forderungen des Handwerks erfüllt ... Eine ähnliche Entwicklung zeigte sich im Handel... Um so widersprüchlicher und wenig realistisch sind die DB (Deutschland-Berichte — R. St.), wenn sie fortwährend von einem Zerbröckeln der faschistischen Massenbasis berichten, ja gerade dies zum Kern antifaschistischer Propaganda ... wurde.“ (S. 34)

Für diese (hier stark geraffte) Passage avancieren Detlev Peukert und, einmal mehr, Wolfgang Saggau zu Zitierautoritäten bezüglich der Realgeschichte des Mittelstandes im „Dritten Reich“. Peukerts äußerst summarisches Mittelschichten-Kapitel erhebt nicht den Anspruch originärer Forschungsleistung, sondern faßt die Ergebnisse Dritter zusammen Saggau stützt sich auf eine dogmatische DDR-Arbeit die westliche Literatur souverän ignoriert und neuere Forschungen (vor allem von Adelheid von Saldern) ohnehin noch nicht kennen kann.

Sieht man über solche Merkwürdigkeiten hinweg, so bleiben noch immer zwei Probleme. Erstens: Zu nachgerade apodiktischen Aussagen über Lage und Bewußtsein des Mittelstandes nach 1933, wie sie Klotz trifft, gibt es keinerlei Veranlassung — dazu sind die Forschungslücken noch viel zu groß. Zweitens, und damit zusammenhängend: Selbst wenn Klotz’ unbekümmerte Setzungen zutreffen, so ist noch keineswegs ausgemacht, daß seine heutige Sicht der Dinge auch bereits damals die der Sopade hätte sein können oder gar müssen. Eher müßte sich Klotz den Vorwurf des Beckmessertums gefallen lassen als die Deutschland-Berichte den des mangelnden Realitätsbezuges. Überhaupt kann der Realitätsgehalt der Deutschland-Berichte nicht durch globale (wenn nicht dubiose) Literaturhinweise positiv oder negativ hypostasiert werden. Notwendig wäre vielmehr ein systematischer Vergleich der Berichte mit den Resultaten der bereits vorliegenden (und der noch zu erarbeitenden) NS-Regional-und Lokalforschung, etwa mit den Stimmungsberichten des SD, mit Masons Befunden über die Sozialpolitik im „Dritten Reich“ usw. Danach hätte man sicher ein zuverlässigeres, wenn auch keineswegs vollständiges Bild von der Widerspiegelung der gesellschaftlichen Wirklichkeit des deutschen Systemfaschismus in den Deutschland-Berichten der Sopade.

Die Liste problematischer Textproben soll damit geschlossen werden, obwohl sie noch beträchtlich verlängert werden könnte. Das Fazit lautet: Bei Klotz erfährt man wenig Erhellendes über die Deutschland-Berichte oder über die Sopade, dafür aber Aufschlußreiches über die methodischen Schwächen der „Marburger Schule“.

Reinhard Sturm, Göttingen Reinhard Sturm beabsichtigte in seiner Kritik meines Beitrages die methodischen Schwächen der „Marburger Schule“ offenzulegen (ob es die „Marburger Schule“ gibt, wäre eine eigene Untersuchung wert. Hier soll sie verstanden werden als wissenschaftliche Methode Wolfgang Abendroths, die sich dem materialistischen Ansatz verpflichtet weiß). Der Nachweis mußte m. E. mißlingen, schon weil die Methode seines Vorgehens Schwächen aufweist, die charakteristisch sind für eine spezifische sozialhistorische Geschichtsbetrachtung der Geschichte der Arbeiterbewegung Meine Einwände beziehen sich hauptsächlich auf folgende Punkte:

1. Der überwiegende Teil seiner Kritik wird anhand von Textproben vorgenommen;

2. der wissenschaftstheoretische und methodische Fundus ist zu bruchstückhaft, seine antithetischen Formulierungen sind daher von geringer Konsistenz, eine Beweisführung ist daher kaum möglich;

3. Sturms Gegenthesen können sich daher an den Textproben nicht beweisen;

4. das angeblich „nicht untypische Darstellungsund Interpretationsverfahren“ der „Marburger Schule“ (z. B., daß im Zweifelsfall die dogmatische Theorie Vorrang vor der komplizierten, sperrigen Empirie habe) wird in Form von Behauptungen seiner Kritik vorangestellt. Dieses nicht weiter entwikkelte Darstellungsverfahren bildet aber die methodische Grundlage seiner Kritik. Aufgrund von bloßen Behauptungen kann jedoch nicht der zu kritisierende Gegenstand analysiert werden, bzw. das Ergebnis dieser Analyse kann nicht realitätsgerecht sein, und zwar schon im rein methodischen Verfahrenssinne nicht. Was . realitätsgerecht* im einzelnen bedeutet, will ich unten darlegen.

Ich werde zuerst einige wesentliche allgemein-methodische Grundlagen des Ansatzes der „Marburger Schule“ ausführen und sie dann am Beispiel des Komplexes , SPD und Faschismus* konkretisieren.

W. Abendroth hat das Modell einer Geschichtsschreibung der Arbeiterbewegung entwickelt, „die ihren Gegenstand immer als Subjekt und Objekt der Gesamtgesellschaft zeigt und zugleich aktives Moment aktueller Auseinandersetzung ist Die Möglichkeit meiner Replik sehe ich also auch als Verdeutlichung des Ansatzes und der wissenschaftlichen Leistungen W. Abendroths und seiner Schüler. Damit eng verbunden ist die methodische Reflexion über die „Objektivität“ der geschichtswissenschaftlichen Erkenntnis, also die Klärung eines Problems, über das die der materialistischen Methode verpflichtete Wissenschaft (wie W. Abendroth und Schüler) mit der kritischen Sozialwissenschaft (z. B. Habermas, Negt, usw.) in (teilweise) produktivem Streit liegt. Im gesamtgesellschaftlichen Rahmen ist die Frage nach objektiver geschichtswissenschaftlicher Erkenntnis aus verständlichen (weiter unten ausgeführten) Gründen entweder tabuisiert oder wird — wie in der empirischen Sozialforschung — durch eine unendliche Vielfalt idealtypischer Setzungen konstruiert: Also existieren dem Scheine nach viele Objektivitäten? Wie ist dem Circulus vitiosus zu entkommen?

W. Abendroth: „Idealtypische Setzungen erweisen also ihren wissenschaftlichen Wert erst daran, ob sie dem gesellschaftlichen Material immanent sind, ob ihnen reale Typen gesellschaftlichen Verhaltens entsprechen. Sie sind diejenigen Abstraktionen, die das Moment der Identität in der Vielfältigkeit der geschichtlich-sozialen Erscheinungen jeweils situationsadäquat erfassen, wenn sie sinnvoll sein soll.“ 3 Damit ist einmal ausgesagt, daß sich die geschichtlich-sozialen Erscheinungen (also z. B. die historischen und konkreten Interessen einer Klasse, eines Teils einer Klasse, einer bestimmten Gruppe usw.) im Bewußtsein, in Theorien, in idealtypischen Setzungen usw. widerspiegeln. Gleichzeitig stellt sich über diese Bewußtseinsund Reflexionsprozesse Parteilichkeit her, also sie reflektieren zustimmend, differenzierend oder ablehnend die Interessen einer Klasse, eines Teils einer Klasse oder einer bestimmten Gruppe usw. Zweitens ist darin ausgesagt, daß Theorien und idealtypische Setzungen immer Teile der Wirklichkeit abbilden. Der materialistische Ansatz beansprucht, die Wirklichkeit als Totalität seiner widersprüchlichen Teile erfassen zu können.

Aus verständlichen Gründen muß ich mich in meiner Replik auf Setzungen beschränken: In der Kritik der politischen Ökonomie hat Karl Marx die Widersprüche dieser Gesellschaft und der vorangehenden als das treibende Element für die sich entwikkelnde Totalität erkannt. „Den Widerspruch als das treibende Moment der Entwicklung erkennen ist für eine Theorie identisch mit: sich auf einen Standpunkt stellen, heißt auch: sich auf den Standpunkt derjenigen . Seite* des Widerspruchs stellen, in dem die nächste Stufe der Entwicklung sich ankündigt. Die Theorie der widerspüchlichen gesellschaftlichen Totalität kann nicht anders als parteilich sein; es sei denn, sei wendet sich gegen das, was sie als real erkannt hat. Parteilichkeit in diesem Verstände ist also nicht die (wert-oder wie auch immer bezogene) Entscheidung des Wissenschaftlers. Sie ist eine nicht an den Erkenntnisgegenstand herangetragene Entscheidung; sie folgt notwendig der Analyse des Gegenstandes.“

Weil also der Erkenntnisgegenstand, hier der Kapitalismus, nicht neutral ist, kann auch die Erkenntnis selbst nicht neutral sein. Im Prozeß der gesellschaftlichen Entwicklung der kapitalistischen Gesellschaft hat sich die Arbeiterbewegung in ihren Organisationsformen als jene „Seite“ des Grundwiderspruchs von Kapital und Arbeit entwickelt, in der sich die nächste Stufe der Gesellschaftsentwicklung ankündigt, die soziale Emanzipation der menschlichen Gesellschaft. Die Arbeiterbewegung ist selbst ein Produkt des kapitalistischen Vergesellschaftungsprozesses. Ihre Organisationen entstehen auf der materiell-gesellschaftlichen Grundlage zwischen Kapitalbewegung und Klassenbewegung.

Die Hauptfrage, die sich im Zusammenhang mit der Kritik Sturms nun stellt und die nur konkret-historisch beantwortet werden kann, ist, inwieweit die Organisationen der Arbeiterbewegung dazu beigetragen haben, die Entwicklungsrichtung, also die Entwicklung hin zum Sozialismus, zu bestimmen bzw. zur Verhinderung des" Faschismus und nach 1933 zum Kampf gegen den Faschismus beigetragen haben. Solcherlei Erkenntnisse wurden im übrigen selbst im zentralen Theorieorgan der Weimarer SPD „Die Gesellschaft“ publiziert

Die Aussagekraft des materialistischen Ansatzes soll nun am Problemzusammenhang „Faschismusanalyse — antifaschistische Strategie“ überprüft werden.

Zuerst eine rein sachliche Korrektur an der Interpretation Sturms der Textprobe 1: Die Dissertation W. Saggaus (im übrigen auch eine empirische Studie, die widerlegt werden müßte, was der Autor leider verabsäumt hat) bezieht sich auf „Faschismustheorien und antifaschistische Strategien in der SPD ... in der Endphase der Weimarer Republik und in der Emigration“. Von daher beziehen sich ihre Ergebnisse gegen den aufkommenden Faschismus und gegen den Faschismus an der Macht. Seine diesbezügliche Untersuchung geht ausdrücklich davon aus und hält dieses Vorhaben durch, die damaligen realen Informationsmöglichkeiten und -grundlagen für die sozialdemokratischen Verfasser vom Stand der heutigen wissenschaftlichen Forschung zu unterscheiden. „Es ist also methodisch unhaltbar, den heutigen Erkenntnisstand als Maßstab für die Bewertung der damaligen Ergebnisse der Sozialdemokraten, für das Erkennen oder Nichterkennen des Faschismus zu verwenden.“ Nicht anders bin ich in meinem Beitrag über die . Deutschland-Berichte’ der Sopade verfahren.

Die These Saggaus, daß es sowohl in quantitativem wie in qualitativem Maße detaillierte und umfangreiche . Informationen’ der SPD zur Faschismusproblematik gab, ist in ihrer Aussagekraft zu präzisieren: Erstens ist damit noch nichts darüber ausgesagt, welche Faschismusinterpretation in der SPD dominierte, und zweitens ist mit dem Begriff . Informationen’ nichts darüber ausgesagt, inwieweit sie den Charakter, das Wesen und die Funktion des Faschismus erfassen. Die Klärung dieser beiden Fragen ist aber ganz wesentlich für die Bestimmung des Verhältnisses von Faschismusanalyse und antifaschistischer Strategie sowie zur Beantwortung der Frage des Verhältnisses von Erkenntnismethode (also der politischen Theorie) und der empirisch-vorfindlichen Wirklichkeit.

In der Tat wurde z. B. von der linkssozialistischen Fraktion der Partei um Seydewitz eine weiterreichende Analyse des Faschismus entwickelt Seydewitz sah im Faschismus „die letzte Waffe der Bourgeoisie . beim Kampf um die Aufrechterhaltung der großkapitalistischen Klassenherrschaft“ und bewertete ihn als „ein untrennbar mit der Bourgeoisie verbundenes Stück der kapitalistischen Klassenherrschaft“ 7a). Aufgrund der Faschismusanalyse (die hier nicht weiter ausgeführt werden kann) wurde eine antifaschistische Strategie gefordert, die von der übrigen Partei abgelehnt wurde — die Einheitsfront. Gerade das Fehlen eines einheitlichen Konzeptes der Arbeiterbewe-gung (also auch der KPD gegen den Faschismus führte zur Abspaltung von Teilen der linkssozialistischen Fraktion und zur Gründung der SAP 1931 und später zu den Revolutionären Sozialisten Deutschlands

Es ist also zu beachten, daß aufgrund ihrer Faschismusanalyse die Linkssozialisten detaillierte Kampfmaßnahmen mit einer konsequent antifaschistischen Stoßrichtung entwickeln konnten. Die Ursachen der „Folgenlosigkeit" dieser Faschismustheorien für die antifaschistische Praxis der SPD lagen u. a. an den innerparteilichen Organisationsstrukturen. Die SPD-Parteiführung besaß eine Reihe von zentralen Entscheidungspositionen, die der Entfaltung linkssozialistischer Politik(-theorien) enge Grenzen setzten. Darüber hinaus verfügte die Linke in den entscheidenden Gremien nur über einen geringen Einfluß Dagegen besaß die Parteiführung nahezu alle Möglichkeiten, ihre Interpretation zu publizieren und mit dem gesamten Organisationsapparat zu propagieren.

Die dominierende politische Theorie der SPD über den Faschismus hängt wesentlich zusammen mit der Erkenntnismethode, die vor allem in der Theorie vom organisierten Kapitalismus erscheint Die erkenntnismethodische Trennung von politischer und ökonomischer Ebene ermöglichte es, die neue politische Qualität bürgerlicher Herrschaft, die mit dem Machtantritt des Faschismus vorlag, zu verabsolutieren.

Die Mehrheit der SPD vor und nach 1933 legte bei der Charakterisierung des Wesens des faschistischen Systems das Hauptgewicht auf die machtpolitischenInteressen des Staatsapparates. Diese Bestimmung führte zu einer Vielzahl von Faschismus-bildern, je nach „Durchsetzung bestimmter Personen bzw. . Machtfraktionen* bei der Erringung staatlicher Herrschaftspositionen'* Dieses methodische Vorgehen aber verhindert es, den Faschismus als „konkret-historisches“ und „allgemein-gesellschaftliches“ Phänomen zu begreifen Der erkenntnistheoretische Ansatz erlaubt den Schluß, „das Monopolkapital könne bei Dominanz der Faschisten im staatlichen Bereich . Gefangener Hitlers*, . Opfer* der wahnwitzigen Machtpolitik der Faschisten werden“ Gerade in diesen* beiden Punkten will ich Sturm widersprechen, der die These vom Primat der Politik gegenüber der Ökonomie als vermeintlich in der wissenschaftlichen Diskussion allgemein anerkannt aufstellt. Im Gegenteil, es haben gerade in diesen beiden Fragen nichtmarxistische Autoren eine andere Auffassung Wie wir anhand der Einschätzungen der Linkssozialisten über den Faschismus sehen konnten, war auch historisch durchaus eine andere, realitätsgerechtere antifaschistische Strategie praktizierbar gewesen. Es wäre eine antifaschistische Stoßrichtung verallgemeinerbar gewesen, die heute auch Nichtmarxisten zu ihrer Erkenntnis gemacht haben.

In diesem Zusammenhang kann auch der Genozid an den Juden nicht als Beleg für den Primat der Politik angeführt werden; denn es darf bezweifelt werden, ob der Charakter und das Wesen des (deutschen) Faschismus sich allein aus der Juden-vernichtung als Bestimmungsmoment ableiten läßt (siehe dagegen das überreiche Quellenmaterial zum Faschismus, das damals wie heute für den Primat der Ökonomie spricht)

Im übrigen lagen dem Massenmord an den Juden auch ökonomische Profitinteressen zugrunde, wenngleich aus der Feststellung, zwischen Profitinteressen, Faschismus und Massenmord bestünde ein unmittelbarer kausaler Zusammenhang, nicht geschlossen werden kann, er sei direkt aus den Profitinteressen der herrschenden Klasse ableitbar

Die These von der Dysfunktionalität ist ebenso unhaltbar wie waghalsig und gefährlich. Von Anbeginn an (man betreibe das Studium der Quellen war klar, daß der Faschismus Krieg bedeutet. Dazu war die NSDAP schon vor 1933 entschlossen und auch die Führungsgruppen aus Wirtschaft und Militär strebten die Verwirklichung des Programms an, „die östlichen Länder zu unterwerfen und auszubeuten und für das deutsche Reich wieder eine Weltmachtstellung zu erobern“ Daß der Krieg nicht gewinnbar war — woher nimmt Sturm im nachhinein diese Erkenntnis?

Was folgt nun aus dem methodischen Ansatz der Exil-SPD, den Faschismus zu interpretieren, für ih-ren antifaschistischen Kampf? Ziel war es, sich des Staates zu bemächtigen und die Politik grundlegend zu verändern, wie es Paul Sering (d. i. Richard Löwenthal formulierte. Darüber hinaus hatte ja ihre Faschismusinterpretation den Primat der Politik über die Ökonomie ergeben. Deshalb lag auch das Hauptgewicht der politischen Praxis nicht mehr im Kampf gegen das Kapital, sondern im Kampf gegen die faschistische Staatsmacht. Notwendig blieb bei dieser Orientierung die Bestimmung des Kräfteverhältnisses der Klassen, das sich im Ergebnis von Kapital-und Klassenbewegung ausdrückt, ausgespart. Gleichzeitig unterschied sich diese praktisch-politische Vorgehensweise von derjenigen der KPD. Andererseits: Wollten die Organisationen der Arbeiterbewegung im Kräfte-feld von Kapital-und Klassenbewegung zum Erfolg kommen, so war das einheitliche Vorgehen der Arbeiterbewegung erste Voraussetzung dafür.

Daß die KPD sich in konkreten historischen Phasen, eigentlich bis 1935, partiell falsch — im Sinne einer realitätsgerechten, dem Antifaschismus zum Erfolg verhelfenden Strategie — verhalten hat, kann nicht bestritten werden. Doch lagen nicht wesentliche Ursachen für das Fehlverhalten der KPD auch in der Politik der SPD, die durch eine Stillhalte-und Abwartepolitik die Arbeiterbewegung, ja die eigenen, zur Herstellung der Einheitsfront bereiten Kräfte desorientierte? Die Sozialfaschismusthese bzw. Einheitsfront von unten-und Einheitsfront von oben-Politik hatte einmal objektive Ursachen. Die Analyse der KPD über die Rolle der Sozialdemokratie im aufkommenden Faschismus beruhte vor allem auf Erfahrungen ihrer Basis. Deren praktisch-politische Erlebnisse mit der Sozialdemokratie — vor allem, wenn sie politische Verantwortung trug (ob während der Konstitutionsphase der Weimarer Republik oder im Berliner Blutmai 1932) — schienen die Richtigkeit der Sozialfaschismusthese zu belegen. Die Sozialfaschismusthese erhielt Nahrung durch den teilweise militanten Antikommunismus, der schon in der Anfangsphase der Gründung der Weimarer Republik zu einem wesentlichen politisch-praktischen Kampfinstrument der Sozialdemokratie geworden war. 1932 bezeichneten führende Sozialdemokraten die KPD-Führung als „ein bloßes »Sammelsurium wildgewordener Kleinbürger und Intellektueller*, unaufgeklärter, rückständiger Arbeitet“, als „ . Elemente*, die . käuflich sind Das alles kann nicht die Falschheit der Sozialfaschismusthese in Frage stellen, aber die wirklichen Zusammenhänge erklären und die Beantwortung der Frage, welche Organisation der Arbeiterbewegung dem Ziel der sozialen Emanzipation näher ist. Unbestreitbar sind die Theorie vom organisierten Kapitalismus und das Konzept der Wirtschaftsdemokratie als zwei wesentliche komplementäre Bestimmungsmomente der politischen Theorie und Strategie der SPD 1933 gescheitert, weil die Frage der Eroberung der Staatsmacht letztlich losgelöst von der ökonomischen Basis behandelt wurde. Hieraus resultierten erhebliche Fehlinterpretationen bzgl.der Konflikte innerhalb der faschistischen Staatsmacht und dementsprechend eine falsche politisch-strategische Orientierung. Die Stimmungsberichte in den „Deutschland-Berichten" der Sopade bieten dafür Material. In der Emigration wurden dennoch diese Anschauungen beibehalten, ja vertieft, m. E. ein Beleg für den prinzipiellen Fehler in der politischen Theorie der dominierenden Strömung in der SPD, aus dem notwendig Schwächen in der politischen Strategie resultieren, wenn wir Theorie und Praxis als (widersprüchliche) Einheit auffassen.

Die Erkenntnis der gesellschaftlichen Realität hängt von der Fähigkeit ab, eine realitätsgerechte Gesellschafts-und Klassenanalyse zu erstellen und sie in den praktisch-politischen Kampf umzusetzen. Damit ist ein wichtiger Maßstab genannt für die Beurteilung des Zusammenhangs von politischer Theorie und politischer Praxis der Organisationen der Arbeiterbewegung. Zusammenfassend möchte ich darauf hinweisen, daß überhaupt nichts zur Klärung politisch-historischer Fragen beigetragen wird, indem wissenschaftliche Untersuchungen, ob nun in der DDR, innerhalb der „Marburger Schule“ oder in sozialdemokratischen, konservativen oder liberalen wissenschaftlichen Institutionen entstanden, mit dem Etikett versehen werden, a priori zum Fortgang wissenschaftlicher Erkenntnisse nichts beitragen zu können — der „Kommentar insoweit überflüssig“ sei, wie Sturm meint (Textprobe 3). Eine Klärung kann allerdings erreicht werden in Verbindung mit einer wissenschaftlichen Theorie, die sich an der Realität bestätigen muß — polemische Rundumschläge helfen hier wenig.

Johannes Kiotz, Marburg

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. dazu im einzelnen meine Rezension in: IWK, 18 (1982) 4, S. 550 ff.

  2. Wolfgang Saggau, Faschismustheorien und antifaschistische Strategien in der SPD, Köln 1981, S. 13 f.

  3. Vgl. dazu u. a. Helga Crebing, Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus, in: Wolfgang Luthardt (Hrsg.), Sozialdemokratische Arbeiterbewegung und Weimarer Republik, 2 Bde., Frankfurt 1978, Bd. 2, S. 259— 379; Wolfgang Wippermann, Zur Analyse des Faschismus. Die sozialistischen und kommunistischen Faschismustheorien 1921 bis 1945, Frankfurt 1981; Reinhard Sturm, Faschismusauffassungen der Sozialdemokratie in der Weimarer Republik, in: Richard Saage (Hrsg.), Solidargemeinschaft und Klassenkampf, Frankfurt 1986, S. 302— 330.

  4. Reinhard Neebe, Großindustrie, Staat und NSDAP 1930— 1933, Göttingen 1981, S. 201.

  5. Heinrich August Winkler, Revolution, Staat, Faschismus, Göttingen 1978, S. 74 ff.

  6. Jürgen Habermas, Zur Logik der Sozialwissenschaften, Frankfurt 1970, S. 11.

  7. Vgl. dazu die kritische Rezension von Peter Lösche, in: IWK, 20 (1984) 3, S. 439f.

  8. Aufruf des Zentralkomitees der KPD vom 26. Juni 1933, in: Manfred Geis, Politik aus dem Exil — Widerstand gegen das nationalsozialistische Deutschland, in: Widerstand und Exil der deutschen Arbeiterbewegung 1933 bis 1945. Mit Beiträgen von Manfred Geis, Margrit Grubmüller u. a„ Bonn 1982, S. 525— 647, der Aufruf S. 622 f., Zit. ebda.

  9. Aufruf des Zentralkomitees der KPD vom 7. Juni 1934, in: Siegfried Bahne, Die KPD und das Ende von Weimar. Das Scheitern einer Politik 1932— 1935, Frankfurt/M. 1976, S. 89— 94, hier S. 93 (Hervorhebung im Original).

  10. Deutschland-Berichte, Bd. 1, S. 459. Zur KPD-Politik der dreißiger und vierziger Jahre vgl. die kritische und materialreiche Studie von Horst Duhnke, Die KPD 1933 bis 1945, Köln 1972.

  11. Vgl. dazu die in Anm. 4 genannte Literatur.

  12. Vgl. dazu im einzelnen meine Rezension in: SOWI, 13 (1984) 4, S. 68 ff.

  13. Erich Paterna u. a., Deutschland von 1933 bis 1939 (Lehrbuch der deutschen Geschichte, 11. Beitrag), Berlin (Ost) 1969, S. 220 ff.

  14. Vgl. W. Saggau, Faschismustheorien und antifaschistische Strategien der SPD, Köln 1981, S. 9 ff.

  15. F. Deppe/G. Fülberth/J. Harrer, Zur Geschichte der Arbeiter-und Gewerkschaftsbewegung II, in: Blätter für deutsche und internationale Politik, (1979) 5, S. 570.

  16. W. Abendroth, Antagonistische Gesellschaft und politische Demokratie, Neuwied 1967, S. 10.

  17. H. W. Jung/C. v. Staehr, Historisches Lernen, Didaktik der Geschichte, Köln 1983, S. 52.

  18. „Fehr trifft den Kern des Problems, wenn er in seiner Abhandlung über die „Marxschen Prognosen'resümiert: . Die theoretische Prognose der gesellschaftlichen Entwicklung, ihrer Richtung, ihrer treibenden Kräfte und ihrer hemmenden Schranken soll der Arbeiterklasse und ihren Organisationen ermöglichen, aus der Erkenntnis des historischen Prozesses die eigene Rolle darin zu bestimmen, die Richtung des Klassenhandelns auf lange Sicht festzulegen, sich zum Subjekt der Geschichte zu erheben. Die Klasse, die ihre Rolle derart selbst bestimmt, kann sich wohl taktisch elastisch allen Wechselfällen der ökonomischen und politischen Situation anpassen — sie kann aber nie zum Spielball, zum bloßen Objekt bloßer Konstellationen und der von ihnen automatisch erzeugten Ideologien werden. Von der Fähigkeit zur theoretischen Prognose hängt der Subjektcharakter, das heißt die klassenmäßige Selbständigkeit der proletarischen Politik ab.“ Fehr, Die Marxsche Prognose und der Revisionismus, in: Die Gesellschaft, Heft 3, März 1933, S. 420 ff., zit. n. W. Saggau (Anm. 1), S. 196.

  19. W. Saggau (Anm. 1), S. 13.

  20. Vgl. W. Saggau (Anm. 1), S. 103 ff. 7a) Seydewitz/Graf/Weckerle/Adler/Petrich, Die Krise des Kapitalismus und die Aufgaben der Arbeiterklasse, Berlin o. J. (1931): hier: Seydewitz, Politische Auswirkung der Krise, S. 114, zit. n. W. Saggau (Anm. 1), S. 107.

  21. Vgl. F. Deppe/C. Fülberth/J. Harrer (Anm. 2), S. 577-- 584.

  22. Vgl. J. v. Freyberg, Sozialdemokraten und Kommunisten. Die Revolutionären Sozialisten Deutschlands vor dem Problem der Aktionseinheit, Köln 1973.

  23. Vgl. W. Saggau (Anm. 1), S. 201.

  24. Vgl. H. A. Winkler, Organisierter Kapitalismus. Voraussetzungen und Anfänge, Göttingen 1974, und einschlägig eine Sammlung von Texten R. Hilferdings, in: C. Stephan (Hrsg.), Zwischen den Stühlen oder über die Unvereinbarkeit von Theorie und Praxis, Bonn 1982.

  25. W. Saggau (Anm. 1), S. 395.

  26. Ebd.

  27. Ebd., S. 396.

  28. Vgl. D. Stegmann, Zum Verhältnis von Großindustrie und Nationalsozialismus, in: Archiv für Sozialgeschichte, XIII (1973): A. Schweitzer, Big Business in the Third Reich, Bloomington 1964; J. Radkau, Industrie und Faschismus, in: Neue Politische Literatur (NPL), (1973) 2.

  29. R. Kühnl, Der deutsche Faschismus in Quellen und Dokumenten, Köln 1975 ff.

  30. Ebd., S. 209 ff.

  31. Vgl. Ebd.

  32. Ebd., S. 280.

  33. Vgl. P. Sering, Jenseits des Kapitalismus, Nürnberg 1946, S. 120.

  34. Crispien auf dem Berliner Parteitag der SPD, Protokoll, S. 43 f., zit. nach W. Saggau (Anm. 1), S. 167.

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