Geschichte als parteiliches Konstrukt? Kritische Bemerkungen zu Johannes Klotz: „Die . Deutschland-Berichte der Sopade" (B 31/86) 1)
Der Beitrag von Johannes Klotz über die „Deutschand-Berichte“ der Sopade ist in mehrfacher Hinsicht bemerkenswert. Erfreulich ist zunächst sein Publikationsort. Die in der Vergangenheit stets zu beobachtende (und eigentlich ja selbstverständiche) wissenschaftspolitische Liberalität von Herausgebern und Redakteuren der „Parlament“ -Beiage „Aus Politik und Zeitgeschichte“ hat sich offenbar nicht verändert. So jedenfalls erkläre ich mir die Tatsache, daß ein Autor wie Klotz, der sich selbst ausdrücklich der bekanntlich umstrittenen, weil der DDR-Cesellschafts-und Geschichtswissenschaft nahestehenden sogenannten „Marburger Schule“ zurechnet (S. 27 f.), seinen Aufsatz in der Beilage plazieren konnte. Begrüßenswert ferner Klotz’ Intention, auf die Deutschland-Berichte der Sopade aufmerksam zu machen. Denn sie stellen in der Tat eine einmalige und bisher noch kaum ausgewertete Quelle zur Sozialgeschichte des deutschen Faschismus und zum Widerstand von „unschätzbare(m) Wert für die historische und politische Forschung“ (S. 38) dar. Ärgerlich ist jedoch — und deshalb kann der Beitrag nicht unwidersprochen bleiben — das bei Klotz vorfindliche, für die „Marburger Schule“ nicht untypische Darstellungs-und Interpretationsverfahren; es läßt sich (polemisch zugespitzt, aber nicht unfair) so charakterisieren: — die Grundposition, von der aus über die Arbeiterbewegung geschrieben wird, zielt auf eine einseitige Kritik an der Sozialdemokratie bei gleichzeitiger (mehr oder weniger expliziter) Exkulpation der KPD, deren Tradition und Theorie man sich tendenziell verpflichtet fühlt;
— im Zweifelsfall hat die dogmatische Theorie Vorrang vor der komplizierten, sperrigen Empirie;
— Leistungen und Fehlleistungen historischer Akteure werden nicht situationsbedingt zu erklären versucht, sondern diesen werden sozusagen posthum Lern-und Verhaltensziele vorgegeben, die sie doch nicht mehr erreichen können; Maßstab für diese Ziele sind nicht die damaligen (natürlich nur mühsam zu rekonstruierenden) situationsspezifischen Erkenntnis-und Handlungsmöglichkeiten und -grenzen, sondern das post festum für die damalige Situation forsch als „richtig“ Erkannte (das sich wiederum oft genug mit den seinerzeitigen KPD-Positionen deckt);
— sozialgeschichtlich wird (nach-) lässig aus zweiter oder dritter Hand gearbeitet;
— politisch ungefährliche Fakten entnimmt man westlicher Literatur, historisch-politische Einordnungen und Wertungen dagegen übernimmt man meist von den Autoren des eigenen Kreises oder gleich aus der DDR-Literatur;
— anderslautende Urteile westlicher Forscher werden als „falsch“ abgetan oder schlicht ignoriert. Es liegt auf der Hand, daß solche Vorgehensweisen zu darstellerischen und interpretatorischen Verzerrungen führen müssen. Daß und wie dies bei Klotz der Fall ist, will ich nachfolgend anhand einiger Textproben aus seinem Beitrag zeigen. Welche der genannten Merkmale jeweils auf das betreffende Beispiel zutreffen, wird der Leser unschwer selbst erkennen.
Textprobe 1: „Zuletzt belegte die Marburger Dissertation von Wolfgang Saggau ..., daß die Schwächen des SPD-Parteivorstandes im Kampf gegen den (aufkommenden) Faschismus in unmittelbarem Zusammenhang mit erheblichen Defiziten in der Analyse des Faschismus standen — trotz des umfangreichen Quellenmaterials, das über die Stimmungslage der Bevölkerung Auskunft gab." (S. 28). Diese Aussage ist zunächst insofern widersprüchlich, ja unsinnig, als sie sich offenkundig auf die Zeit vor 1933 bezieht, dabei aber mit einem „umfangreichen Quellenmaterial“ (gemeint sind dem Textzusammenhang nach die Deutschland-Berichte) argumentiert, das erst nach 1933 entstand. Was die Arbeit von Saggau betrifft, so belegt sie vor allem die fragwürdige Methode ihres Verfassers
Textprobe 2: „Die Analyse (von Klotz — R. St.) geht davon aus, daß das Bürgertum (das, als politisch-ideologischer Begriff verstanden, das Gesamtinteresse der herrschenden Klasse ausdrückt) seine Vorstellungen über die Krisenlösung und die Abwehr des Sozialismus in den Jahren 1929 bis 1933 keineswegs von Anfang an einheitlich auf den Faschismus gerichtet hatte... Letztlich erfolgte erst 1933 die politische Konzentration des Bürgertums auf der Basis des Faschismus.“ (S. 28 f.) Dazu ist zu sagen, daß „das Bürgertum“ „als politisch-ideologischer Begriff“, das dann auch noch das „Gesamtinteresse der herrschenden Klasse“ ausdrückt, ein metaphysisches Konstrukt, eine heuristisch wertlose Schimäre darstellt, mit der dem „real existierenden Bürgertum“, das in sich stark sozial geschichtet und politisch fraktioniert war, nicht beizukommen ist.
Für die Weimarer Republik ist weder eine „herrschende Klasse“ noch deren „Gesamtinteresse“ empirisch exakt auszumachen (wie denn überhaupt eine Gesellschaftsgeschichte der zwanziger und dreißiger Jahre noch aussteht). Sodann optierte auch 1933 „das“ Bürgertum keineswegs geschlossen nationalsozialistisch. Die Ernennung Hitlers erfolgte sogar, wie Reinhard Neebe zeigen konnte, bei „gespaltener Industriefront“
Textprobe 3: „Im Januar 1934 veröffentlichte sie (die Sopade -R. St.) einen Aufruf, das . Prager Manifest*. Es enthielt zwar widersprüchliche und verschieden auslegbare Formulierungen, aber auch Weisungen und Erkenntnisse für eine selbständige, wirklich antifaschistische Arbeiterpolitik“. (S. 29) Die dazugehörigen Anmerkungen stellen klar, daß für das . Prager Manifest* folgende Autoritäten maßgeblich sind: die DDR-„Geschichte der deutschen Sozialdemokratie“
Textprobe 4: „Die Kontakte zwischen sozialdemokratischen und kommunistischen Widerstandskämpfern in Deutschland verbesserten sich trotz der — nur wenige Monate nach der Veröffentlichung des Manifests und der darin geforderten Aktionseinheit — ablehnenden Haltung der sozialdemokratischen Parteiführung in Prag ... Die So-pade arbeitete... allen Versuchen, eine antifaschistische Volksfrontbewegung ins Leben zu rufen, entgegen ... Die politisch-ideologischen Traditionen und Bindungen an die sozialdemokratische Parteiführung erwiesen sich im Zusammenwirken mit der Entfernung vieler illegaler Widerstandskader stärker als das Wirken jener sozialdemokratischen Gruppierungen, welche die Autorität des Parteivorstandes bezweifelten, den politischen Kampf gegen den deutschen Faschismus anführen zu können. Deshalb konnten auch Versuche der Sopade erfolgreich sein, im weiteren Verlauf der Entwicklung des Widerstandskampfes getroffene Abkommen oder die Zusammenarbeit zwischen Sozialdemokraten und Kommunisten wieder aufzukündigen. Die Kritik an der risikoreichen und opferbereiten illegalen Tätigkeit der Kommunisten tat ein übriges.“ (S. 30 f.)
Wie man sieht, schlägt das positive Urteil von Klotz über das . Prager Manifest* sofort in heftige Kritik an der Sopade um, wenn es um das heikle Verhältnis zwischen Kommunisten und Sozialdemokraten geht. Dabei ist seine Darstellung nicht unbedingt falsch, aber einseitig und verzerrt. Denn daß die Sopade Gründe für ihre Reserviertheit gegenüber der KPD gehabt haben könnte, die nicht sie, sondern die KPD zu vertreten hatte, liegt außerhalb des Erkenntnisinteresses und der Fragehaltung von Klotz.
Drei Hinweise mögen verdeutlichen, was gemeint ist: Im Aufruf der KPD vom 26. Juni 1933 war zu lesen: „Sechstens: Selbst unter der schärfsten Bedrohung durch den Faschismus ist ein Bündnis mit den sozialfaschistischen Führern gegen den Faschismus völlig unmöglich. Nur auf dem Wege der Einheitsfront von unten kann die Einheit der Arbeiterklasse hergestellt werden.“
Hinzu kommt, daß die Deutschland-Berichte der Sopade für August/September 1934 zu der Fest-Stellung gelangten, „daß die Prinzipien der illegalen Arbeit in den einzelnen Gruppen außerordentlich verschieden sind. Die Kommunisten arbeiten mit einem rücksichtslosen Einsatz ihres Menschen-materials. Sie opfern auch vielfach heute noch bedenkenlos ihre illegalen Mitarbeiter, wenn sie sich davon einen Augenblickserfolg propagandistischer Art versprechen ... Die Zusammenarbeit mit den Kommunisten auch nur im Rahmen örtlicher Verbindungen wird von den sozialdemokratischen Gruppen fast durchweg auch mit der Begründung abgelehnt, daß die Spitzelgefahr bei dieser Zusammenarbeit so groß ist, daß jede derartige gemeinsame Arbeit beinahe automatisch eine Gefährdung unserer Genossen zur Folge hat. Diese Spitzelgefahr besteht auch heute noch.“
Diese Hinweise dürften genügen, um deutlich zu machen, daß man komplexen historischen Problemen mit politischer Einäugigkeit nicht gerecht werden kann.
Textprobe 5: „Bezüglich der Einschätzung des Faschismus in Deutschland dominierte (in der Sopade -R. St.) zwischen 1934 und 1939 die Auffassung, es handele sich um einen . totalen Staat*, , in dem die Ausweitung der Macht der Staatsorgane zum Selbstzweck geworden sei und die Politik das Schicksal der Wirtschaft bestimme. Der Faschismus war demnach keine Form der kapitalistischen Herrschaft, und die wirtschaftspolitischen Maßnahmen des faschistischen Staates standen im Widerspruch zu den eigentlichen Entwicklungsgesetzen der Ökonomie. * Diese schon von der SPD in der Weimarer Republik mehrheitlich angenommene Trennung von Politik und Ökonomie widerspiegelte sich natürlich auch im Bewußtsein der Arbeiterklasse und wirkte sich auf Form und Inhalt des antifaschistischen Kampfes aus.“ (S. 31)
Das Zitat im Zitat entstammt, was nun kaum noch anders zu erwarten war, einer „Marburger** Arbeit. Daß der deutsche Faschismus tendenziell ein „totaler Staat“ war, der sich durch den Primat der Politik über die Ökonomie auszeichnete, ist spätestens seit der bekannten „Argument“ -Debatte zwischen Tim Mason und DDR-Historikern ein zwar mittlerweile differenzierungsbedürftiges, aber wegen seines beträchtlichen Maßes an Realitätsdekkung noch keineswegs überholtes Theorem der Faschismusdiskussion. Um dies an einem Schlüssel-problem zu zeigen: Die Erklärung des Genozids an den Juden und der übrigen (hier als bekannt vor-auszusetzenden) furchtbaren faschistischen Verbrechen fällt den Anhängern des Primats der Poli-tik erheblich leichter als denen des Primats der Ökonomie (zu denen man, dem obigen Zitat zufolge, auch Klotz wird rechnen dürfen) — Auschwitz läßt sich jedenfalls eher aus der faschistischen Ideologie und ihrer Umsetzung durch eine verselbständigte Exekutive als aus irgendwelchen Interessen oder Sachzwängen kapitalistischer Ökonomie ableiten. Ferner impliziert der Primat der Politik keineswegs die Auffassung, der Faschismus sei keine „Form der kapitalistischen Herrschaft“ (was immer das genau sei). Meines Wissens hat kein sozialdemokratischer Autor je bestritten, daß es sich um ein spezifisches politisches System auf kapitalistischer Grundlage handelt. Die Behauptung gar, die „Trennung von Politik und Ökonomie“ sei — noch dazu „mehrheitlich“ — schon von „der“ Weimarer SPD vertreten worden, ist so nicht haltbar
Textprobe 6: „Diese (von den Deutschland-Berichten registrierte — R. St.) Mißstimmung und Enttäuschung unter den Kleingewerbetreibenden hatte jedoch keine politischen Gründe gehabt, sondern sie war ein Reflex materieller Sorgen und Nöte, der dann ökonomisch und sozial, aber insbesondere sozialpsychologisch vom faschistischen System ausgeglichen wurde. Denn zwischen 1933 und 1935 wurden wichtige ökonomische und soziale Forderungen des Handwerks erfüllt ... Eine ähnliche Entwicklung zeigte sich im Handel... Um so widersprüchlicher und wenig realistisch sind die DB (Deutschland-Berichte — R. St.), wenn sie fortwährend von einem Zerbröckeln der faschistischen Massenbasis berichten, ja gerade dies zum Kern antifaschistischer Propaganda ... wurde.“ (S. 34)
Für diese (hier stark geraffte) Passage avancieren Detlev Peukert und, einmal mehr, Wolfgang Saggau zu Zitierautoritäten bezüglich der Realgeschichte des Mittelstandes im „Dritten Reich“. Peukerts äußerst summarisches Mittelschichten-Kapitel erhebt nicht den Anspruch originärer Forschungsleistung, sondern faßt die Ergebnisse Dritter zusammen
Sieht man über solche Merkwürdigkeiten hinweg, so bleiben noch immer zwei Probleme. Erstens: Zu nachgerade apodiktischen Aussagen über Lage und Bewußtsein des Mittelstandes nach 1933, wie sie Klotz trifft, gibt es keinerlei Veranlassung — dazu sind die Forschungslücken noch viel zu groß. Zweitens, und damit zusammenhängend: Selbst wenn Klotz’ unbekümmerte Setzungen zutreffen, so ist noch keineswegs ausgemacht, daß seine heutige Sicht der Dinge auch bereits damals die der Sopade hätte sein können oder gar müssen. Eher müßte sich Klotz den Vorwurf des Beckmessertums gefallen lassen als die Deutschland-Berichte den des mangelnden Realitätsbezuges. Überhaupt kann der Realitätsgehalt der Deutschland-Berichte nicht durch globale (wenn nicht dubiose) Literaturhinweise positiv oder negativ hypostasiert werden. Notwendig wäre vielmehr ein systematischer Vergleich der Berichte mit den Resultaten der bereits vorliegenden (und der noch zu erarbeitenden) NS-Regional-und Lokalforschung, etwa mit den Stimmungsberichten des SD, mit Masons Befunden über die Sozialpolitik im „Dritten Reich“ usw. Danach hätte man sicher ein zuverlässigeres, wenn auch keineswegs vollständiges Bild von der Widerspiegelung der gesellschaftlichen Wirklichkeit des deutschen Systemfaschismus in den Deutschland-Berichten der Sopade.
Die Liste problematischer Textproben soll damit geschlossen werden, obwohl sie noch beträchtlich verlängert werden könnte. Das Fazit lautet: Bei Klotz erfährt man wenig Erhellendes über die Deutschland-Berichte oder über die Sopade, dafür aber Aufschlußreiches über die methodischen Schwächen der „Marburger Schule“.
Reinhard Sturm, Göttingen Reinhard Sturm beabsichtigte in seiner Kritik meines Beitrages die methodischen Schwächen der „Marburger Schule“ offenzulegen (ob es die „Marburger Schule“ gibt, wäre eine eigene Untersuchung wert. Hier soll sie verstanden werden als wissenschaftliche Methode Wolfgang Abendroths, die sich dem materialistischen Ansatz verpflichtet weiß). Der Nachweis mußte m. E. mißlingen, schon weil die Methode seines Vorgehens Schwächen aufweist, die charakteristisch sind für eine spezifische sozialhistorische Geschichtsbetrachtung der Geschichte der Arbeiterbewegung
1. Der überwiegende Teil seiner Kritik wird anhand von Textproben vorgenommen;
2. der wissenschaftstheoretische und methodische Fundus ist zu bruchstückhaft, seine antithetischen Formulierungen sind daher von geringer Konsistenz, eine Beweisführung ist daher kaum möglich;
3. Sturms Gegenthesen können sich daher an den Textproben nicht beweisen;
4. das angeblich „nicht untypische Darstellungsund Interpretationsverfahren“ der „Marburger Schule“ (z. B., daß im Zweifelsfall die dogmatische Theorie Vorrang vor der komplizierten, sperrigen Empirie habe) wird in Form von Behauptungen seiner Kritik vorangestellt. Dieses nicht weiter entwikkelte Darstellungsverfahren bildet aber die methodische Grundlage seiner Kritik. Aufgrund von bloßen Behauptungen kann jedoch nicht der zu kritisierende Gegenstand analysiert werden, bzw. das Ergebnis dieser Analyse kann nicht realitätsgerecht sein, und zwar schon im rein methodischen Verfahrenssinne nicht. Was . realitätsgerecht* im einzelnen bedeutet, will ich unten darlegen.
Ich werde zuerst einige wesentliche allgemein-methodische Grundlagen des Ansatzes der „Marburger Schule“ ausführen und sie dann am Beispiel des Komplexes , SPD und Faschismus* konkretisieren.
W. Abendroth hat das Modell einer Geschichtsschreibung der Arbeiterbewegung entwickelt, „die ihren Gegenstand immer als Subjekt und Objekt der Gesamtgesellschaft zeigt und zugleich aktives Moment aktueller Auseinandersetzung ist
W. Abendroth: „Idealtypische Setzungen erweisen also ihren wissenschaftlichen Wert erst daran, ob sie dem gesellschaftlichen Material immanent sind, ob ihnen reale Typen gesellschaftlichen Verhaltens entsprechen. Sie sind diejenigen Abstraktionen, die das Moment der Identität in der Vielfältigkeit der geschichtlich-sozialen Erscheinungen jeweils situationsadäquat erfassen, wenn sie sinnvoll
Aus verständlichen Gründen muß ich mich in meiner Replik auf Setzungen beschränken: In der Kritik der politischen Ökonomie hat Karl Marx die Widersprüche dieser Gesellschaft und der vorangehenden als das treibende Element für die sich entwikkelnde Totalität erkannt. „Den Widerspruch als das treibende Moment der Entwicklung erkennen ist für eine Theorie identisch mit: sich auf einen Standpunkt stellen, heißt auch: sich auf den Standpunkt derjenigen . Seite* des Widerspruchs stellen, in dem die nächste Stufe der Entwicklung sich ankündigt. Die Theorie der widerspüchlichen gesellschaftlichen Totalität kann nicht anders als parteilich sein; es sei denn, sei wendet sich gegen das, was sie als real erkannt hat. Parteilichkeit in diesem Verstände ist also nicht die (wert-oder wie auch immer bezogene) Entscheidung des Wissenschaftlers. Sie ist eine nicht an den Erkenntnisgegenstand herangetragene Entscheidung; sie folgt notwendig der Analyse des Gegenstandes.“
Weil also der Erkenntnisgegenstand, hier der Kapitalismus, nicht neutral ist, kann auch die Erkenntnis selbst nicht neutral sein. Im Prozeß der gesellschaftlichen Entwicklung der kapitalistischen Gesellschaft hat sich die Arbeiterbewegung in ihren Organisationsformen als jene „Seite“ des Grundwiderspruchs von Kapital und Arbeit entwickelt, in der sich die nächste Stufe der Gesellschaftsentwicklung ankündigt, die soziale Emanzipation der menschlichen Gesellschaft. Die Arbeiterbewegung ist selbst ein Produkt des kapitalistischen Vergesellschaftungsprozesses. Ihre Organisationen entstehen auf der materiell-gesellschaftlichen Grundlage zwischen Kapitalbewegung und Klassenbewegung.
Die Hauptfrage, die sich im Zusammenhang mit der Kritik Sturms nun stellt und die nur konkret-historisch beantwortet werden kann, ist, inwieweit die Organisationen der Arbeiterbewegung dazu beigetragen haben, die Entwicklungsrichtung, also die Entwicklung hin zum Sozialismus, zu bestimmen bzw. zur Verhinderung des" Faschismus und nach 1933 zum Kampf gegen den Faschismus beigetragen haben. Solcherlei Erkenntnisse wurden im übrigen selbst im zentralen Theorieorgan der Weimarer SPD „Die Gesellschaft“ publiziert
Die Aussagekraft des materialistischen Ansatzes soll nun am Problemzusammenhang „Faschismusanalyse — antifaschistische Strategie“ überprüft werden.
Zuerst eine rein sachliche Korrektur an der Interpretation Sturms der Textprobe 1: Die Dissertation W. Saggaus (im übrigen auch eine empirische Studie, die widerlegt werden müßte, was der Autor leider verabsäumt hat) bezieht sich auf „Faschismustheorien und antifaschistische Strategien in der SPD ... in der Endphase der Weimarer Republik und in der Emigration“. Von daher beziehen sich ihre Ergebnisse gegen den aufkommenden Faschismus und gegen den Faschismus an der Macht. Seine diesbezügliche Untersuchung geht ausdrücklich davon aus und hält dieses Vorhaben durch, die damaligen realen Informationsmöglichkeiten und -grundlagen für die sozialdemokratischen Verfasser vom Stand der heutigen wissenschaftlichen Forschung zu unterscheiden. „Es ist also methodisch unhaltbar, den heutigen Erkenntnisstand als Maßstab für die Bewertung der damaligen Ergebnisse der Sozialdemokraten, für das Erkennen oder Nichterkennen des Faschismus zu verwenden.“
Die These Saggaus, daß es sowohl in quantitativem wie in qualitativem Maße detaillierte und umfangreiche . Informationen’ der SPD zur Faschismusproblematik gab, ist in ihrer Aussagekraft zu präzisieren: Erstens ist damit noch nichts darüber ausgesagt, welche Faschismusinterpretation in der SPD dominierte, und zweitens ist mit dem Begriff . Informationen’ nichts darüber ausgesagt, inwieweit sie den Charakter, das Wesen und die Funktion des Faschismus erfassen. Die Klärung dieser beiden Fragen ist aber ganz wesentlich für die Bestimmung des Verhältnisses von Faschismusanalyse und antifaschistischer Strategie sowie zur Beantwortung der Frage des Verhältnisses von Erkenntnismethode (also der politischen Theorie) und der empirisch-vorfindlichen Wirklichkeit.
In der Tat wurde z. B. von der linkssozialistischen Fraktion der Partei um Seydewitz eine weiterreichende Analyse des Faschismus entwickelt
Es ist also zu beachten, daß aufgrund ihrer Faschismusanalyse die Linkssozialisten detaillierte Kampfmaßnahmen mit einer konsequent antifaschistischen Stoßrichtung entwickeln konnten. Die Ursachen der „Folgenlosigkeit" dieser Faschismustheorien für die antifaschistische Praxis der SPD lagen u. a. an den innerparteilichen Organisationsstrukturen. Die SPD-Parteiführung besaß eine Reihe von zentralen Entscheidungspositionen, die der Entfaltung linkssozialistischer Politik(-theorien) enge Grenzen setzten. Darüber hinaus verfügte die Linke in den entscheidenden Gremien nur über einen geringen Einfluß
Die dominierende politische Theorie der SPD über den Faschismus hängt wesentlich zusammen mit der Erkenntnismethode, die vor allem in der Theorie vom organisierten Kapitalismus erscheint
Die Mehrheit der SPD vor und nach 1933 legte bei der Charakterisierung des Wesens des faschistischen Systems das Hauptgewicht auf die machtpolitischenInteressen des Staatsapparates. Diese Bestimmung führte zu einer Vielzahl von Faschismus-bildern, je nach „Durchsetzung bestimmter Personen bzw. . Machtfraktionen* bei der Erringung staatlicher Herrschaftspositionen'*
In diesem Zusammenhang kann auch der Genozid an den Juden nicht als Beleg für den Primat der Politik angeführt werden; denn es darf bezweifelt werden, ob der Charakter und das Wesen des (deutschen) Faschismus sich allein aus der Juden-vernichtung als Bestimmungsmoment ableiten läßt (siehe dagegen das überreiche Quellenmaterial zum Faschismus, das damals wie heute für den Primat der Ökonomie spricht)
Im übrigen lagen dem Massenmord an den Juden auch ökonomische Profitinteressen zugrunde, wenngleich aus der Feststellung, zwischen Profitinteressen, Faschismus und Massenmord bestünde ein unmittelbarer kausaler Zusammenhang, nicht geschlossen werden kann, er sei direkt aus den Profitinteressen der herrschenden Klasse ableitbar
Die These von der Dysfunktionalität ist ebenso unhaltbar wie waghalsig und gefährlich. Von Anbeginn an (man betreibe das Studium der Quellen
Was folgt nun aus dem methodischen Ansatz der Exil-SPD, den Faschismus zu interpretieren, für ih-ren antifaschistischen Kampf? Ziel war es, sich des Staates zu bemächtigen und die Politik grundlegend zu verändern, wie es Paul Sering (d. i. Richard Löwenthal
Daß die KPD sich in konkreten historischen Phasen, eigentlich bis 1935, partiell falsch — im Sinne einer realitätsgerechten, dem Antifaschismus zum Erfolg verhelfenden Strategie — verhalten hat, kann nicht bestritten werden. Doch lagen nicht wesentliche Ursachen für das Fehlverhalten der KPD auch in der Politik der SPD, die durch eine Stillhalte-und Abwartepolitik die Arbeiterbewegung, ja die eigenen, zur Herstellung der Einheitsfront bereiten Kräfte desorientierte? Die Sozialfaschismusthese bzw. Einheitsfront von unten-und Einheitsfront von oben-Politik hatte einmal objektive Ursachen. Die Analyse der KPD über die Rolle der Sozialdemokratie im aufkommenden Faschismus beruhte vor allem auf Erfahrungen ihrer Basis. Deren praktisch-politische Erlebnisse mit der Sozialdemokratie — vor allem, wenn sie politische Verantwortung trug (ob während der Konstitutionsphase der Weimarer Republik oder im Berliner Blutmai 1932) — schienen die Richtigkeit der Sozialfaschismusthese zu belegen. Die Sozialfaschismusthese erhielt Nahrung durch den teilweise militanten Antikommunismus, der schon in der Anfangsphase der Gründung der Weimarer Republik zu einem wesentlichen politisch-praktischen Kampfinstrument der Sozialdemokratie geworden war. 1932 bezeichneten führende Sozialdemokraten die KPD-Führung als „ein bloßes »Sammelsurium wildgewordener Kleinbürger und Intellektueller*, unaufgeklärter, rückständiger Arbeitet“, als „ . Elemente*, die . käuflich sind
Die Erkenntnis der gesellschaftlichen Realität hängt von der Fähigkeit ab, eine realitätsgerechte Gesellschafts-und Klassenanalyse zu erstellen und sie in den praktisch-politischen Kampf umzusetzen. Damit ist ein wichtiger Maßstab genannt für die Beurteilung des Zusammenhangs von politischer Theorie und politischer Praxis der Organisationen der Arbeiterbewegung. Zusammenfassend möchte ich darauf hinweisen, daß überhaupt nichts zur Klärung politisch-historischer Fragen beigetragen wird, indem wissenschaftliche Untersuchungen, ob nun in der DDR, innerhalb der „Marburger Schule“ oder in sozialdemokratischen, konservativen oder liberalen wissenschaftlichen Institutionen entstanden, mit dem Etikett versehen werden, a priori zum Fortgang wissenschaftlicher Erkenntnisse nichts beitragen zu können — der „Kommentar insoweit überflüssig“ sei, wie Sturm meint (Textprobe 3). Eine Klärung kann allerdings erreicht werden in Verbindung mit einer wissenschaftlichen Theorie, die sich an der Realität bestätigen muß — polemische Rundumschläge helfen hier wenig.
Johannes Kiotz, Marburg