I. Lehrpläne für die Sekundarstufe I (Jürgen Müller)
In den Lehrplänen aller Bundesländer ist man sich einig, daß die Schüler der Sekundarstufe I im Fach Geschichte (oder wie auch immer das Fach genannt wird) die Entwicklung der Bundesrepublik in ihren Lernstoff aufnehmen sollen. Dabei können wir in der Diskussion der letzten zehn Jahre sicherlich mit Genugtuung feststellen, daß der Stellenwert der Nachkriegsgeschichte im Geschichtsunterricht gestiegen ist. Wurde anfänglich diese Thematik mit einem gewissen Zögern angefaßt — aus welchen (verständlichen) Gründen auch immer —, so kann heute festgestellt werden, daß in allen Lehrplänen der Bundesländer diese Thematik ihren festen Platz hat und durch ent sprechende Verbindlichkeit die Lehrer diese Themen in ihren Unterricht aufnehmen. Doch stellen sich uns dabei Fragen:
— Können wir mit dem, was in den Lehrplänen, Schulbüchern etc. über die Entwicklung der Bundesrepublik steht, angesichts neuer Forschungsergebnisse noch zufrieden sein?
— Auf welches Fundament wird die Entstehungsgeschichte und die Weiterentwicklung der Bundesrepublik gestellt?
— Reicht dieses Fundament aus, den Schülern auch eine Identifikation mit dem Staat zu geben, in dem sie leben?
— Haben wir die Entwicklungsphasen bis in die fünfziger Jahre den veränderten Forschungsergebnissen angepaßt und die feststehenden Ergebnisse kritisch beleuchtet?
Diese wenigen Fragen verdeutlichen, in welcher Richtung die Diskussionen in den letzten Jahren geführt wurden. Im wesentlichen waren sie vorgegeben durch neue Forschungsergebnisse, die durch die Aufhebung der Sperrfristen der Archive in England und den USA möglich wurden.
Betrachtet man die Lehrpläne unserer Bundesländer, so können wir für alle Lehrpläne festhalten, daß das Thema „Entwicklung Westdeutschlands nach dem Zweiten Weltkrieg“ in verschiedenster Themenstellung überall zu behandeln ist. Je nach Akzentuierung des Faches (Geschichte, Gesellschaftslehre) . werden jedoch unterschiedliche Schwerpunkte gesetzt. Im folgenden wird anhand der Lehrpläne der Bundesländer Nordrhein-Westfalen, Bremen, Hessen, Rheinland-Pfalz und Baden-Württemberg exemplarisch gezeigt, wie in diesen Bundesländern die Thematik behandelt werden soll.
Nordrhein-Westfalen: Realschule, Klasse 10: Das Fach Geschichte gehört hier in den Bereich der Gesellschaftslehre und wird einstündig in der Klasse 10 unterrichtet ). Der Unterrichtsabschnitt 18 a lautet: „Der Ost-West-Gegensatz (1945— 1949)“. Hier werden genannt: Konferenz von Potsdam, Ost-West-Gegensatz, Neuordnung Deutschlands, gegensätzliche politische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Vorstellungen, Blockbildung.
Inhaltliche Aspekte: Gesellschaftssysteme — Kalter Krieg — Marktwirtschaft — zentrale Verwaltungswirtschaft. Im Unterrichtsabschnitt 19 „Die Bundesrepublik und die DDR von 1945 bis zur Gegenwart“ sollen die Schüler erkennen, daß sich vor dem Hintergrund des Ost-West-Gegensatzes auf dem Gebiet des Deutschen Reiches aus den Besatzungszonen der Westmächte und der UdSSR zwei Staaten bilden. Ähnlich lautet die Thematik auch im Lehrplan des Gymnasiums. Die genannten Stichworte finden wir dort wieder. Hessen: Hier wird in Kapitel 14 der Zusammenbruch des Deutschen Reiches beschrieben 2). Schwerpunkt ist die Bildung der deutschen Länder, die Entwicklung Deutschlands seit 1945, die Deutsche Frage. Die Einzelfragen gruppieren sich um die Themen „Länder und Landesverfassung“, „Grundgesetz und Verfassung der DDR“. Schlagworte sind: Marshallplan, Währungsreform, Soziale Marktwirtschaft.
Bremen: Hier lautet das Thema „Deutschland nach 1945“ Es wird auf die Pläne und Vereinba-rungen der Alliierten abgezielt. Die Frage der staatlichen Organisation sei offen. Auch hier finden wir die Begriffe: Soziale Marktwirtschaft, Währungsreform, Kalter Krieg. Das Thema, das im Gymnasium gleichlautend behandelt wird, gilt als verbindlicher epochenspezifischer Schwerpunkt, so daß etwa 15 Stunden anzusetzen sind; es erstreckt sich bis zum Grundlagenvertrag 1972. Es wird also, ausgehend von 1945, die gesamte Bandbreite bis in die heutige Zeit in eine Unterrichts-reihe gefaßt.
Baden-Württemberg: Hier werden der Ost-West-Konflikt und die Entwicklung in Deutschland seit dem Zweiten Weltkrieg behandelt 4). Es geht im wesentlichen um die Errichtung der Besatzungszonen nach der bedingungslosen Kapitulation. Als politische und wirtschaftliche Weichenstellungen in den Besatzungszonen werden genannt: Die Londoner Viermächtekonferenz 1947, Münchener Ministerpräsidentenkonferenz vom 6. /7. Juni 1947. In der Realschule endet die Behandlung dieser Thematik mit der Entstehung der Bundesrepublik am 23. Mai 1949. Das Gymnasium verfügt über insgesamt 60 Schulstunden für diesen Lehrplan pro Schuljahr, die Realschule über 50 Stunden.
Rheinland-Pfalz: Deutschland wird als Objekt der Siegermächte gesehen. Die Entstehung der Bundesrepublik wird vornehmlich im Zusammenhang der Ost-West-Spannung dargestellt, ebenso wird die Westintegration unter Adenauer als Voraussetzung für ihre Souveränität bewertet 5).
3. Die Lehrplananalyse zeigt, daß sich die Thematik der Na
3. Die Lehrplananalyse zeigt, daß sich die Thematik der Nachkriegsgeschichte an den Vorstellungen orientiert, die in den sechziger und siebziger Jahren geprägt wurden. Neuöre und neueste Forschungsergebnisse sind, wenn überhaupt, nur spärlich berücksichtigt. Gerade diese neueren Forschungen über die Bedeutung der wirtschaftlichen Ausgangsbedingungen und des Aufschwungs vor der Währungsreform sowie des Wirtschaftsrates sind in die Lehrpläne noch nicht aufgenommen. Die Wirtschaftspolitik in den Westzonen wird hauptsächlich am Marshallplan und an der Währungsreform aufgezeigt, die Wirtschaftsordnungen stehen im Zeichen des dominierenden Ost-West-Gegensatzes.
Darüber hinaus wird der Handlungsspielraum der Deutschen erst mit dem Entstehen der großen Parteien dargestellt. Das Erreichen der Staatlichkeit, ausgehend von der sogenannten Stunde Null, steht im Vordergrund. Die sich daraus entwickelnde „Deutsche Frage“ verdrängt im wesentlichen die differenzierte Darstellung, daß die Bundesrepublik letztlich von Menschen regiert und mitgestaltet wurde, die bereits in der Weimarer Republik Verantwortung trugen, ja dort ihre politische Prägung erhielten. Gerade die Forschungsergebnisse Steiningers zeigen deutlich, daß wir nach dem Öffnen der englischen und amerikanischen Archive diese Thematik neu analysieren und darstellen müssen. Über die Last des nationalsozialistischen Erbes schweigen die Lehrpläne. Die schwierige Frage der Verantwortlichkeit bleibt un-bewertet. Die Leitlinie, die sich in allen Lehrplänen zeigt, führt unter Verwendung der uns bekannten Begriffe von 1945 bis zur Gründung der Bundesrepublik 1949 und darüber hinaus — eingebettet in den Ost-West-Konflikt — zur Politik der fünfziger Jahre. Bezeichnend erscheint mir die Feststellung des Forschungsberichtes 47 „Die Darstellungen der Entstehung der Bundesrepublik der wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und politischen Weichenstellungen weisen teilweise eklatante Informationsdefizite auf.“
4. Nun sollte man nicht bei der Beschreibung einer „Negativbilanz“ stehen bleiben. In den von mir berücksichtigten Lehrplänen liegen natürlich auch Chancen für einen Unterricht, der mit diesen neuen Forschungsergebnissen gestaltet werden kann. Die in den Lehrplänen zum Teil sehr allgemeinen Formulierungen geben dem Unterrichtenden durchaus die Möglichkeit, im Detail die oben erwähnten Forschungsergebnisse zu rezipieren und sie, didaktisch aufbereitet, im Unterricht umzusetzen. Schwierig wird es natürlich dort, wo die Fülle des Stoffes mit den Zeitangaben des Lehrplans kollidiert. Am Beispiel des Lehrplanes Rheinland-Pfalz (Realschule, Gymnasium) möchte ich kurz verdeutlichen, welche Möglichkeiten der Lehrer dort hat.
Der Lehrplan ist so angelegt, daß der Unterrichtsstoff in 25 Jahreswochen bewältigt werden kann. Das bedeutet, daß für das Fach Geschichte von Klasse 7 bis 10 fünfzig Stunden angesetzt werden. Da jedoch im Schuljahr ca. 60 bis 63 Stunden, je nach Dauer des Schuljahres, zur Verfügung stehen, hat der Lehrer die Möglichkeit, eine Schwerpunktbildung vorzunehmen, von der er meint, daß hier eine Vertiefung notwendig wäre. Somit kann der Lehrer in Klasse 10 das Thema „Deutschland ab 1945“ erweitern. Vorgesehen hat der Lehrplan dafür 9 Stunden; wenn also die Schwerpunktbildung bei diesem Thema geleistet werden soll, könnte man hier bis zu 10 Stunden hinzufügen. Diese Erhöhung auf ca. 19 Stunden könnte dazu dienen, die neuen Forschungsaspekte zu diesem Thema im Unterricht zu beleuchten. Hier bietet der Lehrplan eine Freiheit, die es zu nutzen gilt.
Die anderen untersuchten Lehrpläne arbeiten entweder mit festumrissenen Stundenrastern, oder sie weisen neben verpflichtenden Themen — wie etwa Bremen — Zusatzthemen aus. Hier wiederum besteht die Möglichkeit, eine Schwerpunktbildung innerhalb des Schuljahres vorzunehmen. Diese Möglichkeiten zu nutzen, ist nun Aufgabe des einzelnen Lehrers. Allerdings bedarf es zweier wichtiger Voraussetzungen, um dies durchzuführen: Zum einen müßten die neuen Forschungsergebnisse möglichst auch in den Lehrbüchern stehen, zum anderen müßten die Lehrer selbst mit diesen Forschungsergebnissen vertraut sein. Beim ersten Punkt sind Lehrbuchautoren und Verlage verantwortlich, beim zweiten Aspekt ist der Staat gefordert, und zwar in der Institution der Lehrerfortbildung.
Zusammenfassend läßt sich sagen, daß bei dieser Thematik das eigenverantwortliche Handeln des Lehrers gefordert ist, um der kommenden Schülergeneration die Thematik auf der Basis der neuesten Forschungsergebnisse darzustellen. Dennoch dürfen wir nicht vergessen, auch unsere Lehrpläne mit der Zeit diesen Erfordernissen anzupassen. Von daher wären Überlegungen zu entwickeln, wie Anregungen durch Forschung und Praxis in die Lehrpläne durch Zusatzmaterialien aufgenommen werden können. Zunächst gilt es, auf der Grundlage der vorhandenen Lehrpläne möglichst die Freiheiten zu nutzen, die dem Lehrer gegeben sind.
II. Schulbücher für die Sekundarstufe I und II (Heinz Pfefferle)
Als repräsentative Auswahl wurden folgende Schulbücher untersucht: Geschichte (B. Heinloth), Ausgabe B, Bd. 4, 1982; 2. Zeiten und Menschen (E. Goerlitz/J. Immisch), Neue Ausgabe B, Bd. 4, (BW), 1984; 3. Geschichtliche Weltkunde (J. Hoffmann/E. Krautkrämer), Bd. 4, 1984; 4. Geschichte und Gegenwart (H. U. Rudolf/E. Walter), Bd. 4 (BW), 1984; 5. Politik und Gesell schäft (W. Kampmann/B. Wiegand), Bd. 2, 1981; 6. Zeiten und Menschen (R. -H. Tenbrock/K. Kluxen/E. Goerlitz), Ausgabe K, Bd. 4/II, 1986 1).
Erstaunlich ist bei der kritischen Durchsicht dieser Bücher die starke Uniformität bezüglich der Schwerpunktsetzung. Die Stoffauswahl aller dieser Bücher ist nahezu identisch. Dies ist um so bemerkenswerter, als die Nachkriegszeit keineswegs gleichförmig geschildert wird, sondern im Gegenteil unterschiedliche Akzentsetzungen stattfinden. Unabhängig von Schultyp und Jahrgangs-stufe werden die Schwerpunkte der Darstellung auf folgende Bereiche gelegt: die Potsdamer Konferenz und die unmittelbare Nachkriegszeit im Jahr 1945; der Kalte Krieg und die Berlinblokkade; die unmittelbare Vorgeschichte der Bundesrepublik (mit der Überreichung der Frankfurter Dokumente beginnend); die Parteienlandschaft; die Westintegration der Bundesrepublik.
Eindeutig liegt der Akzent auf der sogenannten „Stunde Null“. Thematisch liegt der Schwerpunkt bei der Frage der Staatlichkeit: Die Zerschlagung des Nationalstaats, die Grenzziehungen, der Verlust der Souveränität und ihre allmähliche Wiedergewinnung werden in allen Schulbüchern ausführlich behandelt. Bedenklich ist dabei der Umstand, daß die Frage der deutschen Spaltung andere Themen ganz verdrängt. Nicht berührt wird der Zeitraum zwischen 1946 und 1948. In sachlicher Hinsicht ist es die Wirtschafts-und Sozialgeschichte, die dieser Darstellungsweise zum Opfer fällt. Unabhängig von Schulart und Jahrgangs-stufe erfahren die Schüler so gut wie nichts über — die wirtschaftliche Entwicklung von 1946 bis 1948, — die Diskussion über die Wirtschaftsordnung in Westdeutschland und die Weichenstellung in neoliberale Richtung sowie — über antikapitalistische Strömungen in den Westzonen und Sozialisierungsversuche außerhalb der SBZla)
Umgekehrt wird des öfteren die Spaltung des Berliner Magistrats im Zeichen der Berliner Blockade ausführlich geschildert — um nur ein Beispiel zu nennen.
In allen Schulbüchern wird — ausnahmslos — die Wirtschaftsgeschichte der Nachkriegszeit für die Westzonen auf zwei Punkte reduziert: die Marshallplanhilfe und die Währungsreform. Der Schüler muß so den Eindruck gewinnen, als habe die wirtschaftliche Entwicklung in den Westzonen erst im Jahr 1948 begonnen.
Aber selbst innerhalb dieser Themenbereiche finden sich erstaunliche Lücken: Die meisten Schulbücher schweigen sich darüber aus, daß mit der Währungsreform plötzlich eine Fülle vorher nicht erhältlicher Güter angeboten wurden — für die Zeitgenossen immerhin einer der wichtigsten Aspekte. Sofern diese Tatsache überhaupt vermerkt wird, geschieht dies ohne jede Erklärung über die Herkunft der Waren. Der Schüler kann sich nicht erklären, warum es in einem Land, des sen Armut in Wort und Bild vorher breit und beredt geschildert wird, eine solche Warenfülle überhaupt gegeben haben konnte. Die Lücke zwischen der „Stunde Null“ 1945 und dem zweiten Halbjahr 1948 wirkt sich hier im Hinblick auf das Verständnis geschichtlicher Zusammenhänge bedenklich aus. Seltsam berührt bei der lapidaren Kürze der Darstellung der Währungsreform, wenn ein Oberstufenband penibel vermerkt: „Für die Ausgabe und Kontrolle der neuen, in den USA gedruckten Banknoten wurde die Bank Deutscher Länder geschaffen, aus der die Deutsche Bundesbank hervorgegangen ist.“ 2) Typisch erscheint hier die Überbetonung des institutioneil Typisch erscheint hier die Überbetonung des institutioneilen Aspekts — Geschichte wird zur Geschichte bundesrepublikanischer Institutionen verkürzt Dasselbe Schulbuch erwähnt mit keinem Wort die sozialen Folgen der Währungsreform, was übrigens um so grotesker wirkt, als zwanzig Seiten später ein „Gesetz über den allgemeinen Lasten-ausgleich"' erwähnt wird, von dem der Schüler weder hier noch dort erfährt, was dies eigentlich bedeutet Auch andere Bücher schweigen sich, über die sozialen Konsequenzen ganz aus. Es wird in diesem Zusammenhang nicht einmal erwähnt, daß Sachwerte vom Währungsschnitt unberührt gelassen wurden; offensichtlich wird vom Mittelstufenschüler erwartet, daß er diese Konsequenz selber zieht. Ein anderes Buch erwähnt lediglich die „großen Gewinne“ aus Unternehmertätigkeit aus der Zeit nach der Währungsreform Gleichwohl stellt eben dieses Buch am Ende dieses Kapitels die Frage: „Am 21. 1948 besaß jeder Einwohner der Westzonen nur 40, — DM in neuer Währung; warum blieben trotz (!) der Währungsreform große Vermögensunterschiede bestehen?“ 6) Da dem Schüler die zur Beantwortung dieser Frage notwendigen Fakten vorenthalten werden, kann er nur spekulativ die Sonderstellung der Sachwerte ermitteln.
Ähnlich lückenhaft und mißverständlich bleibt die Darstellung des zweiten Schwerpunkts der Wirtschaftsgeschichte der Nachkriegszeit, des Marshallplans. Von ihm vermerkt ein Oberstufenband nur lapidar, daß dieses Hilfsprogramm „der politischen und wirtschaftlichen Stärkung der europäischen Länder“ dienen sollte Nur wenig verständlich für Schüler der Mittelstufe dürfte die Erklärung eines anderen Buches sein, daß durch den Marshallplan die europäische Industrieproduktion beträchtlich gesteigert werden sollte, „um das Gleichgewicht von Import und Export wiederherzustellen“ Nur ausnahmsweise werden die Hintergründe für dieses „großzügige Hilfsprogramm“ erklärt: „Das Hilfsprogramm entsprach auch den Interessen der amerikanischen Wirtschaft, für die es Absatzmärkte für ihre Produkte schuf.“ 10) Dieser Satz zeigt zugleich, daß es keine Frage des Umfangs ist, eine historisch korrekte Darstellung zu geben. Analog wird übrigens bei der Gründung der Bizone meistens übergangen, daß hierbei die Entlastung des britischen Steuerzahlers eine zentrale Rolle spielte. Da nur die wirtschaftliche Notlage der Westzonen erwähnt wird, muß sich beim Schüler die Vorstellung einer wesentlich karitativen Haltung der Westmächte einstellen.
Ein letztes Beispiel für das Ausblenden ökonomischer Zusammenhänge in der Nachkriegsgeschichte: Das Potsdamer Protokoll wird in allen Schulbüchern ausführlich wiedergegeben. Es nimmt meist etwa ein Fünftel der Gesamtdarstellung des Zeitraums von 1945 bis 1949 ein. Während der Aspekt der staatlichen Einheit umfassend wiedergegeben wird, bleiben die wirtschaftlichen Bestimmungen des Protokolls fast immer außer Betracht: Über Produktionsbeschränkungen im industriellen Bereich, Entflechtungsmaßnahmen und Sozialisierungsabsichten bei Groß-grundbesitz und Industrie im Bereich der Westzonen erfährt der Schüler nur ausnahmsweise etwas. Die Nachkriegsgeschichte Westdeutschlands wird insgesamt fast ausschließlich unter den Aspekt des Ost-West-Konflikts gestellt mit der Folge, daß fast alle anderen Konfliktfelder übergangen werden. Die Währungsreform beispielsweise wird nur positiv, ja apologetisch dargestellt: „Der angestrebte Wirtschaftsaufbau bedingte einen geordneten Geldumlauf. Daher verkündeten die Westmächte für ihre Zonen am 18. Juli 1948 die Währungsgesetze ... Umgetauscht wurde die alte gegen die neue Währung in beiden Teilen Deutschlands etwa im Verhältnis : 1; anfangs bekam jeder nur ein bestimmtes , Kopfgeld 1 von 40, — bzw. 70, — , Deutsche Mark’. Diese beiden Sätze enthalten nicht nur sachliche Fehler, sondern suggerieren, daß die Umtausch-und Umwertungsmodalitäten ohne jede Alternative gewesen seien, obwohl es allein von Seiten deutscher Experten zahlreiche Pläne gab.
Nach dem bisher Gesagten kann es nicht mehr verwundern, wenn in einer Reihe von Büchern erst gar nicht thematisiert wird, daß es in den Westzonen eine intensive ordnungspolitische Debatte gab. Es ist eine große Ausnahme, wenn der Schüler darüber informiert wird, daß es auch in den Westzonen Sozialisierungsabsichten und Enteignungsmaßnahmen gab Die Meinungsunterschiede darüber zwischen der amerikanischen und der britischen Regierung werden nirgends erwähnt. Meist wird auch erst gar nicht thematisiert, daß die Freigabe der Preise durch Ludwig Erhard heftig umstritten war: „Zugleich (mit der Währungsreform) hob der Direktor der , Verwaltung für Wirtschaft im Vereinigten Wirtschaftsgebiet, Ludwig Erhard, die Rationierung der meisten Industrieprodukte auf. Produktion und Handel belebten sich schnell, nach wenigen Monaten konnte auch die Rationierung der Lebensmittel aufgehoben werden. Da Löhne und Gehälter noch recht niedrig, die Preise aber hoch waren — es also keinen Kaufkraftüberhang mehr gab —, blieb nicht nur der Wert des neuen Geldes stabil, sondern die Fabriken konnten auch aus ihren großen Gewinnen ihre Produktionsstätten modernisieren und erweitern und damit neue Arbeitsplätze schaffen.“
Zwar wird später die Vermögenskonzentration als negative Folge erwähnt, es bleibt aber insgesamt ein apologetischer Tonfall zu konstatieren. Negativentwicklungen der Währungsreform wie etwa starker Preisanstieg (der den Wert der neuen Währung innerhalb weniger Monate um ein Fünftel reduzierte), die Verdoppelung der Arbeitslosigkeit und die stark sinkenden Erträge der Landwirte werden völlig übergangen. Über die Beweggründe und Alternativvorstellungen der Gegner Ludwig Erhards erfährt man nur in einem einzigen der untersuchten Schulbücher etwas
Das Bestreben, bei den Schülern eine Identifikation mit dem Weststaat herzustellen, ist in allen Schulbüchern deutlich, mit der Folge, daß alle Konflikte innerhalb seiner Entstehungsphase faktisch negiert werden
Obwohl der Außenpolitik und insbesondere der Westintegration viel Raum gewidmet wird, bestehen auch hier erstaunliche Lücken. Es fehlt zwar nicht ein Abschnitt über die Stalin-Note, an der Alternativen zur Westintegration aufgezeigt werden, und es ist schon eine Ausnahme, wenn sie gar nicht erwähnt wird. Udo Margedant meint sogar konstatieren zu können: „Während die deutschfranzösisiche Verständigung in der Regel mit knappen Hinweisen gewürdigt wird, erregt die Stalin-Note von 1952 erhebliche Aufmerksamkeit. ”
Die Verknüpfung von Außen-und Innenpolitik dagegen wird nicht geleistet. Daß das Montanmitbestimmungsgesetz von 1951 den Gewerkschaften die Westorientierung der Regierung Adenauer akzeptabel machen sollte, wird nirgends erwähnt. Primär liegt dies nun freilich wieder an den Schwächen des innenpolitischen Teils: Die eine Hälfte der untersuchten Bücher erwähnt das wichtige Montanmitbestimmungsgesetz von 1951 gar nicht, die andere Hälfte beschränkt sich auf denkbar knappe Hinweise. Typisch ist etwa die folgende Formulierung: „Schon 1951 wurde die paritätische Mitbestimmung (d. h. die gleichberechtigte Vertretung der Aktionäre und Arbeitnehmer in der Betriebsführung) von CDU und SPD gemeinsam beschlossen; allerdings blieb das Mitbestimmungsgesetz auf die Betriebe des Bergbaus und der eisen-und stahlerzeugenden Industrie mit über 1 000 Beschäftigten eingeschränkt.“ Weder die Vorgeschichte des Gesetzes in der englischen Besatzungszeit, noch das dahinterstehende politische Kalkül werden erwähnt. Außerdem schließt sich der zitierte Abschnitt an eine Passage über die Rentenreform von 1957 an, so daß dem Schüler als Anleitung zur Einordnung eher ein diffuser sozialer Gerechtigkeitsgedanke angeboten wird, als eine grundsätzliche Alternative in der Wirtschaftsordnung der Bundesrepublik Deutschland.
III. Schulbücher der berufsbildenden Schule (Doris Obschernitzki)
Die klassische Vermittlungsinstanz Schule tut sich von jeher schwer mit der Umsetzung neuester Forschungsergebnisse. Dazu tragen zum einen die Bedingungen des Schulbuchmarktes bei, zum anderen die Probleme, vor die sich jeder Lehrer gestellt sieht, wenn er Weiterbildungsmöglichkeiten wahrnehmen will. Für die berufsbildenden Schulen (BBS) verschärfen sich die Bedingungen zu-dem durch den eingeschränkten zeitlichen Rahmen für die Unterrichtsfächer Sozialkunde und Geschichte. So war auch nicht zu erwarten, daß die neueren wissenschaftlichen Erkenntnisse über die frühe Nachkriegszeit unmittelbar Eingang in die Schulbücher finden würden.
Nachdem viele Forschungsergebnisse nun teilweise schon seit zehn Jahren vorliegen und inzwischen weiter differenziert wurden, scheint es allerdings dringend geboten, von bestimmten tradierten und liebgewonnenen Nachkriegslegenden Abschied zu nehmen. Wie dringend diese Änderung ist, zeigt eine Bestandsaufnahme der Darstellungen früher Nachkriegsentwicklungen in Lehrbüchern für die berufsbildenden Schulen.
Der Untersuchung lagen 17 Bücher zugrunde, die für den Gebrauch an bundesdeutschen Schulen zugelassen sind Drei davon sind Materialien-sammlungen, drei weitere nicht speziell, alle anderen ausdrücklich für die BBS konzipiert. Zum Vergleich wurde ein neueres, 1982 erschienenes Geschichtsbuch der Sekundarstufe II (Gymnasium) herangezogen um einen nicht nur immanenten Maßstab zu gewinnen. Von den 17 Büchern sind nur zwei vor 1975 erschienen, acht in den Jahren von 1975 bis 1979, sieben seit 1980. Diese letzteren enthalten auch überarbeitete Neuauflagen, deren erste Fassungen zwischen 1975 und 1979 erschienen sind. Neun der Bücher sind ausdrücklich als Sozialkundebücher ausgewiesen, acht als Geschichtsbücher.
In der Darstellungsform überwiegt die zusammenfassende Darstellung durch die Autoren, wobei drei Bücher keinerlei Quellenmaterial enthalten. Zwei beschränken sich für den zu untersuchenden Zeitraum auf die Wiedergabe einer Da-tenliste die drei Materialiensammlungen bieten zusammenfassende Überleitungstexte.
In allen Büchern werden die alliierten Konferenzen, insbesondere die Potsdamer Konferenz, ausführlich — teilweise mit auszugsweiser Wiedergabe der Konferenz-Beschlüsse — vorgestellt. Es folgen eine Erläuterung des Systems der Besatzungsverwaltung und dann die Darstellung der Entwicklung in den Westzonen — die von Anfang an als Einheit gesehen werden — sowie die in der SBZ. Hier sind wichtige Themen die Zulassung der Parteien und die Bodenreform. Der nächste Punkt der Entwicklung ist für alle Darstellungen der Marshallplan, dem unmittelbar die Währungsreform angeschlossen wird. An dieser Stelle geben die meisten Bücher erläuternde Hinweise auf die weltpolitischen Entwicklungen, um dann über die Darstellung der Berlin-Blockade und die Erwähnung des Parlamentarischen Rates mit der Gründung der Bundesrepublik diesen Abschnitt deutscher Geschichte zu beenden. Die fünfziger Jahre werden zusammenfassend als erfolgreiches Ringen um die volle Souveränität vorgestellt, wobei Westintegration und Wiedervereinigungsbestrebungen überwiegend nicht als Gegensatz gesehen werden. Die Note der Sowjetunion von 1952 wird in acht Büchern erwähnt, aber kaum diskutiert
So entsteht das Bild einer geradlinigen, mit Notwendigkeit aus den weltpolitischen Entwicklungen sich ergebenden Blockteilung Deutschlands, an der deutsche Stellen nicht beteiligt waren: „Die Zweiteilung Deutschlands hat ihre Ursache darin, daß zwei Mächte mit grundverschiedenen, einander ausschließenden Staats-und Gesellschaftsanschauungen von Deutschland Besitz ergriffen hatten. Die deutsche Spaltung geht also auf Hitlers Entschlüsse des Jahres 1941 zurück, sowohl mit Rußland als auch mit Amerika Krieg zu führen. Die späteren Ereignisse haben sich daraus mit nahezu schicksalhafter Zwangsläufigkeit ergeben.“
Sind sich in diesen Punkten alle einig, so beginnen die Unterschiede, sobald man die Bereiche als Kriterien nimmt, zu denen neue Forschungsergebnisse vorliegen. Für diese Betrachtung bleiben allerdings nur noch 14 Bücher übrig, da in dreien der Zeitraum so kurz abgehandelt wird — als Extrem enthält ein Buch einen einzigen (!) Satz, der die Jahre 1945 bis 1949 zusammenfaßt —, daß hier inhaltliche Differenzierungen nicht mehr möglich sind. Diese drei gehören in die Gruppe der Sozialkundebücher. In drei Geschichtsbüchern erscheint in einer Auflistung das Petersber-ger Abkommen, und sechs Bücher sprechen die Problematik der Wiederbewaffnung der Bundesrepublik an. Die Westorientierung beginnt frühestens 1948 in einem Buch erst 1955 sonst überwiegt 1949 (Gründung der Bundesrepublik) als Beginn. Die bedeutende Rolle des Frankfurter Wirtschaftsrates bei der Herausbildung des westdeutschen Teilstaates scheint nur in fünf Büchern auf ohne allerdings weiter ausgeführt zu werden. Andere Bereiche, die in den letzten zehn Jahren Gegenstand der Forschung waren, werden überhaupt nicht erwähnt: Eine Darstellung bzw. Auseinandersetzung mit der Frage der Sozialisierung, der Industrieentwicklung der Jahre 1945 bis 1947, der Bodenreform in den Westzonen, der Montanmitbestimmung oder des Zusamenhangs von westdeutscher Wirtschaftsentwicklung und Korea-Krieg kommt kaum vor — weder in überlieferter, noch in neuerer Interpretation Eine Ausnahme bildet hier nur die von Werner Abelshauser u. a. verfaßte „Geschichte in Perspektiven“, in der sowohl Sozialisierung als auch Frankfurter Wirtschaftsrat und der Zusammenhang von Wirtschaftsentwicklung und Korea-Krieg angesprochen werden.
In die vorliegenden, für den Gebrauch in den berufsbildenden Schulen der Bundesrepublik zugelassenen Büchern sind also die neueren Forschungsergebnisse nicht eingegangen. Ncch herrscht das Bild der total zerstörten deutschen Wirtschaft vor, für die erst durch den Marshallplan und die Währungsreform das „Wirtschaftswunder“ anbrach. Zu diesem Bild gehört auch die immer wieder behauptete Handlungsunfähigkeit deutscher Politiker, die höchstens im kommunalen Bereich Möglichkeiten gehabt hätten, eigene Vorstellungen einzubringen. Auch an diesem Punkt sind neuere, das Bild entscheidend verändernde Forschungsergebnisse noch nicht in die Schulbücher gelangt. Es fehlt vor allem die Behandlung des Formierungsprozesses deutscher gesellschaftlicher Gruppen außerhalb der zugelassenen Parteien. Weder Gewerkschaften noch Arbeitgeberverbände noch die frühen Antifa-Ausschüsse werden erwähnt. In diesen Darstellungen bleibt „das Volk“ — zu dem schließlich auch die Schüler gehören, die aus dieser Geschichte lernen sollen — unbeteiligt, passiv. So bleibt festzuhalten, daß zumindest den Schülern der BBS immer noch ein Bild bundesdeutscher Nachkriegsgeschichte vermittelt wird, das Deutschland als Spielball der Großmächte und die Teilung als weltpolitisch begründete Notwendigkeit sieht. In dieser , großen Geschichte, deren Ablauf geprägt ist von Konferenzen und Konfrontationen, haben weder die Belange der , Kleinen ihren Platz, noch kann die Darstellung Handlungsmöglichkeiten für sie aufzeigen.
Zieht man zum Vergleich eines der neueren, für die Sekundarstufe II (Gymnasium) erarbeiteten Lehrbücher heran so fällt auf, daß es sich sowohl in der Form als auch im Inhalt wesentlich von den anderen unterscheidet. In ihm werden auf 296 Seiten differenzierte Dokumente zu allen Aspekten der Nachkriegszeit (mit neuen Forschungsergebnissen!) in systematischer Zusammenstellung dargeboten. Die Arbeit der Autoren bestand hier nicht mehr in einer zusammenfassenden Darstellung, die den Schülern die Wertung vorgibt, sondern in der Aufarbeitung der Problematik und der Auswahl der Quellen. Diese Form ermöglicht es den Schülern, Zusammenhänge zu erkennen und ein wertendes Urteil zu erarbeiten. An dieser Stelle offenbart sich eine immer noch latent vorhandene unterschiedliche Wertung der Ausbildungen in unserem Schulsystem. Warum eigentlich kann den Schülern der BBS nicht Vergleichbares angeboten werden, wie es beispielhaft in dem gymnasialen Lehrbuch vorgelegt wurde? Sicher sind die Rahmenbedingungen andere, das darf nicht übersehen werden. Der allgemeinbildende Unterricht an berufsbildenden Schulen ist auf ein Minimum beschränkt. Zwei Schulstunden (90 Minuten) werden pro Woche z. B. für Deutsch und Sozialkunde zugestanden. Die Erwartungen, die an diesen Unterricht gestellt werden, bewegen sich im Rahmen der Vermittlung unmittelbar anwendbarer Kulturtechniken und führen dazu, daß z. B.der Sozialkundeunterricht überwiegend aus Institutionenlehre, Rechtskunde oder Volkswirtschaftslehre besteht. Dieser Ansatz kann jedoch bestenfalls einen Ist-Zustand beschreiben, niemals aber Entwicklungen aufzeigen. Somit werden auch keine Handlungsmöglichkeiten entwikkelt und die Schüler — in den letzten Jahren ihrer Ausbildung zum überwiegenden Teil schon wahlberechtigt — kaum zu einem aktiven Politikverständnis gebracht, das sie sich als Subjekt politischen Geschehens in der Bundesrepublik erfahren ließe.
Der extrem begrenzte zeitliche Rahmen wird eine detaillierte Behandlung des Themas wie im Leistungskurs oder auch nur im Grundkurs des Gymnasiums sicher nicht erlauben. Dennoch müßten weder überholte Formen noch Inhalte mit dieser Begründung beibehalten werden. Auch unter den Bedingungen der BBS sollte Modernität und aktueller Forschungsstand Selbstverständlichkeit sein. Schließlich ist z. B. im neuen Rahmenplan für die Berliner BBS, der im laufenden Schuljahr in Kraft trat, ein Themenbereich „Deutschland im