Anfang 1986 war die Aufmerksamkeit der Welt auf ein südostasiatisches Land gerichtet, das gemeinhin nicht im Mittelpunkt des Interesses steht. Anlaß war zudem ein Ereignis, das in Asien in der Regel keine größeren Überraschungen verspricht: (Präsidentschafts-) Wahlen. Auf den Philippinen hatte Präsident Marcos kurzfristig und vorzeitig die für 1987 vorgesehenen Präsidentschaftswahlen auf den 6. Februar 1986 vorverlegt. Marcos befand sich seit 1965 im Amt, als er den damaligen Präsidenten Macapagal — durchaus in der Tradition des Landes (von 1946 bis 1965 gab es fünf Präsidenten) — durch Wahlen ablösen konnte. 1969 gelang ihm als erster Präsident eine Wiederwahl. Als eine weitere Verlängerung unter demokratischem Regime immer unwahrscheinlicher wurde, verhängte er das Kriegsrecht und regierte auf dem Verordnungswege (seit 1972). Auch nach formaler Aufhebung des Kriegsrechts, neuerlichen Parlaments-(1978, 1984) und Präsidentschaftswahlen (1981) behielt er seine autoritäre Machtfülle. Zu den Präsidentschaftswahlen 1986 wurden zwischen 800 und 000 Journalisten sowie weitere Wahlbeobachter, viele ohne Südostasien-und Philippinen-Erfahrungen und -Kenntnisse, von ihren Rundfunk-, Fernseh-und Zeitungsredaktionen nach Manila geschickt, um über die Wahlen und die unvorhersehbaren anschließenden dramatischen Ereignisse zu berichten. Amerikanischen Präsidentschafts-oder europäischen Parlamentswahlen — ungeachtet ihrer gewichtigeren weltpolitischen Bedeutung und größeren Unkalkulierbarkeit — dürfte ein kaum größeres Medieninteresse zuteil werden.
Der Sturz des Marcos-Regimes im Februar 1986
Der Niedergang des Marcos-Regimes hatte verschiedene Ursachen. An ihm waren mehrere philippinische und auch transnationale Akteure und Akteursgruppen mit unterschiedlichen Interessen beteiligt. Er erfolgte auf dem Hintergrund einer sich verschärfenden Wirtschaftskrise.
Die Destabilisierung des Regimes durch die Wirtschaftskrise der achtziger Jahre Die Ursachen der Wirtschaftskrise liegen z. T. weiter zurück. Seit Beginn der achtziger Jahre wurde sie jedoch durch zunächst sinkende, dann sogar negative Wachstumsraten sichtbar 1). Sie wurde durch externe und binnenwirtschaftliche Entwicklungen verursacht. Dazu gehörte eine Verschlechterung der terms of trade und die Finanzierung der Zahlungsbilanzdefizite durch eine wachsende Kreditaufnahme im Ausland. Binnen-wirtschaftlich und -politisch war eine sinkende Kapitalrentabilität, möglicherweise auch als Konsequenz der Kumpanei-Wirtschaft des Marcos-Regimes, zu verzeichnen. Außerdem wurden — trotz des langfristigen Charakters — einige Investitionsprojekte z. T. mit kurzfristigen Krediten finanziert. Befindet sich ein Land in einer derartigen (außen-wirtschaftlichen) Struktur-und Liquiditätskrise — und die Philippinen stehen hier durchaus nicht allein —, muß es eine Lösung mit dem Internationalen Währungsfonds (IWF) erarbeiten. Dieser stellt bekanntlich Anpassungskredite und Umschuldungshilfen nur bereit, wenn das Schuldner-land gewisse Strukturreformen durchführt. Auch auf den Philippinen begann der IWF in den achtziger Jahren wieder eine intensivere Rolle zu spielen. Das Marcos-Regime konnte damit immer weniger sich allein am politischen Kräftefeld in den Philippinen orientieren, sondern mußte verstärkt die Haltung des IWF, der Weltbank und der internationalen Finanzwelt, die sich am Verhalten dieser multilateralen Institutionen weitgehend orientiert, mitberücksichtigen.
Die Wirtschaftskrise und der spezifische Druck des IWF zu ihrer Überwindung hatten für die politische Stabilität des Regimes erhebliche Konsequenzen: Die Einkommenssituation breiter Mas3 sen der Bevölkerung und auch des unteren Mittelstandes verschlechterte sich weiter. Dieser Tatbestand an sich ist (leider) noch nicht für das jeweilige Regime an der Macht bedrohlich — auch wenn es Spekulationen gibt, die das Anwachsen der kommunistischen Untergrundbewegung damit in Zusammenhang bringen. Wichtiger ist vielmehr die abnehmende Kapazität des Regimes, sich durch ein ausgedehntes Klientelnetz Massen-loyalität — bzw. die über lokale und sektorale Führungskräfte vermittelte Massenloyalität — zu erkaufen. Seit 1982 übte der IWF Druck auf eine Verminderung der Haushaltsdefizite und damit der staatlichen Ausgaben aus. 1984 lagen diese real um 30% unter dem Stand von 1981. Massenentlassungen, real sinkende Gehälter, allgemein schrumpfende Ressourcen und Aufträge, die an große und kleine Kumpane verteilt werden konnten, nagten an den Fundamenten des Regimes.
Anders als es die populär-wissenschaftliche Oppositions-oder auch Menschenrechtsliteratur suggeriert beruht die lange Dauer des Marcos-Regimes in erster Linie auf politischem Geschick und ausgedehnten und wachsenden Klientel-und Patronageleistungen, in zweiter Linie erst auf seinem Unterdrückungssystem Durch die Wirtschaftsdepression und den Druck des IWF begannen die dazu nötigen Ressourcen knapper zu werden bzw. nicht mehr uneingeschränkt zur Verfügung zu stehen. Dadurch ließ sich das Marcos-Regime seinen Handlungsspielraum jedoch nicht gänzlich blockieren. In den beiden wichtigen Wahlen, die es noch zu bestreiten hatte (Mai 1984, Februar 1986), suchte es noch einmal durch massiven Stimmenkauf und Wahlgeschenke die Wähler auf seine Seite zu bringen Nur wo das nicht mehr half, wurde auch manipuliert.
Die Wirtschaftskrise und die Präsenz des IWF führten zu einer zunehmenden Ausdifferenzierung der Marcos-Koalition. Die labilen ökonomischen und unternehmerischen Fundamente der politisch induzierten Kumpanei-Wirtschaft zeigten sich unter den Bedingungen der allgemeinen Wirtschaftskrise noch deutlicher als in den Jahren des Booms. Spektakuläre Firmenzusammenbrüche führten zu weiteren Belastungen des Staatshaushaltes und trugen zu zunehmender Verunsicherung bei. Die von Marcos unabhängigen Geschäftsleute, d. h. die alteingesessene Unternehmerschaft, waren bisher nicht eine unmittelbare Stütze seines Regimes gewesen. Sie hatten sich aber weitgehend mit dem Regime arrangiert und mit ihm kooperiert. Zwar beobachteten sie das Treiben der Kumpane und deren Bevorzugung sowie die immer umfassenderen staatlichen Regulierungsversuche z. T. mit Mißtrauen. Unter den Bedingungen des Wirtschaftsbooms hatten sie dennoch ein gutes Auskommen, zumal das Kriegsrecht-Regime die Arbeiterschaft und die Gewerkschaften unter Kontrolle zu halten wußte und eine effizientere Bekämpfung der Kriminalität wie der kommunistischen New People’s Army (NPA) zu gewährleisten schien.
Die Krise ließ auch hier die Widersprüche deutlicher zu Tage treten. Staatliche Benachteiligung und Übervorteilung sind eben schwerer unter den Bedingungen eines schrumpfenden Marktes und sinkender oder gar negativer Betriebsergebnisse zu ertragen. Außerdem erwies sich die Schutzfunktion des Regimes gegenüber (Straßen-) Kriminalität und kommunistischer Systembedrohung als immer unzureichender. Die Liberalisierungsforderungen des IWF gegenüber den staatlichen Monopolen wurden zwar begrüßt, im Außenwirtschaftsverkehr (Zollschutz, Abwertungen) jedoch als eine weitere Bedrohung empfunden.
Die Einwirkungsversuche des IWF führten darüber hinaus zu einer Verhärtung der Fronten zwischen zwei Stützen des Marcos-Regimes: den Kumpanen („Cronies“) und den Technokraten. Letztere waren treue, in ihrem Selbstverständnis eher unpolitische, eben technokratische Gefolgsleute von Marcos ohne nennenswerte eigene wirtschaftliche und politische Basis und Interessen. Marcos suchte durch diese, meist in Harvard erzogen, Technokraten ökonomischen Sachverstand an sich zu binden und (relativ unproblematisch) zu dirigieren. Zwischen den Kumpanen, die über die politische Sphäre eigene wirtschaftliche Interessen verfolgten, und den Technokraten gab es schon immer latente Konflikte. Aufgrund des fehlenden politischen Rückhaltes — es sei denn dieser kam von Marcos — zogen die letzteren eher den kürzeren, zumal Imelda Marcos ihr politisches Gewicht in die Waagschale zugunsten der Kumpaneiinteressen (die z. T. ihre eigenen waren) warf.
Der IWF und die Weltbank suchten jedoch ihre Ansprechpartner in erster Linie unter diesen Technokraten. Der Bedeutungszuwachs der internationalen Organisationen für die Formulierung der philippinischen Wirtschaftspolitik implizierte einen verstärkten Rückhalt für dieselben Dies bedeutet aber wiederum noch nicht, daß die Technokraten mit dem IWF im Rücken oder der IWF durch die Technokraten sich endgültig gegen die Kumpane hätten durchsetzen können. Sie konnten es nur bedingt Die Marcos-Koalition aber war dadurch labiler, brüchiger geworden.
Die Krankheit von Marcos und die unklare Nachfolgeregelung All diese Entwicklungen hätten allein den Sturz von Marcos kaum bewirkt oder auch nur eingeleitet. Es mußte wohl noch ein weiterer Umstand hinzukommen, der so oft eine Rolle spielt und immer wieder übersehen wird, weil er sich der sozialwissenschaftlichen Theoriebildung entzieht: die ideosynkratische Variable, der menschliche Faktor. Seit (offenbar) 1978 wurde Marcos zunehmend durch eine in Schüben auftretende Krankheit geplagt, die sich seit den frühen achtziger Jahren zunehmend verschärfte und ihn nun zeitweise weitgehend paralysierte Damit wurde die Klärung der Nachfolgefrage, die er bisher herausgeschoben hatte, immer dringlicher.
Nach Aufhebung des Kriegsrechts 1981 hatte er sich zur Einsetzung eines Exekutivausschusses bereit erklärt, der im Falle seines Ablebens die Regierungsgeschäfte interimistisch übernehmen sollte. In diesen Ausschuß wurde neben den anderen wichtigsten Ministern auch seine Frau Imelda Marcos 1982 berufen, die 1981 —möglicherweise auf Druck des IWF — Finanzminister Virata bei der Ernennung zum Premierminister unterlegen war. 1981 machte Marcos außerdem seinen ehemaligen Leibwächter und treuen Gefolgsmann Fabian Ver zum Generalstabschef— unter Umgehung ranghöherer und professionellerer Offiziere. Aufgrund dessen offenbar bedingungsloser Loyalität und seinen guten Beziehungen zu Imelda richteten sich die Spekulationen auf eine regime-interne Nachfolge immer wieder auf dieses Tandem Imelda-Ver.
Die Rolle der USA Auch die Reagan-Administration in den USA zeigte sich über diese Aussichten zunehmend beunruhigt Sie beobachtete die schwindenden Problemlösungskapazitäten in bezug auf die Bekämpfung der kommunistischen Guerilla und der Wirtschaftskrise mit steigender Sorge und machte für diese Mißerfolge gerade auch Imelda und Ver verantwortlich. Sie war überzeugt, daß ein Regime Imelda-Ver „so korrupt, so skrupellos, so bar jeder ökonomischen Rationalität sein würde, daß es eine noch viel größere politische Instabilität auslösen würde“
Nach dem Amtsantritt Reagans (1980) schien die amerikanische Philippinen-Politik zunächst entspannter. Reagan verfolgte nicht mehr die außen-politisch z. T. lästige und zugleich folgenlose Menschenrechtskampagne seines Vorgängers Carter. Kosmetische Demokratisierungsoperationen (Aufhebung des Kriegsrechts, Präsidentenwahl 1981) erhielten überschwenglichen Beifall Im September 1982 konnte Marcos einen Staatsbesuch in den USA absolvieren, der als „triumphal“ bezeichnet wurde Im Juni 1983 wurde vorzeitig ein neues Abkommen über die US-Basen im Lande — zu für Marcos wesentlich günstigeren Bedingungen — abgeschlossen. Dennoch: Die Irritationen auf amerikanischer Seite über die zukünftigen Perspektiven des Marcos-Regimes und der Philippinen blieben und fanden auch diplomatischen und publizistischen Ausdruck. Sie führten offenbar zu einer Fehleinschätzung der Situation von mehreren Seiten und in der Konsequenz zu dem folgeschweren Ereignis des 21. August 1983.
Die Ermordung Benigno Aquinos und die Folgen Benigno Aquino, der wichtigste Führer der bürgerlichen Opposition, seit 1980 in den USA im Exil, plante 1983 seine Rückkehr auf die Philippinen, um die Opposition auf die Parlamentswahlen 1984 vorzubereiten und zu organisieren Er sah seine Aussichten, von der Reagan-Regierung als Alternative zu Marcos akzeptiert und aufgebaut zu werden, im Schwinden. Durch die Krankheit von Marcos waren sich überstürzende Entwicklungen nicht mehr auszuschließen, die seine örtliche Präsenz um so nötiger machten.
Die Vorbereitungen zur Rückkehr wurden von Marcos und seiner Umgebung mit Mißtrauen verfolgt; offenbar hielt man eine offizielle oder offiziöse Unterstützung durch die US-Regierung (bzw.den CIA) nicht für ausgeschlossen. Aquino erschien daher doppelt gefährlich. Imelda Marcos versuchte zweimal, Aquino von einer Rückkehr abzuhalten, warnte ihn sogar vor einem Anschlag auf sein Leben, „den der Präsident nicht verhindern könne“. Aquino ließ sich jedoch von seiner Rückkehr nicht abbringen und wurde — nahezu vor den Augen der Weltöffentlichkeit — beim Betreten philippinischen Bodens auf dem Flughafen von Militärs ermordet. Die Hintergründe im einzelnen sind bis heute nicht bekannt. Es scheint aber plausibel, daß Marcos in diesen Tagen handlungsunfähig war und Militärs mit oder um General Ver die Nachfolgefrage durch das endgültige Ausschalten des wichtigsten Opponenten außerhalb des Regimes für sich entscheiden wollten — eine törichte Vorstellung, die kaum die Billigung des gewieften Politikers Marcos gehabt haben dürfte, der gleichwohl nun wohl oder übel seine treuesten Paladine decken zu müssen glaubte.
Dieser Mord in aller Öffentlichkeit — den man einem angeblichen kommunistischen Attentäter, den man gleichfalls ermordete, unterschieben wollte — führte zu einer weiteren Polarisierung in der philippinischen Gesellschaft. Er verstärkte den allseitigen Vertrauensverlust des Regimes und beschleunigte die allgemeine Krise
Die Aquino-Anhänger und Marcos-Opposition vermochte Hunderttausende in Manila zu Straßendemonstrationen und Kundgebungen zu mobilisieren. Bisher schwankende oder neutrale Unternehmer, Manager, Geschäftsleute und Angehörige des Mittelstandes schlossen sich der Marcos-Opposition an bzw. sympathisierten mit ihr. Die einflußreiche katholische Kirche, bisher in ihrem Verhältnis zum Regime gespalten und eher unentschlossen nahm nun durch ihr Oberhaupt, Jaime Kardinal Sin, dem Erzbischof von Manila, einem persönlichen Freund Aquinos, entschlossen Partei für die Oppositionsbewegung.
In den Streitkräften bildete sich schließlich eine Reformbewegung junger Offiziere, die ihre Einsatzbedingungen durch bessere Professionalisierung und Ablösung der Generäle der „Hofkamarilla“ (wie Ver zugunsten von Ramos) forderten. Diese waren nicht eigentlich gegen das Marcos-Regime eingestellt, aber dennoch Keimzelle für die Spaltung einer der wichtigsten es tragenden Institutionen.
All dies bedeutete nicht, daß die gesamte philippinische Gesellschaft sich vom Marcos-Regime abwandte. Im Gegenteil: Dessen Klientelsystem war zwar brüchiger geworden, aber immer noch intakt und sehr weitreichend. Außerdem war die nichtkommunistische Opposition nicht in der Lage, sich einheitlich zu organisieren Ihr fehlte eine charismatische Integrationsfigur, die Benigno Aquino unter Umständen hätte sein können. Sie zerfiel in zahlreiche regionale und nationale Parteien, Bewegungen, Gruppen, die immer wieder vergebliche Anläufe unternahmen, zu einer gemeinsamen Organisation zu finden.
Nun aber wurde die tiefe Spaltung der philippinischen Gesellschaft und — wichtiger noch! — der Elite deutlich sowie die abnehmenden Möglichkeiten des Regimes, die Konflikte in seinem Sinne zu regulieren. Die Spaltung der Elite einer Gesellschaft gilt aber als klassische Voraussetzung dafür, daß eine revolutionäre Bewegung sich durchsetzen kann.
Die allgemeine politische Verunsicherung mußte auch die ohnehin schon dahinsiechende Wirtschaft weiter in Mitleidenschaft ziehen. Investitionszurückhaltungund Kapitalflucht trieben nun die Philippinen an den Rand des Bankrotts Die Wirtschaft erlebte einen z. T. dramatischen Rückgang des Wachstums, eine Beschleunigung der Inflation, Massenentlassungen und z. T. stark sinkende Realeinkommen und Löhne. Gegenüber den auswärtigen Gläubigern mußte das Land um mehrere dreimonatige Moratorien für die Zinszahlungen nachsuchen. Der IWF versuchte in zähen Verhandlungen das Ende der Kumpaneiwirtschaft durch Auflösung einiger Monopole — mehr oder weniger erfolgreich — sowie eine Begrenzung der Staatsausgaben und der Bankkredite zu erreichen.
Eine Atempause, aber die Glaubwürdigkeitskrise schwelt weiter Das Marcos-Regime gab dennoch nicht auf. Die Reagan-Regierung war unschlüssig, ob sie sich mit der (gespaltenen) bürgerlichen Opposition einlassen sollte, in der ein starker und stärker werdender Minderheitsflügel eine anti-imperialistische (d. h. anti-amerikanische) Rhetorik pflegt. Sie übte daher nur verhalten Druck auf das Regime aus, 1.den Mord restlos aufzuklären und die Schuldigen zu bestrafen, und 2. das Regime durch freie Wahlen zu legitimieren (und damit möglicherweise zu einem breiten Konsens zu finden).
Die Opposition vermochte zudem ihre Massendemonstrationen gegen das Regime nicht zu verstetigen. Anfang 1984 waren sie schon zu kleineren und mittleren Einzelaktionen abgeflaut Auch der Gesundheitszustand von Marcos schien sich wieder — zwischenzeitlich — merklich zu verbessern. Eine Atempause war damit gewonnen. Schon im Januar 1984 ließ Marcos ein Referendum durchführen, in dem u. a. über die Wiedereinführung der Vize-Präsidentschaft abgestimmt wurde. Im Mai 1984 fanden Neuwahlen zu dem erstmals 1978 gewählten Nationalparlament (der Batasang Pambansa) statt. Es zeugt von der nahezu ungebrochenen Erwartung in die Überlebens-und Patronagefähigkeit des Regimes zu diesem Zeitpunkt, daß sich im Durchschnitt zehn Bewerber der Regierungspartei um die Kandidatur für einen Parlamentssitz stritten Nicht wenige der unterlegenen Politiker bewarben sich als Unabhängige oder für die Opposition um den Einzug ins Parlament.
Das Regime mußte nun die Entstehung neuer Oppositionszeitungen, deren Zirkulation allerdings weitgehend auf die Hauptstadt Manila beschränkt blieb, sowie die Wiederbelebung einer regierungsunabhängigen, der Opposition nahestehenden Wahlbeobachterbewegung, des National Movement for Free Elections (NAMFREL), tolerieren In den Wahlen verloren zwar vier Minister ihre Abgeordnetenmandate und anschließend auch ihr Amt, Unabhängige und Oppositionsabgeordnete gewannen jedoch nur 61 der 183 Mandate (1978: 16). Durch massive Wahlbestechung und letzlich auch Wahlbetrug vermochte das Regime noch einmal dieses eigentlich maßgeschneiderte Ergebnis zu erzielen Dennoch tickte die Zeitbombe der Aufarbeitung des Aquino-Mordes weiter. Ein Untersuchungsausschuß unter dem Vorsitz der pensionierten Richterin Corazon Agrava bemühte sich seit November 1983, Licht in diese dunkle Angelegenheit zu werfen. Ende Oktober 1984 legte die Kommission einen Mehrheits-und einen Minderheitsbericht (der Vorsitzenden) vor. Einig war man sich darüber, daß eine Verschwörung von Militärs vorlag, uneinig, ob auch General Ver eine Rolle gespielt habe. Marcos konnte nicht umhin, General Ver zu beurlauben — entlassen wollte er ihn immer noch nicht. Im übrigen ließ er das ganze Verfahren nun ein weiteres mal, diesmal vor einem sonst für kleinere Korruptionsfälle zuständigen Gericht, ablaufen. Dieses Gericht beschäftigte sich sieben Monate (aber nur 50 Verhandlungstage), vom Februar bis zum 26. September 1985, mit der Angelegenheit und sprach die 25 angeklagten Offiziere (darunter Ver) sowie einen Zivilisten frei. Der Täter, so das Gericht, sei doch der (ermordete) kommunistische Attentäter.
Schon zuvor hatte Marcos durch orchestrierte Rückholrufe örtlicher Bürgermeister und Offiziere vor allem in Mindanao („um die NPA besser bekämpfen zu können“) und durch die Ankündigung, den General wieder in sein Amt einzusetzen, wenn er freigesprochen würde, die Richtung angedeutet. Am 2. Dezember 1985 wurde Ver wieder als Generalstabschef eingesetzt. Damit drohte alles beim alten zu bleiben. Diese Aussicht wurde namentlich in den USA mit deutlichem Unbehagen registriert. Hier erhoffte man sich wenigstens durch die Ersetzung General Vers durch General Ramos eine Reform der philippinischen Streitkräfte, um deren Schlagkraft gegen die kommunistische Guerilla zu erhöhen.
Die vorgezogenen Präsidentschaftswahlen Um diesen amerikanischen Druck abzufangen, entschloß sich Marcos, seine Legitimität und Massenbasis durch vorgezogene Präsidentschaftswahlen erneut unter Beweis zu stellen 22). Am 4. November 1985 verkündete er im amerikanischen Fernsehen — wo denn sonst? — seine Entscheidung, sich vorzeitigen Wahlen zu stellen, die er sehr kurzfristig ansetzte Das Vertrauen in die eigene massenmobilisierende und manipulierende Kraft, die Wahlerfolge bisher immer sichergestellt hatten, bestärkt durch die Uneinigkeit der Opposition, mag Marcos zu dieser für ihn folgenschweren Fehlentscheidung bewogen haben. Die Opposition hatte zwar mit der Möglichkeit vorzeitiger Präsidentschaftswahlen gerechnet, zeigte sich bisher jedoch außerstande, sich auf einen gemeinsamen Kandidaten zu einigen. Der radikale Flügel, die Linken und die Nationalisten, die Kommunisten ohnehin, waren zudem, wie schon zu den Parlamentswahlen im Mai 1984, nicht bereit, sich an der zu erwartenden „Wahlfarce“ zu beteiligen und plädierten für Wahlboykott Eine gespaltene Opposition hatte selbst in fairen Wahlen gegen Marcos keine Chance. Unter dem Zwang dieser Verhältnisse gelang kurz vor Ablauf der Nominierungsfrist (am 11. Dezember 1985) doch noch die Einigung auf ein gemeinsames Kandidatenteam. Konsensfähig erwies sich schließlich nur Corazon Aquino, für deren Nominierung seit Mitte 1985 eine Unterschriftenkampagne (1 Million) lief und die sich, mehr von anderen geschoben als durch eigenen Ehrgeiz getrieben, zur Kandidatur bereiterklärte.
Als Witwe des ermordeten Benigno Aquino bot sie am ehesten die Gewähr, das Martyrium und den Mythos ihres Mannes massenmobilisierend gegen Marcos einzusetzen. Als Mitglied der (land-besitzenden) Oberschicht war sie für die linken reformerischen („zweckorientierten“ = „causeoriented“) Gruppen, die über die Ablösung des Marcos-Regimes zu (armutsorientierten) Strukturreformen kommen wollen, gewiß nicht erste Wahl. Anders aber als etwa Salvador Laurel, Sohn des Kollaborations-Präsidenten im Kriege (mit den Japanern), der zwischen 1967 und 1972 schon Senator war und auch im Marcos-Parlament (1978 bis 1983) gesessen hatte, war Corazon Aquino bis zur Ermordung ihres Gatten politisch nicht tätig gewesen — und damit auch nicht (vor-) belastet. Ihr zukünftiger Kurs erlaubte mehr Hoffnungen und Träume als die bekannten Politiker der alteingesessenen Oligarchie. Andererseits ging es der Opposition zunächst einmal darum, das zu erreichen, was sie 20 Jahre nicht geschafft hatte: die Ablösung des Marcos-Regimes. Alle sich dann daraus ergebenden Optionen würden durch eine schwache und ohne eigenen Ehrgeiz amtierende Präsidentin offener gehalten werden als bei einem neuen starken, ehrgeizigen Präsidenten. Obwohl Salvador Laurel dem stärksten (oppositionellen) Parteienbündnis, der UNIDO, vorstand, willigte er schließlich in die bisher relativ bedeutungslose Vize-Präsidentschaftskandidatur ein, die erjedoch mit der Amtsübernahme als Premierminister und als Außenminister koppelte
Da Marcos sich durch die Wahl vor allem gegenüber dem Ausland, insbesondere den USA, zu legitimieren versuchte (wo er im Wahlkampf nahezu täglich Interviews gab) mußte er die Anwesenheit offizieller Beobachter und der zahlreichen Journalisten zugleich herausfordern und tolerieren. Wahlfälschungen und sonstige Unregelmäßigkeiten drohten so aber leichter aufgedeckt und an die Öffentlichkeit gebracht zu werden und damit kontraproduktiv für das Regime zu wirken (obwohl die meisten Journalisten sich einen sehr engen Beobachtungsradius, Makati und Pasay in Manila — wo die internationalen Hotels stehen —, auferlegten). Mehrheitlich waren die ausländischen Journalisten ganz offenbar voreingenommen. Sie sympathisierten mit dem „underdog“ Cory Aquino und erwarteten, daß Marcos — nach all dem, was geschehen war — keine Massenbasis mehr haben und allenfalls durch Wahlbetrug sein Regime retten könnte.
Cory Aquino baute ihre Strategie geschickt auf dieser Glaubwürdigkeitslücke von Marcos auf. Im Tenor lautete ihre Argumentation: Wenn sie nicht gewählt werden würde, konnte nur Wahlbetrug sie daran gehindert haben. Sie wurde dabei von weiten Teilen der katholischen Kirche, die den Kampf zwischen dem „Guten“ und dem „Bösen“ zu beobachten meinte, und von NAMFREL, die von der katholischen Kirche und der Elite zu einer Massenbewegung von gut einer halben Million ehrenamtlicher Mitarbeiter ausgebaut worden war, unterstützt.
Die bisher (auch vor Marcos) üblichen Unregelmäßigkeiten — Manipulationen an den Wahllisten (potentielle Opponenten fehlen, Anhänger wählen mehrmals), Austausch von Wahlurnen und Zählergebnissen, physische Einschüchterung von Wählern und Opponenten (bis zu deren Ermordung) — erhielten so eine breite Publizität. Die durchaus noch vorhandene breite Massenbasis von Marcos wurde durch die Berichterstattung über seine Wahlmanipulationen in den Hintergrund gedrängt. Derartige Vorfälle wurden damit zu einer angeblich deutlichen Aquino-Mehrheit aufgebauscht. Zum Teil wurden dabei auch Fehlinformationen unbesehen weitergeleitet und übernommen. Am Ende standen zwei Sieger — mit unterschiedlich positiven Zählresultaten, aber doch ein Verlierer, nämlich Marcos, fest. Seine nationale und internationale Legitimitätslücke hatte weiteren Schaden genommen. Cory Aquino machte durch den Aufruf zum zivilen Ungehorsam deutlich, daß sie die Wahlfälschungen nicht auf sich beruhen lassen wollte.
Das Ende In dieser Situation der allgemeinen Unsicherheit sagten sich Verteidigungsminister Juan Ponce Enrile und der amtierende Generalstabschef Fidel Ramos von Marcos los und erkannten Corazon Aquino als neue Präsidentin an. Dieser Seitenwechsel war Ausdruck des schwindenden Vertrauens in die Lebenskraft des Marcos-Regimes, vielleicht einiger angestauter Frustrationen (der beiden gegenüber Ver und auch Imelda), der (Fehl-) Informationen über eine bevorstehende Verhaftung und möglicherweise amerikanischer Ermunterungen (auf unterer Ebene). Obwohl die Rebellion schlecht vorbereitet war, leitete sie den Sturz von Marcos ein.
Die offensichtliche Spaltung nun auch der Armee als seiner wichtigsten Stütze sowie die Aussicht auf einen blutigen Bürgerkrieg innerhalb der (antikommunistischen) Elite überzeugten Präsident Reagan davon, daß Marcos nicht mehr zu halten war. Marcos hätte gewiß diese Rebellion noch mit militärischen Mitteln beenden können. Die Hunderttausende auf den Zufahrtsstraßen (People’s Power) konnten das Rebellenhauptquartier nämlich nur solange „schützen“, wie die Marcos-Panzereinheiten nicht den Befehl bekamen, zu schießen. Durch ein derartiges Gemetzel — wie wir es dennoch immer wieder in Dritte-Welt-Staaten erleben müssen — wäre allerdings in dieser Situation kaum viel gewonnen worden. Auf Druck der USA nahm Marcos davon Abstand. Seine Situation war aussichtslos geworden. Erst als der amerikanische Präsident ihm dies ausdrücklich bestätigte (über zwei Telefonate mit dem US-Senator Laxalt), gab Marcos auf. Nachdem er sich noch am Vormittag zum Präsidenten hatte vereidigen lassen, verließ er am Abend des 25. Februar 1986 den Malacanang-Palast und am nächsten Tag das Land, um sich nach Hawaii ins Exil zu begeben.
Die Hinterlassenschaft des Marcos-Regimes
Bevor wir uns den Problemen der neuen Regierung zuwenden, ist es sinnvoll, einen kurzen Blick auf die Hinterlassenschaft des Marcos-Regimes und dessen Ansprüche und Leistungen zu werfen. Dazu ist auch ein kurzer Blick auf das politische System vor Marcos notwendig, das er seit 1972 erheblich umgestaltete.
Das demokratisch-oligarchische System vor Marcos Das demokratische System (unter einer Verfassung von 1934) war weitgehend am nordamerikanischen Vorbild orientiert, inklusive zweier miteinander konkurrierender Parteien, die sich kaum politisch voneinander unterschieden Es wurde allerdings weitgehend von der (ursprünglich land-besitzenden) Oligarchie, zunehmend allerdings auch von Vertretern des prosperierenden Mittelstandes, die z. T. in die Oligarchie einheirateten, beherrscht
Vorherrschendes Organisationsprinzip war auch damals der Klientelismus. Durch Verfügung über private und zunehmend staatliche Ressourcen verstand man es, sich eine politische Gefolgschaft aufzubauen. Die allgemeinen Wahlen zu den politischen Ämtern wurden nicht ganz unblutig ausgefochten; sie ermöglichten aber eine Abwahl der jeweiligen Amtsinhaber und damit eine Zirkulation der Eliten, die im übrigen in politischen Fragen weitgehend durch einen Herrschaftskonsens verbunden waren.
Linke oder reformerische Bewegungen oder Parteien hatten in diesem System praktisch keine Chancen. Obwohl formalrechtlich zentralistischer organisiert als etwa die USA, ruhte die tatsächliche Macht doch dezentralisiert in den Provinzen, wo die großen Familien die Vorentscheidungen über die Kandidatur für die politischen Ämter trafen (und allenfalls gegeneinander konkurrierten), eigene Privatarmeen unterhielten, den Zentralstaat recht schwach hielten, indem sie keine Steuern zahlten, den Kongreß weitgehend zu lokaler Repräsentation mißbrauchten und eine nationale Formulierung der Politik weitgehend verhinderten.
Das Kriegsrechtregime: Hintergünde und Ansprüche Die Auflösung dieser Institutionen 1972 ermöglichte Marcos nicht nur eine sonst kaum durchsetzbare unbegrenzte Verlängerung seiner Amtszeit Er versuchte ihr auch eine positive Begründung zu geben. Marcos wollte die Verhängung des Kriegsrechts als eine „Revolution“ zur Schaffung einer „Neuen Gesellschaft“ verstanden wissen. Durch Stärkung und Zentralisierung der Staats-funktionen sollten die Bedingungen für eine bessere privatkapitalistische Entwicklung gelegt werden. Das setzte eine Verbesserung der allgemeinen Rechtsverhältnisse voraus. Dazu gehörte die effizientere Bekämpfung der seit 1969 sich mit einer neuen Dynamik entwickelnden kommunistischen Guerilla, die Beendigung des latenten Bürgerkrieges auf der Südinsel Mindanao zwischen Moslems und Christen (um Landrechte), die Zurückdrängung der wachsenden (Straßen-) Kriminalität, die Entmachtung der lokalen Autoritäten (u. a. durch Entwaffnung von deren Privatbanden) sowie eine Garantie für ausländische Privatinvestoren (durch Neutralisierung der wachsenden nationalistischen Bewegung).
Dies erforderte eine Verbesserung der Verwertungsbedingungen für das Kapital durch weitere Maßnahmen: durch den Ausbau der materiellen Infrastruktur, finanziert durch Anhebung der Steuerextraktionsrate und durch (auswärtige) Kreditaufnahme; durch eine rationalere Verwaltung (einige tausend Beamte wurden 1972 wegen „Korruption und Mißwirtschaft“ entlassen) und Gesetzgebung (das unendlich langwierige parlamentarische Gesetzgebungsverfahren wurde durch Präsidentendekrete ersetzt); schließlich durch eine Kontrolle der Arbeiterbewegung (u. a. Verbot von Streiks, klientelistische Einbindung der Gewerkschaftsführer in das System) und durch den Ausbau des staatlichen Lenkungs-und Regulierungsapparates, um Prioritäten festlegen und gegenüber dem Weltmarkt einheitlich auftreten zu können (etwa durch Vermarktungsmonopole). Durch eine verstärkte Bereitstellung von Betriebsmitteln und Krediten sowie eine Land-und Pacht-reform sollte der bisher rückständige Grundnahrungsmittelsektor (Reis, Mais) dynamisiert werden, durch Förderung neuer Exportsektoren (Bananen, Tourismus) sollte die Außenwirtschaftsstruktur diversifiziert, die durch die bisherige protektionistische Politik teuren und kaum konkurrenzfähigen Binnenmarktindustrien durch Entwicklung von Exportindustrien und schließlich auch von Grundstoffindustrien ergänzt werden. Politisch bedeutete dieses Programm eine Entmachtung der bisher einflußreichen Oligarchie. Einigen, wie Benigno Aquino (1972— 1980 inhaftiert), wurden die bürgerlichen Ehrenrechte entzogen. Anderen, wie Salvador Lopez (einst Vizepräsident unter Quirino 1949— 1953 und Marcos 1965— 1971), wurde auch der Besitz genommen oder z. T. entzogen, wie durch die Landreform im Reis-und Maissektor, oder immerhin kontrolliert, wie im Zuckersektor durch eine staatliche Monopolbehörde und staatliche Banken Ein Teil der Oligarchie fand sich allerdings zu einer aktiven Kooperation mit dem Marcos-Regime bereit und vermochte so — jedoch in Abhängigkeit vom Regime — seine Macht zu konsolidieren. Andere suchten sich nur so weit wie nötig zu arrangieren oder verharrten in der Opposition bzw. gingen ins Exil.
Die politische und die Wirtschaft regulierende Macht wurde im Staat zentralisiert und von (professionellen) Technokraten und Militärs, die zunehmend auch in zivile Behörden einrückten, verwaltet.'Die gesellschaftlichen Kräfte suchte das Regime korporatistisch, d. h. in einheitlichen, hierarchisch gegliederten, vom Regime klientelistisch abhängigen Verbänden — allerdings etwas unentschlossen und letztlich nicht konsequent — zu organisieren.
Defizite und Leistungen des autoritären Regimes Auch wenn dieses Entwicklungsmodell durchaus nicht ohne Plausibilität ist und in der theoretischen Literatur seine Befürworter findet, so erwies sich sein zentrales Defizit doch in der Praxis: Die Zentralisierung und Verstaatlichung der politischen Macht bedeutete nicht eine irgendwie geartete Rationalisierung im Rahmen einer „Entwicklungsdiktatur“, sondern deren erneute monopolistische Privatisierung durch den Marcos-Clan. Investitionsentscheidungen des Staates und die Tätigkeit seiner Regulierungsbehörden gingen nicht primär von kollektiv realisierbaren wirtschaftlichen Kosten-Nutzen-Überlegungen aus. Sie wurden hingegen von politischen und nur individuell-privat realisierbaren Kalkülen überlagert, z. T. ganz verdrängt. Damit wurde einerseits die Absicht verfolgt, durch eine Ausweitung des (staatlich finanzierten) Klientelsystems die politische (Massen-) Basis zu verbreitern, zum anderen für einen exklusiven Kreis von Kumpanen („cronies“) die Möglichkeit eröffnet, über die politische Sphäre — und eben nicht allein durch ihre privatwirtschaftliche Unternehmertätigkeit und Leistung — große (private) Vermögen anzuhäufen. Das gab es vor Marcos zwar auch schon — aber längst nicht in dieser Intensität und Reichweite. Einige der Kumpane übten neben ihren privatwirtschaftlichen auch selbst staatlich-hoheitliche Funktionen aus. Hier sind insbesondere die „Zaren“ des Zucker-(Roberto Benedicto) und des Kokosnußsektors (Eduardo Cojuangco), aber auch der alte und neue Verteidigungsminister Enrile (u. a. im Kokosnuß-und Holzsektor) sowie der zeitweilige Handelsminister unter Marcos und Vorsitzende der Präsidialkommission für Regierungsreorganisation unter Aquino, Luis Villafuerte, sowie natürlich die Präsidentenfamilie — mit ihren Eltern, Onkeln, Geschwistern, Vettern und Kindern — zu erwähnen. Im Zentrum dieses Systems standen Ferdinand Marcos und seine Frau Imelda, die ganz großen, aber auch mittleren und kleinen unmittelbaren Nutznießer und Profi-teure waren jedoch breit gestreut. Sie garantierten die lange Stabilität und die bis heute längst nicht ganz erloschene Popularität des Regimes in Teilen der Bevölkerung.
Unter dem Marcos-Regime wurde die Infrastruktur erheblich ausgebaut und verbessert, die Nah-11 rungsmittelproduktion (bis zur Deckung der Eigennachfrage) gesteigert, durch Pacht-und Land-reform die Abgabenbelastung eines kleinen, aber nicht unwesentlichen Teils der ländlichen armen Bauern vermindert die Industrialisierung für den Export stark, im Grundstoffbereich in den Ansätzen ausgebaut Dabei sind zahlreiche schlechte oder doch fragwürdige Projekte und Programme finanziell zu teuer und/oder auf Kosten der betroffenen Menschen in Angriff genommen oder realisiert worden. Viele unseriöse Unternehmen (von Kumpanen), die bankrott gingen, wurden vom Staat übernommen.
Die Wirtschaft wurde damit zunehmend in eine gemischte staatskapitalistische Richtung gedrängt. Die Steuerrate konnte in den siebziger Jahren zwar angehoben werden, ging dann aber wieder zurück. Die Ausweitung der Staatstätigkeit mußte so vor allem durch innere und äußere Verschuldung finanziert werden. Die Armutsgruppen erlebten im großen und ganzen — trotz amtlicher Rhetorik, zahlreicher Sozialprogramme und einer sich immer stärker ausfächernden Mindestlohn-gesetzgebung — keine Verbesserung ihrer Lage. Die Reallöhne fielen namentlich in der ersten Hälfte der siebziger und in den achtziger Jahren dramatisch. Einem großen Teil der Filipinos — statistische Untersuchungen sprechen von mehr als zwei Dritteln — ist die Deckung der elementaren Grundbedürfnisse ein täglicher Kampf, eine alltägliche Herausforderung.
Die Rebellion der Moslems, die sich nach Verhängung des Kriegsrechts zunächst intensivierte, konnte, nicht zuletzt aufgrund einer geschickten Diplomatie und interner Zwistigkeiten der Moslemführer, weitgehend zurückgedrängt, jedoch nicht beendet werden Gegen die kommunistische Guerilla wurden allenfalls einige Anfangserfolge erzielt. Sie stand am Ende der Marcos-Ära wesentlich stärker da als zum Zeitpunkt der Verhängung des Kriegsrechts Das Kriegsrechtsregime und auch die Zeit danach brachte die Aufhebung und Einschränkung zahlreicher bürgerlicher Freiheiten und — wie erwähnt — die rechtliche oder faktische Aufhebung der Gewaltenteilung. Zahlreiche Menschenrechtsverletzungen durch das Regime und seine Organe, durch lokale Instanzen und lokale Gewalten, deren Aktionen letztlich staatlich toleriert wurden, sind zu beklagen. So bedauerlich jeder Einzelfall ist und mit Recht die Aufmerksamkeit der internationalen Öffentlichkeit herausfordert und häufig auch gefunden hat so darf zur Einschätzung der philippinischen Verhältnisse unter Marcos dennoch nicht übersehen werden, daß es in anderen Staaten Asiens schlimmere Menschenrechtsexzesse gab und gibt und vielfach die staatliche Gewalt manifester, der Meinungsterror bedrückender ist als selbst in den meisten Kriegsrechtsjahren unter Marcos. Ob unter dem neuen Regime — auch außerhalb Manilas, in der ländlichen Provinz — eine nachhaltige Verbesserung eintritt, wird sich noch zeigen müssen.
Probleme und Perspektiven der Regierung Aquino.
Die heterogene neue Koalition Corazon Aquino ist von einer heterogenen Koalition in die Präsidentschaft getragen worden. De-ren führende Vertreter, die neuen Kabinettmitglieder, Leiter wichtiger Regierungsbehörden und der Ausschüsse, gehören zwar überwiegend dem (alten und neuen) Besitzbürgertum an, organisatorisch — etwa in einer Partei — haben sie aber noch keine gemeinsame Plattform gefunden. Noch herrscht ein Konsens über die zentralen Fragen, die zu lösen sind. Corazon Aquino selbst hat keine eigene institutionalisierte politische Basis — außer ihrer Popularität in breiten Kreisen der Bevölkerung, die jedoch nicht in allen Teilen des Landes gleichermaßen gegeben ist. Ihre Popularität beruht zudem z. T. auf naiven Hoffnungen und Erwartungen, die nur enttäuscht werden können. Ohne organisierte politische Basis dürfte es ihr auf (selbst mittelfristige) Dauer schwerfallen, sich als exekutiver Präsident — mit auch notwendigen unpopulären Entscheidungen — durchzusetzen. Die Rolle einer der Tagespolitik entrückten präsidialen „Landesmutter“, die den Gesamtstaat integriert und repräsentiert, dürfte ihr dagegen eher gelingen und ihrem Naturell eher entsprechen. Das gegenwärtige Regime wird getragen von dem Zweckbündnis einer uralten Marcos-Opposition (Aquino, Salonga, Diokno, Landwirtschaftsminister Mitra), von Oppositionellen, die sich erst nach dem Kriegsrecht einen Namen gemacht haben (so der Minister für Lokalverwaltung Pimentei), von politisch bisher nur indirekt aktiven Marcos-kritischen Unternehmern (Minister für öffentliche Arbeiten Mercado, Handels-und Industrie-minister Concepcion, Finanzminister Ongpin) von Wissenschaftlern (Planungsministerin Monsod) und Menschenrechtsanwälten (Arbeitsminister Sanchez/Agrarreformminister Alvarez/Exekutivsekretär Arroyo) sowie von Politikern, die mit Marcos lange Zeit kooperiert, aber schon vor einigen Jahren (Laurel, Villafuerte) oder erst kurz vor seinem Sturz (Enrile, Ramos) mit ihm gebrochen haben. Es wird unterstützt und kritisch begleitet von Institutionen, die zum Sturz von Marcos beigetragen haben und die durch Vertrauensleute in der Regierung vertreten sind: der katholischen Kirche (Concepcion, Erziehungsministerin Quisumbing), einem Teil der zielorientierten Selbsthilfe-und Protestgruppen (Rogaciono Mercado) und der Armee, soweit sie loyal hinter Enrile und Ramos steht. Nicht weniger als drei Minister (Enrile, Laurel, Pimentei) haben eigene (Präsidentschafts-) Absichten und suchen ihre Aussichten — auch gegeneinander — in der gegenwärtigen (Übergangs-) Regierung zu verbessern und — möglicherweise — den für sie günstigsten Zeitpunkt des Absprungs abzuwarten.
Aufgrund ihrer heterogenen Zusammensetzung ist die Neigung der Aquino-Regierung, grundlegenden Entscheidungen auszuweichen, groß. Dennoch muß sie sich einer Reihe von Problemen stellen, deren Lösung schwierig und deren Behandlung genügend Konfliktstoff für ein (frühzeitiges) Auseinanderbrechen der gegenwärtigen Koalition liefern könnte.
Das Problem der Legitimität der Revolutionsregierung Schon über das erste anstehende Problem — der Frage nach der Legitimität der Regierung — herrschten Meinungsverschiedenheiten. Genau genommen war Corazon Aquino nur durch die Vermutung über einen Wahlsieg, ihre demonstrative Unterstützung durch die hauptstädtischen Massen und die aktive Rebellion eines kleinen Teils der Armee ins Amt gelangt. Legal war dieser Weg nicht, konnte er nach Lage der Dinge nicht sein.
Dennoch gab es Bestrebungen im Kabinett und der Marcos-Partei, die Legalität der Regierung Aquino anzunehmen und die Amtsgeschäfte auf der Basis der (Marcos-) Verfassung von 1973 zu führen. Dies hätte den Nachteil gehabt, daß nahezu die gesamte politische Infrastruktur — das Parlament, die Behörden sowie die kommunalen Ämter — in der Hand von Marcos-Anhängern geblieben wäre, mit denen kooperiert hätte werden müssen.
Einen Monat nach Ablösung von Marcos wurde der revolutionäre Charakter der Aquino-Regierung mit einer Interims-Verfassung proklamiert. Das Parlament wurde aufgelöst, Gouverneure und Bürgermeister — die z. T. zähen, hinhaltenden Widerstand leisteten —, außerdem höhere Beamte und Botschafter wurden durch Anhänger des neuen Regimes ersetzt, z. T. längst überfällige Pensionierungen von Marcos-loyalen Offizieren wurden vorgenommen.
Rechtsformalisten, wie der ehemalige Vizepräsidentschaftskandidat Tolentino, sehen damit bei Frau Aquino mehr Macht konzentriert als bei Marcos. Tatsächlich ist deren politische Basis — wie erwähnt — weit brüchiger. Ihre Diktaturvollmachten sind nur eine Übergangslösung. Politische Parteien, auch die Marcos-Partei KBL und eine Abspaltung unter dem ehemaligen Arbeitsminister (und früheren Präsidentschaftsaspiranten) Blas Ople, wurden nicht verboten. Dem freigelassenen ehemaligen CPP-Führer Jose Sison wurde die Gründung einer neuen (kommunistischen) Partei (Partido mg Bayan) gestattet, die ihren Gründungskongreß im August abhielt und über beträchtliche finanzielle Ressourcen zu verfügen scheint. Viele bürgerliche Freiheiten (Demonstrationsrecht, Streikrecht, Pressefreiheit usw.) wurden staatlicherseits liberalisiert, viele politische Gefangene wurden entlassen. Im Juni 1986 wurde eine Verfassungskommission eingesetzt, über deren Vorschlag — im wesentlichen eine Rückkehr zu den Institutionen von 1935 (die bis 1972 existierten) — Ende des Jahres in einem Referendum abgestimmt werden soll. Für März 1987 sind Wahlen zu den beiden Kammern des Nationalparlaments und zu den kommunalen Körperschaften vorgesehen. Erst dann kann der Redemokratisierungsprozeß im formalen Sinne als abgeschlossen gelten — wenn es dazu kommen sollte.
Die Frage der Menschenrechte und das Verhältnis zum Kommunistischen Untergrund Für die bisherige Opposition mußte die Durchsetzung der Bürgerrechte — inklusive Entlassung der politischen Gefangenen sowie die Einsetzung einer „sauberen Verwaltung“ — ein zentrales Anliegen sein. Gegen den Widerstand von Verteidigungsminister Enrile und General Ramos wurden alle politischen Häftlinge (in Manila) entlassen — auch die gefangenen kommunistischen Guerilleros wie u. a.der Gründer der Kommunistischen Partei (CPP), Jose Sison (seit 1977 inhaftiert).
Die Entlassung auch der kommunistischen Gefangenen war sicher allein schon deshalb geboten, um die Voraussetzung für den Versuch eines Ausgleichs mit ihnen zu schaffen. Enrile, oberster Kriegsrechtsverwalter unter Marcos (1972— 1980), sieht diese Bemühungen — gewiß aus nicht ganz uneigennützigen Motiven — von vornherein als aussichtslos an. Tatsächlich halten die militärischen Auseinandersetzungen unvermindert an, wobei unklar ist, ob die Militanten unter den Militärs und der New People’s Army (NPA) hier vorpreschen, um von vornherein jeden Ausgleich unmöglich zu machen. Allerdings scheinen die Aussichten dafür denkbar schlecht. Anders als die bürgerliche Marcos-Opposition kämpft die Kommunistische Partei nicht nur gegen das Marcos-Regime — als einem „Handlanger des US-Imperialismus“ —, sondern darüber hinaus für eine Umwälzung der gesellschaftlichen Verhältnisse im Lande. Sie ist die einzige kommunistische Guerillabewegung in Asien, die sich auf dem Vormarsch befindet. Aus diesem Gefühl der (wachsenden) Stärke dürfte sie allenfalls zu einer Art Doppelherrschaft bereit sein, wie sie zeitweise in Laos und Süd-Vietnam praktiziert wurde.
Dort waren die Kommunisten allerdings noch wesentlich stärker, kontrollierten ganze Provinzen — und suchten schließlich nur einen günstigen Zeitpunkt, die Macht im ganzen Lande zu ergreifen. Allein eine Amnestie bei Ablieferung der Waffen dürfte für die philippinischen Kommunisten jenseits jeder Erwägung liegen. Selbst inhaltlich-politische Angebote, die zu ihrem Forderungskatalog gehören (etwa Kündigung der US-Basen) und Reformen (Agrarreform), dürften ihren harten Kern kaum zum Aufgeben bewegen, da es sich dabei immer nur um Reformen innerhalb des bestehenden Systems und der gesellschaftlichen Verhältnisse, nicht aber um nach ihrer Doktrin (erste) Schritte zu deren grundlegenden Über-windung handeln kann.
Die Ablösung des Marcos-Regimes, verbunden mit der Durchführung einiger wichtiger Sozialreformen, bietet dennoch die Chance, daß einige Aktivisten, Mitläufer und Sympathisanten ihre Waffen niederlegen und im Post-Marcos-System legal mitarbeiten. Ansatzpunkte bieten sich insbesondere bei den NDF-Mitgliedern bei denen nicht allein Marx und Mao Ideologie und Zielrichtung bestimmen, sondern christliche Sozial-lehre („Basistheologie“) und die Interessen ethnischer Minderheiten sowie andere örtliche Gegebenheiten der dezentral operierenden Guerilla. Erste Erfolge, deren Dauerhaftigkeit nicht beurteilt werden kann, wurden hier, ebenso wie mit der moslemischen Guerilla, schon erzielt.
Es ist jedoch mehr als zweifelhaft, ob die Regierung überhaupt substantielle Zugeständnisse bzw. (Sozial-) Reformen anbieten kann Ihre diesbe-zügliche Fähigkeit wird nicht nur durch ihre eigene gesellschaftliche Basis, die Verflechtung des Landes mit der internationalen Ökonomie, die im Kern nicht aufgegeben werden soll und kann, und die anhaltend starke Stellung des Militärs und namentlich Enriles stark eingeschränkt. Gelingt keine Beendigung des Guerillakrieges, wird es immer schwerer sein, militärische Übergriffe und Menschenrechtsverletzungen des z. T. schlecht besoldeten und ausgerüsteten Militärs gegen die gewiß auch nicht zimperlichen Guerillas, gegen vermutete Sympathisanten und unbeteiligte Dritte unter Kontrolle zu bringen. Darüber hinaus sollten die nicht-staatlichen, allenfalls staatlich tolerierten, Menschenrechtsverletzungen nicht übersehen werden, wie sie immer schon — auch vor Marcos — alltäglich waren und noch sind: die brachiale Militanz der Besitzenden mit ihren Schlägerbanden und Sicherheitsdiensten gegen jegliche Opposition linker Gewerkschaftler, Arbeiter, Bauern, Pächter, Menschenrechtsaktivisten auf lokaler Ebene, die als „Kommunisten“ diffamiert werden. Auch dieses Problem dürfte die Regierung Aquino schwer in den Griff bekommen — vermutlich werden die meisten ihrer Mitglieder es nicht einmal als solches erkennen wollen. Das Verhältnis zu den Marcos-Loyalisten und die Rolle Enriles Die Untersuchung der Menschenrechtsverletzungen des Militärs durch die Diokno-Kommission sowie das Aufspüren des illegal erworbenen Marcos-Vermögens und das seiner Kumpane durch die Salonga-Kommission haben nicht nur die Funktion, begangenes Unrecht aufzudecken und rechtsstaatlich zu behandeln, d. h. so weit möglich den Schaden wieder gutzumachen. Damit sollen auch die Verfehlungen des Marcos-Regimes dokumentiert und etwaigen politischen Comeback-Versuchen der Boden entzogen werden. Das Engagement der beiden hochangese-henen, unbestechlichen Rechtsanwälte wird von vielen Mitgliedern der Regierung jedoch mit gemischten Gefühlen, von einigen mit Ablehnung verfolgt.
Auch hier steht Enrile im Mittelpunkt, der einerseits die Armee intakt und geschlossen hinter sich zu halten sucht, andererseits aber selbst einer der wichtigsten Kumpane des Marcos-Regimes war. Enrile wird so zunehmend zu einer Belastung für die Aquino-Regierung — gleichzeitig jedoch zu ihrer unberechenbaren Stütze. Er befindet sich in einer paradoxen Doppelrolle, die nicht ohne Folgen bleiben kann. Die bisherigen Marcos-Anhänger, z. T. um ihre Stellen und Pfründe gebracht, sehen nämlich in ihm durchaus nicht den verabscheuungswürdigen Königsmörder, sondern setzen ihre Hoffnungen auf ein politisches Comeback gerade in ihn.
Nachdem die Marcos-Anhänger seit Ende April durch zahlreiche, allerdings meist kleinere Demonstrationen in Manila auf sich aufmerksam gemacht haben und Ferdinand Marcos vom fernen Hawaii durch intensiven Telefonkontakt erneut Einfluß auf die Entwicklung zu nehmen versucht, nachdem man sich in Manila im Juni mit Putsch-gerüchten, die sich um die Person Enriles rankten, beschäftigte, suchten die Marcos-Loyalisten durch einen Operetten-Coup Mitte Juli die Entwicklung voranzutreiben. Unter dem Schutz von etwa 200 Soldaten und der Mitwirkung einer Handvoll höherer aktiver und gerade pensionierter Offiziere wurde der Vize-Präsidentschaftskandidat Arturo Tolentino zum amtierenden Präsidenten — „bis zur Rückkehr des rechtmäßigen Präsidenten“ — „vereidigt“. Tolentino ernannte Enrile zum Premier-und Verteidigungsminister.
Dieser lehnte zwar ab, zeigte aber eine betont aufgeschlossene Haltung gegenüber den beteiligten Militärs, denen er Straffreiheit zusicherte. Enrile sah seine Zeit offenbar noch nicht gekommen.
Inzwischen setzt er sich auch verbal immer häufiger in der Öffentlichkeit von der Aquino-Regierung ab, der er eine lasche Haltung gegenüber den Kommunisten vorwirft. Durch die Verhaftung des (vermutlich inzwischen entmachteten) Parteivorsitzenden Rafael Salas im September in Manila vermochte er vorübergehend sogar die Verhandlungen mit der NDF zu gefährden. Sein Verhalten legt den Schluß nahe, daß er die Armee und die Rechte auf zukünftige legale oder illegale Aktionen seinerseits vorbereiten, einstimmen und sammeln möchte. Auch in einem demokratischen Regime hätte er unter den gegebenen Verhältnissen, wenn er die Führung der Marcos-Anhänger zu übernehmen vermag, mit Unterstützung der Armee durchaus gute Chancen. Allerdings hat die Verfassungskommission sich auf eine sechsjährige Amtsperiode für Cory Aquino (ohne Möglichkeit der Wiederwahl) geeinigt. Dies mag für den heute Zweiundsechzigjährigen zu lange sein. Eine Lösung der wirtschaftlichen und sozialen Krise ist nicht in Sicht Diese Unsicherheit über die Haltung und die Optionen Enriles beeinträchtigen den ohnehin geringen Handlungsspielraum der Regierung auch im wirtschaftlichen und sozialen Bereich, wo leichte Erfolge zudem kaum zu erzielen sind. Der Sturz des Marcos-Regimes hat die erhoffte Steigerung der Investitionsbereitschaft durch Rückkehr des Fluchtkapitals und durch ausländische Investitionen bisher nicht bewirkt. Die notwendige Liberalisierung der Arbeiter-und Gewerkschaftsrechte, die Diskussion über eine Eingrenzung der ausländischen Direktinvestitionen sowie über eine möglicherweise einseitige Prüfung der Anerkennung aller Auslandsschulden, ohne daß die Regierung sich bisher jedoch zu einer klaren Linie, zu einer amtlichen Politik durchzuringen vermochte, haben die Verunsicherung privater Anleger kaum abbauen können. Die Regierung Aquino vermochte bisher kaum wesentlich mehr Wirtschaftshilfe zu mobilisieren, als dies Marcos — vor der Wahlkrise — auch gekonnt hätte. Der erhoffte Marshall-Plan zum Wiederaufbau des Landes fand bisher jedenfalls nicht statt. Eine nachhaltige Verbesserung der Absatzbedingungen und der Weltmarktpreise für die damiederliegenden Exportsektoren, die eine gewisse Entspannung bewirken könnten, ist gleichfalls nicht in Sicht. Vor allem die Auslandsverschuldung von über 26 Mrd. US-Dollar, deren dramatisch angestiegener Schuldendienst nur durch Umschuldungen und neue Schuldenaufnahme abgemildert, nicht aber beseitigt werden kann, sowie die tendenziell sinkenden eigenen Staatseinnahmen, die zudem vom abgelösten Regime z. T. schon im Vorwahl-und Wahlkampf verplempert wurden, gestatten der Aquino-Regierung nur einen engen finanziellen Handlungsspielraum einer aktiven Investitionsförderungs-und Sozialpolitik. Die beabsichtigten ländlichen Beschäftigungs-(im Infrastrukturbereich) und Kreditprogramme werden schwer finanzierbar sein. Unbeschadet ihrer sozialpolitischen Notwendigkeit (Arbeit und Einkommen für die Armen) kann darüber hinaus ihr langfristiger wirtschaftlicher Nutzen nicht garantiert werden. Auch das Marcos-Regime hat hier Aktivitäten vorzuweisen und mußte seine negativen Erfahrungen machen
Die Perspektiven Die Lage breiter Bevölkerungsschichten auf dem Lande und in den Städten, die täglich um ihre Existenz kämpfen müssen, wird so kaum nachhaltig verbessert werden können, zumal die neue Regierung zu gesellschaftlichen Strukturreformen nicht bereit und in der Lage ist. So nutzt die Industriearbeiterschaft zwangsläufig ihren legal erweiterten Handlungsspielraum, um für die Anhebung der Reallöhne zu kämpfen und zu streiken. Trotz einer im Augenblick noch relativ niedrigen Inflationsrate sind diese berechtigten Forderungen aufgrund einer allgemeinen Unterauslastung der Kapazitäten meist nur schwer erfüllbar. Selbsthilfe-und Aktionsgruppen im informellen Sektor, im Wohnbereich, den Slums und den (wilden)
Squattersiedlungen sowie auf dem Lande werden mittelfristig ihre lebensnotwendigen Forderungen mit verstärkter Militanz auf den Straßen und gegenüber den Behörden artikulieren und sich Unterwanderungsversuchen der NDF schwer entziehen können. Deshalb steht eine kommunistische Machtübernahme noch lange nicht bevor.
Die von Marcos-Anhängern verbreitete Diffamierung Cory Aquinos als „Corynsky“ 40a) — also des philippinischen Kerensky, die durch den Sturz der alten Ordnung im Februar die kommunistische „Oktoberrevolution“ vorbereitet(e) — ist durchsichtige parteiische Taktik.
Die alte und neue Oligarchie mag dennoch wieder fester zusammenrücken — vielleicht sogar unter stärkerer aktiver Beteiligung des Militärs im politischen Prozeß. Eine Abfolge instabiler, vom Militär gestützter Regime, ähnlich denjenigen in Süd-Vietnam (nach der US-geförderten Absetzung und Ermordung Diems), „bevor es in die Hand der Kommunisten fiel“, mag dabei das pessimistischste Szenarium sein Eine Art militärisch gestützter Autoritarismus, wie er in Suhartos Indonesien herrscht, oder ein ständiges Gerangel der Militärs um die Macht in einem parlamentarischen Parteiensystem wie gegenwärtig in Thailand dürfte kaum wesentlich optimistischer stimmen.
Es wäre dem Lande allerdings nicht zu wünschen, wenn sich erneut nur ein ParteienSystem mit gegeneinander konkurrierenden oligarchischen Parteien entwickeln würde, wie es die Politik vor 1972 geprägt hat. Angesichts der Vielfalt der Parteien und Gruppierungen, die organisatorisch sogar in der Opposition zum Marcos-Regime nicht zusammengefunden haben, scheint den Philippinen noch ein steiniger Weg bevorzustehen. Wichtig und wünschenswert wäre, daß sich ein nationales Zwei-oder Dreiparteiensystem entwickelt, in dem eine Reformpartei der Nationalisten und der Sozialisten oder Sozialdemokraten mitwirken würde. Die Voraussetzung dafür wäre aber, daß ein möglichst großer Teil der Linken zu dieser Mitarbeit im parlamentarisch-demokratischen System überhaupt bereit ist. Die Unterwanderung vieler Aktions-und Selbshilfegruppen durch die SPP dürfte dem indessen eher entgegenstehen. Diese Mitarbeit ist außerdem nur denkbar, wenn sie einige Aussicht auf Erfolg verspricht. Die Massenbasis der Linken und Nationalisten dürfte zwar heute größer sein als je zuvor — mehrheitsfänig sind sie jedoch sicherlich nicht.
Eine wirksame Repräsentanz im parlamentarischen System — als Minderheitspartei (und Opposition) oder Koalitionspartner im nationalen System, als Regierungspartei in einigen lokalen Systemen (Provinzen, Städten) — setzt einerseits das Verhältniswahlrecht, andererseits die ungefährdete politische Betätigung vor physischen Einschüchterungsversuchen durch die Oligarchie (und ihrer Privatbanden, die aufzulösen wären) und des Militärs voraus. Ob die Bedingungen für diese politischen Reformen von der Aquino-Diktatur eingeleitet werden können, muß sehr skeptisch gesehen werden Die Philippinen haben die politische, wirtschaftliche und soziale Krise noch längst nicht überwunden.