I. „Politik von unten“ — exemplarische Beispiele
Wachsende aktive Minderheiten haben sich in den letzten 10-15 Jahren zu neuen Formen der Eigeninitiative, des sozialen Engagements und der Selbsthilfeorganisation zusammengeschlossen. Sie haben erkannt, was die meisten Politiker noch nicht wahrhaben wollen: Privatwirtschaft und Staat sind oft kaum noch in der Lage, mit den sozialen Notständen fertig zu werden, die Arbeitswelt menschwürdiger zu gestalten und die kulturellen Bedürfnisse der Menschen zu befriedigen. Soll unsere Lebenswelt nicht zunehmend verslumen, unsere Arbeitswelt nicht in einer andauernden Beschäftigungskrise und durch weitere „Plünderungen“ unseres Planeten unmenschlich werden, so muß solidarische Selbsthilfe vieler sozial engagierter Gruppen eingreifen. Und sie haben in diesem Sinne zu handeln begonnen An gesichts fragwürdig werdender Sozialstaats-Omnipotenz lernen viele wieder neu (und meist ohne jeden ideengeschichtlichen Rückbezug), was seit langem in den Sozialenzykliken der Päpste — als Prinzip der Subsidiarität—, aber auch von Sozialliberalen und libertären Sozialisten gefordert worden ist: daß man die Gestaltung eines humanen Gemeinwesens eher der solidarischen Kooperation vieler gesellschaftlicher Gruppen überantworten sollte als den zentralistischen Sozialbürokratien des Staates. (Was aber keineswegs Abbau, sondern Umbau des Sozialstaats bedeutet; vgl. Kap. V).
Diese lernfähigen, aktiven, nicht länger staats-gläubigen Minderheiten haben begonnen, in ihrem unmittelbaren Lebensbereich die Existenzbedingungen für sich und andere menschlicher zu gestalten: oft in konstruktiver, aber kritischer Zu-sammenarbeit mit etablierten Verwaltungen, oft auch unabhängig und in Konfrontation mit ihnen. Sie haben begonnen, den bürokratischen und privatwirtschaftlichen Strukturen ansatzweise Alternativen entgegenzusetzen, sie zeigen neue Möglichkeiten des Zusammenlebens, erproben nicht-ausbeuterische, genossenschaftliche Kooperationsformen in der Arbeitswelt.
Wie unsere Praxisberichte zeigen, können das Bergarbeiterfamilien sein, die sich gegen den Abriß ihrer alten Siedlung wehren und durchsetzen, daß sie statt dessen modernisiert wird. Es können Mieterinitiativen sein, die sich gegen das Spekulantentum in ihrem Stadtteil wenden, oder Bürger, die nicht nur durch ihren Widerstand, sondern durch eigene konstruktive Vorschläge Einfluß auf die Stadtplanung gewinnen. Es können Jugendliche sein, die sich ihre eigenen Zentren aufbauen oder aktiv beim Umweltschutz mitarbeiten. Es können Gruppen sein, die in selbstorganisierten Stadtteilzentren eigene Bildungs-und Kulturangebote — jenseits des offiziellen und subventionierten Kulturbetriebes — realisieren. Es können Eltern und Lehrer sein, die in Freien Schulen dafür sorgen, daß Kinder nicht nur Lesen und Schreiben, sondern auch Leben lernen. Es können Gesprächsgruppen sein, in denen chronisch Kranke und Behinderte für sich und andere, mit ähnlichen Leiden Kämpfende, psychosoziale Hilfen schaffen, wo das bürokratisierte, professionelle Gesundheitssystem versagt.
Einige Betriebsräte oder betriebliche Gruppen treffen Vereinbarungen mit Unternehmensleitungen, um freiwillig kürzer zu arbeiten und damit Arbeitsplätze zu erhalten oder neue zu schaffen. Beispiele von kibbutzartigen Vollgenossenschaften zeigen, daß es möglich ist, nicht nur genossenschaftlich, ohne Privatkapital, miteinander zu arbeiten, sondern auch miteinander zu leben und gesellschaftspolitisch aktiv zu werden. Andere selbstorganisierte Gruppen versuchen in Zusammenarbeit mit Bewohnern von Obdachlosensiedlungen, diese aus ihrer Passivität, Resignation und aus dem Leben im Getto zu befreien, andere helfen Strafgefangenen, nach ihrer Haftzeit in der Gesellschaft wieder Fuß zu fassen, wieder andere organisieren ambulante Pflegedienste für Behinderte und zeigen damit eine Alternative zur Kasernierung in Heimen; wieder andere Gruppen eröffnen Gesundheitsläden und helfen Menschen, nicht länger hilflos der Fremdbestimmung durch das offizielle Gesundheitssystem ausgeliefert zu sein. Frauengruppen schaffen Frauen-zentren, Frauenbuchläden und -Cafes, um durch soziale, solidarische Selbsthilfe Gegenpositionen zur patriarchalischen Herrschaft in dieser Gesellschaft zu schaffen.
Vielen anderen „alternativen“ Gruppen an Organisationskraft und Zusammenhalt weit voraus sind die anthroposophischen Gruppen, die seit Jahrzehnten soziale Selbsthilfe verwirklichen: durch ihre repressionsfreieren Schulen, eine alternative Bank, genossenschaftsartig organisierte Krankenhäuser (ohne den „Halbgott im weißen Kittel“), eine sozialwissenschaftlich vorbildliche, nichtstaatliche medizinische Hochschule — und nicht zuletzt durch ökologisch („biodynamisch“) und meist genossenschaftlich arbeitende, von Freundeskreisen mitgetragene Landwirtschaftsbetriebe. Aber auch das Netzwerk Selbsthilfe versucht erfolgreich, durch finanzielle Mittel von zahlungskräftigen, „alternativ“ orientierten Mitbürgern Gruppen zu unterstützen, die humanere Produktions-, Dienstleistungs-und Informationsstrukturen aufbauen wollen.
Hunderte von Friedensinitiativen haben begonnen, nicht nur gewaltfreien Widerstand gegen die lebensbedrohenden Rüstungsprozesse zu organisieren, sondern durch eine breite Bildungsarbeit friedenspolitische Alternativen zu dem herrschenden System der „organisierten Friedlosigkeit“ zu entwickeln.
Mit diesen insgesamt über 40000 Gruppen der Sozialen Selbsthilfe in der Bundesrepublik voll-zieht sich etwas nicht nur quantitativ, sondern in doppelter Hinsicht qualitativ Neues in unserer Politischen Kultur: Kritische, aktive Minderheiten haben begonnen, nicht nur wie bisher Mißstände im bestehenden Gesellschaftssystem zu kritisieren — sie arbeiten vielmehr in ihrem unmittelbaren Lebens-und Arbeitsbereich an der Beseitigung dieser Mißstände. Und zwar nicht nur im Sinne der psychosozialen Reparatur. In sehr vielen Fällen entwickeln sie menschlichere, weniger herrschaftliche, weniger entfremdete Alternativen des Zusammenlebens und -arbeitens.
In der gesellschaftspolitischen Perspektive dieses — nach einem halben Jahrtausend staats-„absolutistischer“ Bevormundung wieder in Gang kommenden — Prozesses entwickelt sich das Leitbild einer „Selbsthilfe-Gesellschaft“ (Horst-Eberhard Richter), in der autonome soziale Selbstorganisationen schrittweise wieder vieles übernehmen können, was ein überzentralisierter, überbürokratisierter Versorgungsstaat den Bürgern mehr und mehr abgenommen hat, Fürsorge mit Herrschaft und Entmündigung fatal verknüpfend.
Unsere Praxisbeispiele und -konzepte dokumentieren diesen schwierigen Weg vorwärts, zurück zu einer dezentralisierten, sich selbst helfenden Gesellschaft nicht aus abstrakt-normativen Gründen: Wir unterstützen mit unserer Theoriearbeit die Selbsthilfebewegung vielmehr aus ganz pragmatischem Überlebensinteresse: Weil angesichts notwendigerweise geringem oder schrumpfendem Wirtschaftswachstum, Massenarbeitslosigkeit und damit zunehmender Finanzierungslükken des „Sozialstaats“ eben dieser Staat gezwungen wird, soziale und kulturelle Funktionen entweder aufzugeben oder abzugeben, und weil überdies autonome gesellschaftliche Gruppen diese Aufgaben humaner und effektiver wahrnehmen können, wenn der Staat (die Sozial-und Kultusbürokratie) eingesparte Mittel in vollem Umfang diesen Gruppen zur Verfügung stellt. Gelingt dieser Umbau des Sozialstaats durch zunehmende Übernahme von Aufgaben durch soziale Selbsthilfegruppen — bei entsprechenden Budgettransfers — nicht, so werden wir einen gefährlichen Zerfall nicht nur des Sozialstaats, sondern unserer Gesellschaft überhaupt erleben.
II. Zur Begriffserklärung: Was ist eine Soziale Selbsthilfegruppe?
Es fehlt nicht an Versuchen, anstelle des inflatorisch verwendeten Begriffs „Selbsthilfe“ für sozial engagierte Gruppenaktivitäten neue Begriffsbildungen einzuführen Nachdem sich jedoch in den letzten Jahren der Begriffder „Selbsthilfe“ als der bei weitem am häufigsten verwendete Ausdruck für die Aktivität sowohl der mehr für sich selbst wie der sozial engagierten Gruppen herauskristallisiert hat, erscheint es unpraktisch und für die Verständigung hinderlich, mit einem begrifflichen Eigenbau in die Diskussion zu gehen. Es ist allerdings notwendig, daß man sehr genau zwei intentional verschiedene Arten von „Selbsthilfe“ unterscheidet, nämlich — Private Selbsthilfe: Aktivitäten von Gruppen, deren Mitglieder weitgehend nur sich selbst helfen wollen (wie etwa kommerzielle Genossenschaften, Hobbygruppen, Hausbaugemeinschaften), und — Soziale Selbsthilfe: Aktivitäten von Gruppen, die auch anderen helfen wollen, einem größeren Kreis von Betroffenen, zu dem die Aktiven aber oft auch selbst gehören.
Beim zweiten Typ heißt dieses „selbst“ etwas qualitativ anderes als beim ersten Typ: Diese Gruppen wollen nicht auf das Handeln des Staates, der Sozialverwaltung etc. warten, sondern — unabhängig von offiziellen Institutionen — selbst handeln, selbst Hilfe leisten, Verhältnisse ändern, aber nicht nur für sich selbst, sondern auch für andere. Für diese Gruppen brauchen wir einen möglichst präzisen Namen. Um den undifferenzierten Selbsthilfe-Begriffzu präzisieren, schlagen wir vor, diese spezifische Art als „Soziale Selbsthilfe“ zu bezeichnen Es ist aber sinnvoll, darüber hinaus den Begriff der Sozialen Selbsthilfe noch durch die folgenden Bestimmungselemente zu konkretisieren, die sich aus der Beschäftigung mit über 200 Gruppenberichten ergeben haben. Durch diese Erfahrungen sind wir zu vier zentralen Bestimmungselementen gekommen:
— Autonomie: Handeln aufgrund selbstbestimmter Vereinigung von Bürgern, nicht veranlaßt und geleitet von einer Organisationszentrale;
— Selbstgestaltung: Handeln als freiwilliges Mitgestalten, nicht nur Mitbestimmen gesellschaftlicher Tatbestände — sei es als Ergänzung, sei es als Reform von oder als Alternative zu bestehenden Sozialstrukturen;
— Solidarität(Sozialengagement): Handeln nicht nur für sich, sondern auch für andere bzw. für ein größeres Gemeinsames — ein Gemeinwohl, mit dem Ziel einer alternativen Lebensordnung, einer solidarischen statt der bestehenden Herrschaftsgesellschaft; — Betroffenheit: Handeln in einem überschaubaren, von den Handelnden kompetent mitgestaltbaren gesellschaftlichen Nahbereich in der Lebens-oder Arbeitswelt.
Neben diesen sind auch noch einige weitere, weniger essentielle Bestimmungselemente zu finden Natürlich geht es nicht darum, diese Handlungsnormen dogmatisch der Bestimmung einer Initiativ-Gruppe als Sozialer Selbsthilfegruppe zugrunde zu legen, aber sie gelten als intentionale Kategorien zur Selbstverständigung und öffentlichen Klärung dessen, was Soziale Selbsthilfe ist und was nicht.
Es soll hier allerdings ausdrücklich noch einmal der einleitend schon erwähnte ideengeschichtliche Bezug hergestellt werden, der zwar den meisten Gruppen nicht bewußt ist, dessen Bewußtwerdung aber die gesamte Selbsthilfe-Diskussion — jenseits vordergründiger ideologischer Vereinnahmung — auf ein höheres, angemesseneres sozialtheoretisches Niveau bringen könnte: Soziale Selbsthilfe bestätigt und praktiziert das Prinzip optimaler Dezentralisierung gesellschaftlicher Organisation — anders ausgedrückt: das Prinzip der Subsidiarität. Der prominenteste Vertreter der katholischen Soziallehre, Oswald v. Nell-Breuning, hat mit Recht darauf hingewiesen, daß dieses Prinzip eines nicht vorrangigen, sondern im Bedarfsfall hilfeleistenden Handelns des Staates keine Erfindung der päpstlichen Sozialenzykliken ist, sondern ein sehr alter liberaler Grundsatz, der u. a. bereits bei Abraham Lincoln präzisen Ausdruck gefunden hat
III. Größenordnung, Aktionsbereiche und gesellschaftliche Ursachen
Jahrelang haben unzutreffende, nämlich viel zu geringe Hochschätzungen über die Anzahl der Sozialen Selbsthilfegruppen die Diskussion irregeführt, meist durch eine zu eingeengte Sicht (etwa auf soziale oder therapeutische Selbsthilfegruppen), vor allem aber durch die Übernahme der von J. Huber vorgelegten pseudo-exakten (Prozent-) Zahlen, die immer wieder zitiert wurden. Inzwischen wissen wir aufgrund der Hochschätzungen aus sechs lokalen/regionalen Felduntersuchungen, daß es nicht, wie Huber meinte, 11 500 Selbsthilfegruppen, sondern bereits 1980/82 30000-40000 gab, 1984 sogar eher 50000, in denen 500000-700000 Menschen aktiv sind Mit anderen Worten: Wir können, wenn wir aus den Untersuchungen der ersten Hälfte der achtziger Jahre einen sehr vorsichtigen, auch Rückschläge dieser Bewegungskultur berücksichtigenden Mittelwert wählen, sicher mit 4000045 000 Sozialen Selbsthilfegruppen in der Bundesrepublik und West-Berlin rechnen.
Die Ergebnisse der Hochschätzungen werden bestätigt, wenn man die quantitativen Angaben durch Einzelstudien ermittelter Arbeitsschwerpunkte zusammenfaßt. Hier erkennen wir gleichzeitig die Größenordnungen wichtiger Selbsthilfe-Bereiche, gemessen an der Zahl der zwischen 1980 und 1985 ermittelten Gruppen, „Projekte“, „Zentren“ etc. Die folgende Tabelle zeigt, daß bei dieser Zusammenstellung etwa 34000 Soziale Selbsthilfegruppen zusammenkommen. Da hier nur etwa vier Fünftel der Arbeitsschwerpunkte quantitativ erfaßt sind, zeigt sich die hochgeschätzte Gesamtzahl von 40000-45000 als durchaus realistisch:
Größenordnung wichtiger Selbsthilfe-Bereiche Empirisch belegte Zahlen oder Schätzwerte 10000-12000 Neue Genossenschaften 6000-10000 Kranken-und Lebenshilfe-Selbsthilfegruppen 5 000 Dritte-Welt-Gruppen 3 000 Jugendzentren 1 900 Arbeitsloseninitiativen 1 000 Frauen-Projekte 1 000 Friedens-Bildungs-Initiativen 700 Eltern-Selbsthilfegruppen 300-400 Alternative Zeitungen und Zeitschriften 200-250 Bau-Selbsthilfegruppen in Berlin-West 200 freie Initiativen in der Straffälligenhilfe 200 Jugendwohngemeinschaften 180 Initiativen in Obdachlosen-siedlungen 140 Alten-Initiativen 140 alternative Schulen incl. Waldorfschulen 120 Sozio-kulturelle Zentren 20-30 Gesundheitsläden ca. 20 Wissenschaftsläden Die wachsende Bedeutung der Sozialen Selbsthilfegruppen im gesellschaftlichen Leben der Bundesrepublik wird deutlich, wenn man sich einen empirisch fundierten Gesamtüberblick über alle Aktionsbereiche und die wichtigsten Arbeitsschwerpunkte Sozialer Selbsthilfe verschafft, die Größenordnung und den Grad der Vernetzung in diesen Bereichen zu ermitteln versucht und erst aufgrund dessen die sehr verschiedenen Problemlagen, Schwierigkeiten und Konflikte („Staatsknete“?, Selbstausbeutung? Privatisierung des Sozial-staats?) ins Auge faßt. Es zeigt sich dann, daß Soziale Selbsthilfe als alternative, selbst organisierte Praxis und Perspektive gesellschaftlicher Daseinsgestaltung weit über den Bereich der viel zitierten therapeutischen und Gesundheitsgruppen, aber auch weit über den Bereich der „Alternativprojekte“ oder der soziokulturellen Zentren hinauswirkt. Sechs große Aktionsbereiche mit ins-gesamt ca. 25 Arbeitsschwerpunkten treten in Erscheinung, wenn man gründlich und ohne Verengung des Blickes aufnimmt, was sich in der Selbsthilfebewegung tut:
Angesichts einer solchen, erst in den letzten anderthalb Jahrzehnten derart angewachsenen Bewegung stellt sich zwangsläufig die Frage nach den Ursachen. Sie ist nicht einfach zu beantworten; sicher ist nur, daß die häufig zu hörende Erklärung falsch ist: sie sei eine Folge der (Finanz-) Krise, ein Notbehelf, wo der Sozialstaat versagt. Aus unseren Gruppen-Interviews und den Analysen von ca. 200 Projekten ergibt sich eine kompliziertere Antwort: Es sind mindestens drei Faktoren, die zu dieser sozialkulturellen Selbsthilfebewegung geführt haben — also ein Ursachenbündel: — soziale Notstände, die die Sozialpolitik aufgrund ihrer finanziellen und strukturellen Defizite („bürokratischer Zentralismus”) nicht bewältigt: Massenarbeitslosigkeit, Verslumung, Benachteiligung von Frauen, Alten, Jugendlichen, Ausländern etc., mangelnde Versorgung von Kranken, Kasernierung in „Heimen“, „Anstalten“ aller Art etc., — Streben nach alternativen Strukturen des Arbeits-, Sozial-, Kultur-und Zusammenlebens: Kooperative, (therapeutische) Wohngemeinschaften, freie Schulen und „soziokulturelle“ Jugend-zentren, Frauenzentren etc., vor allem aber — eine wesentlich gewachsene soziale Handlungsbereitschaft von aktiven Minderheiten, die nicht länger mehr als „Sozialleistungs-Konsumenten“ nur auf das helfende Handeln des Staates warten, sondern für sich und andere Abhilfe und alternative Strukturen schaffen
IV. Persönliche und gesellschaftliche Bedeutung Sozialer Selbsthilfe
Aus unseren Praxisberichten und Befragungen läßt sich erkennen, daß sich mit der Selbsthilfebewegung vier große Chancen für die Gesellschaft und die Menschen in ihr bieten:
Erstens: Engagement in Selbsthilfegruppen kann bewirken, daß Menschen aus ihrer Isolation, aus ihrer beschränkten Privatexistenz, ihrer Hilflosigkeit und Fremdheit inmitten der anonymen Gesellschaft herauskommen und zu Formen aktiver Gemeinschaft gelangen, die sinnvolle Ziele und gute menschliche Kontakte vermitteln können. Jeder weiß, daß das Engagement in bestimmten sozialen Zusammenhängen häufig auch zu persönlichen Kontakten führt, die dann ebenso wichtig sind wie das, was man unmittelbar erreichen will. Zweitens: Soziale Selbsthilfe kann Gesellschaftsveränderung von unten bewirken. Sie bedeutet, nicht länger nur auf eine Reformmehrheit im Parlament warten zu müssen, um die Humanisierung gesellschaftlicher Verhältnisse durchzusetzen. Das ist mit dem Stichwort „Graswurzelrevolution“ bezeichnet worden. Es bedeutet eine neue Art von außerparlamentarischer Arbeit.
Drittens: Soziale Selbsthilfe kann beim Umbau des Staates mitwirken. Sie bewirkt die Wieder-Aneignung vieler seiner angemaßten Funktionen durch gesellschaftliche Selbstorganisation der Bürger. Nicht die Privatisierung, sondern im Gegenteil: die Vergesellschaftung des Staates, nicht der Abbau, sondern der Umbau des Sozialstaates ist ihr Ziel.
Viertens: Soziale Selbsthilfe in der Arbeitswelt kann beim Abbau fremdbestimmter Arbeit und Unternehmensorganisation mitwirken, sie kann beim Aufbau einer erstmals wirklich freien Wirtschaft mithelfen, nämlich frei von menschenunwürdiger Ausbeutung, Abhängigkeit und Hierarchie. Dies ist zweifellos bisher der schwächste Bereich der Selbsthilfebewegung. Das kann sich aber ändern; in anderen Ländern, etwa in Italien, ist z. B. die genossenschaftliche Selbsthilfe in der Arbeitswelt schon viel stärker ausgeprägt.
Selbstveränderung In sozialen Selbsthilfegruppen wird das Leben des einzelnen lebendiger: durch Mitgestaltungsmöglichkeiten im gesellschaftlichen Nahbereich, durch Überschreiten des kleinen Ich und des Familienzirkels in Richtung auf ein größeres, aber noch unmittelbar überschaubares Ganzes. Dies ist keine akademische Wunschvorstellung, sondern durch zahlreiche Berichte belegbar: Die Menschen in den Gruppen bestätigen, daß sie eine Ausweitung ihrer eigenen Existenz, ihres Lebens-gefühls, ihrer Lebensinhalte erfahren haben. Entscheidend ist dabei freilich das Prinzip der Autonomie. Daher sind auch alle Vorschläge, einen obligatorischen „Sozialdienst“ einzuführen, abzulehnen: Jeder derartige „Dienst“ würde die Eigeninitiative zerstören.
Wenn man aber jeden „freiwilligen Zwang“ ablehnt, so stellt sich die schwierige Frage, wie man mehr Menschen zu einem autonomen Engagement ermutigen kann: zu der Einsicht, daß es nötig ist, aber auch die eigene Lebensqualität verbessert, sich in gesellschaftliche Zusammenhänge einzumischen. Zweifellos ergeben sich hier neue Aufgaben der Erwachsenenbildung und einer gemeinsamen sozialethischen Neuorientierung, auf die wir im 5. Abschnitt zu sprechen kommen.
Veränderung der Gesellschaft „von unten“
Die gesellschaftspolitische Bedeutung der Sozialen Selbsthilfebewegung vermag nur derjenige in ihrem vollen Umfang zu verstehen, der sich vorbehaltlos Rechenschaft darüber ablegt, wie quälend langsam — wenn überhaupt — die traditionellen Strategien des humanen und sozialen Fortschritts uns im 20. Jahrhundert vorangebracht haben. Wir stehen vor einem großen Defizit in der Bilanz des 20. Jahrhunderts, was Reform, was soziale Demokratie betrifft. Dabei wollen wir nicht in die Fehler der Antireformisten von rechts und links verfallen, die relativen sozialen Verbesserungen: Einkommen, Freizeit, soziale Sicherheit, Bildungschancen, Emanzipationsansätze, Demokratisierungsansätze — gering zu achten. Aber diese Verbesserungen der Lebensbedingungen vermochten nur sehr bedingt Besitz-und Herrschaftsstrukturen abzubauen. Allerdings haben sie zum gesellschaftlichen Selbstbewußtsein einer aktiven Minderheit beigetragen, die nicht mehr bereit ist, sich allein auf Parlamente und Gewerkschaften zu verlassen, sondern die in zwei außer-parlamentarischen Bewegungen „Veränderungen der Gesellschaft von unten“ voranzutreiben versucht: Das ist zum einen die Bürgerinitiativbewegung und zum anderen, vor allem seit Mitte der siebziger Jahre, die Selbsthilfebewegung, die Neue Selbsthilfebewegung, wie Beywl und Brombach ganz richtig sagen.
Beide Bewegungen sind in vielen Fällen miteinander verbunden. So manche Bürgerinitiative griff, weil das Nein-Sagen ihr nicht ausreichte, zur Selbsthilfe. Aber es besteht ein prinzipieller Unterschied. Ein qualitativer Sprung führt von der notwendigen, aber in ihrer Wirkungsweise begrenzten Arbeit gegen eine Politik zur Mitgestallang oder Selbstgestaltung einer Politik. Die Bedeutung dieses Sprungs liegt darin, daß die Entfaltung Sozialer Selbsthilfe mittel-und langfristig unabsehbare Veränderung von Politik bewirken kann: Veränderung, Humanisierung gesellschaftlicher Verhältnisse kann partiell von den großen politischen „Wenden“ und „Machtwechseln“ unabhängig werden. 40000-50000 autonome Gruppen in der Bundesrepublik verändern Lebens-und Arbeitsbedingungen in dieser Gesellschaft. Das ist etwas Neues und das hat es in den etzten Jahrhunderten unaufhörlicher Zunahme les Staatshandelns nicht mehr gegeben
Natürlich begegnet uns hier sofort der Einwand, slche Selbsthilfeinitiativen könnten Politik und Gesellschaft nur marginal verändern; wir würden hre gesellschaftspolitische Bedeutung daher maß-los überschätzen. Dem ist zweierlei entgegenzuhalten: Zum einen ist unsere Aussage eine Prognose unter der Voraussetzung öffentlicher Förderung. Wir sprechen von einer realen Chance, nicht schon von der Wirklichkeit einer „Politik von unten“. Es gibt beachtliche Ansätze, und die Frage ist, wie man solche Ansätze fördern kann. Zum anderen aber sind die gegenwärtigen Leistungen vieler Sozialer Selbsthilfegruppen nicht mehr nur marginal. Wer dies annimmt, verkennt die Multiplikatorwirkung aktiver Minderheiten. In den zwanziger Jahren hat die Jugendbewegung, obgleich quantitativ sehr klein, im Guten wie im Schlechten enorme Wirkungen gehabt. Ebenso maß man auch heute gesellschaftspolitisch die Relation von Qualität und Quantität in den aktiven Minderheitsbewegungen sehen. Ihre in vielen Fällen humaneren ökonomischen, sozialen und kulturellen Modelle, teilweise als „Alternativprojekte“ bezeichnet, werden zunehmend öffentlich beachtet. Seit 1983 wächst die Zahl von Fonds der einen oder anderen Art für genossenschaftliche oder soziokulturelle Gruppen. Die Grünen haben mit ihren „Ökofonds“ (s. u.) ein vorbildliches Modell auch für andere Parteien geschaffen.
In bestimmte Sektoren des gesellschaftlichen Lebens beginnen die alternativen Projekte der Sozialen Selbsthilfe bereits die Strukturen zu prägen oder sie mitzugestalten. Die selbstgestalteten Abenteuerspielplätze, Kinderläden, Stadtteil-treffs und soziokulturellen Zentren, die 1 200 Jugendzentren, die autonomen Altenklubs und Frauen-Zentren, die Gesundheitsläden, die etwa 10000 Selbsthilfegruppen von Behinderten sind in ihren Bereichen anerkannte und teilweise, etwa im Jugend-und Frauenbereich, bereits tonangebende Einrichtungen einer alternativen Politischen Kultur. Andere gesellschaftsverändernde Formen Sozialer Selbsthilfe wie Landkommunen und genossenschaftliche Alternativprojekte, die Freien Schulen und Hochschulen, die alternativen Finanzierungs-Netzwerke, die selbstorganisierten betrieblichen und überbetrieblichen Initiativen zur freiwilligen Arbeitszeitverkürzung oder die Arbeitslosen-Selbsthilfebewegung haben zwar bislang in ihren Bereichen — Wirtschaft und Bildungssystem — noch marginale Größenordnungen. Aber in der gesellschaftspolitischen Diskussion erlangen sie zunehmende Anerkennung als wichtige problemlösende Alternativen. .
Damit kommen wir zur dritten gesellschaftspolitischen Chance von Sozialer Selbsthilfe: Es kann — und das ist sicher nicht das Unwichtigste — durch Soziale Selbsthilfe schrittweise zu einer Vergesellschaftung des Staates kommen. Dieser brisanten Frage müssen wir uns in einem eigenen Abschnitt zuwenden.
V. Krise des Sozialstaats und Soziale Selbsthilfe
Auf dem Hintergrund unserer empirischen Befunde — die hier nur sehr grob zusammengefaßt werden konnten — ist zu fragen, inwieweit eine Förderung, ja Verallgemeinerung Sozialer Selbsthilfe dazu beitragen kann, konstruktiv Auswege aus der Krise des Sozialstaats zu entwickeln.
Ohne Frage hat der demokratische Kultur-und Sozialstaat Wesentliches zur Besserung der Situation der abhängigen Massen beigetragen. Und solange die Arbeitsplatzsicherheit, das Einkommen und die freie Zeit der großen Mehrheit nicht ein besseres Niveau erreicht haben, werden wir auf die meisten sozialen Leistungen dieses Staates nicht verzichten können. Insbesondere die monetären Leistungen sind, schon aus Gerechtigkeitsgründen einer relativen Gleichbehandlung, zentralstaatlich anzusammeln und zu verteilen. Die entscheidende Frage angesichts der Finanz-und Effizienzkrise des Sozialstaates ist allerdings, ob nicht wesentliche seiner Ausgaben anders wirksamer und humaner eingesetzt werden müßten — und ob Soziale Selbsthilfe eine positive sozialreformerische Rolle dabei spielen kann. Noch Anfang der siebziger Jahre, im ersten Langzeitprogramm der SPD, wurde von einem anhaltenden realen Wachstum des Volkseinkommens um jährlich etwa 5% ausgegangen als Basis einer allgemeinen Wohlstandssteigerung und Steigerung staatlicher Sozialleistungen, mit deren Hilfe schrittweise alle sozialen Probleme zu lösen seien. Nichts ist von dieser technokratischen Utopie der sozialen Problemlösung übrig geblieben. Die Wachstumsraten sind zunehmend kleiner geworden. Damit bricht das Konzept der aus wachsenden Einkommen und Staatseinnahmen sich quasi automatisch herstellenden, durch immer mehr „Sozialstaat“ realisierbaren Sozialen Demokratie in sich zusammen.
Neben dieser Finanzkrise des Sozialstaats gibt es das sogenannte „Staatsversagen“: Strukturmängel des Sozialstaats, die seine Leistungsfähigkeit stark beeinträchtigen. Badelt hat die Theorieansätze zusammenfassend referiert und als wichtigste Gründe, „warum der Staat nicht in der Lage ist, die Versorgung mit öffentlichen Gütern ausreichend zu gewährleisten“, die primär wahlpolitische statt einer bedürfnisgemäßen Orientierung seiner Entscheidungsträger, den Zentralisationsgrad staatlicher Entscheidungsprozesse und die vergleichsweise zu hohen Kosten seiner Einrichtungen herausgefunden. An dieser Stelle kann auf die breite Literatur zur Sozialstaatskritik und ihre Befunde nicht weiter eingegangen werden; immerhin sei hingewiesen auf den ausgezeichneten, von Michael Opielka u. a. im Auftrag der GRÜNEN herausgegebenen Sammelband „Die Zukunft des Sozialstaats“ der mit seiner Kritik und seinen konstruktiven Vorschlägen ein nahezu vollständiges Kompendium einer vernünftigen „dualen“ Sozialpolitik darstellt, die anstelle der falschen Utopie eines totalen Versorgungsstaats ein vernünftiges Miteinander von staatlicher und eigeninitiativer, zentraler und dezentraler, präventiver, institutioneller und personaler wie gemeinschaftlicher Selbshilfe fordert.
Angesichts dieser Fehlleistungen und Grenzen des Sozialstaates darf man freilich nicht in den simplen konservativen oder liberalen Anti-Etatismus verfallen, sondern muß vor allem die — in Badelts Resümee leider fehlenden — ökonomischen Ursachen der Sozialstaats-Krise erkennen. Der Staat trägt als Umverteilungsinstitution die Folgelasten einer seit 1974 wieder zunehmend krisenhaften Marktwirtschaft (vor allem der Massenarbeitslosigkeit). So resultiert das „Versagen“ des Sozialstaates also nicht zuletzt aus dem Fehlen einer rechtzeitigen Strukturplanung und Humanisierung der Wirtschaft (einschließlich sozial gerechter Umverteilung). Hier hilft nur eine demokratische Neuorientierung der Wirtschaftspolitik.
Es muß zweifellos auf verschiedenen Ebenen die Reform des Sozialstaats und seiner ökonomischen Rahmenbedingungen vorangetrieben werden. Vieles deutet aber daraufhin, daß es wesentliche Elemente von und in Staatseinrichtungen und -leistungen gibt, die entweder dezentralisiert — vornehmlich kommunalisiert — oder gesellschaftlicher Selbstorganisation, Sozialer Selbsthilfe überlassen werden sollten. (Erst in zweiter Linie, aber auch: individueller Eigeninitiative!) Selbstverständlich mitsamt den Budgetanteilen, die jetzt der überzentralisierte Versorgungsstaat dafür beansprucht. Es kann also nicht darum gehen, durch Förderung von Sozialen Selbsthilfegruppen sozialstaatliche Ausgaben einzusparen, sondern darum, sie stärker jenen Sozialen Selbsthilfegruppen zur Verfügung zu stellen, die in vielen Bereichen humaner und effizienter als die zentralen Gesundheits-, Bildungs-, Fürsorge-, Jugend-, Wohlfahrts-und sozialen Wohnungsbaubürokratien menschliche Bedürfnisse befriedigen: „Die Forderung nach Abbau großorganisatorischer Systeme (ist) keineswegs Demontage des Sozialstaats, sofern ... eine organisatorische Verlagerung etwa im Sinne einer Stärkung intermediärer Strukturen oder der Selbsthilfegruppen gefordert wird.“ Genau darin besteht die neue Sozialreform: „Den institutionellen Bestand einer öffentlichen sozialen Sicherheit mit den nicht-institutionellen ... Sozial-gemeinschaften in einer Weise zu verbinden, daß das soziale Netz nicht nur reißfester und wachstumsunabhängiger, sondern auch menschlicher wird.“ (a. a. O.)
Strategien Sozialer Selbsthilfe müssen allerdings mit Entschiedenheit darauf abzielen, daß menschlich sinnvollere und zugleich effektivere Selbsthilfe-Einrichtungen nicht einfach anstelle teurerer staatlicher gefördert werden, sondern daß eingesparte sozial-kulturelle Staatsausgaben in gleicher Höhe für Soziale Selbsthilfegruppen zur Verfügung gestellt werden, wo immer diese (oft um ein Vielfaches) wirkungsvoller und bürgernäher sind. Nur auf der Basis einer solchen Grundsatzposition kann sich die Selbsthilfebewegung wirksam gegen den Vorwurf zur Wehr setzen, sie stütze eine Privatisierungs-und Sozialabbau-Politik.
Im übrigen aber kann die Selbsthilfebewegung nachweisen (und sollte dies noch weitaus präziser tun), was die Etatisten aller Couleur nicht wahrhaben wollen und mit herabsetzenden Ausdrükken wie „Selbstausbeutung“ zu diskreditieren versuchen, daß autonome, oft staatlich geförderte, aber meist auch mit sehr viel „ehrenamtlicher“ Arbeit vorangetriebene Selbsthilfe-Initiativen für die sozial-kulturellen Aufgaben des Steuerzahlers in vielen Bereichen Besseres leisten als der Staat (oder auch große Wohlfahrtsverbände), zumindest aber die kommunalen Einrichtungen ganz wesentlich ergänzen. Dazu drei Aussagen aus der Jugendarbeit, aus dem Kindergartenbereich sowie aus der Kultur-und Erwachsenenbildungsarbeit.
1. Autonome Jugendzentren: „Kein städtisches Jugendhaus ist so billig im Unterhalt wie ein selbst-verwaltetes Jugendzentrum, das getragen wird vom Engagement einer Initiativgruppe und nicht so sehr von der BAT-Einstufung der Sozialarbeiter, wobei ich nicht das Engagement der Sozialarbeiter abwerten möchte, aber es gibt schon Erfahrungen — bei noch so engagierten Sozialarbeitern in den Jugendhäusern; die Arbeitszeit richtet sich halt auch nach dem BAT, um dessen Einhaltung gekämpft wird. Zu Recht wird darum gekämpft. Das erfordert wieder Mehreinstellungen von Sozialarbeitern in Jugendeinrichtungen, um den Betrieb aufrecht zu erhalten. Was dann heißt, daß am Wochenende das Haus meist dicht ist, weil die Mittel halt doch nicht mehr ausreichen. Das sieht dann so aus, daß in Frankfurt 6 Mill. DM für die städtischen Jugendhäuser ausgegeben werden, für eine vergleichbare Anzahl Einrichtungen oder Initiativgruppen wird 1 Mill. DM bereitgestellt.“ Würden die autonomen Jugendzentren einen höheren Anteil der Mittel erhalten, könnten sicher bei weitem mehr den Heranwachsenden entsprechende Freizeiteinrichtungen geschaffen werden.
2. Selbstverwaltete Kindertagesstätten: Eine finanziell effizientere und gleichzeitig strukturell humanere Form der Sozialversorgung ist jener „Umbau des Sozialstaats“, der durch staatliche Förderung von Sozialen Selbsthilfegruppen bewirkt wird, die Kindertagesstätten begründen (Elterninitiativen, Kitas, kurz Ei-Kitas); der Berliner Senat hat bis heute etwa 400 solcher Ei-Kitas mit 750000 DM bezuschußt und er erweitert das Programm immer mehr: „Die Ursprünge der Ei-Kitas in den Kinderläden der bewegten 68er Jahre im damaligen studentischen Milieu stören den Senat von heute wenig. Konnten doch , Dogmen 4 zugunsten der Bemühungen, , die alltäglichen Bedürfnisse des Kindes* zu befriedigen, überwunden werden. Auch Selbstorganisation ist heute zum gewünschten Prinzip geworden, kann der Senat doch ..., mit der Bereitschaft zum eigenverantwortlichen Handeln und persönlichen Engagement* Geld sparen ... Da kommt Selbsthilfe wie gerufen. Kostet ihn ein Kindergartenplatz ungefähr DM 10000, — im Jahr (Baukosten nicht mit-gerechnet), spart er mit der Förderung der Ei-Kitas die Hälfte“ (taz v. 5. 9. 1985). Falsch ist dabei lediglich die voreilige Schlußfolgerung der taz, hier würde „Geld gespart“: In Wirklichkeit würde ohne Ei-Kitas mit dem gleichen Geld gewirtschaftet, aber nur die Hälfte der Plätze in kommunalen Kitas geschaffen.
3. Autonome Kultur-und Erwachsenenbildungsarbeit: Überzeugend ist die im März 1984 für die FDP-Fraktion zusammengestellte Leistungsbilanz der im Jahr 1983 aktiven 90 sozio-kulturellen Zentren in der Bundesrepublik: Mit den äußerst geringen öffentlichen Förderungsmitteln von gut 20 Mio. DM (48 % des Gesamt-Haushaltsvolumens von ca. 41 Mio.) wurden über 59000 Veranstaltungen mit über 6 Mio. Besuchern (über 80 % AG’s, Kurse u. ä.) durchgeführt von ca. 5 000 kulturell Aktiven, davon 63, 3 % ehrenamtlich Tätige und nur 8, 2% hauptamtlich Beschäftigte und 22, 2% Honorarkräfte. Soziale Selbsthilfe kann also in der Tat vieles wirkungsvoller leisten als staatliche Institutionen. Mit Recht hat daher u. a. Peter Gross darauf hingewiesen, daß die in unserer Gesellschaft seit den siebziger Jahren in Gang gekommene neue Selbsthilfebewegung mit den alten, sozusagen vorstaatlichen Selbsthilfe-Formen nicht in eins gesetzt werden kann. Er weist darauf hin, daß die neue Selbsthilfe u. a. propagiert wird im Zusammenhang mit der Umverteilung ineffizient gewordener öffentlicher Sozialhaushalte, daß sie eine Antwort auf eine sich ausbreitende „Expertenschelte und Kritik an dienstleistenden Professionen“ ist. „Die Selbsthilfe wird als Frucht des Staatsversagens gesehen, als Korrektiv einer offenbar zu weit gehenden und zu strammen sozialen Ordnung und nicht einer mangelhaften.“ Aus eben diesem Grund stimmt auch — wie oben dargelegt — die weit verbreitete ökonomistische Ableitung nicht, die neue Selbsthilfebewegung der siebziger Jahre resultiere aus der ökonomischen und Sozialstaatskrise.
Selbst die Kinderladen-Bewegung, die zweifellos nicht nur billigere, sondern auch bessere Kindergärten hervorgebracht hat, ist, wie Thomas Olk mit Recht bemerkt, nicht primär aus materiellen Notständen entstanden „Die Qualität der in Eigenregie produzierten Dienstleistungen (ist) in der Regel gänzlich anderer Art als die der professionell-administrativ erbrachten ... Dies wird sich recht gut am Beispiel der Eltern-Kind-Gruppen zeigen: Anlaß für die selbst organisierte Kinderbetreuung ist nicht lediglich mangelndes Angebot an Kinderkrippen, sondern die Unzufriedenheit mit den Erziehungszielen und -praktiken in den etablierten Einrichtungen und der herkömmlichen Erziehung. Dementsprechend ergibt sich ein Gutteil des Engagements für selbstorganisierte Kinderbetreuung aus der Chance, alternative Erziehungsziele auszuprobieren.“
Weitere Bedingungen für den Ausbau einer Sozialen Demokratie Soziale Selbsthilfe soll nicht überschätzt werden. Um ganz klar zu machen, daß es sich hier um einen wesentlichen Beitrag handelt, nicht um die Lösung, sondern um eine Teil-Lösung der Krise der Sozialen Demokratie, sollen abschließend einige der wichtigsten Reformerfordernisse benannt werden, die sich aus der Krise der bisherigen Wirtschafts-, Sozial-, Bildungs-und Kommunalpolitik ergeben:
1. Nicht nur durch Ermöglichung und Herausforderung von Sozialer Selbsthilfe, sondern in ihrer politischen Ausrichtung insgesamt muß Gesellschaftspolitik, vor allem aber Sozialpolitik sich neu orientieren am Prinzip richtig verstandener Subsidiarität.
2. Im Zentrum einer ökonomischen Reformkonzepts steht gegenwärtig eine Arbeitszeit-Politik, die die gesellschaftlich notwendige Arbeit auf alle Arbeitssuchenden gleichmäßig verteilt und neben der Einführung der 35-Stunden-Woche insbesondere die freiwillige Teilzeitarbeit mit allen Mitteln fördert. Eine Politik der Vollbeschäftigung durch verschiedene gleichzeitige Strategien der Arbeitszeitverkürzung würde nicht nur der Arbeitslosenversicherung Milliarden ersparen (ein Arbeitsloser kostete im Jahr 1984 durchschnittlich 27000 DM!) sondern gleichzeitig zur Entspannung und Schonung der Kräfte in der Arbeitswelt beitragen und damit weitere Milliarden-Verluste vermeiden, die dem Sozialstaat entstehen, weil er für Frühinvalidität, Berufskrankheiten, Kuren etc. zahlen muß.
Die Förderung von Teilzeitarbeit, vor allem durch steuerliche und sozialversicherungsrechtliche Erleichterungen, ist eine zentrale Aufgabe neuorientierter staatlicher Arbeitszeitpolitik die nicht nur Hunderttausende von Arbeitsplätzen schafft oder erhält, sondern auch wesentliche Freizeit-räume für individuelle und soziale Eigenarbeit und Selbsthilfe ermöglicht 3. Grundlegend für eine Rettung der Sozialen Demokratie bleibt die Forderung nach einer planvollen und ökologischen Entwicklung der Wirtschaft, um anstelle der wirtschafts-wie gesellschaftspolitisch unerträglichen Konjunkturschwankungen und Massenarbeitslosigkeit, anstelle der ökologisch unverantwortlichen Verschwendungsproduktion und -konsumtion ein stabileres Gleichgewicht von Nachfrage, Angebot und Ressourcenbestand herzustellen. Nur so ist die — inzwischen auch globale — permanente Existenzbedrohung, die das marktwirtschaftliche System erzeugt, wesentlich zu vermindern
4. Mit Johano Strasser ist eine „vorbeugende Sozialpolitik“ nach dem Finalprinzip und „demokratische Produktion sozialer Sicherheit“ zu fordern: Während beim heute vorherrschenden so-zialpolitischen „Kausalprinzip“ zunächst nach der Ursache — sowohl einer Schädigung wie einer (z. B. durch Beitragszahlungen erworbenen) Anspruchsberechtigung gefragt wird und aufgrund dessen in höchst ungerechter Weise sehr verschiedene Leistungen gewährt werden, würden nach dem „Finalprinzip“ die sozialpolitischen Maßnahmen an der Zweckmäßigkeit der Hilfestellung („Wie kann am besten geholfen werden?“) ausgerichtet. Versucht die heutige Sozialpolitik fast ausschließlich, bereits eingetretene Schäden einigermaßen auszugleichen, würde eine vorbeugende Sozialpolitik durch aktiv-planende Maßnahmen zur Existenzsicherung, zur Verbesserung der Arbeits-und Lebenssituation, zur gerechteren Einkommensverteilung etc. persönliche und soziale Notstände vorab zu vermeiden suchen
VI. Barrieren und Einwände gegen Soziale Selbsthilfe
Die humanisierende Kraft Sozialer Selbsthilfe ist gewiß nur eine unter mehreren dringend erforderlichen Reformkräften, soll es nicht zu einem immer weiteren Verfall unserer sozialstaatlichen Demokratie kommen. Die große Chance in der Selbsthilfebewegung ist die Unmittelbarkeit, mit der wach, kritisch und aktiv gewordene Bürger konstruktiv in das gesellschaftlich-politische Geschehen eingreifen. Aber wir dürfen natürlich auch die inneren und äußeren Barrieren nicht übersehen, die einer wünschenswerten starken Verbreitung sozio-kultureller Selbsthilfe-Initiativen entgegenstehen: vor allem die lähmende Apathie einer immer noch großen Mehrheit — die Handlungsschwäche selbst derer, die „prinzipiell“ bereit sind, Verantwortung zu übernehmen — sowie die Unfähigkeit der Sozial-und Kultusverwaltungen, Selbsthilfe-Initiativen zu ermutigen oder gar herauszufordern und zu fördern.
Von kommerziellen und sozialstaatlichen Dienstleistungen oft nicht gut, aber total versorgt, haben die Menschen weitgehend verlernt, ihre Sache selbst in die Hand zu nehmen Offensichtlich bewirkt die Anonymität der industriegesellschaftlichen Beziehungen und die bürokratische Entfremdung einer nicht kooperativen, sondern autoritär-patriarchalen Verwaltung eine Vereinzelung und faktische soziale Entmündigung der Bürger, die bislang nur von einer kleinen Minderheit in sozio-kulturellen Initiativen überwunden wird. Hinzu kommt die Bequemlichkeit der Sozialbürokratie: Wenn sie schon Aufgaben an „freie Träger“ abgibt, neigt sie dazu, lieber mit den großen, ihr (je nachdem) auch politisch nahestehenden Wohlfahrtsverbänden zu kooperieren (zumal diese für eine formal ordnungsmäßige Abwicklung sorgen) als mit vielen kleinen Selbsthilfe-gruppen Um so dringender ist die Forderung, die wir im folgenden Abschnitt aufgreifen: Kristallisationskerne in unseren Kommunen zu schaffen, „Selbsthilfezentren“ und „Kontaktstellen“, die handlungwillige Menschen zusammenbringen, Gruppen unterstützen und Verwaltungen kooperationsfähig machen.
Freilich gibt es auch Vorbehalte gegenüber einer Anerkennung und Förderung Sozialer Selbsthilfe-gruppen, die sich einerseits aus konservativem, aber mehr noch sozialdemokratischem „Etatismus“ herleiten: der (Sozial-) Staat und seine fest-besoldeten Diener(innen) sollten möglichst allein für Kindergärten und Schulen, für Alte und Kranke, für Kultur und Umwelt sorgen, den Produktionsprozeß aber dem privaten Erwerbstrieb überlassen. Die Selbsthilfeförderung (immerhin pro Jahr über 7 Mill. DM) des CDU-Sozialsenators Fink in Berlin hat bisher keineswegs begeisterte Befürworter oder gar Nachahmer in der eigenen Partei gefunden, und in der SPD ist nur ein sehr langsamer Umdenkungsprozeß zu bemerken
Andererseits sieht sich Soziale Selbsthilfe aber auch mit dem berechtigten Vorbehalt konfrontiert, auf den oben bereits verwiesen wurde: daß sie eine Sozialpolitik des „billigen Jakob“ anbiete. Diesen Vorwurf kann die Selbsthilfebewegung in der Tat nur insoweit zurückweisen, als sie sich unzweideutig politisch äußert und verhält: daß sie nicht Beihilfe zu leisten bereit ist bei Einsparungen bzw. Privatisierungen im Sozialstaat, sondern in der Lage ist, im Rahmen vorhandener Sozial-und Kulturbudgets vielfach Besseres zu leisten als die zentralistischen Bürokratien. Nur dann können es die Sozialen Selbsthilfegruppen und ihre sozialwissenschaftlichen Befürworter gelassen ertragen, von konservativen Linken, denen die ganze Richtung nicht paßt, der „SelbsthilfeEuphorie“ geziehen zu werden, die lediglich Beihilfe leiste „zu Rechtfertigungskampagnen für sozial-politische Sparmaßnahmen“
VII. Strategien der Verbreitung Sozialer Selbsthilfe
Unsere Studie hat uns, auf der Basis dieser quantitativen Ergebnisse, der vorliegenden Forschungen sowie zahlreicher Interviews, Gespräche und Erkundungen, zu dem Ergebnis geführt, daß die Arbeit in Sozialen Selbsthilfegruppen nicht nur (wenn überhaupt) als Ausweg aus einer Notlage, sondern auch der Selbstverwirklichung dient — und daß diese Selbsthilfebewegung gleichzeitig eine Ergänzung, teilweise sogar eine Alternative darstellt zu einer sozialstaatlichen Ordnung, die in vielen Bereichen an die Grenzen ihrer Finanzierbarkeit gestoßen ist und häufig in der Gefahr steht, Formen der Betreuung und der Versorgung zu organisieren, die gleichzeitig eher Entmündigung und Beherrschung von Menschen bedeuten und in vielen Fällen das Gegenteil einer wirklichen menschlichen Hilfe bewirken. Angesichts dieser möglichen politischen wie menschlichen Bedeutung der Sozialen Selbsthilfe ist zu fragen, wie die sozialen Initiativen zu einer weit verbreiteten Form autonomer gesellschaftlicher Aktivität weiterentwickelt werden können, d. h., wie Soziale Selbsthilfe allgemein üblich werden kann. Um dieses Ziel der Verbreitung und „Ver-allgemeinerung" der Sozialen Selbsthilfe zu erreichen, müssen geistige, sozialethische und politische Voraussetzungen geschaffen werden:
1. Information und politische Bildungsarbeit über Formen der Sozialen Selbsthilfe müssen vervielfacht werden, damit die soziale Phantasie von Bürgern mobilisiert wird, ihre Vorstellungskraft, sich auch selbst an Formen der Sozialen Selbsthilfe zu beteiligen.
2. Durch eine „Kulturrevolution des Gemein-sinns“ muß an die Stelle des Anspruchs der Privat-Person, sich um nichts zu kümmern, aber sozial optimal versorgt zu werden, die Bereitschaft — aber keine Dienstverpflichtung — des Mitbürgers treten, soziale Demokratie auch selbst mitzugestalten; vorhandene und zu schaffende materielle Bedingungen müssen die notwendige Verhaltensänderung unterstützen.
3. Unerläßliche Organisationsstrukturen beim Aufbau von Sozialer Selbsthilfe müssen beachtet werden, die vorhandenen Selbsthilfegruppen, insbesondere die mit ähnlicher Aufgabenstellung, müssen sich wesentlich stärker koordinieren, austauschen, „vernetzen“.
4. Verwaltungen — auch der Wohlfahrtsverbände— müssen ihr Verhalten grundlegend ändern, damit sie, statt Barrieren für Soziale Selbsthilfe zu bilden, hilfreiche, kooperative Ansprechpartner werden. Sie müssen bei weitem stärkere finanzielle Förderung und ein ausgebautes Netz von „Selbsthilfe-Kontakt-und Informationsstellen“ zur Verfügung stellen, die die vielen zu einem sozialen Engagement im Prinzip bereiten, aber meist isolierten Menschen an einem Tisch und zu erfolgreichem Handeln bringen.
Zu 1.: Eine conditio sine qua non ist zweifellos, daß in der politischen Information und Bildung, von unseren Medien wie in den Institutionen der politischen Bildungsarbeit, das von Bürgern selbst organisierte soziale Handeln als genauso wichtige „Nachricht“ aufgegriffen und verfolgt wird wie das Handeln der offiziellen , Politikmacher 1. Dies wäre die Forderung an eine stärker demokratischpartizipativ, übrigens sogar interessanter zu gestaltende Nachrichtenpolitik der Medien: in einer sich vertiefenden Krise unserer Gesellschaft nicht länger Apathie und desinteressiert-resignierte Zuschauermentalität beim Bürger zu erzeugen durch irrelevante oder lediglich zu konsumierende, nicht aber aktivierende Nachrichten. Statt dessen wäre journalistische Aufmerksamkeit auch auf solche Inhalte und Formen von Nachrichten zu konzentrieren, die dem Bürger durch Aufklärung und recherchierte Beispiele helfen, selbst in gesellschaftliche Prozesse eingreifen zu können. Neben der unverzichtbaren Multiplikatorhilfe der Me-dien wären auch spezielle Informationsformen in der politischen Erwachsenenbildung zu entwikkeln.
Zu 2.: So wichtig Bewußtseins-und Aktionsbildung auch ist: Der Einsatz für ein solidarisches Miteinander kann ohne die Entfaltung einer neuen Gesinnung: einer Sozialethik des Gemein-sinns, nicht erfolgreich sein. Systematische Entwicklung Sozialer Selbsthilfe schafft Handlungsspielräume für solche Ethik, wie diese wiederum der Arbeit in Sozialen Selbsthilfegruppen allgemeine Würde und Bedeutung verschafft, wenn sie verbreitete Geltung gewinnt.
Wir nehmen an, daß drei Schritte zu tun sind: a) die Förderung der sich anbahnenden Einsicht, wie arm, wie verarmt das auf (Sozial-) Konsum reduzierte Individuum ist; b) die praktische Vorführung und Förderung als sinnvoll und machbar erkennbarer Teilnahme an gesellschaftlichen Aufgaben, Aktionen, Nachbarschaftshilfen; und c) eine Konsensfindung vieler öffentlich anerkannter Personenkreise (Schriftsteller, Künstler, Wissenschaftler, Pfarrer, Gewerkschafter, Ärzte, Richter, Politiker), aber auch gesellschaftlicher Institutionen und Organisationen zur gemeinsamen öffentlichen Unterstützung einer neuen humanen Verhaltenslehre, die nicht staatsbürgerliche Selbstaufopferung predigt, sondern Selbstentfaltung und Gemeinsinn, Selbstverwirklichung und soziales Engagement als gleichberechtigt und sogar vielfältig miteinander vermittelbar erkennt. Die gesellschaftlichen und politischen Institutionen können, ja sie sollen hier nicht verordnen — aber sie haben viele Möglichkeiten, durch öffentliche Erklärungen, durch Preise, Vergünstigungen und Aufwandsentschädigungen die soziale Leistung derer zu würdigen, die sich in soziokulturellen Initiativen engagieren.
Zu 3.: Das dritte Prinzip einer Verbreitung von Sozialer Selbsthilfe heißt Verbesserung der Selbsthilfe-Organisation und der internen Kooperation der Gruppen. Es gibt bisher zwanzig bis dreißig Zusammenschlüsse von Gruppen mit ähnlichem Arbeitsschwerpunkt. Diese Entwicklung muß künftig systematisch vorangetrieben werden. Sie muß im wesentlichen von den Gruppen selbst ausgehen, kann aber durch befreundete Organisationen gefördert werden. Zu nennen wären die in der Förderung von Selbsthilfe-Initiativen hierzulande bei weitem aktivsten: die Stiftung DIE MITARBEIT, das „Netzwerk-Selbsthilfe“, die „Arbeitsgemeinschaft sozialpolitischer Arbeitskreise“ (AG SPAK), aber auch die „Ökofonds“ der Grünen Ziele solcher themenzentrierten Vernetzung wären: — Herstellung von Dokumentationen, die alle bekannten Sozialen Selbsthilfegruppen eines Arbeitsschwerpunkts, ihre Zielsetzungen, Adressen etc. enthalten; — der Informations-bzw. Erfahrungsaustausch über Arbeitsmethoden und -ergebnisse, spezifische Schwierigkeiten und Widerstände, Mittel-beschaffung, Zusammenarbeit mit einschlägigen Institutionen und Experten, eventuell (interne) Publikation solcher Erfahrungen und — Organisation konkreter Zusammenarbeit solcher Gruppen, z. B. gemeinsame Weiterbildung, Konzepterarbeitung oder gegenseitige Hilfe in kritischen Situationen (personelle, finanzielle Engpässe) einer Gruppe.
Die Zusammenschlüsse sollten regionale und auch Bundeskongresse der Sozialen Selbsthilfe-gruppen einberufen und dabei durch öffentliche Einladung möglichst alle Gruppen zu erreichen versuchen. Die nächste Zukunft wird lehren, ob ein „Zusammenschluß der Zusammenschlüsse“ geschaffen werden muß, oder ob vorhandene „Bundesverbände“ ausreichen.
Nach vielfältigen negativen Erfahrungen mit zentralistischen Bürokratien und Verbänden ist es verständlich, daß viele Selbsthilfegruppen, zumal sie mit sich selbst genug zu tun haben, vor solcher Kooperations-und Vernetzungsarbeit zurückschrecken. Wahrscheinlich werden noch viele Diskussionen und leidvolle Erfahrungen notwendig sein, bis wenigstens die wichtigsten Gruppen merken, daß sie ohne solche themenspezifische wie auch regionale und bundesweite Interessenvertretungen nicht zu ihrem Recht kommen oder von den staatlichen bzw. Verbandsbürokratien nach deren Interesse manipuliert werden. Diemut Schnetz, Vorsitzende der Stiftung „DIE MITARBEIT“, forderte auf einer sehr kontroversen Selbsthilfe-Tagung am 13. /14. September 1986 in der Evangelischen Akademie Loccum (es wird ein sehr lesenswertes Protokoll davon geben), die Selbsthilfegruppen müßten darüber nachdenken, wie sie gegen bestimmte Zumutungen — beispielsweise Vergabemodalitäten — Widerstand mobilisieren könnten. So sei es etwa hohe Zeit, daß sie von sich aus Konsens erzielten und artikulierten, unter welchen Bedingungen sie bereit sind, öffentliche Förderung zu akzeptieren, so daß nicht lediglich die Vergabekriterien der Staatsseite die Maßstäbe setzen. Wir halten diese Forderung für richtig und sehr notwendig. Aber wir müssen darauf hinweisen, daß das dazu erforderliche Selbst-und Machtbewußtsein ausschließlich durch eine
Bündnispolitik möglichst vieler Selbsthilfegruppen (Zusammenschlüsse), d. h. durch die Schaffung übergreifender Interessenvertretungen und demokratisch legitimierter Organe zu erreichen ist.
Zu 4.: Als viertes Prinzip ist, nicht zuletzt, eine Neuorientierung der staatlichen und insbesondere der kommunalen Politik zu nennen: Über-gang zu optimaler Förderung Sozialer Selbsthilfe. Wir wollen hier, wenigstens im Grundriß, ein Gesamtkonzept der Kooperation mit der Selbsthilfebewegung vorstellen, das von bereits vorhandenen Ansätzen zu den als notwendig erkannten Zielvorstellung weiterentwickelt werden kann: 1. das Konzept eines — soweit wie möglich integrierten, nicht in zu viele Ressorts zersplitterten — von Gruppenvertretern mitverwalteten Budgets zur Förderung von Sozialer Selbsthilfe; 2. das Konzept eines „flächendeckenden“ Netzes von Kontakt-und Informationsstellen für sozial engagierte Selbsthilfegruppen.
Gehen wir nach unseren Hochschätzungen davon aus, daß es in der Bundesrepublik etwa 40 000 bis 50 000 Soziale Selbsthilfegruppen gibt, die durch entsprechende öffentliche Ermutigung und Start-hilfen bald vermehrt werden könnten, und legen wird die in Berlin durchschnittlich gewährte Forderungssumme von ca. 38 000 Mark zugrunde, so müßten Gemeinden, Sozialversicherungen, Länder und Bund finanzielle Mittel von insgesamt 1, 5 bis 3 Milliarden Mark jährlich aufbringen, um 50 000 bis 100 000 Gruppen der Sozialen Selbsthilfe mit einer halben bis einer Million zum größten Teil freiwilliger Helfer (aber auch etwa 100 000 bis 200 000 Voll-und Teilzeitbeschäftigten) handlungsfähig zu machen. Kommunen, die auf Dauer Vertrauen und gute Kooperation mit den autonomen, sozial-engangierten Gruppen entwickeln wollen, müssen dann ein entscheidungs-kompetentes Beratungsgremium für die Auswahl der zu fördernden Gruppen schaffen. Grundsatz: Von den Sozialen Selbsthilfegruppen zu benennende Vertrauenspersonen müssen in solchem Gremium paritätisch vertreten sein. Anzustreben ist darüber hinaus, von der staatlichen/kommunalen Verwaltung weitgehend unabhängige, „freie“ Träger zu finden oder zu schaffen, die ein hohes Maß an Selbstverwaltung bzw. Mitbestimmung bei der finanziellen Förderung verwirklichen. Mindestens ebenso wichtig wie die finanzielle Förderung ist allerdings die Bereitschaft der Verwaltungen und Politiker, soziokulturellen Initiativen nicht bürokratisch-juristische Steine in den Weg zu legen, sondern ihre soziale Tätigkeit oder Bildungsarbeit durch Hergabe von Räumen und, wo erforderlich, durch offizielle Genehmigungen, rechtsverbindliche „Anerkennung“ etc. zu erleichtern. Abenteuerspielplätze, Kitas, Stadtteilbegrünungen, Freie Schulen, alternative Ausbildungskollektive, Altenwohngemeinschaften — solche und viele andere Selbsthilfeinitiativen sind ohne behördliche Genehmigungen (die oft auch finanzielle Zuwendungen, Pflegesätze etc. erst möglich machen!) nicht realisierbar.
Ferner müssen Kontakt-, Informations-und Beratungsmöglichkeiten in jedem Ort bzw. Stadtteil geschaffen werden Die Funktionen solcher Kontaktstellen können wie folgt umrissen werden: Sie müßten — in Kooperation mit Medien, Sozialverwaltungen, Parteien, Kirchen und Wohlfahrtsverbänden die Mitbürger eines bestimmten räumlichen Bereichs auf bestehende Notstände hinweisen, die durch Soziale Selbsthilfe behoben oder gelindert werden könnten; — eventuell bereits bestehende Selbsthilfegruppen bekanntmachen und auf Möglichkeiten der Mitarbeit hinweisen;
— Räume und technische Hilfsmittel (Kopiergeräte, Werkzeug etc.) zur Verfügung stellen;
— Mitbürger immer wieder einladen, die Selbsthilfe-Kontaktstelle aufzusuchen, wenn sie irgendwelche Ideen haben oder Mitarbeitsangebote machen können für Soziale Selbsthilfe — wobei das erklärte Ziel der Beratung sein muß, Kontakte zu bestehenden Gruppen herzustellen oder Starthilfe bei der Begündung solcher Gruppen zu leisten;
— sich als Kontakt-und Clearing-Stelle für bestehende Gruppen anbieten, um deren personelle, finanzielle, organisatorische, rechtliche u. ä. Probleme lösen zu helfen, insbesondere, indem Unterstützung von staatlichen, kirchlichen, Wohlfahrtsverbandsverwaltungen vermittelt wird.
Auch für dieses wichtige Netz von „Selbsthilfezentren“ gilt das Prinzip optimaler Mitbestimmung der Gruppen und freier Trägerschaft.
VIII. Soziale Selbsthilfe: Herausforderung für die Basisarbeit der Parteien
Wir haben einleitend darauf hingewiesen, daß in den Bürgerinitiativen, den neuen Sozialen Bewegungen und Selbsthilfegruppen seit ein bis zwei Jahrzehnten Elemente einer „Politik von unten“ sich entwickelt haben, die in jeder Hinsicht über das (Krisen-) Bewußtsein, die Innovations-und Mobilisierungskraft der etablierten gesellschaftlichen Institutionen weit hinausgehen. Hier, wo es um die dringend wünschenswerte Verbreitung von Sozialer Selbsthilfe geht, wollen wir nun die kritische Feststellung als konstruktive Herausforderung formulieren: In unserer Analyse der parteiprogrammatischen und politischen Positionen haben wir gezeigt, daß, von Ausnahmen abgesehen (z. B. die CDU in Berlin; SPD mit „grüner“ Hilfe in München), die „etablierten“ Parteien es bei mehr oder weniger abstrakten Sympathiebekundungen für Selbsthilfeinitiativen bewenden lassen. Nur die Grünen haben auch als Partei Selbsthilfeinitiativen nachhaltig unterstützt, indem sie aus abgeführten Diäten ihrer Land-und Bundestagsabgeordneten „Ökofonds“ bildeten, in die Jahr für Jahr mehrere Millionen Markt fließen Viele aktive Grün-Alternative wirken in solchen Sozialen Selbsthilfegruppen mit, in denen sicher oft mehr bewegt wird als in ihren — auch bereits oft auf Routine und auf aktive Kader reduzierten — Partei-Gremien oder auch „Voll“ -Versammlungen.
Genau hier aber liegt doch eine sehr konstruktive Herausforderung für alle Parteien: Parteien-Analyse und Demokratietheorien beklagen seit Jahrzehnten die Erstarrung und Bürgerferne des „normalen“ Parteilebens an der Basis, wo nur ein meist winziger Prozentsatz der Mitglieder (nicht nur der Wähler!) sich noch regelmäßig trifft, um das Referat eines „höheren“ Funktionärs oder parteinahen Experten anzuhören oder Resolutionen für den nächsten Parteitag zu diskutieren oder Wahlwerbung zu organisieren. Dieses „Parteileben“ vollzieht sich weitgehend unter Auschluß und ohne jegliche Anteilnahme der Öffentlichkeit. Verlebendigungsversuche gehen kaum einmal weiter als bis zur Aufstellung von Werbetischen an Marktplätzen oder zur Veranstaltung einer Stadtteil-„Fete“.
Ein völlig neues Ansehen und berechtigte Aufmerksamkeit würden Ortsvereine der Parteien gewinnen, wenn sie in ihrem kommunalen Lebens-bereich außerhalb der haushaltsmäßig festgelegten Projekte z. B. eine Grünanlage herrichten oder einen Abenteuerspielplatz ausbauen würden etc.
Warum organisieren sich Basisorganisationen unserer Parteien nicht öfter als Soziale Selbsthilfegruppen? Warum hat das Beispiel der Jusos (bevor sie sich im Laufe der siebziger Jahre in ideologischen Grabenkriegen verausgabten) nicht Schule gemacht, selber vor Ort durch Mieterberatungsläden, alternative Verkehrs-und Sanierungs-Initiativen, Jugendtreffs etc. Soziale Selbsthilfe zu verwirklichen?
Zwar haben viele Ortsvereine von Parteien inzwischen anstelle steriler Büros bürgernäher wirkende „Läden“. Aber außer der Auslage von Werbemitteln passiert dort meist nicht viel — „es läuft nichts ab“. Ganz anders wäre es, wenn dort gleichzeitig ein Kinderladen oder ein Jugendtreff wäre, ein Frauencafe oder eine Ausländer-oder Mieterberatung etc. Und zwar unter aktiver Mitwirkung von Ortsvereinsmitgliedern, und mit leicht zugänglicher Beratung von Sozialen Selbsthilfegruppen durch die in der Kommunalverwaltung Zuständigen der Partei. Auf solche Weise würden unsere Parteien wieder Interesse, Mitwirkung, Beachtung und Respekt finden bei den Bürgern, und weitaus mehr von ihnen würden motiviert, Mitglied zu werden oder vom passiven Beitragszahler zum aktiven Mitglied avancieren.