I. Vorbemerkung: Zum Stand der Diskussion
Das Thema SDI (SDI = Strategie Defense Initiative. Strategische Verteidigungsinitiative), das in den vergangenen zwei Jahren die sicherheitspolitische Debatte in der Bundesrepublik beherrschte, ist z. Zt. zugunsten des beginnenden Wahlkampfs und aktuellerer Themen in den Hintergrund getreten. Damit ist das Thema jedoch noch nicht abgeschlossen, denn anders als etwa in der Debatte über den Nachrüstungsbeschluß ging es hier weniger um konkrete und bindende rüstungspolitische Entscheidungen, als um die Festlegung einer mehr oder weniger vorläufigen politischen Orientierung, die im Zuge einer möglichen Konkretisierung des amerikanischen Projekts einer ständigen Neuüberprüfung bedarf.
Die Eigenart des SDI-Themas lag gerade darin, daß es um rüstungspolitische Optionen ging, deren Konturen allenfalls vage zu erkennen waren. Darin unterschied sich die SDI-Debatte von praktisch allen vorangegangenen Auseinandersetzungen über verteidigungspolitische Fragen in der Bundesrepublik. So ging es etwa in der „Nachrüstungsdebatte“ um die Einführung von Waffensystemen, deren technische Eigenschaften in der Öffentlichkeit weitgehend bekannt waren und deren militärische Funktion daraus mit einiger Sicherheit abgeleitet werden konnte.
Bei SDI dagegen ist allenfalls das Fernziel einer möglichst wirksamen Verteidigung gegen strategische Kernwaffen umrissen, doch gibt es offenbar selbst innerhalb der amerikanischen Administration erhebliche Meinungsverschiedenheiten darüber, welche genaue militärische Funktion ein solches Verteidigungssystem übernehmen, gegen welche Waffentypen und Angriffsformen es wirksam sein soll.
Die technischen Anforderungen, die an ein umfassendes und wirksames strategisches Verteidigungssystem gestellt werden müssen, sind jedoch so hoch, daß gegenwärtig noch nicht einmal Einigkeit darüber besteht, welche der in Frage kommenden Technologien die besten Erfolgsaussichten bietet. Mit einer Fortsetzung der Diskussion in den kommenden Jahren muß daher gerechnet werden.
Die gegenwärtige Atempause in der Auseinandersetzung mit dem amerikanischen Projekt gibt Gelegenheit zu einer vorläufigen Bilanz und sollte von Seiten der Wissenschaftler benutzt werden, die Analyse der Bedeutung des Projekts für die europäische Sicherheit einige Schritte voranzutreiben. Bisher konzentrierte sich die Diskussion überwiegend auf drei Fragen: Die technische und wirtschaftliche Realisierbarkeit des Projekts, seine Auswirkungen auf die Stabilität der amerikanisch-sowjetischen strategischen Beziehungen und einige Aspekte der europäischen Sicherheit.
Von diesen Fragenbereichen ist bisher lediglich der erste einigermaßen systematisch und umfassend behandelt worden.
Die Diskussion über mögliche stabilisierende oder destabilisierende Auswirkungen eines amerikanischen Raketenabwehrsystems litt zum einen an ihrem hypothetischen Charakter. Um die strategischen Auswirkungen eines Raketenabwehrsystems abschätzen zu können, müßten militärische Funktionen und technische Eigenschaften des Systems zumindest in groben Umrissen bekannt sein. Diese Voraussetzungen sind im gegenwärtigen technischen Entwicklungsstadium jedoch noch nicht erfüllt. Beide Seiten sind daher auf Hypothesen angewiesen, die vom Gegner leicht als unsolide disqualifiziert werden können. Zum andern ist die Frage, welche Stabilitätskriterien einer Bewertung des amerikanischen Projekts zugrunde gelegt werden müssen, noch weitgehend ungeklärt. Das zugrundeliegende Orientierungsproblem wird durch die Alternative: Abschrekkung — Kriegsführungsstrategie nicht adäquat beschrieben.
Die folgenden Überlegungen versuchen zunächst die Frage zu klären, um was es in der Debatte über das amerikanische SDI-Projekt eigentlich geht. Sie konzentrieren sich dann auf die mit dem Projekt verbundenen politisch-strategischen Orientierungsprobleme. Spezifisch europäische Bewertungskriterien können anschließend nur verhältnismäßig knapp behandelt werden. Wirtschaftsund technologiepolitische Aspekte des Projekts bleiben unberücksichtigt.
II. Um was geht es bei SDI?
In seiner Fernsehansprache vom 23. März 1983 rief der amerikanische Präsident Ronald Reagan dazu auf, die Kernwaffen durch ein groß angelegtes Rüstungsprogramm „unwirksam und überflüssig“ zu machen. An dieser Zielsetzung hat der Präsident bis heute festgehalten. Zweifel an der Realisierbarkeit dieser Vorstellungen wurden jedoch schon bald wach. Um Kernwaffen wirklich überflüssig zu machen, müßte ein Verteidigungssystem ein sehr hohes Maß an Wirksamkeit besitzen, und zwar nicht nur gegenüber ballistischen Interkontinentalraketen, sondern gegenüber allen in Frage kommenden nuklearen Trägermitteln. Natürlich läßt sich darüber streiten, ob eine Wirksamkeit von 95% ausreichen würde, oder ob mindestens 99% gefordert werden müssen. Bei einer wesentlich geringeren Wirksamkeit ließe sich jedoch die Vernichtung eines großen Teils der Bevölkerung nicht mehr verhindern. Die Chancen, ein derartiges Verteidigungssystem in absehbarer Zeit zu vertretbaren Kosten entwickeln zu können, werden von den meisten Naturwissenschaftlern und Technikern sehr gering eingeschätzt. Das ist das wichtigste Ergebnis der intensiven „technischen“ Diskussion der letzten Jahre, in der es um die Realisierbarkeit des Projektes ging.
Weniger „perfekte“ Systeme lassen sich vielleicht entwickeln. Zieht man die Vielfalt denkbarer nuklearer Angriffswaffen in Betracht, so wäre schon ein Verteidigungssystem mit einer Gesamtwirksamkeit von 70% als technische Sensation zu bewerten. Zu erwarten ist daher, daß es zunächst zur Errichtung von Verteidigungssystemen mit einer verhältnismäßig eng begrenzten strategischen Funktion, etwa zur Absicherung von strategischen Führungszentren oder besonders wertvoller Raketenstellungen kommt.
Die vom Präsidenten genannten Ziele des Projekts sind dementsprechend auch von Regierungsseite immer wieder relativiert worden. Es wurde gesagt, daß auch ein begrenzt wirksames Raketen-abwehrsystem wichtige strategische Funktionen erfüllen könne. Durch die Verringerung der Verwundbarkeit besonders wichtiger Bestandteile der strategischen Streitkräfte könne die Wirksamkeit der Abschreckung verstärkt und die Stabilität der strategischen Beziehungen zur Sowjetunion erhöht werden. Schon die Tatsache, daß der Gegner die Wirksamkeit der getroffenen Verteidigungsmaßnahmen kaum zuverlässig einschätzen könne, erschwere seine Zielplanung und mache einen entwaffnenden Erstschlag praktisch unmöglich.
Auch die Wirksamkeit der sog. „ausgedehnten Abschreckung“ (extended deterrence), also die Wirksamkeit der amerikanischen strategischen Abschreckung für die Verbündeten, werde dadurch verstärkt. Es gibt bisher aber offenbar noch keine einheitliche Vorstellung, welche der genannten strategischen Aufgaben das geplante Verteidigungssystem übernehmen soll — vermutlich einfach deshalb, weil dies ohne genauere Kenntnis der technischen Möglichkeiten und des erforderlichen wirtschaftlichen Aufwands zur Zeit noch nicht möglich ist.
Damit muß sich für die Europäer zunächst einmal die Frage stellen, um was es bei der Entscheidung für oder gegen das amerikanische SDI-System zum gegenwärtigen Zeitpunkt eigentlich geht. Daß die Amerikaner an der Erforschung und Entwicklung von Techniken arbeiten, die sich zur Abwehr ballistischer Interkontinentalraketen eignen, ist weder neu noch ernstlich umstritten. Auch gegen das vom Präsidenten genannte Fernziel eines vollständigen Schutzes gegen strategische Kernwaffen ließen sich nicht leicht Einwände vorbringen, wenn es gute Aussichten hätte, verwirklicht zu werden. Warum ist die europäische Unterstützung des Projekts dann überhaupt problematisch und warum ist eine ausdrückliche europäische Zustimmung für das Projekt erforderlich?
SDI und Abschreckung Eine Antwort, die gelegentlich darauf gegeben wird, lautet, daß die Vereinigten Staaten damit das Prinzip der Abschreckung aufgeben und wieder zu einer klassischen Verteidigungspolitik zurückkehren.
Für die vom Präsidenten genannten langfristigen Ziele des Projekts trifft das auch zu. Da sich diese Ziele jedoch in absehbarer Zeit nicht realisieren lassen, erscheint auch der Einwand, das Prinzip der Abschreckung werde aufgegeben, zunächst gegenstandslos. Wenn aber auf längere Sicht ein vollständiger Schutz gegen Kernwaffen tatsächlich einmal möglich werden sollte, dann wird es vermutlich auch gegen eine Abkehr von der Abschreckung keine ernsthaften Einwände mehr geben. Begrenzte Verteidigungsmöglichkeiten sollen aber nach den Erklärungen der amerikanischen Regierung die Abschreckung gerade stärken. Insoweit kann also von einer Abkehr von der Abschreckung nicht die Rede sein.
SDI und die strategische Doktrin der Vereinigten Staaten Wenn es nicht die Abschreckung ist, die mit dem SDI-Projekt aufgegeben wird, so könnte die Veränderung doch darin gesehen werden, daß die Vereinigten Staaten von einer Strategie der Abschreckung durch Vergeltung zu einer Strategie der Abschreckung durch Verhinderung (denial) übergehen
In Wirklichkeit hat das Vergeltungsprinzip — also die Drohung, einem potentiellen Angreifer, selbst wenn er militärisch erfolgreich sein sollte, einen inakzeptabel hohen Schaden zuzufügen — die strategische Politik der Vereinigten Staaten nie in dem Maß bestimmt, wie das aufgrund der offiziellen Erklärungen („deklaratorische Politik“) der amerikanischen Regierung zu erwarten gewesen wäre; und spätestens seit Ende der sechziger Jahre haben sich auch die offiziellen Erklärungen Schritt für Schritt von dieser Strategie fortbewegt. Zwar wurde die Vergeltungsdrohung nicht grundsätzlich aufgegeben, doch wurden zusätzliche Forderungen nach Glaubwürdigkeit der Abschreckung, nach begrenzten strategischen Optionen der Fähigkeit, notfalls sogar einen länger andauernden Kernwaffenkrieg führen zu können, immer stärker in den Vordergrund gerückt.
Die Anforderungen, die an ein strategisches Potential gestellt werden müssen, das ausschließlich eine Vergeltungsfunktion besitzt, sind viel geringer, als wenn es zu militärischen Zwecken eingesetzt werden soll. Deshalb wurde die strategische Politik der Vereinigten Staaten auch ohne ausdrücklich von der Vergeltungsdrohung abzurükken, de facto bereits seit langem fast ausschließlich von diesen zusätzlichen Anforderungen bestimmt. Die Einführung begrenzter defensiver Optionen würde diesen Entwicklungstrend konsequent fortsetzen und kann insofern kaum als grundlegende Abkehr von der geltenden strategischen Doktrin aufgefaßt werden.
SDI und die theoretischen Grundlagen der amerikanischen Kernwaffenstrategie Dennoch liegt in der Entwicklung strategischer Verteidigungsmöglichkeiten zumindest der Ansatz für einen grundlegenden Wandel im nuklear-strategischen Denken. Richard Perle, einer der beredtesten Fürsprecher des SDI-Projekts in der Reagan-Administration, beschreibt die Situation wie folgt: „Seit zwanzig Jahren lautet der Grundgedanke unseres Konzepts der Abschreckung, daß es zur Konfliktverhütung genügt, wenn jede Seite sich die Fähigkeit zu Vergeltungsschlägen gegen jeden möglichen Angreifer bewahren und einen Angreifer mit Kosten belasten kann, die in keinem Verhältnis zu den potentiellen Gewinnen stehen ... Heutzutage ist die Situation jedoch grundsätzlich anders. Wissenschaftliche Entwicklungen und mehrere im Entstehen begriffene Technologien bieten nun Möglichkeiten zur Verteidigung, die noch vor zehn Jahren nicht existierten und als kaum vorstellbar erschienen“
Die Vorstellung, daß es gegen die enormen Schäden, die von Kernwaffen verursacht werden können, keinen zuverlässig wirksamen Schutz geben kann, bildet in der Tat bis heute die Grundlage der gesamten westlichen Kernwaffenstrategie und der auf sie aufbauenden strategischen Politik — selbstverständlich nicht als Axiom, aus dem die Grundsätze der westlichen Kernwaffenstrategie zwingend abgeleitet werden können, aber doch als Ausgangspunkt strategischer Überlegungen sowie politischer Erwartungen und Hoffnungen, aufdenen die strategische Politik des Westens aufbaut. Politische Erwartungen und Zielvorstellungen Wie Th. Schelling besonders klar herausgearbeitet hat, war es zum einen das fast unvorstellbare Ausmaß der Zerstörung, das im Fall eines Kemwaffenkrieges erwartet werden mußte, mehr aber noch die Gewißheit, selbst im Fall eines militärischen Sieges (wie auch immer er definiert werden kann) der Zerstörung durch das Kernwaffenpotential des Gegners nicht entgehen zu können, die die von den Kernwaffen geschaffene strategische Situation von konventionellen Machtverhältnissen zu unterscheiden schien.
Die damit untrennbar verbundenen politischen Erwartungen und Ziele fanden ihren kompaktesten Ausdruck in der häufig zitierten Formulierung des Abschreckungsgedankens bei B. Brodie aus dem Jahr 1946: „Bisher war es der Hauptzweck eines militärischen Apparates, Kriege zu gewinnen. Von jetzt an muß es sein Hauptzweck sein, sie zu verhindern. Er kann keinen anderen sinnvollen Zweck haben.“
Trotz ihrer bestimmten Form läßt diese Aussage die meisten Fragen offen, so insbesondere die Fragen, für welche Formen des Krieges sie gelten soll, was unter Krieg zu verstehen ist und ob sie nur das Verhältnis zwischen Kernwaffenstaaten oder auch das zwischen Kernwaffenstaaten und Nichtnuklearen erfaßt. Heute sieht es so aus, als könne die Theorie auf alle diese Fragen nur in einem sehr beschränkten Maß eine Antwort geben. Gerade die in der Formulierung enthaltene Unklarheit macht deutlich, daß es hier nicht um ein konkretes Handlungskonzept, eine Strategie geht, sondern eher um ein politisches Fernziel oder ein politisches Ordnungs-oder Stabilisierungskonzept, eben um die Erwartung oder Hoffnung, die Besonderheiten der durch die Entwick-lung der Kernwaffen entstandenen strategischen Situation werde zur Ordnung im internationalen Bereich beitragen, indem sie zumindest bestimmte Formen der gewaltsamen Austragung von Konflikten zwischen den Kernwaffenstaaten unmöglich macht.
Selbstverständlich wurden diese Vorstellungen nicht von allen geteilt. Konsequente Vertreter des „Realismus“ in der Theorie der internationalen Beziehungen mußten der Idee einer dauerhaften Verhinderung von Kriegen skeptisch gegenüberstehen, und für konsequente Vertreter der idealistischen Denkschule mußte es schwer verständlich bleiben, wie aus einer rein machtpolitischen Konstellation Elemente von Ordnung im internationalen Bereich entstehen sollten. Dennoch läßt sich zeigen, daß die bei Brodie angedeuteten Vorstellungen die Theorie der Kernwaffenstrategie und die damit verbundenen Rüstungskontrollkonzeptionen maßgebend beeinflußt haben.
Das SDI-Projekt der Vereinigten Staaten ist deshalb so bemerkenswert und so schwer zu bewerten, weil es einerseits als konsequente Fortsetzung der amerikanischen strategischen Politik erscheint, andererseits aber in seiner langfristigen politischen Orientierung die Grundlagen der bisherigen strategischen Politik aufgibt und sich damit gleichsam den Boden unter den Füßen entzieht. In der bisherigen Debatte über SDI ist das merkwürdigerweise nahezu unbemerkt geblieben. Beide Seiten — Befürworter wie Gegner des Projekts — argumentieren gerade dann, wenn sie sich die Mühe geben, ihre Stellungnahmen theoretisch zu untermauern, mit Konzeptionen und Ideen, die ihre Gültigkeit verlieren, wenn die Möglichkeit einer strategischen Verteidigung anerkannt wird.
Das gilt selbstverständlich nicht für alle Argumente für und gegen SDI. Die Frage nach den technischen Realisierungschancen läßt sich zumindest teilweise ohne eine strategische Bewertung des Projekts beantworten, und auch bei einigen mit dem Projekt zusammenhängenden politischen Fragen ist eine Bewertung ohne detaillierte strategische Analyse denkbar. Doch lassen sich technische, strategische und politische Bewertungen des Projekts auch nicht streng voneinander trennen. So sind Angaben darüber, mit welcher Wahrscheinlichkeit es in zehn Jahren möglich sein wird, ballistische Raketen in bestimmten Flug-phasen abzufangen, für sich genommen nicht allzu bedeutungsvoll. Sie erhalten erst im Zusammenhang mit strategischen Zielvorstellungen einen Sinn. Erst recht lassen sich Fragen wie die nach den Auswirkungen des Projekts auf die amerikanisch-europäischen Beziehungen oder auf die europäische Ordnung nicht vollständig von der strategischen Bewertung des Projekts trennen. Eine ernsthafte Bewertung des Projekts muß sich also von den in den fünfziger und sechziger Jahren entwickelten strategischen Konzepten und Denkgewohnheiten freimachen. Es müssen völlig neue Strategien und Stabilisierungskonzeptionen entwickelt werden, die der geplanten rüstungstechnischen Revolution entsprechen. Von diesem Prozeß des strategischen Umdenkens sind gegenwärtig bestenfalls Ansätze zu erkennen. Zwar wächst sowohl in den Vereinigten Staaten wie auch in Europa das Gefühl der Unzulänglichkeit der bestehenden Konzepte oder theoretischen Instrumente, und es ist eine gewisse Bereitschaft zu erkennen, die geltende Strategie neu zu überdenken. Wirkliche Neuansätze fehlen jedoch. Wenn aber die geltenden nuklearstrategischen Bewertungskriterien nicht mehr greifen und neue strategische Ideen nicht zur Verfügung stehen, dann muß zunächst einmal die Frage gestellt werden, auf welcher Grundlage eine rationale Bewertung des amerikanischen Projekts überhaupt vorgenommen werden kann.
Um diese Frage beantworten zu können, ist es notwendig, sich zunächst darüber klar zu werden, daß sich die durch das amerikanische Projekt in Gang gesetzte strategische Umwälzung unter ganz anderen Bedingungen vollzieht als etwa die durch die Entwicklung der Kernwaffen ausgelöste strategische Revolution nach dem Zweiten Weltkrieg. Seine jetzige Gestalt hat die Nuklearstrategie in der Zeit zwischen 1955 und 1965 erhalten, also rund zehn bis zwanzig Jahre nachdem die ersten Kernwaffen zum Einsatz gekommen waren. Heute scheint die zeitliche Reihenfolge zwischen waffen-technischer und strategischer Entwicklung umgekehrt zu sein. Als Präsident Reagan im März 1983 das SDI-Projekt auf den Weg schickte, konnten selbst die kühnsten technologischen „Optimisten“ nicht ernsthaft damit rechnen, daß ein einsatzfähiges Verteidigungssystem vor Ablauf von zehn bis zwanzig Jahren zur Verfügung stehen würde. Es gibt also sicher keine technischen „Zwänge“, die für das amerikanische Projekt verantwortlich sind. Zu Recht macht L. Freedman darauf aufmerksam, daß die so beliebte These vom technologischen Wandel als Motor der Rüstungsdynamik hier auf den Kopf gestellt zu sein scheint
III. Politisch-strategische Leitideen des SDI-Projekts
In der Anfangsphase der Diskussion über SDI ist viel über die Motive des amerikanischen Präsidenten gerätselt worden. Ging es Reagan in erster Linie darum, der amerikanischen Friedensbewegung und den amerikanischen Bischöfen durch das Versprechen, die Kernwaffen überflüssig zu machen, den Wind aus den Segeln zu nehmen, oder war es tatsächlich die Sorge um die möglichen katastrophalen Auswirkungen eines Kernwaffenkrieges, die den Präsidenten bei seiner Rede vom März 1983 bewegten?
Für die Bewertung des SDI-Projekts sind diese Fragen indessen nur von untergeordneter Bedeutung, denn selbst wenn es zutrifft, daß das Projekt auf die persönliche Initiative des Präsidenten zurückgeht und daß sich Reagan vor seiner Rede vom März 1983 nur mit wenigen Beratern abgestimmt hat, so hat das Projekt und die damit verbundene Entwicklung der amerikanischen strategischen Politik mittlerweile eine Eigendynamik entwickelt, die weit über die Motive des Präsidenten hinausreicht.
Es geht also weniger darum, welches die Motive des Präsidenten für das Projekt waren, als darum, ob das Projekt, so wie es gegenwärtig angelegt ist, eine politisch-strategische Perspektive erkennen läßt, die attraktiver oder realistischer erscheint als die der bisherigen strategischen Politik. Präsident Reagan hat bisher daran festgehalten, daß das Projekt auf längere Sicht einen zuverlässigen Schutz gegen strategische Kernwaffen gewähren und auf diese Weise Kernwaffen „obsolet“ machen soll. Auch wenn heute mit der Realisierung dieser Ziele innerhalb eines überschaubaren Zeitraums nicht mehr gerechnet wird, so könnten diese Vorstellungen doch als langfristige Leitlinie der amerikanisch-strategischen Politik sinnvoll erscheinen.
Die Attraktivität eines derartigen Ziels bedarf kaum einer Erläuterung. Eine Situation, in der sich im Prinzip jeder moderne Industriestaat durch die Entwicklung eines eigenen Kernwaffen-potentials die Fähigkeit erwerben kann, jeden anderen Staat nahezu vollständig zu zerstören, muß zunächst als eine Verletzung elementarer Sicherheitsbedürfnisse erscheinen, ganz besonders aus der Perspektive der Großmächte, die grundsätzlich völlige Souveränität für sich in Anspruch nehmen. Allein die Tatsache, daß sich in den dreißig Jahren seit der Entwicklung der Kernwaffen viele an die Gegenwart der Kernwaffen gewöhnt haben und sie deshalb nicht mehr als Gefahr wahrnehmen, macht es nötig, an diese beunruhigende Situation zu erinnern.
Es muß daher zunächst einmal gefragt werden, welche Gründe es gibt, den bisherigen Zustand für akzeptabel zu halten. Die Antwort vieler real-politisch orientierter Praktiker ist einfach: Es gab keine Alternative. Der technische Entwicklungsstand machte den Versuch, eine wirksame Verteidigung gegen strategische Kernwaffen aufzubauen, bis heute zu einem aussichtslosen Unterfangen. Nur ein Verzicht auf Kernwaffen hätte es möglich gemacht, den gegenwärtigen Zustand zu vermeiden. Da die internationalen Beziehungen aber nach wie vor von den militärischen Machtverhältnissen geprägt werden und die Kernwaffen eine völlig neue Dimension militärischer Macht-entfaltung zu eröffnen schienen, war es den Großmächten nicht möglich, auf Kernwaffen zu verzichten. Der auf die Internationalisierung der Kernenergie abzielende „Baruch-Plan“ war dieser Auffassung nach von Anfang an zum Scheitern verurteilt. Er diente lediglich dazu, auch unverbesserliche Idealisten von der Unvermeidlichkeit dieser Lösung zu überzeugen.
Wegen der unvermeidlichen Instabilität eines nur von den militärischen Machtverhältnissen geprägten internationalen Systems blieb die Antwort der „Realisten“ immer unbefriedigend. Etwas weiter blickende Politiker verwiesen deshalb auf die Chancen, die die durch die Kernwaffen entstandene Situation für die Entwicklung stabilerer internationaler Beziehungen bot. Solange eine Verteidigung gegen strategische Kernwaffen unmöglich war, konnte auch der „Sieger“ in einem militärischen Konflikt der fast vollständigen Zerstörung durch die nuklearen „Vergeltungsstreitkräfte“ des Gegners nicht entkommen, jedenfalls solange die Vergeltungsstreitkräfte vor Zerstörung geschützt werden konnten. Da die Sicherung der nuklearen Vergeltungsfähigkeit erheblich geringere technische und wirtschaftliche Ressourcen voraussetzte als die Fähigkeit, einen militärischen Konflikt zu „gewinnen“, konnte man sagen, daß Kriege zwischen hochindustrialisierten, mit Kernwaffen ausgerüsteten Staaten sinnlos geworden waren
Zwar blieb der nukleare Vergeltungsschlag ein Mittel, zu dem nur eine Regierung greifen würde, die nichts mehr zu verlieren hätte, aber schon die Tatsache, daß der militärisch Überlegene sich davor hüten mußte, den Gegner in eine solche Situation zu bringen, unterschied die von den Kernwaffen bestimmten machtpolitischen Beziehungen ganz entscheidend vom Schema der klassischen Machtpolitik. Die ultima ratio militärischer Gewalt, die Möglichkeit, einen Gegner notfalls mit militärischen Mitteln zu beseitigen, entfiel, wenn der Gegner über die nukleare Vergeltungsfähigkeit verfügte. Die nukleare Abschreckung erzwang gleichsam ein Minimum an Rücksichtnahme und Toleranz gegenüber dem politischen Gegner, das als stabilisierendes Element in den internationalen Beziehungen angesehen werden konnte.
In dieser Struktur der machtpolitischen Beziehungen zwischen Kernwaffenmächten liegt auch der Angelpunkt der langfristigen, auf die Verhütung von Kriegen gerichteten Erwartungen und Zielvorstellungen, die in der Ankündigung Brodies zum Ausdruck kommen, das Militär könne in Zukunft nur noch zur Verhütung von Kriegen dienen.
Problematisch blieb die durch die äußerste Brutalität der nuklearen Drohung „erzwungene“ Stabilität in den internationalen Beziehungen schon deshalb, weil nie sicher ausgeschlossen werden konnte, daß es trotz der Abschreckung zu einem Kernwaffenkrieg kommen würde und dann mit Schäden gerechnet werden müßte, die nicht mehr kalkulierbar waren und möglicherweise die Lebensbedingungen auf der Erde drastisch verändern könnten. Viele fürchteten auch, daß die in der Abschreckung enthaltene latente Drohung mit dem Einsatz von Kernwaffen destruktive politische Folgen nach sich ziehen würde.
Aus einer rein realpolitischen Perspektive wäre die Einführung strategischer Verteidigungssysteme unproblematisch, unabhängig davon, welchen Grad an Wirksamkeit sie erlangen. Angesichts der extremen Schäden, die von Kernwaffen verursacht werden können, muß jeder Schutz, jede Verteidigungsmöglichkeit, erwünscht erscheinen. Allein die Kosten könnten gegen die strategische Verteidigung sprechen. Aus diesem Grunde erscheint es extrem unwahrscheinlich, daß eine amerikanische (oder sowjetische) Regierung auf strategische Verteidigungsmittel verzichten könnte, wenn die technischen und wirtschaftlichen Voraussetzungen dafür gegeben wären. Ob und wann dieser Zustand eintreten wird, ist bisher aber noch nicht sicher abzusehen.
Für die entscheidende Frage, ob sich die strategische Politik am Ziel einer strategischen Verteidigung orientieren soll, reicht aber die „realpolitische Perspektive“ nicht aus. Zunächst einmal stellt sich die Frage, inwieweit die Einführung einer strategischen Verteidigung mit den ordnungspolitischen Zielen der gegenwärtigen Strategie vereinbar ist. Die Antwort darauf ist eindeutig negativ: Der Zwang zu einem Minimum an „Toleranz“, der die gegenwärtige Strategie auszeichnet, wird durch strategische Verteidigungsmöglichkeiten zumindest abgeschwächt. Nur ein Verteidigungssystem, das sich auf den Schutz von Raketenstellungen bzw. auf die Sicherung der nuklearen Vergeltungsfähigkeit beschränkt, wäre mit der geltenden Strategie vereinbar, entspräche aber den Zielen der Realpolitiker am wenigsten.
Wenn es jedoch möglich werden sollte, sich gegen strategische Kernwaffenangriffe zu verteidigen, dann entfällt auch die das gegenwärtige Sicherheitssystem auszeichnende Gewißheit für den Angreifer, sich einer denkbaren nuklearen Vergeltung des Gegners nicht entziehen zu können.
Die einzige Voraussage, die sich ohne Kenntnis der technischen Eigenschaften eines zukünftigen strategischen Verteidigungssystems ganz generell machen läßt, besteht darin, daß es sehr viel schwieriger sein wird als es ohnehin schon ist, die Ergebnisse eines strategischen Schlagabtauschs vorauszuberechnen.
Aus der Perspektive der geltenden Strategie mag das für diejenigen eine Beruhigung bilden, deren Bedrohungswahrnehmung in erster Linie von der Gefahr eines entwaffnenden strategischen Erst-schlags bestimmt wird. Dabei wird jedoch völlig übersehen, daß diese Bedrohungsvorstellung auf einer im übrigen gesicherten Vergeltungsfähigkeit beruht.
Während eine kalkulierbare Erstschlagsfähigkeit unter den gegenwärtigen Bedingungen zwar denkbar, aber außerordentlich schwer erreichbar ist, liegen die Gefahren einer Situation, die durch strategische Verteidigungsmöglichkeiten bestimmt wird, darin, daß sich der Angreifer auf seine überlegene Angriffstaktik oder generell auf sein Kriegsglück verläßt.
Mit diesen Überlegungen allein ließe sich ein Verzicht auf strategische Verteidigungsmöglichkeiten jedoch nicht rechtfertigen. Denkbar wäre beispielsweise, daß sich die politischen Beziehungen zwischen den Supermächten inzwischen soweit stabilisiert haben, daß sie einer Abstützung durch die in der Tat in vieler Hinsicht bedenkliche nukleare Abschreckung nicht mehr bedürfen.
Hierzu müssen einige pauschale Bemerkungen genügen: Vergleicht man die gegenwärtigen politischen Beziehungen der beiden Supermächte mit denen der fünfziger Jahre, so sind die Anzeichen für eine politische Stabilisierung trotz der augenblicklich gespannten Atmosphäre unübersehbar. Die Neigung, den Ost-West-Konflikt zu verabsolutieren ist weit geringer als in den fünfziger Jahren, während auf beiden Seiten die Bereitschaft gewachsen ist, fundamentale Interessen der Gegenseite zu respektieren. Beide Supermächte gehen heute von einer gewissen Kontinuität in ihren politischen und militärischen Beziehungen aus. Es ist selbstverständlich geworden, daß sich beide Seiten wenigstens als Verhandlungspartner akzeptieren. Von dieser insgesamt positiven Bilanz müssen jedoch Abstriche gemacht werden. In den vergangenen zehn Jahren sind in den amerikanisch-sowje41 tischen Beziehungen kaum Fortschritte erzielt worden. Unter dem Einfluß einer forcierten sowjetischen Rüstungspolitik und der militant antisowjetischen Rhetorik der Reagan-Administra• ist das gegenseitige Mißtrauen in manchen Bereichen möglicherweise wieder gewachsen. Doch blieb die Unterbrechung der Rüstungskontrollverhandlungen nur von kurzer Dauer. Unter Gorbatschov hat die Flexibilität der sowjetischen Außen-und Rüstungskontrollpolitik deutlich zugenommen und mit ihr die Bereitschaft, die eigene Politik auch im Westen verständlich zu machen. Präsident Reagans Charakterisierung der Sowjetunion als „Reich des Bösen“ fand in der westlichen Presse ein fast einhellig negatives Echo und selbst die pauschalen Zweifel der amerikanischen Regierung an der sowjetischen Vertragstreue haben die westliche Verhandlungsbereitschaft bisher nicht merklich gedämpft.
Allerdings gibt es bisher keinerlei Anhaltspunkte dafür, daß beide Supermächte wirklich bereit wären, auf die Absicherung ihrer politischen Beziehungen durch die Kernwaffen zu verzichten. Die weitreichenden Reduzierungsvorschläge beider Seiten bei den Genfer Rüstungskontrollverhandlungen dienen in erster Linie dazu, die Öffentlichkeit über das Ausmaß der Rüstungsanstrengungen im Bereich der strategischen Kernwaffen hinwegzutäuschen. Die Aussichten, daß die beiden Supermächte tatsächlich damit beginnen, ihre strategischen Kernwaffenpotentiale abzubauen, sind noch immer sehr gering. Erst ein Erfolg der Rüstungskontrollverhandlungen könnte aber als Hinweis verstanden werden, daß die Supermächte auf die politische Stabilität ihrer Beziehungen vertrauen.
Solange die nukleare Abrüstung Utopie bleibt, muß die Frage gestellt werden, ob das amerikanische SDI-Projekt auch in der Lage ist, die im Abschreckungsgedanken liegenden ordnungspolitischen Perspektiven zu ersetzen. Ein Gedanke dieser Art könnte in der Vorstellung beiderseitiger Unverwundbarkeit liegen, die im Zusammenhang mit dem SDI-Projekt immer wieder anklingt. Danach wäre ein Zustand wenigstens vorstellbar, in dem beide Supermächte über so wirksame Verteidigungsmittel verfügen, daß sie einen Angriff der Gegenseite mit großer Wahrscheinlichkeit abwehren können, ohne allzu große eigene Schäden erleiden zu müssen. Beide Supermächte bedrohen sich unmittelbar in erster Linie mit ihren strategischen Waffen. Konventionell können sie sich gegenseitig aus geographisch-strategischen Gründen kaum angreifen. Könnte ein wirksames Verteidigungssystem gegen strategische Kernwaffen auf beiden Seiten nicht eine Situation herbeiführen, in der beide Supermächte auf die Anwendung militärischer Gewalt gegeneinander verzichten, weil keine von ihnen die andere militärisch besiegen kann, und wäre ein solcher Zustand nicht der in vieler Hinsicht labilen nuklearen Abschreckung vorzuziehen? Viele betrachten eine wechselseitige Nichtangriffsfähigkeit in der Tat als die stabilste Form militärischer Kräfteverhältnisse.
Das Problem liegt allerdings darin, daß sich derartige Verhältnisse normalerweise nicht realisieren lassen. Unabhängig davon, ob der waffen-technologische Entwicklungsstand gerade die Offensive oder die Defensive begünstigt, sind militärische Machtverhältnisse in aller Regel sehr stark situationsabhängig und instabil. Initiative, das Überraschungsmoment, das taktische Vorgehen und die lokalen Bedingungen, unter denen eine militärische Auseinandersetzung stattfindet, sind sehr oft für Sieg oder Niederlage entscheidend. Dies bedeutet aber, daß gewöhnlich nur derjenige wirklich sicher sein kann, einen militärischen Angriff abzuwehren, der nach statischen Kriterien eine eindeutige militärische Überlegenheit besitzt. Eine gegenseitige Nichtangriffsfähigkeit zwischen militärisch gleichwertigen Mächten setzt daher ganz ungewöhnliche geostrategische und waffen-technologische Bedingungen voraus.
IV. Realisierungschancen eines Zustands gegenseitiger Nichtangriffsfähigkeit
Im amerikanisch-sowjetischen Verhältnis liegen die geographisch-strategischen Bedingungen so, daß beide Seiten sich gute Chancen ausrechnen können, einen konventionellen Angriff der anderen Supermacht abzuwehren. Ob die Entwicklung einer gegenseitigen Nichtangriffsfähigkeit denkbar ist, hängt also entscheidend davon ab, ob die Entwicklungstendenzen in der Waffentechnologie einen Vorteil der strategischen Defensive vor der Offensive erwarten lassen.
Das seit einigen Jahren neu erwachte Interesse an strategischen Verteidigungsmaßnahmen hat auch technische Gründe. Die technischen Mittel, die Ende der sechziger und Anfang der siebziger Jahre für die damals geplanten Raketenabwehrsysteme zur Verfügung standen, reichten nicht aus, ein strategisch sinnvolles Verteidigungssystem gegen ballistische Raketen aufzubauen. Erst jetzt werden technische Möglichkeiten erkennbar, die, wenn sie einmal ausgereift sind, die Chance für eine Verteidigung gegen ballistische Raketen bieten.
Die Tatsache, daß ballistische Interkontinentalraketen, gegen die bisher keine Verteidigung mögi lieh schien, in absehbarer Zeit auch im Flug verwundbar werden könnten, ist von großer strategischer Bedeutung. Sie läßt erkennen, daß diese Waffen in Zukunft möglicherweise als Kernwaffenträger ihre gegenwärtig herausgehobene Bedeutung verlieren werden.
Verteidigungsmittel machen ein offensives Waffensystem aber noch nicht überflüssig. Es ist der Normalfall, daß auch erfolgreiche Angriffsoperationen mit Waffen durchgeführt werden, gegen die es mehr oder weniger wirksame Verteidigungsmittel gibt. So gab es gegen den strategischen Bomber von Anfang an eine Reihe von Verteidigungsmöglichkeiten, und viele erwarteten aufgrund technischer Fortschritte bei der Luftabwehr das Ende des strategischen Bombers schon in den sechziger Jahren. Gegenwärtig sieht es jedoch so aus, als werde der strategische Bomber aufgrund der in Entwicklung befindlichen soge-nannten Stealth-Technologie im kommenden Jahrzehnt sogar an Bedeutung gewinnen. Zu erwarten ist deshalb, daß auch die ballistischen Raketen auf absehbare Zeit trotz der Entwicklung von Abwehrmöglichkeiten eine etwa den Bombern vergleichbare Bedeutung als strategische Kernwaffenträger behalten werden.
Auch wenn Verteidigungsmittel gegen ICBM zur Verfügung stehen, bedeutet das noch nicht, daß damit auch ein umfassendes und wirksames Verteidigungssystem gegen strategische Kernwaffen aller Art realisierbar wird, und erst recht nicht, daß in Zukunft die strategische Defensive das Übergewicht über die Offensive erlangen wird. Die Diskussion über die technische Realisierbarkeit strategischer Verteidigungsmaßnahmen hat gezeigt, daß sichere Aussagen darüber, ob sich ein umfassendes Verteidigungssystem aufbauen läßt, das ein akzeptables Kosten-Nutzen-Verhältnis aufweist, gegenwärtig noch nicht möglich sind. Noch weniger gibt es bereits konkrete Hinweise auf eine Überlegenheit der Verteidigung über den strategischen Angriff. Alle in diese Richtung weisenden Argumente sind bisher nichts mehr als abstrakte Spekulationen. Selbstverständlich ist es denkbar, daß sich ein Zustand gegenseitiger strategischer Nichtangriffsfähigkeit in ferner Zukunft einmal erreichen läßt. Das Gegenteil kann mit technischen Argumenten gewiß nicht bewiesen werden. Doch kann eine Politik, die im gegenwärtigen technischen Entwicklungsstadium bereits auf diese Möglichkeit setzt, nur im negativen Sinn als abenteuerlich bezeichnet werden.
V. SDI im Rahmen der amerikanischen Außenpolitik
Wenn das amerikanische SDI-Projekt trotz seiner attraktiven langfristigen Zielsetzung immer wieder auf Kritik stößt, dann beruht das nur zum Teil auf seiner unsoliden technologischen Grundlage. Maßgebend ist vielmehr der Stellenwert, den das Projekt im Gesamtrahmen der aktuellen amerikanischen Außen-und Sicherheitspolitik einnimmt. Präsident Reagan ist bekanntlich mit der erklärten Absicht an die Regierung gelangt, der amerikanischen Außenpolitik wieder eine solide machtpolitische Basis zu geben und das nach Vietnam angeschlagene Vertrauen der Bevölkerung in die weltpolitische Führungsrolle der Vereinigten Staaten wiederherzustellen. Verbunden war diese realpolitische Orientierung mit einer verschärften Eindämmungspolitik gegenüber der Sowjetunion und einer weitgehenden Ablehnung aller Versuche vorhergehender Regierungen, die amerikanisch-sowjetischen Beziehungen auf der politischen Ebene zu stabilisieren. Es dauerte lange, bis sich die Reagan-Administration unter dem Druck der amerikanischen Friedensbewegung und der europäischen Verbündeten dazu entschloß, die Rüstungskontrollverhandlungen mit der Sowjetunion wiederaufzunehmen. Noch heute gibt es Anzeichen dafür, daß die Reagan-Administration Rüstungskontrolle in erster Linie als Veranstaltung akzeptiert, die vielfältige Funktionen im diplomatischen Bereich und auf dem Gebiet der Public-Relations erfüllt, ohne aber ihre langfristigen politischen Funktionen ernst zu nehmen.
In einem solchen politischen Rahmen mußte die bisherige strategische Politik der Vereinigten Staaten als Fremdkörper erscheinen, da sie die Bedeutung militärischer Kräfteverhältnisse auf der strategischen Ebene relativierte. H. Kissingers vielzietierte Frage, was denn der Wert strategischer Überlegenheit sei, war gewiß nicht Ausdruck eines unterentwickelten Sinns für politische Machtverhältnisse, sondern entsprach ganz einfach der bis dahin geltenden Kernwaffenstrategie. Präsident Reagans SDI-Projekt präsentiert sich in diesem Zusammenhang zunächst einmal als ein Versuch, die in der bisherigen Abschreckungspolitik enthaltenen machtpolitischen Beschränkungen zu durchbrechen und der militärischen Macht auch im strategischen Bereich ihre „klassische 1* Bedeutung zurückzugeben. Damit verband sich die Hoffnung, das wirtschaftliche Gewicht und die technologischen Fähigkeiten der Vereinigten Staaten wieder in eine politisch bedeutsame mili43 tärische Überlegenheit gegenüber der Sowjetunion umzusetzen zu können.
Nur diese Interpretation macht auch verständlich, weshalb das Projekt im eklatanten Gegensatz zu der bisherigen recht konservativen strategischen Politik der Vereinigten Staaten bereits ins Leben gerufen wurde, lange bevor die technischen Voraussetzungen für ein wirksames strategisches Verteidigungssystem vorlagen und weshalb es vor allem von konservativen Politikern begrüßt wird, die Vorschlägen zur Entwicklung defensiver Verteidigungsstrukturen im konventionellen Bereich bisher stets äußerst skeptisch gegenüberstanden. In dieser Form signalisiert das Projekt keinen auf die Entwicklung einer gegenseitigen Nichtangriffsfähigkeit gerichteten strategischen Fortschritt, sondern im Gegenteil eher einen Rückschritt in die machtpolitischen Denkgewohnheiten aus der Zeit vor der Entwicklung der Kernwaffen.
In diesem Zusammenhang wird auch die Behauptung vieler Gegner des Projekts verständlich, SDI habe eine offensive Funktion. Zwar wirken Verdächtigungen, das Projekt sei dazu bestimmt, Häuser, Städte, Wälder und andere brennbare Strukturen des Gegners in Brand zu setzen, um damit letztlich einen „nuklearen Winter“ mit nichtnuklearen Mitteln zu produzieren, in technisch-militärischer Hinsicht eher abwegig, doch ist der Verdacht nicht völlig von der Hand zu weisen, daß eine Regierung, die eine aktivere Machtpolitik im strategischen Bereich betreiben will, auch die Gefahr in Kauf zu nehmen bereit ist, daß die strategischen Kernwaffen tatsächlich einmal eingesetzt werden. Strategische Verteidigungsmaßnahmen könnten die Risikobereitschaft einer solchen Regierung verstärken, ganz gleich ob die Verteidigung dem Schutz der Bevölkerung oder dem der strategischen Offensivwaffen dient.
Die gewichtigsten Einwände gegen das SDI-Projekt richten sich also weniger gegen die Entwicklung von strategischen Verteidigungsmöglichkeiten an sich, als gegen die Art, in der die Hoffnung auf stabilere machtpolitische Beziehungen zwischen Ost und West und der Glaube an die Segnungen der Hochtechnologie von der amerikanischen Regierung zur Legimitation des Versuchs benutzt werden, zur simplen militärischen Macht-politik der Vorkriegszeit zurückzukehren. Wenn eine spätere amerikanische Regierung an der langfristigen Fortsetzung des SDI-Projekts mit europäischer Unterstützung und vielleicht sogar mit sowjetischer Billigung gelegen ist, dann muß sie in erster Linie versuchen, diesen Eindruck zu beseitigen, indem sie das Projekt wieder in eine Außenpolitik einbettet, die der Entwicklung der politischen Beziehungen zwischen Ost und West etwas größere Aufmerksamkeit zukommen läßt, und das Projekt als langfristig orientiertes Forschungsund Entwicklungsvorhaben einstuft.
VI. Europäische Perspektiven
Die bisher dargestellten Überlegungen zielen auf eine Bewertung des amerikanischen SDI-Projekts auf der Basis gemeinsamer westlicher Sicherheitsinteressen. Wegen der zentralen Bedeutung, die das strategische Kräfteverhältnis zwischen den Supermächten für die europäische Sicherheit hat, müssen diese Überlegungen auch den Ausgangspunkt für eine spezifisch europäische Bewertung des Projekts bilden. Sie reichen hierfür allerdings nicht aus. Unberücksichtigt blieben bisher die Schwierigkeiten, die sich aus der Pluralität der westlichen Sicherheitsinteressen für das Projekt ergeben können. Diese im einzelnen sehr komplizierten Fragen können hier lediglich angerissen werden:
Spezifisch europäische Gesichtspunkte bei der Bewertung des SDI-Projekts können sich beispielsweise aus den Besonderheiten der europäischen Bedrohungssituation ergeben. Bekanntlich ist es vor allem das konventionelle militärische Potential der Sowjetunion, durch das sich die Europäer bedroht fühlen. Bei den Kernwaffensystemen werden eher die sowjetischen Kurz-und Mittelstreckenraketen als die strategischen Waffen als unmittelbare Bedrohung wahrgenommen. Für die Europäer ist daher die Frage von einiger Bedeutung, wie weit sich die strategischen Verteidigungsmaßnahmen der Amerikaner auch auf sowjetische Kernwaffensysteme erstrecken, die die Europäer unmittelbar bedrohen, oder ob die in diesem Zusammenhang entwickelten Technologien den Europäern eine Chance bieten, eigene Verteidigungssysteme gegen die sowjetische Kernwaffendrohung aufzubauen. Es ist zwar denkbar, daß sich diese militärischen Belange der Europäer bei der Planung eines strategischen Verteidigungssystems der Vereinigten Staaten berücksichtigen lassen, selbstverständlich ist dies jedoch keineswegs, und es wird beträchtlicher Anstrengungen der Europäer bedürfen, hier gemeinsam mit den Amerikanern im technisch-militärischen Sinn „optimale“ Lösungen auszuarbeiten. Beim gegenwärtigen waffentechnologischen Entwicklungsstand lassen sich diese militärischen Fragen noch nicht mit Sicherheit beantworten. Aus diesem Grund kann auch der Vorschlag VerB teidigungsminister Wörners für eine europäische Verteidigungsinitiative lediglich als Versuchsballon bewertet werden.
Wichtiger als diese militärischen Fragen sind auch für die Europäer zunächst die längerfristigen politisch-strategischen Perspektiven des Projekts. In seiner jetzigen Form forciert das Projekt noch die machtpolitische Orientierung der Reaganschen Außenpolitik, mit der die Europäer schon immer ihre Schwierigkeit hatten. Auf Bedenken dieser Art braucht hier nicht näher eingegangen zu werden, weil sie in europäischen Stellungnahmen zur amerikanischen Außenpolitik ausführlich behandelt worden sind.
Aber auch wenn sich die europäische Bewertung des Projekts an der langfristigen Utopie einer wechselseitigen Nichtangriffsfähigkeit zwischen den Supermächten orientiert, ergeben sich Schwierigkeiten. Selbst eine Ausdehnung der strategischen Verteidigungsmaßnahmen der Vereinigten Staaten auf die Europa bedrohenden Kern-waffensysteme der Sowjetunion oder ein europäisches Verteidigungssystem würden den Europäern nicht annähernd das gleiche Maß an Sicherheit verschaffen wie den Vereinigten Staaten. Nichtangriffsfähigkeit im konventionellen Bereich läßt sich nicht allein durch die Einführung neuer Technologien erreichen. Es erscheint heute praktisch als ausgeschlossen, daß sich die europäische Verteidigung soweit verstärken ließe, daß von einer sowjetischen Nichtangriffsfähigkeit gesprochen werden könnte. Der Aufbau wirksamer strategischer Verteidigungssysteme beider Supermächte könnte die Sicherheitsbedürfnisse der Europäer und der Vereinigten Staaten soweit voneinander entfernen, daß eine weitere Erosion der atlantischen Bündnisbeziehungen nicht ausgeschlossen werden könnte.
Diese Gefahren wären geringer, wenn es bei begrenzt wirksamen Verteidigungsmaßnahmen bliebe. Dann entstünden jedoch andere Probleme: Ohne die relativierende Wirkung der gegenwärtigen Abschreckungsstrategie auf die strategischen Kräfteverhältnisse könnten sich die Statusunterschiede zwischen den Supermächten und anderen Kernwaffenstaaten verstärken. Schon begrenzt wirksame Verteidigungssysteme können den beiden Supermächten einen verhältnismäßig wirksamen Schutz gegenüber den weniger starken strategischen Potentialen anderer Staaten gewähren. Die amerikanischen Pläne für ein Raketenabwehrsystem in den späten sechziger und frühen siebziger Jahren („Safeguard“, „Sentinel") beriefen sich ausdrücklich auf diese Funktion. Selbst ein begrenzter Schutz Europas gegenüber sowjetischen Kernwaffensystemen könnte in einer solchen Konstellation nichts daran ändern, daß sich die Machtverhältnisse innerhalb des Atlantischen Bündnisses weiter zugunsten der Vereinigten Staaten verschöben und daß sich die amerikanischen und europäischen Sicherheitsinteressen weiter voneinander entfernten.
Die Probleme im amerikanisch-europäischen Verhältnis könnten sich auch verschärfen, weil die geltende NATO-Strategie der kontrollierten nuklearen Eskalation mit der Entwicklung strategischer Verteidigungsoptionen unvereinbar erscheint. Die Frage, ob sich eine nukleare Eskalation in der Praxis auch tatsächlich kontrollieren ließe, war immer umstritten. Die Errichtung strategischer Verteidigungssysteme auf beiden Seiten würde in erster Linie die Kalkulierbarkeit strategischer Kernwaffenangriffe verringern. Damit sinken aber auch die Chancen, einen einmal begonnenen Kernwaffenkrieg begrenzt zu halten. Um sicher zu gehen, begrenzte militärische Ziele zu erreichen, müßten beide Seiten sehr viel stärkere Kräfte einsetzen, als ohne strategische Abwehr-maßnahmen. Erweist sich die Verteidigung dann als weniger wirksam als theoretisch möglich, dann sind die entstehenden Schäden sehr viel höher als vom Angreifer beabsichtigt. Die von der Theorie geforderte Möglichkeit, die Schäden des Gegners zu begrenzen und mit dem Gegner zu kommunizieren, würde dadurch drastisch reduziert
Es wird häufig übersehen, daß die amerikanische strategische Abschreckung und ihr Verhältnis zu den Kernwaffen in Europa auch ein wichtiges Element der nach dem Krieg in Europa entstandenen politisch territorialen Ordnung bildet. Der Kernwaffenstatus Großbritanniens und Frankreichs, der Verzicht der Bundesrepublik auf die Produktion oder den Erwerb von Kernwaffen und die Stationierung von amerikanischen Kernwaffen in Europa bilden noch immer eine entscheidende Voraussetzung für das bestehende politische System in Europa. Das ist auch der Grund für die große Empfindlichkeit, die besonders die französische Regierung gegenüber jeder Änderung in der Rolle der Kernwaffen in Europa an den Tag gelegt hat. Wo Kernwaffen stationiert sind, wie sie kontrolliert werden und auf welche Ziele sie gerichtet sind — das sind Fragen, die in Europa häufig eine ebenso entscheidende politische wie militärische Bedeutung haben. In historischer Perspektive wird die politische Rolle der Kernwaffen in Europa durch die Tatsache unterstrichen, daß trotz des wachsenden wirtschaftlichen Wettbewerbs zwischen den Vereinigten Staaten und Europa wirklich schwerwiegende Krisen innerhalb des atlantischen Bündnisses immer nur durch Meinungsverschiedenheiten in nuklearen Fragen verursacht wurden.
Die hier nur kurz skizzierten politischen Probleme, die aus europäischer Perspektive mit dem amerikanischen SDI-Projekt verbunden sind, dürfen allerdings auch nicht überbewertet wer-den. Es handelt sich im großen und ganzen um typische Status quo-Argumente, die auch gegenüber einer Vielzahl anderer Maßnahmen im nuklear-strategischen Bereich geltend gemacht werden können (und geltend gemacht worden sind). Sie verlieren ihre Überzeugungskraft, sobald zwingende sicherheitspolitische Gründe den Übergang zu einer auf strategische Verteidigungsmaßnahmen abstellenden Strategie nahelegen. Derartige Gründe sind gegenwärtig — zehn bis zwanzig Jahre bevor mit den technischen Voraussetzungen für ein wirksames Raketenabwehrsystem gerechnet werden kann — jedoch nicht zu erkennen. Der Hinweis auf entsprechende sowjetische Entwicklungen kann allenfalls die Fortsetzung und Beschleunigung des amerikanischen Forschungs-und Entwicklungsprogramms rechtfertigen, nicht jedoch das Programm in seiner jetzigen Form. Unter diesen Umständen muß es auch aus amerikanischer Perspektive bedenkenswert erscheinen, ob die mit dem SDI-Projekt verfolgten strategischen Ziele es tatsächlich rechtfertigen, sich auf die weitreichenden politischen Probleme einzulassen, die mit einer strategischen Umorientierung dieser Größenordnung notwendigerweise verbunden sind.