„Wenn du dich geschnitten hast, sollst du nicht die Wunde verbinden, sondern das Messer.“
(Joseph Beuys)
Die wilden Sechziger, ne roaring Sixties, Beat-Generation, ne fabulous Sixties, Alternative Society, Decade of the Young Rebeis, Between Age, Les Annees 60, Swinging Sixties — die sechziger Jahre firmieren mittlerweile weltweit unter den verschiedensten Etikettierungen. Sie sind in das Blickfeld der Soziologen und Kulturhistoriker gerückt, nachdem nach einem Abstand von kaum zwanzig Jahren eine heftige Sechziger-Jahre-Nostalgiewelle eingesetzt hat, die zuerst aus den Funkhäusern zu vernehmen war, sich dann auf Kunstauktionen in Rekordpreisen für Pop-Art-Werke niederschlug und heute am Outlook der Twens abzulesen ist, die ihren buckligen Fünfziger-Jahre-Volvo nun am liebsten gegen den Traumwagen der sechziger Jahre: gegen das sechszylindrige Porsche-Coupe 901/911 aus dem Jahre 1963 eintauschen möchten.
Sogar Radio Vatikan befindet die „Beatles", die vor 20 Jahren ihr letztes Konzert in San Francisco gegeben hatten, nunmehr für segenswert. Im August 1986 wurde in die normalerweise aus Informationen über die Aktivitäten des Papstes und der Kirchenführung bestehenden Nachrichten der Beatles-Song „With a little help from my friends“ eingespielt mit der Begründung, die vier Liverpooler hätten — immer auf der Suche nach neuen Lebensformen — mit ihrer nonkonformistischen Sprache, den langen Haaren sowie ihrer originellen Kleidung Millionen junger Menschen eine Botschaft vermittelt.
Die Gruppe habe auch ein Thema wie die Religion in einer neuen Sprache behandelt und von überkommenen Werten befreit. Als schlechtes Gegenbeispiel gilt Radio Vatikan die Londoner Gruppe „Rolling Stones“, die den Weg der „Entweihung und der Beleidigung“ angetreten habe, um ihren Konflikten und Hoffnungen Ausdruck zu geben. Die vatikanische Schelte ficht jedoch die Rolling Stones nicht an, sie reüssieren mit „Harlem Shuffle“, der Wiederauflage eines Songs aus den sechziger Jahren, ebenso in den oberen Charts der internationalen Hitparaden wie das trendsetzende deutsche Pop-Duo „Modern Talking“, dessen Sänger mit sanftem Augenaufschlag, langwallenden Männerhaaren, sensiblen Liebesschwüren und in teurem Edel-Hippie-Dress den diffusen Charme der sechziger Jahre reaktiviert. Getragen wird die Sechziger-Nostalgiewelle auch und besonders von der persönlichen Betroffenheit der heute Vierzigjährigen, die entweder wehmütig den vergangenen Zeiten nachtrauern — „Meine sechziger Jahre“, „Die verträumte Revolution“, so und ähnlich lauten die Aufsätze im Juni-Heft der von Günter Grass herausgegebenen Zeitschrift „L ’ 80“ — oder resignieren, wie Ulrich Greiner im März diesen Jahres in der „ZEIT“ feststellt: „Die Intellektuellen, die Schriftsteller, die Diskutanten von damals, sie gleichen einem Klub ergrauter Pingpongspieler, die müde übers Netz löffeln, wo sie früher Schmetterbälle plazierten.“
Die ergrauten Pingpongspieler von heute, sie sind die Protagonisten von damals, jene 14-bis 24jährigen „Between Agers“, jene jungen Rebellen der Beat-Generation, die aus Protest „gegen eine Herrschaft durch Bürokratie, die unkontrollierbar geworden ist, gegen die Apparate der Parteien, Gewerkschaften, Konzerne, Regierungen, deren Machtmechanismen nicht beeinflußbar, nicht einmal mehr durchschaubar sind“ (Kai Hermann), die Gesellschaft so umgestalten wollen, „daß man in ihr auch einen Platz haben möchte“ (Mario Savio).
Für die USA sind die sechziger Jahre als Dekade eine deutlich herauslösbare historische Einheit. Das Jahrzehnt beginnt 1960 mit der hoffnungsgestimmten Wahl des katholischen Demokraten John F. Kennedy zum Präsidenten und endet mit der Mondlandung im Jahre 1969 glorreich, aber mit dem Vietnamkrieg später moralisch und an Menschenleben verlustreich. Das amerikanische Lebensgefühl jener Zeit ist durchdrungen von der kalifornischen „Fun-Morality“, von den „Beach Boys“ vielbesungen und auch verkörpert (und ausgelebt) von „Sunnyboy“ John F. Kennedy. Auf dem Nährboden der Fun-Morality gedeihen die schnell die Jugend Europas begeisternden Ideen der Hippie-Bewegung von der Vorherrschaft der Sinne und des Körpers, von sexueller und Drogen-Freiheit, von einem Leben in brüder-B lich-solidarischer Einfachheit in herrschaftsfreien Alternativgemeinschaften (Kommunen), in denen — wie Friedrich Nietzsche über die Umstürzler seiner Zeit bemerkt — „noch der Aberglaube Rousseaus nachklingt, welcher an eine wunder-gleiche, ursprüngliche, aber gleichsam verschüttete Güte der menschlichen Natur glaubt und den Institutionen der Kultur, in Gesellschaft, Staat und Erziehung, alle Schuld jener Verschüttung beimißt“.
Auch die vom Campus der kalifornischen Staats-universität Berkeley ausgehende Studentenrevolte, die happeningartige Protestformen wie das Sit-in, Teach-in und Go-in entwickelt und weltweit nach Tokio, Kopenhagen, Rom, Belgrad, Mexiko City, Barcelona, Paris und Berlin (West) ausgreift und sich kulturrevolutionär interpretiert, ist in gewisser Weise Ausfluß dieser Fun-Morality: „Sie ist sexuelle, moralische, intellektuelle und politische Rebellion in einem. In diesem Sinne ist sie total, gegen das System als Ganzes gerichtet: Sie ist der Ekel vor der Gesellschaft im Überßuß, das vitale Bedürfnis, die Spielregeln eines betrügerischen und blutigen Spiels zu verletzen — nicht mehr mitzumachen ...
hier ist die . bestimmte Negation'des Bestehenden“ (Herbert Marcuse).
Paradise Now Amerikanische Theaterkollektive wie das „Living Theatre“, das „Bread and Puppet Theatre“ und das „La Mamma“ -Theatre aus New York überbringen und propagieren auf ihren Europatourneen den rebellischen Geist der Fun-Morality der amerikanischen Hippie-und Studentenbewegung mit „Happenings“, theatralen Kunstinszenierungen, die sich bewußtseinsintensivierend gegen den Objektcharakter der Kunst und letztlich gegen den Kunstcharakter wenden — aus dem Anspruch heraus, in die Kunst ein „Live“ -Moment einzubringen, als objektivierte Erfahrungen von Situationen und Umwelt die Kunst näher an das Leben heranzuführen: Die Kunst soll nicht mehr eine „Interpretation der Wirklichkeit“ sein, sondern selbst zu einem Teil der Wirklichkeit werden.
Das von Judith Malina und Julian Beck geleitete „Living Theatre“, die revolutionärste Compagnie der sechziger Jahre, ist auf der Suche nach der verlorenen Sensibilität, will über den Weg der „schönen, gewaltlosen, anarchistischen Revolution“ einen paradiesischen Zustand erreichen:
eine Gesellschaft frei von Herrschaft, auch frei von Geld, Gewalt und Gefängnissen. Die anarchistische Theaterkommune will jedoch diese Revolution nicht mit Bomben herbeiführen, sondern durch „gewaltlose Veränderung des Bewußtseins“.
Denn „gewaltsame Revolutionen“, so Julian Beck, ändern zwar „die Verhältnisse, aber die Menschen bleiben, was sie sind“. Das Living geht daher die Zeitgenossen mit Gefühl an, mit einem Theater der totalen Erfahrung, dessen Ästhetik stark bestimmt ist durch das Darstellen und Ausleben von Emotionalität und Körperlichkeit, spontan aus der Dynamik der psychischen und physischen Bewegung der Gruppe heraus entwickelt und kaum noch oder gar nicht mehr über literarische Rollen vermittelt.
„Paradise Now“, die letzte Produktion des sich 1970 in drei Gruppen aufspaltenden Living, das seit 1964 Europa durchquert hatte, animiert am 10. Januar 1970 das Publikum im Berliner Sport-palast zu solch reger Teilnahme, daß sich die Boulevardpresse darüber wundert, daß alle Besucher am Schluß der Veranstaltung wieder komplett bekleidet waren. Polizisten in Frankreich, Italien und USA vermögen diese letzte, aus Okkultismus, Vegetariertum, Astrologie, aus „Yang“ und „Yin“ chinesischer Religionen, der heiligen Silbe „Om“ des Hinduismus, aus Joga, Kabbala und chassidischen Lehren gespeiste Kollektiv-Kreation nicht zu dechiffrieren. Die Ordnungshüter begreifen die körperakrobatischen Totemismen und gymnastischen Hieroglyphen der nur mit Lendenschurz und Bikini bekleideten Akteure als schlicht unzüchtig. Dabei liegt die Essenz der paradiesischen Vorführung in der provokativen Verführung zum Mitspielen: In drei Schritten wird der Betrachter über einen „Ritus“ und eine „Vision“ jeweils zu einer „Aktion“ geleitet, bei der er mitreden oder mit-agieren soll. Die Schauspieler, die häufig im Parkett umherstreifen, muntern zum Mittun auf, indem sie leichte Schläge auf die Köpfe versetzen. Das Stück gilt erst als gelungen, wenn Schauspieler wie Zuschauer gemeinsam auf der Bühne sitzen und das Bewußtsein ändern. In acht „Stufen“ wird der Betrachter in diesem Dreischritt zu immer lichteren Höhen gehoben: vom „Ritus des Guerilla-Theaters“, von der „Vision vom Tod und der Auferstehung der Indianer“ (der Auferstehung des Rousseauschen edlen Wilden), vom „Ritus des universalen Geschlechtsverkehrs“ über die „Vision von der Landung auf dem Mars“ bis dahin, wo das Living seine Bestimmung sieht — zum Theater auf der Straße, zur permanenten Revolution. Die Botschaften des Living Theatre sind die der linken Studenten: „Bildet Zellen“, „Schafft eine Subkultur“, „Sexuelle Revolution“.
Deutschstunde Für die Bundesrepublik Deutschland deckt sich das historische Zeitmaß der sechziger Jahre nicht mit dem Jahrzehnt, da die Periode, die um 1959 ein-setzt, weit in die siebziger Jahre eingreift. Die bundesdeutschen Sechziger beginnen unter dem Pragmatiker Konrad Adenauer, sie enden als historischer Zeitabschnitt 1974 mit dem Amtsantritt eines Pragmatikers. Sie durchlaufen ihren Zenit im soziokulturellen Klimaumschwung der späten sechziger Jahre, der zugleich mit der Studentenbewegung und dann der sozialliberalen Koalition eine neue Dimension politischer Kultur eröffnet, die ihre Akzente auf Emanzipation, Antiautoritarismus und Abwehr einer repressiven politischen und sexuellen Moral setzt. Unter dem Stichwort „innere Reformen“ und mit den Parolen „mehr Demokratie wagen“ und „Kultur für alle“ gelingt es ab 1969 der Regierungskoalition aus SPD und FDP, große Teile der Rebellierenden zu integrieren. Mitte der siebziger Jahre ist in der Bundesrepublik das Ende der Reform-und Politisierungsphase erreicht, kulturelle Stichworte wie Neue Subjektivität, Neue Innerlichkeit, Authentizität und Erfahrung signalisieren eine neokonservative Tendenzwende, die ihre politische Entsprechung im Übergang vom „Reformkanzler“ Willy Brandt zum „Macher“ Helmut Schmidt findet.
Die geistig-moralische Lage, das ist in der Bundesrepublik Deutschland zu Beginn der sechziger Jahre immer noch die aus dem Gefühl der Erleichterung, „noch einmal davongekommen“ zu sein, verdrängende und aus dem weitgehenden Fort-wirken des Personals aus der Hitler-Zeit geprägte kalkulierte Unaufmerksamkeit gegenüber der Geschichte, ein daraus resultierender Widerwille gegen jegliche Politik und ein von der „Unfähigkeit zu trauern“ (Alexander Mitscherlich) und einen wirklichen Neuanfang zu wagen ablenkender Eskapismus in den Konsumrausch und in die Wohlstandseuphorie, so daß Wolfgang Koeppen, dessen große Romane über das restaurierte Land bereits vorliegen, sich in Wolfgang Weyrauchs Anthologie „Ich lebe in der Bundesrepublik“ (1960) fragt: „Bin ich Hans im Glück oder das beste Persil, das es je gab?“
Im selben Jahr schreibt Alfred Andersch dem „Volk von Mitläufern“ mit seinem Roman „Die Rote“ eine erste Kritik an der Wohlstandsgesellschaft und beginnt Martin Walser seine Trilogie über den Werbefachmann Anselm Kristlein, in deren erstem Band „Halbzeit“ er ein Psychogramm der jungen Republik erstellt: „Es ist die Angst vor dem Kommunismus, die diesen Staat zusammenhält.“ Aufgemischt wird die Angst von einer „Ätsch-Bananen-Haltung“, vom anhaltend „überheblichen Mitleidsblick“ (Oskar Maria Graf, 1962) gegenüber dem sozialistischen Experiment DDR, das auf deutschem Boden, separiert entstanden, einfach undenkbar zu sein hatte.
Dies sind die Jahre, in denen Bertolt Brecht offiziell unerwünscht ist, vor allem an Schulen, in denen Thomas Mann und andere Emigranten von neuem auf das albernste gerüffelt werden und in denen es sich für Studenten nachteilig auswirken kann, sich als Leser von Theodor W. Adorno, Max Horkheimer, Walter Benjamin, Ernst Bloch, Georg Lukäcs zu erkennen zu geben. Als 1959 Günter Grass’ „Blechtrommel“ erscheint, darf der Cordon sanitaife gesunder Volksmeinung noch einmal so hoch aufschäumen, daß das Buch mancherorts nur unter dem Ladentisch oder verschämt in braunes Packpapier gewickelt verkauft werden kann.
Undenkbar zu Anfang der Sechziger ist auch die Erinnerungsarbeit an Greueltaten wie das Massaker von Oradour, wo 1944 bei einer Vergeltungsaktion gegen die französische Widerstandsbewegung 648 Einwohner, darunter auch Frauen und Kinder, durch Angehörige der SS-Division „Das Reich“ umgebracht wurden, und immer noch herrscht jene Haltung vor, die Peter Rühmkorf 1956 ironisch in „Heiße Lyrik“ vorführt:
„Ich fege alle Hoffnungen von unserem Tisch zehn Jahre nach Oradour.
Ich sitze in meinem Sessel aus grünem Plüsch. Ich besinge die Müllabfuhr.“
Noch der junge Siggi Jepsen in Siegfried Lenz’ Roman „Deutschstunde“ (1968), der das Wirken faschistischer Ideologie zu begreifen sucht, stößt dabei auf einen pervertierten Pflichtbegriff, der das perfekte Funktionieren der Müllabfuhr garantiert, aber auch jede Unmenschlichkeit abdeckt. Am Ende seiner Selbstbefragung will Jepsen einen Neuanfang wagen: „Etwas Neues? Was soll das sein ...? Noch gibt es Möglichkeiten. Aber werde ich sie nutzen?“
Keine Möglichkeiten mehr sieht der Clown Hans Schnier in Heinrich Bölls „Ansichten eines Clowns“, die Böll 1963 die Bestätigung einer „bedenklichen Kritik des Industriellenmilieus“ und einen Hirtenbrief der katholischen Kirche einbringen. Schnier zeigt sich der gesellschaftlichen Realität nicht gewachsen und landet auf den Stufen des Bahnhofs der Bundeshauptstadt Bonn, deren „Treibhaus“ -Atmosphäre (so der gleichnamige Roman und die Diagnose von Wolfgang Koeppen 1953) das geistig-moralische Verdrängungsklima bestimmt.
Literarische Anfrage Die meisten Schriftsteller — von Martin Walserin „Halbzeit“ als „Jeder ein Tänzer. Unangewandt. Absolut wie Hölderlin“ beschrieben — befleißigen sich im Adenauer-Staat jener scheinbar wertfrei-unpolitischen Konfession, die das faschi23 stische Bewußtsein ersetzt hatte. Jedoch mehren sich angesichts einer fehlgelaufenen Entwicklung, die die Währung, nicht aber das Denken reformiert hat, die Unruhe und die Proteste der Autoren, die den Anspruch auf politische Mitsprache und Mitgestaltung der Gesellschaft anmelden — Gegenwartsbefragung und Geschichtsbewältigung setzen vehement zu Beginn der sechziger Jahre ein.
Repräsentativ hierfür stehen Hans Magnus Enzensberger, der in seinem zweiten Gedichtband „landessprache“ (1960) die geistige Armut inmitten der anrollenden „Edelfreßwelle“ beklagt: „Was habe ich hier; und was habe ich hier zu suchen, in dieser schlachtschüssel, diesem Schlaraffenland, wo es aufwärts geht, aber nicht vorwärts, wo der Überdruß ins bestickte hungertuch beißt, wo in den delikatessengeschäften die armut, kreidebleich, mit erstickter stimme aus dem schlagrahm röchelt und ruft:
es geht aufwärts!“, sowie Christian Geissler, der in seinem Roman „Anfrage“ (1960) in klarer, verständlicher Sprache eine Gesellschaft beschreibt, die ihre Probleme verdrängt, also nichts dazulernen will. Geisslers Hauptfigur, der wissenschaftliche Assistent Klaus Köhler, will erfahren, wer für die Katastrophe des Nationalsozialismus verantwortlich ist und warum sich in der bundesdeutschen Gegenwart der fünfziger Jahre kaum einer von den Betroffenen zu seiner Verantwortung bekennt (außer einem, der prompt für unzurechnungsfähig erklärt und in eine „Heilanstalt" eingeliefert wird). Die Frage nach der Schuld der deutschen Faschisten ist gestellt als „Anfrage“ der Söhne an die Väter, wird nicht mehr als abstrakte, struktur-oder schicksalsbedingte Kalamität der Geschichte begriffen, sondern personalisiert. Die Nazi-Verbrechen sind von einzelnen, identifizierbaren Personen begangene Untaten, folgerichtig fragt Christian Geissler nach der moralischen Verantwortung des einzelnen, um damit eine Besinnung und einen Verhaltenswandel herbeizuführen.
Köhlers „Anfrage“ ist jedoch nicht nur moralischer Natur, sondern auch höchst rational. Der Angriff, den Köhler gegen die Väter-Generation richtet, ist nicht nur ethisch, sondern in der Forderung nach Klarheit, vernünftiger Einsicht, richtigem Denken auch logisch motiviert. Der Leser kann sich der Herausforderung des Textes kaum entziehen, da die „Anfrage“ nach der Verantwortung des einzelnen sich direkt an den jeweiligen Leser richtet. Daher nimmt es nicht wunder, daß Geisslers Roman zwar großes Aufsehen in den Zeitungen erregt, ein starkes Interesse an Fakten bewirkt und die Diskussion um eine personalisierende Geschichtsbetrachtung anfacht, aber Anfang der Sechziger kaum gekauft wird. Allerdings entspricht es gerade der Logik des Buches von der Verdrängungsgesellschaft, wenn es ungelesen bleibt.
Das Absurde ist die Geschichte Das Problem, wie sich im Fortgang der Geschichte die Kraft des einzelnen zu den Kräften des Ganzen verhält, wieweit das Individuum seine Geschichte selbst bestimmt, ist auch ein Thema in Rolf Hochhuths Schauspiel „Der Stellvertreter“ — uraufgeführt am 20. März 1963 von der Freien Volksbühne Berlin unter der Regie Erwin Piscators —, das weltweite Diskussionen auslöst. Es kreist um die Frage, ob Papst Pius XIL, als Nuntius Eugenio Pacelli lange Jahre diplomatischer Vertreter des Vatikans in Deutschland, mit einer offenen Stellungnahme gegen die nazistischen Judenverfolgungen und ihre „Endlösung“ Millionen unschuldiger Menschen vor dem Tode hätte retten können, und die der Jesuitenpater Riccardo Fontana im Stück mit einem individuellen Akt der Selbstachtung beantwortet als Provokation der auf Ausgleich mit dem Faschismus bedachten päpstlichen Politik: Der Priester heftet sich selbst den Judenstern an und läßt sich mit einem Transport römischer Juden nach Auschwitz bringen.
Als erstes Stück nach 1945 zeitigt dieses „christliche Trauerspiel“ (Erwin Piscator) um Papst Pius XIL und seine Haltung zum millionenfachen Judenmord im Dritten Reich politische Wirkung: Das Schweigen des Theaterpublikums, aber auch politischer und kirchlicher Kreise nimmt ein Ende. Zwar hat auch schon Köpenickiaden-Spezialist Carl Zuckmayer 1961 ein Schauspiel über die Judenverfolgung in Deutschland geschrieben („Die Uhr schlägt eins“), doch gelingt erst Rolf Hochhuth (* 1931), bisher mit der Herausgabe einer Wilhelm-Busch-Gesamtausgabe erfolgreich, der Einbruch in eine „Welt des Schweigens, eines Schweigens, das leer ist, inhaltlos, nutzlos“ (Erwin Piscator).
In den weltweiten Kontroversen und Kritiken dominiert die politische Problematik vor künstlerischen Fragen wie dem Vorwurf der „unkünstlerischen Abschreibung der Wirklichkeit“. In seiner Antwort („Das Absurde ist die Geschichte“) auf eine Umfrage im Jahres-Sonderheft der Zeitschrift „Theater heute“: „Wie ist die heutige Welt auf dem Theater darzustellen?“ rechtfertigt Hochhuth 1963 die dokumentarische Geschichtsdramatik gegenüber dem modischen Absurden Theater: „Das Absurdeste, was es gibt* aber ist — nicht das absurde Theater, sondern, laut Goethe, die Geschichte. Er nannte sie voller Ekel einen , verworrenen Quark 1 und lehnte in höheren Jahren ab, sie überhaupt zu betrachten. Und wahrhaftig, ihre Wirklichkeit, die Bethlehemitische oder Nürnberger Kindermord-Gesetze immer wieder auf die Speisekarte des Tatmenschen setzt, läßt sich nicht steigern durch Verlagerung in eine absurde Welt. Ermächtigungsgesetz oder der Verkauf Alaskas, der 20. Juli oder der Verrat des Christentums an den Staat unter Konstantin, das war absurdes Welttheater... Es ist kein Spaß, sich jahrelang damit zu plagen, aus Diplomaten-Rotwelsch und Tagesbefehlen, aus medizinischen Folterprotokollen und aus den Selbstgesprächen der Hoffnungslosen selber eine Sprache, einen Rhythmus herauszumendeln, Dialoge, die stellen-weise dem stumpfsinnigen Vokabular der Faktenbewußt verhaftet bleiben und es ökonomisch einsetzen, ebenso wie das anheimelnde Platt im Munde eines Genickschuß-Spezialisten oder wie alttestamentliches Pathos im Munde eines Geschändeten ... Solche , Wirklichkeiten 1 wie das Gutachten eines britischen Luftmarschalls über den Effekt von Flächenbränden in Wohnquartieren; wie Stalins Dialog mit Sikorski über das hokuspokushafte Verschwinden von achttausend polnischen Offizieren; wie der Orgasmus der Wiener beim Einzug ihres Hitler 1938 — und ihre Ernüchterung: Sind das nicht Angstträume, Volksmärchen und Parabeln, schon als Rohmaterial so beklemmend wie alles, was wir bei Poe, Grimm und Kafka durchgeschwitzt haben?“
Antonin Artaud und Bertolt Brecht sind die Antipoden, neue Körperlichkeit und instrumentelle Vernunft die Positionen, Emotio und Ratio die Pole, zwischen denen das neue Theater der sechziger Jahre, das Living Theatre auf der einen, das Dokumentartheater auf der anderen Seite, seinen Weg sucht: „Zwischen Trance und Reflexion, zwischen Exorzismus und Verhaltensmodell, zwischen Ritual und gezieltem Engagement, zwischen Einmaligkeit und typischer Situation werden die Möglichkeiten, die menschliche Innen-und Außenwelt darzustellen, erprobt“ (Roland Kabelitz).
Keine Experimente Die allmählich herangewachsene Nachkriegsjugend vermag die Außenwelt ihrer Väter zwischen Quelle-Katalog und Fernsehsessel nicht mit ihrem Innenleben in Einklang zu bringen. Die im Kriege Geborenen pubertieren mit der Hippie-Bewegung im Rücken im Extremfalle zu Gammlern; sie wollen sich mit Eintritt in die Adoleszenz auch geistig etablieren, stellen Fragen, bald auch Forderungen und revoltieren endlich „gegen ein inhaltloses Leben, das bloß aus Reproduktion der Arbeitskraft besteht, ohne ein Ziel. Diese fehlende Zielhaftigkeit, die Mangelkrankheit an Sinn führen dazu, daß ein Zustand erreicht wird, der unmenschlich ist“ (Ernst Bloch).
Während die mit dem Emporkommen der Beatles um 1962 einsetzende, emotional betonte Jugend-revolte stärker auf die Herausbildung einer eigenen — über Aussehen, Kleidung, Musik, Wohnen, Rauchen, Lieben —, in den Alltag integrierten Gegenkultur abzielt, läuft die sich ab 1964 formierende Opposition des rationalistischen Studentenaufstands — die als eigentlicher Träger der „konkreten Utopie“ einer gesamtgesellschaftlichen Veränderung anzusehen ist — über die politische Aktion, zumeist als Diskussion, Information, Aufruf, Demonstration. Nun geht es nicht mehr nur um individuelle Selbstbefreiung, um Selbstverwirklichung, sondern zugleich um Veränderung der „bestehenden Macht-und Herrschaftsstruktur des Systems“ und um dessen Ablösung durch ein sozialistisch-syndikalistisches Gemeinwesen, so die Zielvorgabe von Rudi Dutschke, dem prominentesten Vertreter des „Sozialistischen Deutschen Studentenbundes 11 (SDS) und führenden Kopf der sogenannten „Außerparlamentarischen Opposition“ (APO), der nur knapp dem Tode entrinnt, nachdem ihn am 11. April 1968 ein Attentäter auf dem Berliner Kurfürstendamm mit Pistolenkugeln niedergestreckt hatte.
Das Attentat auf Rudi Dutschke, von dem dieser und die Studentenbewegung sich nicht mehr so recht erholen, markiert den tragischen und schokkierenden Kulminationspunkt einer gesellschaftskritischen Politisierungsphase, in welcher hauptsächlich die Studenten den Protest tragen gegen verkrustete Bürokratien und reformbedürftige Ausbildungsinstitutionen („Muff unter den Talaren“), gegen eine bankrotte Kultur („Die Kunst ist tot! Die Literatur ist tot! Verbrennt die Opernhäuser! Phantasie an die Macht! 11) und die doppelbödige Spießigkeit ihrer verdrängungsfreudigen und wohlstandssatten Väter. Diese mögen 1961 zwar nur noch halbherzig dem CDU-Wahlslogan „Keine Experimente!“ folgen (die CDU verliert die absolute Mehrheit und muß fortan mit der FDP koalieren), was Adenauer der mißlungenen CIA-Landungsaktion in der kubanischen Schweine-bucht, dem schwachen Widerstand der West-Alliierten gegen den Mauerbau in Berlin und obstruktiven Äußerungen von Franz-Josef Strauß über ein „Übergangskabinett Adenauer“ anlastet, bauen jedoch weiterhin ihre einförmigen Einfamilienhäuser mit Rundbögen, Glasbausteinen und Schmiedeeisen zu Bollwerken gegen den Kommu25 nismus aus. Gestartet vom „Nullpunkt“, nun mit Schlagbohrmaschinen („Metabo braucht der Mann!“) und Do-it-yourself-Methoden „gerüstet“ (das „Schießen“ überläßt man im Fernsehen dem Holländer Lou van Burg und seinem Nachfolger als „Showmaster“, dem Schweizer Hotelkellner Vico Torriani, im „Goldenen Schuß“), entspannen sie sich vom Wiederaufbau auf Mallorca oder in Rimini: „Arrivederci Hans“ klingt dem deutschen Mann im Ohr, dem die Italienerin als „rassige Exotin“ gilt (die mandeläugige Sophia Loren wird mehrmals zur beliebtesten „ausländischen“ Filmschauspielerin gewählt), während seine Frau an „Zwei kleine Italiener“ aus Napoli denkt. Ihre Wünsche können auch befriedigt werden: im Urlaub von den Papagalli, in den deutschen Landen von den Gastarbeitern, deren Millionster 1964 in Köln ein-und auf männliche Vorurteile trifft: „Sie sind feige, dreckig und geil. Sie pöbeln blonde Mädchen an und machen Jagd auf unsere Ehefrauen. Wer sich mit ihnen anlegt, bekommt ein Messer zwischen die Rippen. Sie haben nur Weiber, Vino und Spaghetti im Kopf*, protokolliert Günter Wallraff 1969 die Vorurteilslage der Nation „ganz unten“, assistiert von Rainer Werner Fassbinder, der mit seinem (auch verfilmten) Stück „Katzelmacher“ — uraufgeführt 1968 am Münchner „antitheater" — die dumpfe Welt der Vorurteile am Schicksal eines „Fremdarbeiters“ demonstriert.
Spaghetti hat allerdings auch der deutsche Mann im Kopf, denn schließlich betätigt er sich nach Fernsehvorbild als „Hobbykoch“ und präsentiert sich auf den in Mode gekommenen „Grillparties“ als weitgereister Kenner der mediterranen Küchen: Pizzaschnitten und Balkanspezialitäten sind ihm ebenso geläufig wie die neue Vielfalt der „Straßenkost“ mit Snackbars und Imbißstuben („Kenn’ ich doch aus Scheveningen!")
Der Müll, der Reichtum und die Zerstörung Die Frage der Müllabfuhr, des Beseitigens der Berge von Abfall, zu einem Zivilisationsproblem ersten Grades geworden, beginnt die Künstler zu beschäftigen.
Der Schweizer Daniel Spoerri dokumentiert die Absurdität der Überflußgesellschaft, indem er auf Tellern verbliebene Speisenreste mit Kunstharz-binder zu sogenannten „Fallenbildern“ fixiert und ihnen den Rang eines Konsum-Reliefs verleiht. Der Holländer Jan van Eck konserviert gar die exkrementalen Inhalte von Latrinengruben mit flüssigem Gießharz und spielt so auf die Tatsache an, daß Geld bzw. Gold „in den Träumen wie in den Mythen stets Symbol und Ersatz für die Exkremente sind“ (Roger Bastide), Ausgangspunkt aller psychoanalytischen Geld-Theorien. Die Assoziation von Geld und Analität kommt auch in der volkstümlichen Dichtung wie dem Märchen vom „Golddukaten scheißenden Esel“ und in täglichen Redensarten wie „nach Geld stinken“ zum Ausdruck.
In der psychoanalytischen Klinik kommt dem Kot oft Geldbedeutung zu, die genitale Kastrationsangst kann — nach Auffassung vieler Psychologen — über die „anale Verschiebung“ auf das Geld übertragen werden. Van Eck entschärft seine unappetitlich-diffizilen Hinweise auf den pathologischen Charakter der Geld-Gesellschaft mit dem Titel „Jukebox“, „Musikautomaten" -Kunst.
Der Franzose Arman füllt in den sechziger Jahren gläserne Schreine mit dem Inhalt von Abfalleimern und nennt sie „Poubelles“ (Müllkästen). Ergebnis der Drecksarbeit sind Zufalls-Objekte von sprödem Charme, die sich zwischen Spoerris Eat-Art und van Ecks Fäkalkunst bewegen.
Mit seinen Abfall-„Behältern“ hatte Arman lange Zeit Schwierigkeiten: „Ich versuchte, einfach alles in die Kästen hineinzutopfen“, erinnert sich der Franzose an die ersten Versuche. „Aber ich erkannte rasch, daß etwa Essensreste verfaulen und das ganze Stück zerstören würden. Ich sortierte deshalb alles leicht Verderbliche aus — daher sind die ersten Stücke eigentlich gar nicht vollständig.“ Erst später findet er in New York mit dem Gießharz den rechten Konservierungsstoff, mit dem er den kompletten Kübel-Inhalt überzieht: „Da in der absolut luftdichten Umhüllung nichts vermodern konnte, blieb alles erhalten — vom Hähnchen bis zum Hummer.“
Mit „Junk Art“, mit Abfall-Kunst, beschäftigt sich auch der Wegbereiter der amerikanischen Pop Art, der auch als Bühnen-und Kostümbildner, Choreograph, Photograph und Stückeschreiber hervorgetretene Texaner Robert Rauschenberg (* 1925). Er macht seit 1955 mit sogenannten „Combine paintings“ auf sich aufmerksam, der Verbindung von Malerei mit fragmentarischen Realien aus dem großstädtischen Leben und Abfall. Sein bekanntestes „Combine“ mit dem Titel „Monogramm“, entstanden 1955— 1959, befindet sich heute im Moderna Museet in Stockholm: eine bemalte und mit rostigen Schildern collagierte Eisenplatte, auf der eine ausgestopfte und gutgekämmte Angoraziege mit einem alten Autoreifen um den zottigen Bauch steht, deren Gesicht mit Farbe grell-mimisch , akzentuiert’ ist. Rauschen-berg lehnt jede Art Malerei ab, die, auf welche Weise auch immer, etwas vortäuscht: „Ich will nicht, daß ein Bild wie etwas aussieht, was es nicht ist. Und ich bin der Meinung, daß ein Bild wirkliB eher ist, wenn es aus Teilen der Wirklichkeit gemacht ist.“
Den müllkundigen Künstlern entgeht nicht die Umstellung der Eßgewohnheiten in den Sechzigern vom frischen Hähnchen zum tiefgefrorenen, vom Frischobst zum Konservenobst — man gewöhnte sich gerade an Fertiggerichte in Dosen und an plastikfolienverpackte Tiefkühlkost —, die ein international uniformes Abfall-Bild ergeben: „Früher hatten Länder ihren charakteristischen Abfall,“ klagt Arman, „heute ist der Abfall überall derselbe.“
Arman, bürgerlicher Name: Armand Fernandez (* 1928), dokumentiert nicht nur das Wegwerfprinzip der westlichen Nachkriegsgesellschaft, sondern persifliert auch deren „Akkumulationsprinzip“ in „Akkumulationen", Anhäufungen und Multiplizierungen von gesammelten Gegenständen des täglichen Gebrauchs. Äxte, Hämmer, Milchkannen, blecherne Ansteckknöpfe, und immer wieder Zahnräder sowie Farbtuben — kaum ein Objekt, das über die Jahre dem künstlerischen Zugriff Armans entgeht. Diese Gegenstände verstaut er — stets ein Sortiment der jeweils gleichen Art — in Plexiglaskästen, schichtet sie zu Stapeln oder schließt sie mit Polyesterharz zu einer transparenten Plastik ein. Da die Akkumulation, die Ansammlung von Reichtum, aus psychoanalytischer Sicht nur eine Ersatzhandlung für libidinöse unmittelbare Befriedigung, das heißt Triebaufschub und Triebverzicht darstellt, kann sich dies als neurotisierender Konflikt im Destruktionstrieb entladen.
Genau dies führt Arman vor, wenn er Objekte wie Kaffeemühlen, Schreibmaschinen und Uhren zertrümmert, vor allem aber Violinen zersägt und zertrampelt („Colöres“), deren Trümmer er auf Holzplatten oder freischwebend im Raum arrangiert. Auch der Schweizer Maschinenkünstler Jean Tinguely, der sich schon als Jugendlicher dem Diktat der Zeit und der vom Vater besorgten Arbeit in einem Warenhaus entzog, indem er eines Tages die Stempeluhr aus der Verankerung riß und sie auf dem Boden zertrümmerte, bemüht sich um eine Ästhetik der Destruktion.
Er verdeutlicht mit destruktiver Geste seine Erfahrungen als Dekorateur-Lehrling in einem Kaufhaus — „Ich lernte das Temporäre kennen, die Tatsache, daß alles vergänglich sein kann. Ich richtete eine Auslage ein, um sie 14 Tage später wieder auszuräumen und durch eine andere zu ersetzen“ —, als er 1969 das Maschinen-Ungetüm „Rotozaza III“ im Schaufenster des Berner Kaufhauses Loeb aufstellt. In wenigen Tagen zerschlägt die acht Meter lange und methodisch arbeitende Maschine vor den Augen der vorbeiwandernden Käufer 12 000 Teller.
Höhepunkt in Tinguelys ironischem Protest gegen das Leistungsprinzip der Industriegesellschaft ist seine sich selbst zerstörende Skulptur „La Vittoria“: Der vergoldete Riesenphallus, 1970 auf dem Mailänder Domplatz aufgerichtet, wird programmgemäß entzündet, sackt brennend in sich zusammen und zerfällt zu Asche.
Musikalische Müll-Skulpturen Für seine wenig stillen „musikalischen Müll-Skulpturen“ bekannt wird das entfesselte Musik-Theater der kalifornischen Beat-Gang „The Mothers of Invention“, in Deutschland erstmals 1968 im Rahmen einer Europatournee bei den Essener Songtagen dargeboten. Die männlichen „Mothers“ bewerfen zu Beginn eines jeden Konzerts das Auditorium mit faulen Eiern und Tomaten, um sich daraufhin an einer Giraffe zu vergreifen. Das mannshohe Plüschtier bekleckert schließlich das Publikum mit Schlagsahne.
Mit Greueltaten wie dem Massaker von Baby-Puppen („Nun zeigt uns mal, wie wir’s mit den Congs in Vietnam machen“), obszönen Akten und chaotischer Musik versuchen die subversiven Botschafter der US-Gegenkultur ein „Panorama des amerikanischen Lebens“ zu entwerfen, so der Band-Leader Frank Zappa (* 1941), der sich mit Vorliebe auf dem Klosett photographieren läßt, aber angeblich (trotz des selbstbekennerischen Schallplattentitels „We’re only in it for the money“: „Wir sind nur wegen des Geldes dabei“) ein lauteres Ziel verfolgt: Das Schreckbild soll die Jugendlichen „aus jenem politischen Schlaf scheuchen“, in den sie — nach Zappas Ansicht — die Konsum-und Unterhaltungsindustrie eingelullt hat.
„Kein Akkord“, so erklärt der Pop-Ideologe seinen anarchistischen Aufstand, „ist häßlich genug, all die Scheußlichkeiten zu kommentieren, die von der Regierung in unserem Namen verübt werden.“ Deshalb attackiert die „radikalste und unterhaltsamste Rock-Gruppe der USA“ („Newsweek“) die Great Society und die formierte Gesellschaft mit elektronisch erzeugten Kreischtönen, wirren Geräuschcollagen und verzerrten Tonbandaufnahmen, — und dies überwiegend in einer Phonstärke jenseits der Schmerzschwelle.
Die „Mütter“ adaptieren Kompositionen von Edgar Varese und John Cage, improvisieren Free-Jazz-Chorusse und parodieren sogar den Beat der für Aussöhnung, Erfolg, Freude und Liebe singenden „Beatles" und der für Protest, Auflehnung, lasziven Sex, Brutalität und Genuß stehenden „Rolling Stones“, die 1965 mit „Satisfaction“ nach England den Rest der Welt erobern. Die Stones gelten vielen als Vorboten der Revolution oder zumindest als „Straßenkämpfer für die neue Sensibilität“ (David Dalton), der Drogenpapst Timothy Leary erklärt die Beatles zu von Gott gesandten Evangelisten, „ausgestattet mit einer mysteriösen Macht, um eine neue menschliche Art zu schaffen, eine junge Rasse von lachenden freien Menschen“. John Lennon, der intellektuelle Kopf der Beatles, wehrt sich „gegen die Unterstellung, daß die Stones Revolutionäre sind und die Beatles waren’s nicht. Wenn es die Stones waren und sind, waren’s die Beatles erst recht. Sie sind nicht in derselben Klasse, weder in der Musik, noch in bezug auf die Macht, waren es nie.“
Auch in der Haltung beider Gruppen zur „Revolution“ herrschen trotz der antagonistischen Images („good boys“ versus „bad boys“) keine wesentlichen Unterschiede. So differenzieren die „guten“ Beatles (die immerhin mit ihrer Produktionsfirma „Apple“ trotz der Beschimpfung durch Nikita Chruschtschow als kapitalistisch-dekadente „Sumpfblüten“ und „Neandertaler“ eine „Form von westlichem Kommunismus“ errichten wollten, der freilich — wie bei derartigen Versuchen üblich und ohne den 1967 verstorbenen Manager Brian Epstein — in einem wirtschaftlichen Desaster endete) in ihrem Song „Revolution“ (196S): „You teil me it’s the Institution Well, you know You better free your mind instead .. . But when you talk about destruction Don’t you know that you can count me out“ („in“ heißt es in einer zweiten Version).
Demgegenüber beginnen die „bösen“ Stones zwar revolutionär im Sinne Rudi Dutschkes:
„Everywhere I hear the sound of marching, charging feet, oh boy , Cause summer’s here and the time is right for fighting in the Street“, doch entpuppt sich die vermeintliche Revolutionshymne vom „Street fighting man“ (1968)
überraschend als sommerlich fatalistischer Straßenzustandsbericht und als konventioneller „My home is my castle“ -Song:
„But what can a poor boy do Except to sing for a rock’n roll band , Cause in sleepy London town there’s just no place for a Street fighting man ...“.
Der Song endet mit der braven Rückkehr zur britischen parlamentarischen Demokratie: „But where I live the game to play is compromise Solution“, singt der androgyne Narziß Mick Jagger, Texter der Stones, ehemals Student der London School of Economics, dem Texte wie „I can’t get no satisfaction" und „Let’s spend the night together“ glatter über die sinnlich schwülstigen Lippen schlüpfen. „Ich singe nicht von Revolution“, betont Jagger 1970 nachdrücklich in einem „SPIEGEL“ -Interview, während Jean-Luc Godard, der mit den Stones seinen Film „One plus One“ gedreht hat, befindet: „Was dort erklingt, könnte der Beginn einer Revolution sein.“ Und auch die Fans entdecken im größten Stones-Hit „Satisfaction“ die „Aufforderung an jeden einzelnen, nicht länger mitzumachen, sich nicht länger einzuordnen, unterzuordnen, sich nicht länger die Befriedigungen zu versagen, deren Erfüllung doch längst schon möglich geworden ist“ („DIE ZEIT“).
Doch „Revolution nein — Spontaneität ja“, erklärt Mick Jagger im „SPIEGEL“ und sinniert: „Diese Musik gehört zu den wenigen Dingen, die die Jugend in aller Welt verbindet. Wenn ich nur an mich selbst und an meine Jugend denke — an das Zusammenleben mit meinen Eltern, an die Pläne, die ich hatte, die Dinge, die ich tun wollte, an meine Enttäuschungen in einer Gesellschaft ohne Mitspracherecht... Der einzelne fühlt sich durch alles frustriert, weil er sich nicht organisieren kann. Wir versuchen, unserem Publikum vor-zumachen, wie man sich selbst befreit.“
Wortbeat-Theater Gegenüber den Beatles und Rolling Stones hegt der US-Anarchist Frank Zappa mit seiner gezielten „elektronischen Sozialarbeit“ konkrete Hoffnungen: „Wenn wir mit unseren Texten eine Million Leute erreichen, werden vielleicht 500 aktiv, und sie könnten wie Dynamit sein.“ Aktiviert werden zunächst die leitenden Herren der Plattengesellschaft MGM, die die erste „Mothers of Invention“ -Platte mit dem Titel „Freak out“ für 21. 000 Dollar produziert hatten. Sie fühlen sich vom bösartigen „Mutterwitz“ der Gruppe „in ihrer Ehre verletzt“. Tontechniker müssen die schärfsten Anti-Establishment-Passagen an mehreren Stellen durch Frequenz-Manipulationen unverständlich machen, außerdem wird untersagt, die Texte auf der Plattentasche abzudrucken. Die zweifellos geschäftsfördernde Tonwiedergabe eines Beischlafs wird dagegen von MGM als nicht störend empfunden.
Doch trotz all dieser Zensurmaßnahmen muten gegen den (auf dem Index der angelsächsischen Sender stehenden) schrillen „Mütter“ -Laut die Beatles-und Stones-Songs wie Ovationen auf die Royal Family an und die Protestlieder von Bob Dylan und Joan Baez wie Huldigungsgesänge auf das Weiße Haus. In stundenlangen „UntergrundOratorien“ wie in kurzweiligen Mini-Kompositio28 nen von bisweilen nur 90 Sekunden Dauer verherrlicht der Texter und Komponist Frank Zappa den Sex mit Minderjährigen, demütigt die Bürger als „Plastic People“, als Stehaufmännchen und als Stimmvieh bei den Parlamentswahlen, und widmet dem US-Präsidenten eine zynische Hymne: „Bürger Amerikas! Dem Präsidenten ist schlecht geworden. Dot, dot, dot. Ich glaube, seine Alte bringt ihm grad ’ne Hühnersuppe. Ich weiß, es ist schwer, eine unpopuläre Politik von Mal zu Mal zu verteidigen. Ihr Stehaufmännchen, ihr kotzt mich an ..
„Ihr Griesgrämer, ihr Schleimscheißer, ihr geistiges Proletariat, ihr Protze, ihr Niemande, ihr Dingsda!“ — mit diesen Verbalinjurien erfährt Zappas Mütter-Sprache ihre „Eindeutschung“ in der 1966 in Frankfurt am Main unter der Regie von Claus Peymann uraufgeführten „Publikumsbeschimpfung“ (Rederei für vier Sprecher) im „Wortbeat“ -Theater von Peter Handke (* 1942), das den Namen des Kärntner Priesterzöglings über Nacht berühmt macht. Zum ersten Mal tritt jemand auf die Bühne, der nichts Außergewöhnliches verspricht, sondern das Alltägliche: „Sie werden hier nichts hören, was Sie nicht schon gehört haben. Sie werden hier nichts sehen, was Sie nicht schon gesehen haben ... Diese Bretter bedeuten keine Welt, sie gehören zur Welt. *'
Handkes „Wortbeat“ hat keine „Handlung“, braucht keine Bühnenbilder, keine Requisiten, der Autor entwickelt Aktion aus der Sprache: „Die Sprechstücke sind Schauspiele ohne Bilder, insofern, als sie kein Bild von der Welt geben.“ Wie Arman und Frank Zappa mit ihrer ironischen Darbietung und Imitation der oberflächlichen Konsum-und Unterhaltungsgesellschaft zielt auch Handke auf eine Bewußtseinssensibilisierung: Mit seinen Sprechstücken will er „nicht revolutionieren, sondern aufmerksam machen“.
Die herkömmliche Spielart des Theaters — dem Handke Tauglichkeit zur Schärfung des Bewußtseins zugesteht, aber nicht „zur unmittelbaren Änderung von Zuständen: Es ist selber ein Zustand“ — bezeichnet der „Rederei-Schreiber“ als „Theatertheater“ im Gegensatz zu dem in den sechziger Jahren aufkommenden Straßentheater und zu den Happenings (Ereignissen) des Alltags wie dem — so Handke — „Kirchentheater“, dem „Hörsaaltheater“ und dem „Kaufhaustheater“.
Handkes schnell populäres, tiradisches Theater bewirkt in den sechziger Jahren eine neue Einstellung zum Verhältnis von Wirklichkeit und Sprache. Es bricht der Sprachkritik, dem „linguistischen Relativitätsprinzip“ (Benjamin Lee Whorf), auf breiter Ebene Bahn, indem es Begriffshülsen und gewohnheitsmäßig verwendete Alltags-Metaphern als stupide, hohl und leer entlarvt und so zu einer sensibleren Empfänglichkeit und Handhabung von Sprache und Gesten verhilft. In dem ebenfalls 1966 uraufgeführten Sprechstück „Selbstbezichtigung“ beschreibtn zwei Sprecher in Allerweltsworten eine Allerweltsentwicklung: „Ich bin auf die Welt gekommen. Ich bin gezeugt worden. Ich bin entstanden. Ich bin gewachsen.“ Daraufhin klagen sie sich der Allerweltssünden an: „Ich habe über Tote nichts Gutes gesprochen. Ich habe Abwesenden Übles nachgesagt. Ich habe gesprochen, ohne gefragt zu sein.“ Sie wechseln Tempo, Modulation, Positionen, verstümmeln, vervollständigen einander ihre Sätze. Mit der Beteuerung „Ich werde es nie wieder tun“ enden die Tiraden.
In Stockholm werden 1967 Handkes „Hilferufe“ uraufgeführt, eine Folge von Redensarten, Bekanntmachungen, Behauptungen und Zitaten, die jeweils mit „Nein“ beantwortet werden und einmünden in den Chor „Freiheit für Nein!“ und den Ruf „Die Erde erdröhnt von Metaphern — Hilfe!“ Dem Theaterbesucher wird das Recht auf Negation nahe gelegt, aber zugleich überantwortet, nicht in der Ablehnung zu verharren, sondern konkrete (Sprach-) Abhilfe zu schaffen. Von der Kritik wird Handkes Psychologie des Alltagslebens, die Erörterung der Gebundenheit des Menschen an Sprache und Gesten und die sich darin ausdrückende Suche des Autors nach „einer bewohnbaren Sprache in einer bewohnbaren Welt“ (Heinrich Böll), als „Neuer Realismus“ bezeichnet.
Neuer Realismus Die provokative Orientierung der bildenden und darstellenden Kunst und der Beatmusik in den sechziger Jahren auf den (auch sprachlichen und psychosozialen) „Zivilisations-Müll“ und auf „Ästhetisierung der Destruktion“ — mit der sich neben Arman und Tinguely auch Jacques de la Villegle und Mimmo Rotella mit Plakatabrissen und -zerfetzungen hervortun und um die sich auf der Rock-Bühne neben Zappa die gitarrenzertrümmernde englische Band „The Who“ und vor allem der farbige Gitarrenvirtuose Jimi Hendrix bemühen, der zum von Atomexplosionen und Weltuntergang kündenden Gitarrengeheul die Saiten mit den Zähnen anreißt, mit der Zunge über den Steg fährt, die Gitarre auf den Boden schleudert, darauf herumtrampelt, sie in Stücke schlägt oder auf offener Bühne in Brand steckt, um seine destruktive Bühnenschau zu illuminieren, die amerikanischen Frauenvereinen als „obszön“ gilt und laut Londoner „Observer“ „die Gewalttätigkeit und den Zorn einer ganzen Generation“ spiegelt —, diese Ausrichtung der Kunst stellt einen Akt der irritierenden Störung, der Beschmutzung, der Zivilisationskritik dar, welcher die Immanenz des All-29 tags in ihrer Dringlichkeit und Ereignishaftigkeit aufbricht. Diese Kritik, die hier als „zeitadäquates Bewußtsein“ an die Oberfläche drängt, ist im weitesten Sinne Ausdruck eines „neuen Realismus“, eines neuen, bewußteren Verhältnisses zu einer gedankenlosen, phantasie-und sinnarmen Unterhaltungs-und Konsumgesellschaft. Dieser „neue Realismus“ erweist sich als Kunst einer eingreifenden ästhetischen Praxis, indem er den „Bruch zwischen Alltäglichem und nicht Alltäglichem“ (Henri Lefebvre) bewußt macht. Diesen Bruch in einer veränderten Lebensweise zu überbrücken, wird dem Betrachter/Zuhörer überantwortet. Der neue Realismus in der zeitgenössischen Kunst setzt sich mit seiner intellektuell-französischen Spielart, dem „Nouveau Realisme“, und mit seiner auf die Reklamewelt und die Massenmedien ausgerichteten anglo-amerikanischen Variante, der Pop Art, endgültig durch auf der 4. documenta 1968 in Kassel, wo „vor allem das plötzliche Verlangen nach Elementen der Realität“ auffällt, „das die internationale (westliche) Kunstszene in den , roaring Sixties’ als wichtigster gemeinsamer Zug beherrscht“ (Michael Neu-mann). Zu den Kasseler Objekten, die besonders ins Auge fallen, zählt auch der „Große amerikanische Akt No. 98“, ein fünfteiliges, raumgestaffeltes Objekt aus ölbemalten Leinwänden (250 x 380 x 130 cm) des New Yorker Popmalers Tom Wesselmann, der in perfekter, leuchtender Popfarben-Glätte alltägliche Dinge wie Reinigungstücher, eine Orange und eine Zigarette in einem Nachttischaschenbecher in die Symbolsphäre der Kunst erhebt und zugleich einen profanen Sexualakt dokumentiert: „Ein Mädchenkopf mit geöffnetem rotem Mund, ein aufrecht stehender Busen, eine gewaltige Frucht und dann ein phallischer Finger, der eine überdimensionale Zigarette ausdrückt. Orgasmus und Zigarette bilden ein monumentales Ensemble“ — derlei Zusammenhänge wissen in den sechziger Jahren auch geistliche Betrachter wie der Jesuitenpater Herbert Schade herzustellen, nachdem der wiedergelesene Kettenraucher Sigmund Freud in einem Kapitel über die Träume der Frauen „Messer und Zigarette als Penissymbole“ in die wissenschaftliche Literatur eingeführt hatte.
Gelegentlich entsprechen allerdings die Motive, aus denen das Publikum die Pop Art akzeptiert, nicht gerade dem, was die Künstler wollen, wie Wesselmann klagt: „Einige der fürchterlichsten Dinge, die über die Pop Art gesagt wurden, kamen von ihren Bewunderern. Für sie sind Marilyn Monroe und Coca Cola wirklich Idole.“
Fakten ohne Kunst Die neue Gegenständlichkeit, wie sie in den Bildern und Objekten der Pop-Artisten erscheinen mag, ist nur scheinbar naiv: Ihre Naivität ist vermittelt, eine paradoxale Erscheinung, die zumWesen der Pop Art gehört. Ihre Gegenstände sind ja nicht: Entdeckungen, Innovationen, plane Mitteilungen — sondern: Reproduktionen, Darstellungen von Objekten der Plakatwelt, des Konsums, der Kommunikation, des täglichen Gebrauchs. Die Pop Art kritisiert nicht offen die Banalität der Umwelt und des zeitgenössischen „Way of Life“, sie bringt sie vielmehr durch einfache Abschilderung zur Erscheinung. Die Kitschfarben eines Kinoplakats, die grellbunte Reklame für eine tätowierte Dame, ein an die Wand geheftetes Plakat, die vervielfältigte Mona Lisa auf der Briefmarke, auf dem T-Shirt oder am Straßenrand, Toulouse-Lautrecs Aristide Bruant auf der Likörflasche, der Besenstiel in der Rumpelkammer, das Konfektionslächeln der Cover-Girls und Fernsehansager(innen), die hinfällige Kunststoffherrlichkeit der zusammenklappbaren Duschkabine für die Mansardenwohnung: Man ist in den Sechzigern von ihnen umstellt, ohne sie noch richtig wahrzunehmen. Pop Art hebt sie ins Bewußtsein, unternimmt es, die Realität schon als vorgeformt, als artifiziell, industriell erzeugt zu Bewußtsein zu bringen, das sich wieder in einem Kontext mit der Gesellschaft erkennen kann.
Warhols Bilder-Sequenz auf ein Porträt von Marilyn Monroe macht den Star als manipuliertes und manipulierbares industrielles Produkt deutlich, als Phantasie setzende Information, als Wirklichkeit aus zweiter Hand, als für die Gesellschaft produzierte Bewußtseinspartikel. Allein die Klischees scheinen noch Vertrauen zu verdienen, weil sie — anders als unverbindliche Abstraktionen von Ideen — gesellschaftliches Bewußtsein transportieren, das an die Stelle von Ideen schon die Bilder von Ideen gesetzt hat.
Pop Art spiegelt die westliche Zivilisationskrise, die — ins Gigantische übersetzt — in Amerika kulminiert: Im Babyrosa-Optimismus von Disneyland, im Monumentalkitsch der Weltausstellung 1964 in New York, in der krebsartig wuchernden Selbstvernichtung der zubetonierten Angestellten-Städte, die von innen her sterben, in der perversen Sucht nach Sozialprestige, die von einer perfektionierten Werbung skrupellos ausgenutzt wird („Das Leben ist nur ein Cadillac nach dem anderen“ heißt es es bei General Motors), in der Verniedlichung des Todes, der von einer florierenden Bestattungsindustrie als letzte große Show inszeniert wird: der Tod wird durch Über-schminken verschönt und sozusagen als „freudiges Ereignis“ für die Überlebenden interpretiert. Bis zu dieser „Endstation Sehnsucht“ lebt man den Verlockungen der Wohlstandsgesellschaft und begnügt sich mit einem Leben aus zweiter Hand, mit Ersatzgefühlen und Ersatzerlebnissen: „Wer fotografiert, lebt doppelt!“ Warhols Fließband-Mona Lisa stellt nicht Leonardo da Vinci in Frage, sondern die Zivilisation, die sich seiner durch Mißbrauch der Gioconda für Reklame-zwecke bedient.
Street Art Für mehrere Jahre erblickt man das künstlerisch Bedeutende nicht mehr in den Werken, sondern in einer Kunst, die Aktion, Prozeß, Teil des Lebens ist: „Das Theater ist das Ereignis auf der Straße“ (Wolf Vostell). Ein Traditionsstrang dieses Denkens führt zur „Street Art“ in die USA, 1930— 1933 unter mexikanischem Einfluß begonnenen Hauswandmalereien mit meist sozialkritischem Inhalt. Kunst soll in den Sechzigern Bestandteil der Emanzipation werden in dem Sinne, wie auch die während der Pariser Studentenunruhen auf die altehrwürdigen Mauern der Sorbonne und des Odeontheaters geschmierten, beschwörenden Wandsprüche „L’art est mort, ne consommez pas son cadavre“, „L’art est mort, liberons notre vie quotidienne", „L’art est une nevrose academique“, „L’art c’est de la merde“ symbolischer Ausdruck einer (kultur-) revolutionären Situation sind, nämlich der provokatorischen Besetzung bestimmter Orte. Diese Situation ist ihrerseits wiederum nur symbolischer Ausdruck einer realen Inbesitznahme — der künstlerische (Graffiti-) Akt stellt als gesellschaftliche Tabuverletzung eine potentiell politische Handlung dar, die der Reflexion das Tor öffnen soll. Ohne schon neue politische Formen anzubieten, liegt die Botschaft des (Graffiti-) Kunstwerks im Verweis auf die politische Einlösung des in subjektiver Regung und mit persönlicher Befriedigung gesetzten (gepinselten/gemalten) Versprechens einer konkreten gesellschaftlichen Befriedigung, gesellschaftlichen Veränderung. Soweit das Selbstverständnis der rebellierenden Studenten.
Das Kunstwerk, das soziologische Spruch-Experiment an der Wand, kann also nur sein: die Forderung nach der Möglichkeit von Ausdruck, der Verweis auf Einzulösendes — „Liberez l’expression!“, „Liberez les passions!“, „Creativite, spontaneite, vie!“, „L'imagination au pouvoir!“. Kunst soll Hunger auf unmittelbare Erfahrung stillen. Beurteilungskriterium eines Kunstwerks ist nunmehr die „Tendenz zur Sozialisierung von Bedürfnissen und ihrer Befriedigung, von Interessen und ihrer Wahrnehmung; die Perspektive auf die Überführung irrationalen Protestes in rationale Veränderung“ (Karl Markus Michel).
Der Ruf nach der Abschaffung einer toten, geschichtlich überkommenen Kultur gehört in die Nachfolge des Dadaismus, des Surrealismus, der Neuen Sachlichkeit der zwanziger Jahre und mancher noch früheren künstlerischen Ismen und Zeugnisse. Er gehört insgesamt zu einer Kultur, die sich selber seit langem als ständige Revolutionierung wahrnimmt, die sich zunächst innerhalb der Kultur ausdrückt, nunmehr, in den Sechzigern, aber auf allen Bereichen als Revolution verwirklichen will.
Die Taktik einer gesellschaftskritisch-realistischen, künstlerisch-intellektuellen Opposition besteht in einer Technik der begrenzten Regelverletzungen, in einer Mischung von Eulenspiegelei wie der negativen Affirmation der Pop Art (outrierte Zustimmung als schärfste Kritik) und Kampf, entlarvender Provokation und „Aktion“ (Assemblage, Environment, Happening, Straßenaufmarsch, Parolen-Pinselei, Sit-in, Teach-in, Go-in, Theatralisierung, Verfilmung) — durchweg Protestformen der „passiven Gewalt“, über die Jürgen Habermas notiert: „Sieführen zu heftigen Abwehr-reaktionen, aber auch zu dem heilsamen Schock, der ein erstauntes Nachdenken über Routinen und über unsere routinierten Verdrängungen provoziert. “
Die durchdachte, systematische Störung (Verletzung, Durchbrechung) der bürgerlichen Spielregeln durch „Überspielen“ (so der schöne Begriff von Hans Magnus Enzensberger) kann man durchaus als handlungsanleitende Spieltheorie begreifen, Alternativräume des Soziallebens wahrzunehmen und zu verwirklichen. Die positiven Funktionen des Spiels sind: der emotionale Aspekt, bei dem Bedürfnisse nach Spannung und Abwechslung befriedigt, Erfahrungen und Ereignisse verarbeitet und Erlebnisse und Gefühle bewältigt werden; der körperlich-sinnliche Aspekt, der sich durch Neugierverhalten, das Erproben körperlicher Kräfte und das Erfahren sinnlichen Vergnügens, durch das Gefühl persönlicher Befriedigung ausdrückt; der kognitive Aspekt, der es ermöglicht, spielerisch Wissen und Können zu erweitern und Phantasie und kreatives Denkvermögen zu entfalten (das studentische Teach-in); und der soziale Aspekt, der sich darin äußert, daß soziale Konflikte bewältigt und andere Verhaltensweisen erprobt werden („Tendenz zur Sozialisierung“ des spielerisch-experimentell Erprobten und Erkannten).
Das beachtliche Präludium zu den weiterreichenden Ereignissen von 1967 und 1968 bilden die Schwabinger Krawalle vom Juni 1962, als die bundesrepublikanische Obrigkeit auf die Herausforderung durch renitenten Beat-Protest und neue Gesellungsformen Jugendlicher auf der Straße reagiert, wie bisher noch jede deutsche Obrigkeit auf eine Herausforderung von unten reagiert hatte: mit dem Knüppel (erst Ende der sechziger Jahre schlägt sich die Erfahrung, daß Straßen in der Demokratie mehr sind als bloße Verkehrswege, in der Errichtung städtischer „Fußgängerzonen“ nieder).
In Münchens Künstler-und Studentenviertel Schwabing bringen zwei Rock’n Roll klimpernde Straßengitarristen deutsche Ordnungshüter so in Rage, daß diese die musizierenden Unruhestifter erst verhaften und dann mit Gummiknüppeln gegen alle vorgehen, die diese Verhaftung nicht schweigend hinnehmen wollen. Der nichtige Anlaß führt zu tagelangen Straßenschlachten. Die Zeitungen sind voll von empörten Berichten über den gewalttätigen Großeinsatz, bei dem sich Polizisten als „uniformierte Rabauken“ entpuppen, die wie „Schlägerkommandos“ gegen protestierende Bürger vorgehen.
Große Beunruhigung, weil erschrockene Erinnerung an gerade erst überstandene Terrorzeiten, löst das Urteil eines Münchner Gerichts aus, mit dem ein Demonstrant, der das brutale Vorgehen der Polizei mit Pfui-Rufen kommentiert hatte, zu sechs Monaten Gefängnis (mit Bewährung) verurteilt wird. In der Begründung heißt es: „Der Bürger hat nicht das Recht, öffentlich seiner Empörung Ausdruck zu geben, wenn sich ein Polizeibeamter rechtswidrig verhält. Das bloße Pfui-Rufen und der Gebrauch von Ausdrücken wie Polizeistaat ist bereits rechtswidrig .. Solche Urteile, die in krassem Widerspruch zu den im Grundgesetz der Bundesrepublik garantierten Bürgerrechten wie Meinungs-und Versammlungsfreiheit stehen, politisieren im Sommer 1962 selbst viele von denen, die wenige Jahre zuvor das Verbot der KPD und die erneute Kriminalisierung der Kommunisten noch schweigend gutgeheißen hatten, und bringen im Herbst 1962 die politisch Sensibilisierten für die inhaftierten Spiegelredakteure Conrad Ahlers und Rudolf Augstein auf die Straße.
Die Gründe und Motivefür den Aufstand der westlichen Jugend gegen die autoritäre Welt ihrer Väter sind zahlreich: Ohnmacht gegenüber einem Staat, der Ordnung schaffen will, wo Demokratisierung vonnöten ist. Politisches Engagement, das zu verwirklichen trachtet, was die Hochschulen selber nicht zustande bringen. Kampf um Reformen, Protest aus Einsicht, Lust am Happening, neurotischer Druck und revolutionäre Entschlossenheit. Wo das eine in das andere umschlägt, das eine das andere aufhebt oder bedingt, ist ebenso schwer zu eruieren wie die fließende Kontur der Gruppierungen der sogenannten „Außerparlamentarischen Opposition“: „Diese Gruppierungen reichen von einer prinzipiellen Opposition, die auf die Abschaffung des Regierungssystems überhaupt dringt, bis zu einer loyalen Opposition, die sich um die Profilierung akuter, durch Meinungs-und Parteienkartelle allerdings verdeckter Konflikte bemüht“ (Jens Litten).
Zur APO rechnen sich manche Liberale und Anarchisten, manche Sozialdemokraten, linke Gewerkschafter sowie Marxisten aller Schattierungen. IVas sie zusammenbringt, ist der Wille zur geistig-politischen Veränderung und das Aufbegehren gegen Remilitarisierung und Atombewaffnung (1960 erste bundesdeutsche Ostermärsche), gegen Pressezensur und Pressemißbrauch (1962 „SPIEGEL“ -Affäre, 1968 Anti-Springer-Kampagne), gegen eine verfehlte Wiedervereinigungsund isolative Ostpolitik, gegen das unnötige, demokratieinadäquate Zweckbündnis der Großen Koalition von CDU und SPD zwischen 1966 und 1969, gegen Notstandsverfassung und -gesetze (1968), gegen den Vietnamkrieg und gegen die Rassendiskriminierung in den USA und in Südafrika. Radikale und treibende Kraft der APO und der deutschen Studentenbewegung ist der „Sozialistische Deutsche Studentenbund“, ausgerichtet an der Kritischen Theorie der philosophischen „Frankfurter Schule“ zwischen Marx und Freud, mit dem Ziel einer „Revolutionierung der Revolutionäre“ bis in die privatesten Bereiche der familiären Beziehungen und der Kindererziehung hinein („Totalisierung der Politik“) als „Voraussetzung der Revolutionierung der Massen“ (Rudi Dutschke). Vorbilder sind Befreiungsbewegungen in Ländern der Dritten Welt und deren auf Zimmerwänden und Straßendemonstrationen oft plakatierte Führer:
— Mao Tse-tung, dessen Zitatensammlung, das „Rote Buch“, zur Jugendbibel wird;
— Ho Chi Minh, der 50 Jahre lang gegen Invasoren Vietnams kämpft und darüber noch zum Gedichte-Schreiben kommt;
— der unverwüstliche Fidel Castro, der alle Lan-dungs-und Vergiftungsversuche der CIA unbeschadet übersteht; und — der argentinische Arzt Che Guevara, der — obwohl asthmakrank — den sicheren Posten eines kubanischen Wirtschaftsministers, Botschafters und Nationalbankiers aufgibt zugunsten einer unsicheren Partisanentätigkeit im bolivianischen Urwald, bei der ihn auch die photodokumentierte Lektüre von Goethe im Versteck eines Schweinestalls nicht vor dem Berufstod des Revolutionärs bewahren kann.
1967 wird er gefangengenommen und ermordet, von seinen Anhängern flugs als unsterblich mythisiert: „Che lebt“ heißt es trotzig auf Aktionsblät-B tern und Buchdeckeln, seine Briefsentenz „Schaffen wir zwei, drei, viele Vietnam“ wird zur Demonstrationsparole und revolutionären Handlungsmaxime erhoben. Sein „Bolivianisches Tagebuch“, herausgegeben 1968, findet ebenso reißenden Absatz wie silhouettenhaft-jugendstilig aufgemachte Poster von Che mit der kleidsamen Baskenmütze, auf der über der Stirn ein kleiner roter Stern prangt. Poster, deren revolutionär knalligbuntpopige Hintergrundfarben Feuerrot, Kanariengelb, Maigrün und Violett ebenso zu den schockfarbenen Socken des im übrigen jeansbehosten und parkatragenden Studenten passen wie zu den Signalfarben der (in den Sechzigern aufkommenden) Filzstifte und Textmarker seiner Zimmergenossin, mit der er die geschlechtertrennenden Schranken des Studentenwohnheims („Kein Männerbesuch!“) niedergerissen hat.
Wegen seiner Unkonventionalität, „wegen seines Stils, wegen seiner Originalität“ wird auch postmortem Che Guevara (von dem mit ihm zerstrittenen Fidel Castro) belobigt, allein aussehensmäßig — Vollbart, feingezeichnetes Gesicht, langwellige Haare — von Studentinnen geliebt und (deshalb auch) Vorbild für die ersatzhandelnden Großstadtdschungelkämpfer des SDS.
Auf der Bühne der Öffentlichkeit Aktionen außerhalb der etablierten Spielregeln werden zum probaten Mittel, nach außen zu wirken: „Proteste sind Vorstufen der Bewußtwerdung von Menschen“ (Rudi Dutschke). Revoltierende Studenten stürmen deutsche Theaterbühnen, boykottieren Filmfestivals und besetzen Hochschulinstitute, wo sie in provokanter Unbekümmertheit fremde Flaschen und eigene Mägen entleeren, sie verhöhnen talargeschmückte Spektabilitäten („Wir begrüßen den närrischen Elferrat unserer Universität“) und pinseln rüde Reime: „Zieht die Magnifizenzen an ihren ideologischen Schwänzen“, die zuweilen auf sie selbst zurückfallen.
Linke Studenten versehen im Goldenen Buch der Bonner Universität des Bundespräsidenten Heinrich Lübkes Namenszug, den dieser bei einem Zwischenstopp zwischen seinen zahlreichen Fern-reisen für die Bundesrepublik Deutschland („In Afrika tragen die Menschen Lendenschurze, in Asien Strohhüte!“) eingeschrieben hatte, mit dem Vermerk: „KZ-Baumeister“. SDSler stürzen vor der Hamburger Hochschule ein Denkmal des Kolonialhelden Hermann von Wißmann: „Preußische Schießbudenfigur“. SDS-Mitglieder verderben geistliche Feste: bei einem Go-in am Heiligen Abend 1967 in der Berliner Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche mit dem Transparent „Frieden auf Erden. Frieden in Vietnam“.
Am 18. Dezember 1964 gehen Berliner Studenten zum ersten Mal auf die Straße, um gegen den Kongo-Premier Moise Tschombe zu protestieren (Sprechchor: „Lumumba-Mörder“). Am 7. Mai 1965 rotten sich Studenten erstmals zum Protest gegen eine Magnifizenz zusammen (weil der Berliner FU-Rektor Hausverbot gegen den vom Asta eingeladenen Reporter Erich Kuby verhängt hatte). In der „Aktion 1. Juli“ demonstrieren 1965 Studenten aller Hochschulen der Bundesrepublik gegen den von Georg Picht diagnostizierten deutschen Bildungsnotstand. Am 5. Februar 1966 veranstalten die Studenten die erste Großdemonstration gegen das amerikanische Engagement in Vietnam und beziehen — als einige Demonstranten ausscheren, um vor dem Amerikahaus das Sternenbanner auf Halbmast zu setzen — zum ersten Mal Prügel, die zum Lehrmittel werden: „Eine radikaldemokratische Bewegung schafft sich nicht das Bewußtsein ihrer Ziele am Schreibtisch“ (Wolfgang Lefevre).
Nach dem Beispiel der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung („We shall overcome“) protestieren sie mit Sit-ins, Teach-ins und Go-ins. Sie lassen keine Gelegenheit aus, ihren Protest hörbar und sichtbar zu machen, denn: „Ohne Provokation werden wir überhaupt nicht wahrgenommen“ (Rudi Dutschke). Als anläßlich des Staatsbesuchs des iranischen Schahs Reza Pahlevi in der Bundesrepublik und in West-Berlin Studenten gegen das Unrechtsregime in Persien protestieren und am 2. Juni 1967 der überhaupt zum ersten Mal in seinem Leben an einer Demonstration teilnehmende Romanistikstudent Benno Ohnesorg — Pazifist, aktives Mitglied der evangelischen Studenten-gemeinde zu Berlin — von hinten von einem Polizisten (der in einem „seelischen Ausnahmezustand“ handelt, so das psychologische Gutachten) mit einer Kugel in den Kopf erschossen wird, kommt es zur Eskalation der Protestbewegung, die nun nahezu alle Universitätsstädte erfaßt. Der Übergang der Protestaktionen zur Gewaltanwendung, zu den menschenlebenverachtenden, mörderischen Aktionen der beiden Untergrund-Organisationen, „Bewegung 2. Juni“ und „Rote Armee Fraktion“ (RAF) um Andreas Baader und Ulrike Meinhof, die in den siebziger Jahren die Bundesrepublik in Atem halten, deutet sich 1968 an in Brandanschlägen gegen das Verlagshaus und Zeitungsbetriebe des Axel-Springer-Konzerns und gegen Kaufhäuser (erstmals am 3. April 1968 in Frankfurt) als Zentren der Übermacht des „Systems“ und des „Konsumterrors“. Aus der „Ästhetik der Zerstörung“ wird blutiger Ernst, die spielerische Störung wird zur reinen Destruktion. Aktionskunst: „Happenings sind überall" Zappas popmusikalische Müll-Skulpturen, Handkes Wortbeat-Theater, die Müllkästen der Nouveaux Realistes und die Fakten der Pop-Artisten, das emotional-transzendente Körpertheater des „Living Theatre“, die biblisch-politprotestierenden Puppen-und Maskenspiele des „Bread and Puppet Theater“, die mit Harlekin-Späßen und Simpel-Sozialismus operierenden Agitprop-Kollektiv-Aktionen des kalifornischen Landarbeiter„Teatro Campesino“, das sentimental-anarchistische Terror-Theater der Genfer Theater-Kommune „Treteaux libres“, Hochhuths reportagen-haft-dokumentarisches „Theater des Protests“ sowie die konventions-und tabuverletzenden, straßentheatralen Aktionsformen des studentischen Protests auf der Bühne der Öffentlichkeit — sie markieren in den sechziger Jahren den weltweiten Aufbruch in eine „ereignishafte, den Lebensalltag integrierende und erklärbar machende Aktionskunst“ (Horst W. Janson), die sich „sowohl den Objektfundus der Straße, der Reklame und der Medienprodukte wie auch den Zufallsablauf des alltäglichen Geschehens einverleibt“ (Karin Thomas).
Diese mit der Synthese von Kunst und Leben experimentierende, publikumeinbeziehende und bewußtseinsaktivierende Kunst subsumiert die verschiedensten kunst-, musik-, kino-und „theatertheatralen" Erscheinungen wie Festivals und Musicals, Theater auf der Straße, in Fabrikhallen und Fußballstadien, sowie zahlreiche Popkulturphänomene wie schockierendes und kommunika(k) tionsbedingendes Mode-und Möbeldesign. Die Übergänge zwischen diesen vielschillernden Facetten einer gesellschaftskritischen, aber veränderungsgläubigen und daher in der Grundtendenz fortschritts-und zukunftsoptimistischen Aktionskunst sind fließend, so daß Wolf Vostell (* 1932), der rührigste deutsche Happenist, resümieren kann: „Happenings sind überall!“
Das Happening daheim erfolgt über die Inszenierung der viel beschworenen neuen „Wohnlandschaften“ mit „Aktionsmöbeln“, leicht verschiebbaren, variierbaren, ja sogar mitnehmbaren mobilen Wohn-Utensilien wie aufblasbaren Plastik-Möbeln. Mit durchsichtigen, in leuchtenden Farben gehaltenen „Blow-up“ -Sesse\n, Sofas und Tischen, geliefert in kleinen Tragetaschen zusammen mit einer Fußpumpe, erregen 1968 der italienische Formgestalter Paolo Lomazzi („Das Primäre ist die Funktion“) sowie ein Vietnamese namens Quasar-Khanh in Paris Aufsehen.
Aufsehen erregt auch Gaetano Pesce mit einem Aktionsmöbel wie dem „UP 5 Donna“ -Sessel aus dem Jahre 1969, einem echten Happening-Möbel aus Polyurethan-Schaumstoff, verkauft in einer Plastiktüte, vakuumverpackt, auf ein Zehntel des späteren Volumens zusammengepreßt. Zerschneidet man die Folie, blähen sich Pesces schwülstige Sessel und Sofas wie Gummiwürste auf. Die italienischen Designer, die mit ihrer „Linea italiana“ die modische Linie der sechziger Jahre in Sachen Kunststoffdesign bestimmen, entdecken infolge des neuen Körpergefühls der Sechziger (das sich nicht nur im „Körpertheater“ ausdrückt, sondern in der wiederentdeckten Körperbewegung aus dem Schwung des Beckens, aus der Mitte des Leibes also, auch im Beat-Tanzen und im Windsurfen wiederfindet) die erotischen Dimensionen der neuen Plastikmaterialien, die sich von „acrylhart“ bis „schwammweich“ aufblasen und pressen, schäumen und spritzen lassen. Sie produzieren der Neuen Sensibilität entsprechende „weiche“ Möbel, die als körperfreundliche Gegenstücke für den Menschen gedacht sind. Die wohl anschmiegsamsten Möbel der sechziger Jahre sind der „Skai“ -lederne, PVC-gefüllte Knautschsack zum Sitzen (1969, Zanotta) und das transparente Kunststoff-Wasserbett, das sich allen Körperbewegungen schaukelnd anpaßt. Deutschlands mobilstes und bisher größtes Happening organisiert Wolf Vostell im November 1964 „In Ulm, um Ulm und um Ulm herum“ — eine Omnibus-Odyssee mit 200 Teilnehmern („Die Überlebenden des nackten Einkaufspreises“) und 24 Stationen, darunter ein Bundeswehrflugplatz — bei dessen Besuch als musikalisches Element die Motoren mehrerer Düsenjäger aufheulen — und ein Stall, in dem vor aller Augen eine Kuh kalben soll(te). Vostell erklärt sich schließlich selbst zum lebenden Kunstwerk.
Happening der Mode „Man sollte ein Kunstwerk sein“, hatte schon einst Oscar Wilde empfohlen, „oder“ — so fährt der modebewußte Ästhet fort — „zumindest ein Kunstwerk tragen.“ 1969, etwa 70 Jahre nach Wildes Tod, entsprechen New Yorker Künstler dieser Empfehlung mit einer „Fashion Show Poetry Event“ (Modenschau-Dichtung), geplant als „neue Theaterform“, bei der „die Kostüme die Handlung sind, wie in einer richtigen Modenschau“. Der Vergleich beider Formen (der Veranstalter: „Medien“) soll dem Publikum „endlich einmal ein neues, objektives Bild des Phänomens Mode“ vermitteln, so die Ansprüche des Lyrikers John Perreault und zweier Dichter-Kollegen, die in Paris als Veranstalter fungieren.
19 Maler, Bildhauer und Dichter, darunter Pop-Artisten wie Claes Oldenburg, Andy Warhol und James Rosenquist, entwerfen hierfür erstmals eine Kollektion kleidsamer Kunstgegenstände und erklären bei der Vorführung die Dressmen und Mannequins zu „Kunstwerken“ ä la Wilde. „Haben Sie sich je als Kunstwerk betrachtet?“ richtet Perreault die Frage ans Publikum und schickt eine von der Plastikerin Marjorie Strider nur mit Bilderrahmen bekleidete Tänzerin auf den Laufsteg. Ein nackter Schauspieler — von der venezolanischen, auch auf der 4. documenta vertretenen Bildhauerin Marisol Escobar farbig bemustert — posiert als „ 10000-Dollar-Gemälde“. Mit verbundenen Augen führt die Happening-Künstlerin Carolee Schneemann einen von Oldenburg entworfenen „Weißen Sklaven-Dress“ vor. Das Kostüm („weiße Seidenbluse, weiße Crpe-Culotten“) bleibt freilich unsichtbar und der Phantasie des Publikums überlassen: Der Pop-Künstler hatte nur eine Tonbandbeschreibung des Werks gefertigt.
Andere Mode-Künstler, wie Eduardo Costa, kreieren maßgeschneiderte Busenschalen aus reinem Gold („Tragen Sie die Formen ihrer eigenen Schönheit!, c), eßbare Mieder aus Pfefferminz-Bonbons, ärmellose Plastikröhren „für alle Tage“ und einen Vorschnall-Torso für den Abend. Kommentar: „Sie gehen heute zu einer Party? Als Mann oder als Frau? Andy Warhols Modell erlaubt es ihnen, sich künftig Ihr Geschlecht auszusuchen wie ihre Kleider.“
Mit derlei Extravaganzen aus Künstlerhand parodieren die Veranstalter den Stil herkömmlicher Modenschauen und verulken mit süffisanten Modellbeschreibungen („Wollen Sie total von heute sein?“) den blumigen Verkaufsjargon so auflagenstarker Mode-Journale wie „Vogue“ und „Harper’s Bazaar". Glossiert werden auch die modische Vorliebe für nackte Haut, Merkmal der Kunst-, Theater-und Modesaison 1969, und jene Besucher von Ausstellungs-Vernissagen, für die das „Spitzenhemd vom Maler Rauschenberg und Andy Warhols seltsames Hütchen“, so die New Yorker Kritikerin Lil Picard, „wichtiger sind als die Kunst-Objekte“.
Die „Fashion Show Poetry Event“ gelingt wie viele Pop-Aktionen zum Enthüllungskunststück des (Mode-) Warenfetischismus, indem sie die Warenästhetik in bestem Pop-Sinne in einer Art negativer Affirmation kritisiert, das heißt outrierte Zustimmung als schärfste Kritik betreibt: Mode-Positionen werden beim Wort genommen, in der affirmativen Praxis bis zum äußersten radikalisiert und in schwejkscher Manier durch die inakzeptablen Konsequenzen jeglichen Anspruchs auf absolute Geltung ausgehebelt. In der Praxis des Alltags begreifen in den Sechzigern die Fluglotsen mit als erste diese Pop-Strategie: Sie protestieren gegen schlechte Arbeitsbedingungen (sehr effektiv) mit „Dienst nach Vorschrift“. Die Tendenz dieser Strategie formuliert Andy Warhol: „Das Schönste an New York ist McDonalds. Das Schönste an Paris ist McDonalds. Das Schönste an Berlin ist McDonalds. In Moskau gibt es noch nichts Schönstes.“
Modische Emanzipation Doch bei aller (in den sechziger Jahren modischen) Kritik am — vom Fetisch Ware gelenkten und damit von wahren Problemen abgelenkten — (Kauf-) Verhalten der breiten Masse ist das emanzipatorische Potential der Mode und des immerhin „Auswahlfreiheit“ garantierenden Massenkonsums nicht geringzuschätzen: Mit dem nicht nur Beine, sondern auch Moralvorstellungen und Gesinnungen enthüllenden Minirock des englischen Ladenmädchens Mary Quant, die in Londons Arbeitervorstadt Chelsea bisher mehr mit Kinder-mode erfolgreich war, setzt 1964 überhaupt zum ersten Mal die Unterschicht ihre Modevorstellungen gegenüber den (mode) tonangebenden westlichen Oberschichten durch. Dieser revolutionäre Impuls zeitigt eine demokratische Öffnung der Mode für breite Schichten, indem die Modeschöpfer, allen voran 1966 Yves Saint Laurent, der Haute Couture für die Hautefinance das Pret-äporterzur Seite stellen, also die für Massenkonfektion entworfene Modellkleidung, zu erwerben in „Boutiquen“, individuell gestalteten und bedienenden kleinen Läden für modische Neuheiten, die in den sechziger Jahren entstehen und innerhalb kürzester Zeit zum bestexpandierenden Geschäftstypus gedeihen.
In enger Beziehung zur Minikleidung, die den Akzent auf lange Beine legt, steht die bedeutendste Errungenschaft innerhalb der Frauenkleidung: die Entwicklung der Feinstrumpfhose, die alle behindernden Strumpfhalter überflüssig macht und mehr Bewegungsfreiheit erlaubt. Neue, den Männern gleichberechtigte Bewegungsfreiheit verschaffen den Frauen Ende der sechziger Jahre auch die Hosenanzüge und Hosen mit Hemdblusen als Tageskleidung (1973 werden in der Bundesrepublik pro Jahr erstmals mehr Damenhosen als Röcke verkauft), so daß die englische „Daily Mail“ 1969 orakelt: „Bald werden nur noch Schottenmänner Röcke tragen.“ Angesichts der Kreationen des auch in der Hosenmode vorangehenden Volks-Couturiers Yves Saint Laurent empfiehlt „Le Figaro“ 1969 den potentiellen Kundinnen: „Sie müssen abmagern und wachsen, und Sie dürfen weder Brust noch Hüften haben.“
Auch in der Körperkontur erfolgt Ende der sechziger Jahre nach dem Vorbild des englischen Top-modells Twiggy eine Annäherung an die „männ35 liehe“ Knabenfigur, während die Männermode körpernaher (taillierte Anzüge und Hemden), weicher (Cord-Anzüge, Samthosen), bestrickender (Jersey-Hemden, Strickstoffe), buntfarbiger (besonders die in Farbe und Dessin auffallenden breiten Krawatten), verspielter (plissierte oder mit Rüschen besetzte Fest-Hemden zum dunklen Anzug) und schmuckvoller (Aufkommen bisher für „unmännlich“ gehaltener Hals-und Armkettchen), kurzum: „femininer“ wird.
Die modische Einebnung der Geschlechtsunterschiede findet ihren Niederschlag im zwischenmenschlichen Verhalten: Die „starken“ Männer dürfen nun auch Schwäche und Empfindlichkeit, mithin mehr Sensibilität zeigen, und das „schwache“ Geschlecht, von den Männern bisher zum Spiel hintergründig keuscher Zurückhaltung verurteilt, darf nun aüch Stärke und eigenen Willen demonstrieren und (männliche) Aktivitäten ergreifen. Ende der sechziger Jahre, nachdem die Männer den uniformen Bürstenhaarschnitt und kahlnackigen Faonschnitt der fünfziger Jahre überwunden haben und die Mädchen sich Mitte der Sechziger von der geometrisch emanzipativen Strenge des wieder modernen Garson-Schnitts (Bubikopf) langsam lösen, treffen sich die Geschlechter im Tragen langwachsender, natürlich fallender Haare. Der hier seine modische Gestalt annehmende Grundgedanke der Emanzipation von Mann und Frau findet seinen unisexuellen Ausdruck in der Kreation des „Partnerlooks“, der ein neues partnerschaftliches Denken im Zusammenleben — von der beruflichen und Küchen-arbeit bis zur Kinderbetreuung — signalisiert.
Das wichtigste modisch-gesellschaftspolitische Zeichen jedoch — nicht für die Gleichberechtigung der Geschlechter, sondern für die der Rassen — setzt das farbige Photomodell Donyale Luna. Protegiert von dem Pariser Modeschöpfer Paco Rabanne (bekannt für seine Metallplättchenkleider für die Angelique-Filmdarstellerin Michele Mercier), ist sie die erste Farbige, die auf dem Cover der amerikanischen Ausgabe von „Vogue“ erscheint; sie löst damit unter den um ihre Bürgerrechte kämpfenden Farbigen die „Black is beautiful“ -Bewegung aus, einen neuen Selbstfindungs-und Selbstbewußtwerdungs-Prozeß. Endgültig vorbei sind nun die Zeiten, wo sich hübsche farbige Mädchen aus Harlem oder Brixton ihr Gesicht, ihre Beine und ihre naturkrausen Haare mit Chemikalien malträtieren, nur um dem weißen Schönheitsideal zu entsprechen, dessen perfekte Adaption die Pop-Sängerin Diana Ross und ihre Gruppe „Supremes" vorführen, die 1967 „The Happening“ besingen.
Der modern werdende „Afro-Look“ indiziert eine kulturelle Rückbesinnung auf die afrikanischen
Wurzeln der Herkunft. Vorbei sind auch die Zeiten, da sich Paco Rabanne, zwischen 1964 und 1967, wegen seiner farbigen Modelle von Publikationsmöglichkeiten in „Harper’s Bazaar“ und in der amerikanischen „Vogue“ ausgeschlossen und dem Ostrazismus der amerikanischen Handelskammer unterworfen sah, nur weil er es gewagt hatte, während eines Modenschau-„Events“ auf amerikanischem Boden „Negerinnen“ auf den Laufsteg und damit in das Blickfeld der Öffentlichkeit zu schicken.
Erziehung zum Ungehorsam Ein begehrtes Photomodell der sechziger Jahre ist auch der Beuys-Freund und Happenist Bazon Brock (* 1936), der schon als „Rotbart-Rostfrei-Vorschäumer“ für „seidenweiche Rasuren“ die Anlage zu seiner späteren Ästhetik-Professur in sich birgt. Brock glänzt mit Stoßgebeten wie: „Glückliche Bomben aufdeutsche Pissoirhausarchitektur“ und meint die einfallslose Betonbauweise der „Kaputtsanierer" traditioneller Bausubstanz, er reklamiert in einer Koje unverdrossen die „Abschaffung des Todes“ und gibt die wichtige „Bloom-Zeitung“ heraus — einen Raubdruck der „BILD“ -Zeitung vom 8. April 1963, in dem Brock alle Eigennamen durch den Namen des Joyce-Helden Leopold Bloom ersetzt. Der äußerst vielseitig begabte Polemiker, von der Kritik respektvoll als „der Bewerber“ tituliert, schreibt mit „Theater der Positionen“ auch eines der überraschend wenigen, mit Comic-Strip-Elementen versetzten Pop-Theaterstücke, während sich in der Bundesrepublik als Pop-Regisseur der Deutsch-Brite Peter Zadek hervortut.
Die Theater-Experimente der Engländer Peter Brook und Joan Littlewood vor Augen, unternimmt Peter Zadek unkonventionelle Klassiker-Inszenierungen von Schillers „Räubern“ und Shakespeares „Maß für Maß“ und findet 1968 auch noch die Zeit zu dem im Stile von Jean-Luc Godards „Weekend“ gedrehten Film „Ich bin ein Elefant, Madame“, der von der Oberstufe eines deutschen Gymnasiums handelt und die Spannungen zwischen rebellischer Jugend und autoritären Erziehern analysiert. Für seinen „Schulfilm“ hatte sich Zadek, im englischen Exil einst Lehrer für Französisch und Geschichte („nach einem Jahr bin ich rausgeflogen“), als Gasthörer vieler Unterrichtsstunden präpariert und dann das Drehbuch (nach dem 1963 erschienenen Schüler-roman „Die Unberatenen“ des Lehrers Thomas Valentin) auf den Stand des Jahres 1968 gebracht. Der Film hat sein Ohr am Nabel des Sechziger-Zeitgeistes: Statt reaktionärer Pauker-Typen, die in der Roman-Vorlage einige Pennäler zum ersten „Protest, bitter wie Katzenscheiße“, herausfordern, treten nunmehr unsichere Liberale auf, die sich weder die Schülergunst noch ihre Pensionsberechtigung verscherzen möchten und dadurch, so Zadek, „ungewollt zu Opportunisten werden“. Doch auch die Schüler-Opposition, die so gern für „Demokratisierung der Schule“ streikt, ist hier schon in die Zwickmühle geraten: Ihr Anführer beispielsweise agitiert gedankenlos nach APO-Sentenzen („Uns Schüler kann man gar nicht integrieren, weil wir noch gar nicht im Produktionsprozeß stehen“), und wegen seiner allseits akzeptierten Rolle im täglichen Klassen-Kampf gehört er schon „fast zum angefeindeten Establishment“ (Peter Zadek).
Die autoritäre Führungsstruktur und die Probleme der Studentenbewegung werden hier an der Basis gespiegelt. Der Bürgerschreck Rull, das Gegenbild zu den angepaßten Schultypen, ist ein fröhlicher Pop-Charakter. Er neckt seine demonstrierenden Mitschüler und die Polizei so lange, bis ein Pulk Ordnungshüter den als Indianer kostümierten Einzelgänger bändigt und abführt. Auch spritzt er seine Wandfasertapeten orange, setzt sich Kerzen ins struppige Haar und übersetzt das Resultat täppischer Liebesspiele in korrektes Schulenglisch: „I’ve just fucked Billa“. Auf dem Höhepunkt des Films provoziert Rull seine sture Umwelt mit einer Hakenkreuz-Schmiererei an der Schulmauer. Eine in provozierender Absicht errichtete Hakenkreuz-Draperie reizte einen Bremer Einwohner während der Dreharbeiten zum Sturmlauf auf die Kamera. Auch dieses Happening montiert Zadek ungerührt in seinen Film ein, dessen Ablauf er durch Zwischentitel („Onanieren ist nicht schädlich“) skandiert und seine Darsteller auch direkt zum Publikum sprechen läßt. Neben seinen technischen Finessen belegt Zadeks Film vor allem, daß die Emanzipation des Alltags in den Schulen stattfindet. 1967 wird die deutsche Oberschülerin Karin Storch für ihre gesellschaftskritisch engagierte und mutige Abiturientenrede, in der sie „Erziehung zum Ungehorsam“ fordert, mit dem „Theodor-Heuss-Preis“ ausgezeichnet.
Beuys: „Kunst = Freiheit = Kapital = Leben“
Die Vermittlung von Kunst und Politik geleistet zu haben, ist das Verdienst von Joseph Beuys (1921— 1986), Kaufmannssohn aus Kleve, studierter Naturwissenschaftler, mehrmals verwundeter und abgestürzter Stuka-Flieger des Zweiten Weltkriegs, als Kriegsheimkehrer 1949 Schüler des angesehenen Bildhauers Ewald Matare, Ehrendoktor des kanadischen „Nova Scotia College of Art and Design“, 1961 als Professor für Bildhauerei an die Kunstakademie Düsseldorf berufen, 1972 von Johannes Rau relegiert (wegen Ignorierung des Numerus clausus für Kunststudenten), 1977 von Helmut Kohl mit einer 500 DM-Spende für Aktivitäten seiner Bürgerinitiative „Free International University“ versehen (wofür ihm Beuys im documenta-Katalog dankt), 1982 auch als Pop-Sänger und politischer Unruhestifter hervorgetreter mit einer Abrüstungshymne für die Friedensbewegung: „Sonne statt Reagan“, als überhaupt einziger Künstler fünfmal hintereinander zur maßgebenden Kasseler documenta eingeladen, 1979 Ausstellungs-Star im New Yorker Guggenheim-Museum und Titelheld im „SPIEGEL“ mit der Schlagzeile „Weltruhm för einen Scharlatan?“, kurzum: die umstrittenste Welt-Kunst-Figur der zweiten Jahrhunderthälfte, aber unbestritten „der einflußreichste Künstler in Europa“, wie sogar das Magazin „Time“ im fernen New York konzediert.
Beuys — schon in den fünfziger Jahren unverkennbar mit filzenem Stetson, Jeans und Fliegerweste — gehört mit Wolf Vostell zu den Happenisten der ersten Stunde. Der zur Selbstdarstellung neigende „Egomane“ (so Vostell über Beuys) schockt mit bizarren „Aktionen“: 1964 verbringt er acht Stunden im Inneren einer zugenähten filzenen Teppichrolle, an deren Enden je ein toter Hase angebunden ist, und informiert die im Nebenraum harrenden Galeriebesucher fernmündlich über sein Befinden. Der Hase, Lieblingstier von Beuys, ist für ihn Symbol der Inkarnation: „Der Hase hat direkt eine Beziehung zur Geburt, eine Beziehung in die Erde, nach unten, der Hase macht das ganz real, was der Mensch nur in Gedanken kann. Er gräbt sich ein, er gräbt sich einen Bau.“
Beuys gräbt sich in der Teppich-Aktion hinein in sein Leben, er verarbeitet die Traumata seiner Biographie in der Kunst: Nach einem Flugzeugabsturz war er — schwer verletzt und halb erforen — mit Fett eingerieben und filzumwickelt ins Leben zurückgeholt worden. Fortan arbeitet er mit Fett und Filz als privatmythologischen Anspielungen, aber auch als Rückkehr zur guten, alten, heilen Welt des natürlichen und edlen Materials. Seine Objekte aus Fell, Filz, Fett, Wachs und Honig zählen zu den wichtigsten Innovationen der Avantgarde. Der Künstler freilich begreift sie als Modelle seines Welt-Bildes — als Gleichnisse zur Überwindung des Gegensatzes von Kunst und Leben, als Umsetzung seiner Lehre vom „erweiterten Kunstbegriff“, nach der Kunst und Wissenschaft, Natur und menschliches Leben zu einer neuen Einheit „transformiert“ werden sollen.
Diese in Idealismus und Romantik wurzelnde Weltanschauung beruht auf der Erkenntnis, daß sich die Aufgabe des modernen Künstlers in der Arbeit mit den bildnerischen Mitteln von einst nicht erschöpft. Vielmehr sei es dem Künstler aufgetragen, aufjede Weise Bewußtsein zu formen — das eigene, aber auch das der Mitmenschen, wobei sich die allmähliche Veränderung aller überlebten menschlichen Institutionen (Schule, Wirtschaft, Staat) zwingend ergeben werde. Auf diesen in seiner Konsequenz politischen Weg gelangt Beuys durch Friedrich Schillers Briefe „Über die ästhetische Erziehung des Menschen“ (1793/94), in denen der Dichter den „Bau einer wahren politischen Freiheit“ als das „vollkommenste aller Kunstwerke“ preist.
Symbolische Handlungen Die Verzahnung von Kunst und Politik gelingt auch dem bayrischen Happenisten Otto Dressler (* 1930), der auf den freien Alternativ-Kunstmärkten der sechziger Jahre jedwede Art von Trophäenbedarf, künstlerischen, militärischen wie auch religiösen, offeriert — so eine knetbare, rundum versiegelte Bibel, „damit man endlich den Glaubensgeist in die Hand nehmen kann“ (Otto Dressler). Der „Verfremder“ aus Bayern betreibt eine rigorose Infragestellung aller politischen und sonstigen Geister. Während auf der 4. documenta ein optisch flimmerndes, riesig kultisches Mao-Porträt zu bewundern ist, wagt Dressler die „Größe“ dieses Studentenidols anzuzweifeln. Er formt ein Halbmasken-Porträt aus Schaumstoff von Mao (wie auch von Goethe, Beethoven, Nietzsche und Marx), auf dem Interessierte durch Sitzproben nicht nur dessen haptische Wertigkeit, sondern auch dessen „Gewichtigkeit“ persönlich erfahren dürfen. Während der Sitzproben durchgeführte Interviews ergeben, daß Probanden mit einer konservativen Grundhaltung das Aussitzen Maos mit einer Götz-von-Berlichingenschen Einstellung auszukosten pflegen.
Die Studenten, anfangs — insbesondere der SDS, dem nicht nur autoritäre, sondern auch asketisch-puritanische Züge anhaften — auf Distanz zu solch künstlerisch „verspielten“ Protesten, lernen schnell. Sie organisieren eine „Spaziergangsdemonstration“, als das Demonstrieren auf dem weihnachtlichen Berliner Kurfürstendamm verboten wird: Die in der Menge spazierend Demonstrierenden melden sich mit Kindertrompeten und berieseln die Polizei mit Konfetti, doch entziehen sie sich durch Untertauchen in die Schar der Promenierenden (die so in das Happening einbezogen werden) dem Zugriff der verzweifelnden Ordnungshüter. Oder sie organisieren eine „Ordnerdemonstration“, als ihnen die Auflage erteilt wird, Ordner zu stellen: Sie „überspielen“
diese Auflage, indem sie 100 Ordner auf einen Demonstranten stellen, und haben die Sympathie der Öffentlichkeit auf ihrer Seite.
Und ohne Happening-Vorbilder ist selbst der Auftritt des Kommunarden Karl-Heinz Pawla vor einem Moabiter Gericht im September 1968 kaum denkbar. Pawla inszeniert seinen Auftritt vor dem Berliner Schöffengericht, vor dem er sich wegen Hausfriedensbruch und Richterbeleidigung verantworten muß, nach dem Motto der Kommune 1: „Was wirkt, ist gut, je geschmackloser, desto besser“ und läßt während der Verhandlung in foro publico plötzlich seine Hosen herunter und verrichtet blitzschnell seine (mit Abführmitteln herbeigeführte) Notdurft. Seinen vorab informierten, johlenden Anhängern und dem verdutzten Richter widmet er zum Schluß noch eine Zugabe: Er greift sich vom Richtertisch seine Akte, um sich mit ihr den blassen Hintern abzuwischen und mit dieser eigenwilligen Demonstrationstechnik seine Meinung kundzutun von der deutschen Justiz und ihrer Rechtsprechung, die ihm zehn Monate Gefängnis ohne Bewährung beschert — und drei Tage Haft, weil Pawla den Staatsanwalt während dessen Plädoyer mit einer Sandale beworfen hatte.
Doch keine „Fäkalkunst“ und keine fundierte Kritik hat die verkrusteten Strukturen der deutschen Justiz schärfer bloßlegen können als jener Satz, den der Kommunarde Fritz Teufel in das Geschichtsbuch der sechziger Jahre eingeschrieben hat als Bemerkung auf die mehrmalige insistierende Aufforderung, sich vor Gericht zu erheben: „Na ja, wenn es der Wahrheitsfindung dient!“ Dem Philosophie-Professor Jürgen Habermas (* 1929), geistiger Mitvater der Studentenrevolte, scheint es Mitte 1968 noch denkbar, daß so geartete „Wahrheitsfindung“, die Verletzung etablierter Spiegelregeln, den Blick freigebe auf „eine Transformation hochentwickelter Industriegesellschaften“ — hin zu einem entbürokratisierten sozialistischen System. Aber Habermas warnt schon vor einer falschen Einschätzung der gesellschaftlichen Situation: „Die neuen Demonstrationstechniken, symbolische Handlungen einschließen nur können, verwandeln sich in den Köpfen altgedienter SDSier zu Mitteln des unmittelbaren revolutionären Kampfes. “
So war es. Die Studenten erzielten Wirkung, als sie berechtigtem moralischem Protest in gezielten Provokationen Ausdruck gaben — sie hatten dabei zeitweise eine breite Sympathiebasis und den „elan vital“ des Dadaismus hinter sich. Sie brachten sich um ihre historische Chance, als sie sich in ungezielte Aktionen und in Gewalt flüchteten. Das Kokettieren mit revolutionärer Gewalt war grundfalsch, da keine revolutionäre Situation geB geben war; denn: „Nur krasser Hunger und verweigerte Brunst vermögen Revolutionen zu erzeugen" (Hans Henny Jahnn).
Die Revolution gebar nur eine Revolte, die als Projekt der Moderne“ (Jürgen Habermas) 1964 in Berlin mit der studentischen Demonstration gegen Moise Tschombe und einer Ausstellung von Pop Art unter dem Titel „Neuer Realismus“ begann und die 1972 mit dem Terrorismus und der 5. documenta endete, auf der am Schluß bilanziert wird: „Die Kunst ist zu sich selbst zurückgekehrt" (Harald Szeemann). Ihren trivialen Nachruf verfaßt bereits 1971 der Romancier Johannes Mario Simmel: „Der Stoff, aus dem die Träume sind“. Die Träume sind zerstoben. Das Bemühen um einen erweiterten Kunstbegriff, um eine dauerhafte Verbindung von Kultur, Eros und Gesellschaft, ist gescheitert, muß vielleicht immer scheitern — was dem Versuch einer „sozialen Plastik" nicht den Sinn nimmt.