Sozialverträgliche Energieversorgung. Ein empirischer Ansatz zur Analyse von Bürgerpräferenzen in der Energiepolitik
Gabriele Albrecht/Ulrich Kotte/Hans Peter Peters/Ortwin Renn/Hans Ulrich Stegelmann
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Zusammenfassung
In der Programmgruppe „Technik und Gesellschaft“ der Kernforschungsanlage Jülich wurde von 1982 bis 1985 eine Studie zur SozialVerträglichkeit von Energieversorgungssystemen erarbeitet. Die Studie befaßt sich vor allem mit der politischen Konsensfähigkeit von Energiesystemen. Diese Fragestellung wurde am Beispiel von vier ausgearbeiteten Energieszenarien, den Pfaden der Enquete-Kommission „Zukünftige Kernenergie-Politik“ des Deutschen Bundestages, untersucht. In drei aufbauenden Projektschritten wurden zunächst die relevanten gesellschaftlichen Kriterien ermittelt, die zur Beurteilung von Energiesystemen herangezogen werden. Danach wurden in einer Konsequenzenanalyse die bei der Realisierung eines Pfads zu erwartenden Auswirkungen abgeschätzt. Schließlich wurden zufällig ausgewählte Bürger in sogenannten Planungszellen mit den Pfaden und den Ergebnissen der Konsequenzenanalyse vertraut gemacht, und es wurden ihre Wertvorstellungen in bezug auf Energiesysteme, ihre Einschätzung der Vor-und Nachteile der Energiepfade und ihre Präferenz für einen Energiepfad erhoben. Wegen fehlender Repräsentativität kann von den Ergebnissen der Planungszellen nicht auf die Gesamtbevölkerung der Bundesrepublik Deutschland geschlossen werden. Die gewonnenen Erkenntnisse über die Zusammenhänge zwischen Wertpräferenzen, Wahrnehmung von Auswirkungen und Einstellungen dürften dennoch auch für die Gesamtbevölkerung gelten. Die Studie leistet somit einen Beitrag zur Verbreiterung der Informationsbasis, die für die Vorbereitung energiepolitischer Entscheidungen herangezogen werden kann.
I. Einleitung
Die öffentliche Auseinandersetzung um die Nutzung der Kernenergie seit den siebziger Jahren ist der Ausdruck für eine sich wandelnde gesellschaftliche Einstellung zum Umgang mit neuen Technologien. Angesichts des immer deutlicher werdenden Preises für den industriellen Wohlstand wuchs die Sensibilität für Auswirkungen neuer Technologien auf die natürliche wie auf die soziale Umwelt nicht nur bei erklärten Industrie-kritikern und gesellschaftlichen Subgruppen, sondern auch in der allgemeinen Bevölkerung. Wirtschaftlichkeitserwartungen auf der Basis rein ökonomischer Kosten-Nutzen-Bilanzen und die Apostrophierung einer Maßnahme als „technischfortschrittlich“ reichten zur Legitimation einer auf den Einsatz von Kernenergie setzenden Energie-politik nicht mehr aus.
Vor diesem Hintergrund entstand bei Politikern und Wissenschaftlern unterschiedlicher Orientierungen die Bereitschaft, die Zukunft der nationalen Energieversorgung nicht mehr als geradlinige Entwicklung anzusehen, sondern vielmehr verschiedene mögliche Entwicklungsrichtungen für die künftige Energieversorgungsstruktur zu durchleuchten. Von der Enquete-Kommission „Zukünftige Kernenergie-Politik“ des Deutschen Bundestages wurden 1980 vier ausgearbeitete Energieszenarien, sogenannte Pfade, vorgelegt. Die „Pfade“ malen jeweils unterschiedliche Entwicklungsrichtungen aus, unterstellen jedoch ähnliche Randbedingungen (Bevölkerungswachstum, Wirtschaftswachstum) und versprechen dem Endverbraucher das gleiche energetische Komfortniveau. Unterschiedlich sind dagegen die Art und Weise, wie die benötigten Energiedienstleistungen (Licht, Kraft, Wärme) jeweils bereitgestellt werden. Der Pfad etwa geht von einer verstärkten Nutzung fossiler und nuklearer Energieträger aus, mit der die erhöhte Nachfrage nach Energiedienstleistungen befriedigt werden soll. Der Pfad 4 dagegen, als das andere Extrem, will bei gleichen Energiedienstleistungen durch erhebliche Anstrengungen zur Energieeinsparung und rationellen Energienutzung (Wärmedämmung, Wärmepumpen usw.) den Bedarf an Primärenergieträgern deutlich reduzieren und den verbleibenden Bedarf unter völligem Verzicht auf Kernenergie mit einem geringen Anteil fossiler Brennstoffe unter größtmöglichster Ausschöpfung des Potentials an regenerierbaren Energieträgern (Sonne, Wind, Wasser, Biomasse usw.) decken.
Die Pfade und 3 sind zwischen diesen beiden Extremen angesiedelt. Sie setzen die gleiche Menge an fossilen Energieträgern ein. Pfad 2 sieht zusätzlich Kernenergie vor, wohingegen der Pfad 3 diesen Anteil durch Energiesparen substituiert 1). Diese Szenarien stellen keine Prognosen dar, sondern schließen gewissermaßen von einem gewünschten Ergebnis (in diesem Fall der Ausgestaltung der Energieversorgungsstruktur) auf die notwendigen Voraussetzungen bei den angenommenen Randbedingungen. Die Kommission selbst bezeichnet ihr Vorgehen „als ein probeweises Ausleuchten von diskutierten Zukunftsperspektiven“ 2).
Zur Vorbereitung der Entscheidung, welchen dieser Pfade oder welche andere Richtung die bundesdeutsche Energiepolitik zukünftig einschlagen solle, wurde von der Kommission vorgeschlagen, die Energieszenarien anhand der folgenden Kriterien zu bewerten:
— Wirtschaftlichkeit, — internationale Verträglichkeit, — Umweltverträglichkeit, — Sozialverträglichkeit.
Mit der Aufnahme in den Kriterienkatalog der Enquete-Kommission wurde die „Sozialverträglichkeit“ als ein Kriterium für die Bewertung energiepolitischer Optionen eingeführt, ohne daß aber von der Kommission der Begriffsinhalt eindeutig definiert wurde.
Zwei parallele Forschungsprojekte zur „Sozialverträglichkeit“ von Energieversorgungssystemen wurden initiert: Das eine Projekt wurde unter der Leitung von Prof. Meyer-Abich und Prof. Schefold in der Vereinigung Deutscher Wissenschaftler an den Universitäten Essen und Frankfurt von 1980 bis 1984 durchgeführt; das andere Projekt wurde unter der wissenschaftlichen Leitung von Dr. Ortwin Renn in der Programm-gruppe Technik und Gesellschaft der Kernforschungsanlage Jülich von 1982 bis 1985 bearbeitet. Die folgenden Ausführungen zur Analyse der Sozialverträglichkeit beschreiben das Konzept, den Ablauf und die Ergebnisse der letztgenannten Studie.
II. Der Begriff „Sozialverträglichkeit“ und seine Umsetzung
Abbildung 11
Abb. 2: Mittelwerte der den acht Hauptkriterien von den Planungszellenteilnehmern zugemessenen Gewichte.
Abb. 2: Mittelwerte der den acht Hauptkriterien von den Planungszellenteilnehmern zugemessenen Gewichte.
Der Begriff „Sozialverträglichkeit“ wurde von Meyer-Abich in Analogie zur Umweltverträglichkeit gebildet. Nach seiner Definition bedeutet Sozialverträglichkeit „Verträglichkeit mit der gesellschaftlichen Ordnung und Entwicklung“ Die Enquete-Kommission hat darunter beispielsweise die Kompatibilität mit dem Rechtssystem der Bundesrepublik, die Gewährleistung von Freiräumen für die persönliche Lebensführung, das Offenhalten von Gestaltungsräumen für künftige Generationen und die Möglichkeit eines breiten politischen Konsenses in der Energiepolitik verstanden
Die Forderung nach der Sozialverträglichkeit technischer Systeme ist plausibel und intuitiv eingängig, solange man sie auf die Trivialformel „Energiesystem und Gesellschaft müssen zusammen passen“ reduziert. Kompliziert wird es jedoch, wenn man versucht, ein theoretisch fundiertes, allgemein akzeptiertes und praktikables Konzept zur Messung der Sozialverträglichkeit zu entwickeln. Wie kann man zum Beispiel schlüssig feststellen, ob ein Energieversorgungssystem mit den demokratischen Spielregeln unserer Gesellschaft harmoniert oder nicht?
In beiden Studien wurden erste Ansätze zur Messung der Sozialverträglichkeit entwickelt. Dabei hat Meyer-Abich einen explizit normativen Ansatz gewählt; ihm geht es um die Bewertung der Akzeptabilität von Energiesystemen im Hinblick auf gesellschaftliche Ziele, Werthaltungen und Bedürfnisse. In seiner Analyse wird versucht, möglichst den Begriff in seinem vollen Bedeutungsinhalt einzubeziehen; dafür muß dann aber auf problematische Szenariomethoden und Plausibilität als erkenntnisleitende Methode zurückgegriffen werden.
In der Jülicher Studie wurde eine Beschränkung auf einen Teil des Bedeutungsinhalts in Kauf genommen, um dadurch einen empirischen Zugang zur Analyse der Sozialverträglichkeit zu ermöglichen. Es wurde primär der Aspekt der Kompatibilität eines Energiesystems mit den subjektiven Werthaltungen der Bevölkerung untersucht. Dabei ist die Grundannahme der Studie, daß die (individuelle) Akzeptanz eines Energiesystems vom Ausmaß der wahrgenommenen Verletzung normativ besetzter Zielvorstellungen (Werten) abhängt — jeweils verglichen mit ebenfalls möglich erscheinenden Alternativen. Das Ausmaß der mit einer Energieoption verbundenen Wertverletzungen bzw. Werterfüllungen gilt dann als Maßstab für die „Sozialverträglichkeit“ einer möglichen Entwicklungsrichtung.
Da in einer pluralistischen Gesellschaft unterschiedliche Wertemuster nebeneinander existieren und als Handlungsorientierungen für Individuen und gesellschaftliche Gruppen Geltung beanspruchen, ist jedoch empirisch gesehen eine Werterfüllung für eine Gruppe fast immer mit einer Wertverletzung für eine andere Gruppe verbunden. Aus diesem Grund kann kein Zustand und keine Maßnahme als mit allen vorfindbaren Wertvorstellungen kompatibel angesehen werden. Das daraus resultierende Problem des Wertausgleichs wird in unserem Konzept der Sozialverträglichkeitsprüfung pragmatisch gehandhabt in dem Sinne, daß eine energiepolitische Option um so sozialverträglicher einzustufen ist, je weniger Gruppen eine Verletzung ihrer Werte wahrnehmen und je weniger stark diese Wertverletzung ausgeprägt ist.
Zur empirischen Ermittlung von Sozialverträglichkeit im oben beschriebenen Sinn ist es erforderlich, zunächst die im Hinblick auf Energiesysteme gesellschaftlich relevanten Werte zu erfassen und die mit verschiedenen Energieszenarien verbundenen Konsequenzen abzuschätzen; in einem weiteren Schritt ist festzustellen, an welchen Stellen Wertverletzungen bei den zur Diskussion stehenden Alternativen erwartet werden.
III. Die drei Projektschritte und ihre Ergebnisse
Abbildung 12
Abb. 3: Pfadprofile im Vergleich. Die Profile geben an, wie die Teilnehmer der Planungszellen die 4 Pfade im Mittel eingeschätzt haben. Je weiter rechts der Wert auf der Skala liegt, um so positiver ist die Bewertung.
Abb. 3: Pfadprofile im Vergleich. Die Profile geben an, wie die Teilnehmer der Planungszellen die 4 Pfade im Mittel eingeschätzt haben. Je weiter rechts der Wert auf der Skala liegt, um so positiver ist die Bewertung.
Die Jülicher Sozialverträglichkeitsstudie läßt sich in drei Hauptteile gliedern: die Wertbaumkonstruktion, die Indikatoranalyse und die Erfassung von Bürgerpräferenzen in der Energiepolitik mit Hilfe von Planungszellen. Der erste Projektschritt diente der möglichst vollständigen Erfassung und Strukturierung der in der Gesellschaft vorfindbaren Wertvorstellungen im Zusammenhang mit Energieversorgungssystemen. Zu diesem Zweck wurden Vertreter von zehn relevanten Interessengruppen befragt. Beteiligt waren zum Beispiel Energieversorgungsunternehmen, Gewerkschaften, Naturschutzverbände und Kirchen, die in ihrer Gesamtheit ein breites Spektrum gesellschaftlicher Wertvorstellungen zur Energieversorgung widerspiegeln. Interessengruppen, nicht etwa Bürger oder Politiker, wurden deshalb gefragt, weil von ihnen Wertvorstellungen im Verlauf der Auseinandersetzung um die Richtung der Energiepolitik weitestgehend ausdiskutiert und präzise formuliert worden sind.
Mit Hilfe des Verfahrens der Wertbaumanalyse wurden zunächst individuelle Wertbäume für jede Interessengruppe entwickelt, die dann additiv zu einem Gesamtwertbaum verknüpft wurden. Zur Erstellung der individuellen Wertbäume führt man Gespräche mit Repräsentanten der gesellschaftlichen Gruppen, in denen diese nach ihren Werten und Kriterien gefragt werden, die sie bei der Bewertung von Energiesystemen anlegen. Werden sehr allgemeine Werte genannt, versucht man im Laufe des Gesprächs, diese zu detaillieren. Umgekehrt versucht man, allgemeinere Kategorien zu finden, unter denen sich genannte spezielle Aspekte subsumieren lassen. Die Erstellung eines Wertbaums ist so ein interaktiver Prozeß zwischen den Vertretern der gesellschaftlichen Gruppen und den Analytikern, die jeweils versuchen, die genannten Vorstellungen hierarchisch zu strukturieren. Der auf diese Weise entstandene Wertbaum wird zum Schluß noch einmal den Befragten vorgelegt und — ggf. nach Modifikationen — von diesen autorisiert. Der Gesamtbaum umfaßt alle mindestens einmal genannten Wertvorstellungen und fügt diese in einer logischen Struktur zusammen. Die Wertbaumerstellung wurde dadurch erleichtert, daß zum einen die Oberwerte trotz der Heterogenität der befragten Gruppen weitgehend übereinstimmten. Zum anderen hatten die Gruppen jeweils einen Teil der Oberwerte besonders stark aufgefächert, und der gemeinsame Wertbaum ließ sich ohne große Inkompatibilitätsprobleme aus diesen jeweils aus-differenzierten Teilbereichen zusammenfügen. Eine Gewichtung der einzelnen Wertvorstellungen war nicht vorgesehen, da die Präferenzgewichtungen der beteiligten Interessengruppen für den Untersuchungsansatz nicht erforderlich waren.
Der Gesamtwertbaum stellt einen weitgehend konsensfähigen Katalog von Kriterien dar, die bei der Beurteilung von Energiesystemen zu berücksichtigen sind. Er erfüllte für die Studie zum einen den Zweck, die relevanten Wertdimensionen für eine objektive Folgenanalyse von Energiesystemen intersubjektiv gültig festzulegen, zum anderen diente er als Ausgangspunkt für die Analyse der wahrgenommen Werterfüllungen und Wert-verletzungen. Als nächster Schritt wurde aus dem Wertbaum ein differenzierter Indikatorkatalog entwickelt, der als Grundlage für eine umfassende Bewertung von Energieträgern, Energietechnologien und Energiesystemen diente. Die grundlegende Systematik des Wertbaumes wurde beibehalten, das heißt, die Oberwerte wurden weitgehend übernommen, die fein verästelten Unterstrukturen wurden dagegen gestrafft und systematisch zusammengefaßt. Eine dreistufige Hierarchie (Ober-kriterium, Unterkriterium, Indikator) war das Ergebnis dieser Prozedur. Angestrebt wurde dabei eine Operationalisierung, die zu prinzipiell meßbaren Indikatoren führen sollte. Diese Operationalisierung wurde von der Projektgruppe unter Zuhilfenahme von Expertenbefragungen und Literaturrecherchen vorgenommen, doch konnte in einigen Bereichen lediglich auf Plausibilitätsüberlegungen zurückgegriffen werden.
Die ursprüngliche Absicht, für jedes Unterkriterium quantitativ meßbare Indikatoren zu formulieren, erwies sich als undurchführbar, vor allem im Bereich der sozialen und politischen Auswirkungen. Weil die in diesen Bereichen festgelegten Indikatoren primär qualitative Aspekte wiedergeben, wurde letzten Endes auf eine Quantifizierung generell verzichtet. Der so entstandene Kriterien-katalog umfaßt acht Hauptkriterien, die sich jeweils in drei bis fünf Unterkriterien gliedern, denen wiederum zwei bis drei Indikatoren zugeordnet sind:
1. Finanzielle und materielle Aufwendungen 1. 1 Heutige Kosten 1. 2 Zukünftige Kosten 1. 3 Technischer Aufwand und Wirksamkeit 2. Versorgungssicherheit 2. 1 Verfügbarkeit 2. 2 Störanfälligkeit 2. 3 Vorräte 2. 4 Ausbaufähigkeit 2. 5 Flexibilität 3. Volkswirtschaftliche Auswirkungen 3. 1 Arbeitsmarkt 3. 2 Wettbewerbsfähigkeit 3. 3 Wirtschaftsstruktur 4. Umweltauswirkungen 4. 1 Lokale Auswirkungen 4. 2 Nationale Auswirkungen 4. 3 Globale Auswirkungen 5. Gesundheit und Sicherheit 5. 1 Auswirkungen auf Betriebsangehörige 5. 2 Auswirkungen auf Nicht-Betriebsangehörige 5. 3 Katastrophen 5. 4 Probleme für kommende Generationen Soziale Auswirkungen 6. 1 Wohlstand 6. 2 Soziale Gerechtigkeit 6. 3 Soziale Sicherheit 6. 4 Einfluß auf die Arbeitswelt 6. 5 Lebenstile 6. 6 Persönliches Wohlbefinden Politische Auswirkungen 7. 1 Auswirkungen auf den Freiheitsspielraum 7. 2 Form der politischen Entscheidungsfindung 7. 3 Planungshoheit für Energieversorgung 7. 4 Auswirkungen auf die Innere Sicherheit und die politische Stabilität Internationale Auswirkungen 8. 1 Internationale wirtschaftliche Lage 8. 2 Sicherung des Friedens 8. 3 Internationaler Ausgleich Auf die einzelnen Energieträger und Energietechnologien ist nur eine Teilmenge der im Kriterien-katalog spezifizierten Indikatoren anwendbar; auf Energieszenarien wie die Pfade der Enquete-Kommission lassen sich nahezu alle Indikatoren anwenden.
Dieser Kriterienkatalog wurde von Experten verschiedener Richtungen für eine differenzierte Beurteilung der diskutierten Energieoptionen herangezogen, denn er deckt auch nach Auffassung externer Beobachter unseres Projekts „alle wichtigen Betrachtungsfelder ab und kann somit als einigermaßen vollständig bezeichnet werden“ 6).
Von der Projektgruppe wurde eine Bewertung der Pfade qualitativ auf einer Skala von + 2 (sehr gut) bis -2 (sehr schlecht) vorgenommen. Diese Bewertungen wurden sodann von je einem Experten mit Pro-bzw. Kontra-Kernenergieeinstellung überprüft. Nur wenn beide Experten einer Beurteilung zustimmten, wurde sie beibehalten; gab es abweichende Meinungen, so wurden diese in die Bewertung aufgenommen. Bei den besonders umstrittenen sozialen und politischen Auswirkungen wurde zusätzlich ein Delphi-Seminar mit Experten unterschiedlicher wissenschaftlicher Disziplinen und Positionen durchgeführt.
Auf eine Aggregation der Einzelbewertungen zu einem Gesamturteil für jeden Pfad wurde bewußt verzichtet, weil die dafür erforderlichen Gewichtungen der einzelnen Indikatoren nicht wissenschaftlich zu begründen sind, sondern von der individuellen Präferenzstruktur abhängen.
Die von der Projektgruppe erarbeiteten Beurteilungen wurden zu einem sogenannten „EnergieHandbuch“ zusammengefaßt, das einen wichtigen Informations-Input für den dritten Projekt-schritt, die Planungszellen, darstellte. Abbildung 1 zeigt einen Ausschnitt aus der Bewertung der vier Pfade („Internationale Auswirkungen“). Nach Abschluß der Planungszellenphase wurden der Kriterienkatalog und die Bewertungen der Energieszenarien nochmals überarbeitet und zusammen mit den anderen Informationseingaben für die Planungszellen veröffentlicht 7).
Von Juni 1982 bis März 1983 befaßten sich in sieben bundesdeutschen Gemeinden 24 Planungszellen mit der „Sozialverträglichkeit von Energieversorgungssystemen“. Das Konzept der Planungszelle wurde von P. C. Dienel entwickelt und zuvor erfolgreich zur Bearbeitung lokaler Planungsprobleme eingesetzt 8). Der Einsatz von Planungszellen soll zum einen gesellschaftliche Beteiligungschancen schaffen und zum anderen dabei helfen, aus bürokratischer oder fachspezifischer Betriebsblindheit erwachsende Planungsfehler zu vermeiden. Die Planungszelle ist sowohl ein Instrument der Partizipation wie der Politikberatung; ihre Funktion in der SozialVerträglichkeitsuntersuchung basierte auf beiden Aspekten.
Bei der Planungszelle handelt es sich um eine Gruppe von ca. 25 nach dem Zufallsprinzip ausgewählten Bürgern, die für eine begrenzte Zeit zusammenkommen und eine festumrissene Aufgabe bearbeiten. Die Teilnehmer der Planungszel-len werden für diese Aufgabe bezahlt, d. h., sie erhalten in der Regel ihren Verdienstausfall erstattet. Charakteristische Merkmale des Verfahrens sind neben der Zufallsauswahl und der Befreiung von den normalen Arbeitsverpflichtungen der intensive Lernprozeß, der durch Expertenreferate zu verschiedenen Sachgebieten und den Informationsaustausch der Teilnehmer untereinander zustande kommt, sowie die Einbindung in einen Gruppenprozeß, der durch die häufige Auf-gliederung in Kleingruppen noch intensiviert wird.
Mit der organisatorischen Durchführung der Planungszellen war die Forschungsstelle „Bürgerbeteiligung und Planungsverfahren“ der Gesamthochschule/Universität Wuppertal beauftragt; die inhaltliche Konzeption und der Programmablauf wurden von der Programmgruppe „Technik und Gesellschaft“ der Kernforschungsanlage Jülich und der Forschungsstelle „Bürgerbeteiligung und Planungsverfahren“ gemeinsam entwikkelt.
Im Verlauf des viertägigen Programms befaßten sich die Planungszellenteilnehmer mit dem Ist-Zustand und der zukünftigen Gestaltung der Wärmeversorgung am jeweiligen Tagungsort. Sie wurden über die verschiedenen Energieträger und die unterschiedlichen Technologien der Energieumwandlung und -bereitstellung informiert und beschäftigten sich intensiv mit den vier Energiepfaden der Enquete-Kommission. Da das Vorwissen der Teilnehmer zum Energieproblem naturgemäß lückenhaft und sehr unterschiedlich war, stellte die Informationsvermittlung ein wesentliches Element des Programmablaufs dar. Das Informationsangebot umfaßte Referate, Videofilme zu den besonders kontroversen Themen Sonnen-energie und Kernenergie, eine Podiumsdiskussion mit Vertretern der Parteien und das bereits erwähnte „Energie-Handbuch“. In der Praxis der Planungszellen erfolgte die Informationseingabe weitestgehend über die Referate; das Energie-Handbuch wurde nur von wenigen Teilnehmern intensiv genutzt, von den meisten dagegen nur in besonderen Streitfällen zu Rate gezogen.
Für die Analyse der Ergebnisse ist die Frage entscheidend, welche Informationen tatsächlich in die Bewertung, etwa der Pfade, eingeflossen sind. Im nachhinein kann man sagen, daß dies besonders der unterschiedliche Anteil der Kernenergie in den vier Pfaden (teils positiv, teils negativ bewertet) sowie der unterschiedliche Grad an Energieeinsparung und des Einsatzes regenerativer Energie (durchweg positiv beurteilt) ist. Indirekte Auswirkungen — etwa soziale Folgen sowie Argumente, die quantitative Abwägungen erfordern, z. B. Kosten von Energieeinsparung versus Kosten für Energiebereitstellung — blieben weitgehend unberücksichtigt.
Im Verlauf der Planungszellenarbeit mußte jeder Bürger verschiedene standardisierte Fragebögen zu Energieträgern und -technologien ausfüllen, Bewertungen der Energiepfade vornehmen und seine Einschätzungen begründen.
Im Mittelpunkt der Bewertungen stand die Pfad-entscheidung. Diese erfolgte in mehreren Stufen: — Die acht Hauptkriterien, die aus der Wertbaumanalyse entwickelt worden waren, mußten sowohl am ersten als auch am letzten Tag in eine Rangordnung gebracht werden. — Vor der individuellen Bewertung der vier Pfade mußten die Teilnehmer relative Gewichte für jedes Kriterium festlegen. — Jeder Teilnehmer wurde aufgefordert, die vier Pfade anhand der acht Hauptkriterien auf einer Skala von + 2 bis — 2 zu bewerten. Schließlich wurde jeder Teilnehmer gebeten, den „besten Pfad“ zu nennen und außerdem eine Zweitpräferenz zu äußern.
Im Anschluß an den Pfadentscheid sollte jeder schriftlich eine Begründung für die eigene Entscheidung abgeben.
Aus der Vielzahl der interessanten Ergebnisse können im folgenden nur die wichtigsten herausgegriffen werden Dabei soll zunächst die von den Planungszellenteilnehmern vorgenommene Gewichtung der Oberkriterien nach ihrer Relevanz für energiepolitische Entscheidungen analysiert werden.
IV. Zum Stellenwert von Kriterien
Abbildung 13
Wenn die Kernkraftwerke abgeschaltet würden...
Wenn die Kernkraftwerke abgeschaltet würden...
Die Gewichtung der Kriterien spiegelt augenscheinlich die Ambivalenz der gesellschaftlichen Wertordnung wider. Umwelt und Gesundheit als neue qualitative Merkmale haben erste Priorität, dicht gefolgt von den ökonomischen Werten Versorgungssicherheit und volkswirtschaftliche Auswirkungen (vgl. Abb. 2). Die rein betriebswirtschaftlichen Kostenaspekte werden dagegen als etwa gleich wichtig eingestuft wie die sozialen Auswirkungen von Energiesystemen. Politische und internationale Folgen werden als Kriterien für die Beurteilung von Energiepolitik und Energiepfaden im Schnitt als wenig relevant bewertet. Diese Einschätzung politischer und internationaler Auswirkungen darf nicht als Geringschätzung politischer und internationaler Anliegen generell mißverstanden werden. Die Reihenfolge der Kriterien spiegelt die subjektiv empfundene Wichtigkeit für energiepolitische Maßnahmen wider, nicht jedoch die Relevanz für andere Politikbereiche. Das geringe Gewicht, das diesen beiden Kriterien zugemessen wird, ist ein wichtiger Indikator dafür, daß Befürchtungen einer Entwicklung zu einem „Atomstaat“ oder „Kalorienstaat“ keine große Rolle spielen.
Die Beurteilung verschiedener energiepolitischer Strategien dreht sich also vorrangig um die Themen „Gesundheitsrisiko“, „Umwelt“, „Wirtschaftliche Auswirkungen“ und „Soziale Folgen“. Bei einer Aufschlüsselung nach verschiedenen sozialen, demographischen und einstellungsbildenden Merkmalen treten jedoch Unterschiede in der Kriteriengewichtung hervor. Zwar ändert sich an der grundlegenden Rangfolge der Kriterien wenig, die Abstände zwischen den drei Blöcken Umwelt, Gesundheit, Wirtschaft und indirekte Auswirkungen variieren jedoch beträchtlich.
Zwei Subgruppen der Befragten lassen sich aufgrund typischer Gewichtungsprofile differenzieren: Die erste Gruppe räumt der Umwelt-und Gesundheitserhaltung extrem hohe Priorität ein, gewichtet dafür die wirtschaftlichen Kriterien weniger stark. Diese Befragten betonen auch die sozialen und zum Teil internationalen Auswirkungen stärker, so daß diese mit den wirtschaftlichen Kriterien gleichziehen. Innerhalb der wirtschaftlichen Kriterien haben für diese Gruppe die finanziellen und materiellen Aufwendungen überhaupt keine Bedeutung, während Versorgungssicherheit und Auswirkungen auf die Volkswirtschaft mittlere Rangplätze einnehmen. Die zweite Gruppe ist durch eine Gleichgewichtung von Umwelt-bzw. Gesundheitsauswirkungen und volkswirtschaftlichen Auswirkungen gekennzeichnet. Nur sehr wenige Befragte stufen irgendeinen wirtschaftlichen Wert höher ein als beispielsweise den Gesundheits-oder Umweltaspekt. Vielmehr ist für diese Gruppe in ihrer Gesamtheit charakteristisch, daß wirtschaftsbezogene und umweltbezogene Kriterien als etwa gleichrangig betrachtet werden. Dagegen kommen die sozialen, politischen und internationalen Auswirkungen kaum noch in Betracht. In Anlehnung an die Diskussion um den gesellschaftlichen Wertewandel haben wir die erste Gruppe als Postmaterialisten bezeichnet. Sie umfaßt ca. 20 v. H. aller Planungszellenteilnehmer und kann durch folgende Merkmale charakterisiert werden: Ihre Mitglieder sind meist unter 40 Jahre alt, häufig Studenten oder Angestellte bzw. Beamte, sie stehen der Kernenergie eher skeptisch gegenüber und sind von der Endlichkeit der Energievorräte im besonderen Maß überzeugt. Der Bildungsgrad liegt etwas höher als im Durchschnitt. Die zweite Gruppe, die entsprechend die Materialisten enthält, umfaßt knapp 10v. H.der Planungszellenteilnehmer. Ihre Mitglieder sind überwiegend über 40 Jahre alt; ähnlich wie bei der ersten Gruppe sind Angestellte und Beamte über-repräsentiert. Ihre Einstellung zur Kernenergie ist überwiegend positiv, die heutige Energiesituation wird von ihnen als wenig bedrohlich wahrgenommen. Der Bildungsgrad liegt etwas unter dem Durchschnitt aller Planungszellenteilnehmer.
Zwischen diesen beiden Gruppen liegt die überwiegende Mehrheit der Planungszellenteilnehmer. Ihr Wertehorizont ist durch ein Nebeneinander von umweltorientierten und wirtschaftsorientierten Kriterien geprägt, wobei die Aspekte „Versorgungssicherheit“ unter den wirtschaftsbezogenen und „Gesundheitsrisiko“ unter den umwelt-bezogenen Kriterien als besonders relevant eingestuft werden.
Welche Schlußfolgerungen lassen sich aus diesen Präferenzordnungen für die Energiepolitik ziehen? Zunächst einmal können die Ergebnisse als eindeutige Bestätigung der These dienen, daß umweltbezogene Werte nicht nur Eingang in die Orientierungsmuster der meisten Menschen gefunden haben, sondern inzwischen die Spitze der sozialen Erwünschtheitsskala erreicht haben. Von einer großen Mehrheit der Teilnehmer an Planungszellen wurde die Meinung vertreten, die heutige Energiepolitik nehme zu wenig Rücksicht auf Umweltaspekte. Im Zielkonflikt zwischen Kosten und Umweltbelastung werde gegenwärtig der Kostenaspekt zu stark gewichtet und der Umwelt-erhaltung zu wenig Tribut gezollt. Dennoch widersetzte sich kaum ein Bürger der politischen Einsicht, daß Abwägungen zwischen Kosten und Umwelt getroffen werden müssen und daß eine einseitige Priorität für die Umwelt nicht finanzierbar sei. Nur die heute praktizierte Gewichtsverteilung wurde als zu wenig ausbalanciert angesehen. Demgemäß liegt der Schluß nahe, daß die überwiegende Zahl der Bürger zu finanziellen Opfern zugunsten der Umwelt bereit ist, sofern alle Bevölkerungsgruppen in gleicher oder proportionaler Weise daran beteiligt werden. Umweltschäden werden heute von der Bevölkerung als so gravierend angesehen, daß der Grenznutzen zusätzlichen Einkommens geringer eingestuft wird als Ausgaben für den Schutz der Umwelt.
Bei aller Wertschätzung der Planungszellenteilnehmer für die Umwelt spielen wirtschaftsbezogene Werte nach wie vor eine wesentliche Rolle.
Es trifft nicht zu, daß Wohlstand und Konsum heute als Orientierung ausgedient haben; diese Annahme beruht zum Teil auf einem Verzerrungseffekt durch soziale Erwünschtheit. Dieser Effekt führt dazu, daß bei der direkten Präferenzabfrage solche Werte betont werden, von denn man glaubt, daß sie auch von der sozialen Umgebung geschätzt sind. Im Gegensatz zu den Ergebnissen der direkten Präferenzabfrage wurde bei der Entwicklung selbst generierter Leitbilder für die Zukunft die Erhaltung des Lebensstandards als sehr wichtiges Ziel hervorgehoben. Auch aus der inhaltsanalytischen Auswertung der individuellen Begründungen für den Pfadentscheid geht hervor, daß wirtschaftsbezogene Kriterien stärker in den Vordergrund gerückt werden als dies aus der Gewichtung der Kriterien anzunehmen wäre. Somit wird erkennbar, daß eine Energiepolitik, die zu erheblichen Kostensteigerungen und damit zu einer Verringerung des verfügbaren Einkommens führt, Wertverletzungen bei den meisten Bürgern auslöst. Allerdings wurde bereits darauf hingewiesen, daß geringfügige Verteuerungen zugunsten hocherwünschter nationaler Ziele (wie etwa Umweltschutz) noch nicht als Wertverletzungen wahrgenommen, sondern durchaus als akzeptables Opfer für das Gemeinwohl betrachtet werden.
V. Zur Bewertung der Energieszenarien
Abbildung 14
Abbildung 14
Abbildung 14
Wie bereits erwähnt, bestand eine der Aufgaben der Planungszellenteilnehmer darin, eine individuelle Bewertung der vier Energiepfade auf einer Skala von + 2 bis — 2 anhand der acht Oberkriterien vorzunehmen. Alle Teilnehmer hatten sich zuvor in Kleingruppen mit den im „EnergieHandbuch“ niedergelegten Experteneinschätzungen der Pfade vertraut gemacht und arbeitsteilig eine Gruppenbeurteilung der Pfade entwickelt.
Abbildung 3 zeigt in Form von Profilen die Mittelwerte der individuellen Bewertungen. Die Pfadbewertungen differieren am stärksten bei den Kriterien „Umweltauswirkungen“ und „Gesund-heit und Sicherheit“, die im Schnitt auch als die wichtigsten Kriterien eingestuft worden waren. Bei beiden Kriterien wird im Mittel jeweils Pfad 1 am schlechtesten und Pfad 4 am besten bewertet. Pfad 1 erhält bei sieben der acht Hauptkriterien jeweils die negativsten Durchschnittswerte; lediglich bei den volkswirtschaftlichen Auswirkungen wird Pfad 4 noch etwas schlechter beurteilt.
Bei den Pfaden 2 bis 4 stellt man in erheblichem Maße Zielkonflikte fest. Der Pfad 4 etwa weist bei den Umweltauswirkungen und bei dem Kriterium „Gesundheit und Sicherheit“ die besten Werte auf, ist dagegen den Pfaden 2 und 3 bei den fiB nanziellen und materiellen Aufwendungen, der Versorgungssicherheit und den volkswirtschaftlichen Auswirkungen unterlegen. Betrachtet man die Rangfolge der vier Pfade bei den einzelnen Kriterien, dann kann man zwei verschiedene Muster erkennen: bei den Kriterien „Finanzielle und materielle Aufwendungen“, „Versorgungssicherheit“, „Volkswirtschaftliche Auswirkungen“ und „Soziale Auswirkungen“ werden jeweils die beiden Extrempfade schlechter beurteilt als die beiden gemäßigten Pfade 2 und 3. Bei den übrigen Kriterien „Umweltauswirkungen“, „Gesundheit und Sicherheit“, „Politische Auswirkungen“ und „Internationale Auswirkungen“ werden die Pfade 3 und 4, die langfristig auf Kernenergie verzichten und insgesamt einen geringeren Primärenergieverbrauch aufweisen, besser beurteilt als die Pfade 1 und 2. Insgesamt ist Pfad 3 der Pfad mit der höchsten Durchschnittsbewertung. Er weist keine ausgeprägten Schwächen auf und ist bei allen Kriterien immer unter den beiden bestbewertesten Pfaden.
In Anbetracht der Pfadprofile und der Kriterien-gewichtung ist es daher zunächst verwunderlich, daß der Pfad 3 nicht auch als eindeutiger „Sieger“ aus der Entscheidung für den „besten“ Energie-pfad hervorgegangen ist. Tatsächlich hat jedoch der Pfad 2 mit 41, 5 v. H. eine geringfügig höhere Zustimmung unter den Teilnehmern erhalten als der Pfad 3 mit 39, 5 v. H.. Ein nennenswerter Anteil von 16 v. H. entschied sich für den Pfad 4, während der Pfad 1 nur von 3 v. H. gewählt wurde. Wichtiger als die Prozentzahlen der Verteilung, die wegen fehlender Repräsentativität ohnehin keinen Rückschluß auf die Bevölkerung der Bundesrepublik zulassen, sind jedoch die Zusammenhänge zwischen der Einstellung und Werte-struktur der Befragten und der Pfadentscheidung, die im folgenden analysiert werden sollen.
Einflußfaktoren auf die Pfadentscheidung Die Diskrepanz zwischen dem erwartbaren Ergebnis aufgrund der Pfadbewertungen und den Gewichtungen sowie der tatsächlich getroffenen Entscheidung deutet daraufhin, daß noch andere Faktoren als die erfaßten Bewertungen einen Einfluß auf die Pfadentscheidungen gehabt haben:
— Möglicherweise umfassen die vorgegebenen acht Kriterien nicht alle Beurteilungsdimensionen, die intuitiv bei der Entscheidungsfindung berücksichtigt worden sind. Allerdings finden sich in den Ausführungen der Teilnehmer keine Hinweise auf die Unvollständigkeit des Kriterien-katalogs. — Die empirische Erfassung der Wertgewichte und Bewertungen kann fehlerhaft sein. Es wurde bereits darauf hingewiesen, daß der soziale Erwünschtheitseffekt dazu führen kann, daß explizit andere Gewichtungen genannt werden, als implizit der Entscheidung zugrunde liegen.
— Es gibt empirische Hinweise dafür, daß das Entscheidungsproblem als solches nicht akzeptiert wurde. Bei der Pfaddarstellung wurde nämlich unterstellt, daß alle vier Pfade gleichermaßen technisch und wirtschaftlich realisierbar sind und das gleiche Niveau, von Energiedienstleistungen ermöglichen. In den schriftlichen Begründungen der Pfadentscheidung werden diese Annahmen oftmals in Zweifel gezogen und die Pfade 3 und 4 als unrealistische Alternativen bezeichnet.
— Soziale Einflüsse können direkt die Entscheidung beeinflussen. So ist durchaus vorstellbar, daß Bürger der Politik der Regierung oder der von ihnen präferierten Partei vertrauen und sich deren Votum anschließen, ohne daß ihre persönliche Wahrnehmung des Problems damit übereinstimmen muß. Die Tatsache, daß die Pfadentscheidung mit dem Alter und der Parteipräferenz der Teilnehmer korreliert — CDU-Wähler und ältere Menschen haben sich häufiger als der Durchschnitt für den Pfad 2 ausgesprochen, SPD-Wähler, Grüne und junge Personen häufiger für den Pfad 3 oder 4 — deutet darauf hin, daß Bezugsgruppeneinflüsse eine Rolle gespielt haben, auch wenn in den Begründungen eine direkte Bezugnahme auf meinungsführende Gruppen in der Gesellschaft fast nie auftaucht.
VI. Bedeutung der Kernenergie-Einstellung für den Pfadentscheid
Abbildung 15
Abb. 4: Vergleich der Pfadbewertungen durch unterschiedliche Pfad-Entscheider-Gruppen. Bei den Pfad-2-Entscheidern bestehen Zielkonflikte.
Abb. 4: Vergleich der Pfadbewertungen durch unterschiedliche Pfad-Entscheider-Gruppen. Bei den Pfad-2-Entscheidern bestehen Zielkonflikte.
Die Entscheidung für oder gegen einen Pfad ist vor allem von der eigenen Einstellung zur Kernenergie abhängig. Für diese Interpretation spricht einmal die hohe Korrelation zwischen der Pfad-entscheidung und der durch einen Index gemessenen Einstellung zur Kernenergie. Ein stärkerer Zusammenhang als zwischen Kernenergieeinstellung und Pfadpräferenz wurde bei keiner anderen Variabienkombination dieser Studie ermittelt. Diskussionen über die Nutzung der Kernenergie haben stets breiten Raum in den Planungszellen eingenommen. Während die Forderung nach verstärkten Energiesparmaßnahmen einhellig von al• len Teilnehmern erhoben wurde, prallten beim Thema Kernenergie die Pro-und Kontra-Standpunkte hart aufeinander. Aus der Diskussion der Teilnehmer mit dem Kernenergieexperten und den Politikern wurde deutlich, daß der Einsatz der Kernenergie für fast alle Teilnehmer der Angelpunkt ihrer Einstellung zu einem Energieszenario war. Im Vordergrund stand dabei das Problem der Entsorgung, das als technisch und politisch ungelöst eingestuft wurde.
Dagegen wurden die in der Bundesrepublik betriebenen Kernkraftwerke von einer Mehrzahl der Teilnehmer für sicher gehalten; eine Einschätzung, auf die die vorgetragenen statistischen Risikoanalysen allerdings nur marginalen Einfluß gehabt haben dürften. Denn es zeigte sich in den Planungszellen, daß der Sinn und die Aussagekraft wahrscheinlicher Risikoberechnungen kaum zu vermitteln sind. Das liegt vor allem daran, daß im normalen Alltagsleben deterministische Aussagen vorherrschen und der Mensch daher dazu tendiert, den Informationsgehalt von Wahrscheinlichkeitsrechnungen auf deterministische Aussagen zu reduzieren, um damit umgehen zu können. Die Vorstellung, eine Wahrscheinlichkeit von 1: 10 000 000 für den Eintritt eines Ereignisses bedeutet, daß dieses Ereignis in zehn Millionen Jahren eintrete, ist ein typisches Beispiel für die Fehlinterpretation von Wahrscheinlichkeits-Aussagen. Die Tatsache, daß die Wahrscheinlichkeit nichts über den genauen Zeitpunkt des Eintretens eines Ereignisses aussagt, widerspricht der Alltagslogik.
Für das Entscheidungsverhalten der Planungszellenteilnehmer war es jedoch nach unserer Einschätzung nicht ausschlaggebend, ob sie die vorgetragenen Risikoanalysen richtig einordneten, und zwar deshalb, weil die angebotenen Informationen kaum eine Änderung der Einstellung zur Kernenergie bewirkten. Die Einschätzung, daß die Kernenergienutzung umweltbelastend und risikoreich sei, läßt sich als ein Grundmuster der Einstellung aller Planungszellenteilnehmer (auch der Kernenergiebefürworter) feststellen. Während die vorgetragenen Ergebnisse der Risikoanalysen von den Kernenergiebefürwortern durchaus dankbar angenommen und aufgegriffen wurden, da sie ihre subjektive Überzeugung von der Gefährlichkeit der Kernenergie relativierten und somit entlastend wirkten, führten sie bei den Kernenergiegegnern keinesfalls zu einer Erschütterung ihrer Einstellung, sondern wurden vielmehr als ein Zeichen des vergeblichen Versuches gewertet, das unkalkulierbare Risiko mit der Hilfe mathematischer Modellrechnungen herunterzuspielen. Andererseits wird die Kernenergie zumindest von ihren Befürwortern mit wirtschaftsbezogenen Werten in Verbindung gebracht. Da gemäß den Modellannahmen alle vier Pfade den gleichen ökonomischen Nutzen aufweisen, kam es bei den Befürwortern der Kernenergie bei der Pfadbeurteilung zu einem kognitiven Konflikt. Die Pfade 2 und 3 mußten auf den wirtschaftsbezogenen Kriterien relativ ähnlich beurteilt werden, während der Pfad 3 nach Ansicht aller im Bereich Umwelt, Gesundheit und Sicherheit dem Pfad 2 vorzuziehen war. Unter diesen Umständen kam es notwendigerweise zu einer Dominanz in der Kriterienbewertung von Pfad 3 gegenüber Pfad 2. In der konkreten Entscheidungssituation setzte sich aber bei den wirtschaftsbezogenen Personen die ursprüngliche Erwartungshaltung gegenüber der Kernenergie durch. Wie aus den Begründungen für die Wahl des Pfads 2 zu ersehen ist, wurden die Vorgaben der Pfade entweder in Zweifel gezogen oder aber die Werte „Versorgungssicherheit“ und „volkswirtschaftliche Auswirkungen“ besonders betont.
Diejenigen, die der Kernenergie skeptisch gegenüberstehen und sie nicht nur als umweltschädlich, sondern auch als volkswirtschaftlich wenig nutzbringend einstufen, sehen sich in den Pfaden 3 und 4 voll bestätigt und konnten eine mit ihren Gewichten und Bewertungen vereinbare Entscheidung treffen. Da beide Pfade ab dem Jahr 2000 auf Kernenergie verzichten und Kernenergie der dominante Faktor bei der Pfadbeurteilung gewesen ist, gaben sich viele Gegner der Kernenergie mit dem Pfad 3 zufrieden, weil dieser eher politisch kompromißfähig sei. Außerdem ist mit einer ablehnenden Haltung gegenüber der Kernenergie nicht unbedingt der Wunsch nach einer stark ökologisch ausgerichteten Wirtschaft verbunden; ein solches Wirtschaftsmodell wurde in starkem Maße mit dem Pfad 4 assoziiert. Die mit einer Skala gemessenen Einstellungen zum staatlichen Handeln im Bereich der Energieeinsparung deuten jedoch darauf hin, daß eine Politik massiver Energieeinsparung — etwa wie sie im Pfad 3 vorgesehen ist — in der Öffentlichkeit mit einem großen Vertrauensvorschuß rechnen könnte.
VII. Zur Beurteilung der Sozialverträglichkeit
Sozialverträglichkeit in dem dieser Studie zugrunde gelegten Bedeutungsinhalt beinhaltet immer auch einen Kompromiß zwischen Werterfüllungen und Wertverletzungen für verschiedene Gruppen in unserer Gesellschaft. Die beiden Extrempfade 1 und 4 können nicht als sozialverträgliche Strategien angesehen werden, denn mit ihrer Verwirklichung würden für jeweils große Gruppen der Gesellschaft zentrale Werte verletzt. Zur Beurteilung der Sozialverträglichkeit der beiden verbleibenden Pfade 2 und 3 liefert ein gruppen-spezifischer Vergleich der Einschätzungen neue Einsichten. Der Vergleich der Einschätzungen durch die Pfad-2-Entscheider und die Pfad-3-Entscheider zeigt, daß jede Gruppe ihrem jeweils präferierten Pfad deutlich bessere Noten gibt, als dieser von der jeweils anderen Gruppe erhält. Dabei handelt es sich im wesentlichen um eine Parallel-verschiebung der Profile; d. h. die relativen Vor-und Nachteile der beiden Pfade werden von den jeweiligen Befürwortern und Gegnern ähnlich eingeschätzt, nur wird der „eigene“ Pfad im Vergleich zum anderen Pfad auf allen Kriterien besser bewertet.
Vergleicht man die Bewertungen der Pfade 2 und 3 jeweils durch die Pfad-2-Entscheider miteinander (Abb. 4), dann fällt auf, daß die Pfad-3-Entscheider den von ihnen gewählten Pfad auf allen Kriterien dem Pfad 2 für überlegen halten, die Pfad-2-Entscheiderjedoch eine Überlegenheit des Pfades 3 gegenüber dem von ihnen präferierten
Pfad 2 in einigen Punkten einräumen. Diese Ziel-konflikte, die auf der Ebene der Durchschnitts-werte sofort ins Auge fallen, lassen sich auch auf der Ebene des Individuums nachweisen, beruhen also nicht auf einem Aggregationseffekt. Zielkon-flikte gibt es wesentlich häufiger bei Pfad-2-BefürWörtern als bei Pfad-3-Befürwortern. Rund 86% der Pfad-2-Befürworter halten in einigen Aspekten (meist Umwelt sowie Gesundheit/Sicherheit) den Pfad 3 dem von ihnen präferierten Pfad 2 für überlegen, wohingegen der Prozentsatz der Personen mit Zielkonflikten bei den Pfad-3-Befürwortern nur bei 51v. H. liegt. Die Stärke der Zielkonflikte ist bei diesen jeweils auch im Durchschnitt viel geringer. Nach diesem Ergebnis läßt sich vermuten, daß sich Pfad-2-Befürworter leichter mit dem Pfad 3 abfinden würden als umgekehrt Pfad-3-Befürworter mit dem Pfad 2, sofern sich die Annahme, daß beide Pfade technisch wie ökonomisch realisierbar sind, als zutreffend erweist.
Die Personen, die sich für den Pfad 2 entschieden haben, beurteilen den Pfad 3 durchgängig wesentlich besser als den Pfad 1. Selbst der Pfad 4 wird von vielen Pfad-2-Befürwortern ähnlich positiv beurteilt wie der eigene Pfad, auf jeden Fall aber besser als Pfad 1. Bei den Personen, die sich für den Pfad 3 entschieden haben, wird der Pfad 2 im Schnitt negativer eingeschätzt als der von ihnen präferierte Pfad 3 und erst recht der Pfad 1 als unakzeptabel zurückgewiesen. Dafür wird jedoch der Pfad 4 ebenso positiv eingestuft wie der Pfad 2. Für die Fragestellung nach dem Grad von Wertverletzung und Werterfüllung ergibt sich aus dieser Betrachtung, daß der Pfad 3 für alle Gruppen am ehesten kompromißfähig erscheint. Stärkere Wertverletzungen sind nur bei den Personen festzustellen, die sich für den Pfad 1 ausgesprochen haben. Diese Wertverletzungen scheinen jedoch im Ausmaß geringer zu sein als diejenigen, die sich bei einer Verwirklichung des Pfades 2 für die Anhänger der Pfade 3 und 4 ergeben würden. Die Schlußfolgerung, daß der Pfad 3 für die meisten Planungszellenteilnehmer akzeptabel erscheint, wird noch durch folgendes Faktum gestützt. Die Teilnehmer hatten bei ihrem Pfadentscheid nicht nur den „besten“ Pfad genannt, sondern auch eine zweite Priorität geäußert. Betrachtet man die gemeinsame Verteilung der ersten und zweiten Priorität, dann sprechen sich 75 v. H. aller Planungszellenteilnehmer für den Pfad 3 aus. Nicht kompromißfähig ist der Pfad 3 lediglich für die kleine Gruppe der Pfad-1-Entscheider sowie für den Teil der Pfad-2-Entscheider, die als zweite Priorität den Pfad 1 gewählt haben. Auch wenn ein Repräsentativschluß von den Entscheidungen in der Planungszelle auf die Gesamtbevölkerung der Bundesrepublik unzulässig ist, so lassen die dargestellten Ergebnisse es dennoch plausibel erscheinen, daß eine Verwirklichung des Pfades 3 für weniger Gruppen in der Gesellschaft Wertverletzungen mit sich bringen würde als eine Realisierung des Pfades 2.
Das wesentliche Handikap des Pfades 3 liegt darin, daß die breite Zustimmung zu dieser Strategie wesentlich von der Richtigkeit der gemachten Modellannahmen — gleiches energetisches Komfortniveau und gleiche wirtschaftliche Wachstumsraten wie bei Pfad 2 — abhängt. Der hohe Anteil der Planungszellenteilnehmer, der sich für Pfad 2 als besten Pfad entschieden hat, weist darauf hin, daß die Realisierbarkeit des Pfades 3 sowohl in technischer Hinsicht (Substitution von Kernenergie durch Energiesparen) wie auch in ökonomischer Hinsicht (gleicher Wohlstand wie bei Pfad 2) mit Skepsis beurteilt bzw. als nicht gegeben angesehen worden ist.
Gabriele Albrecht, Dipl. -Volksw. sozialwiss. Richtung, geb. 1955; seit 1982 Mitarbeit in der Programmgruppe „Technik und Gesellschaft“ der Kernforschungsanlage Jülich. Ulrich Kotte, Dipl. -Phys., geb. 1940; seit 1971 für die Kernforschungsanlage Jülich tätig, von 1977 bis 1982 für die KFA Jülich in der Internationalen Atomenergiebehörde in Wien beschäftigt, seitdem Mitarbeiter der Programmgruppe „Technik und Gesellschaft“. Hans Peter Peters, Dr. rer. soc., geb. 1955; seit 1981 Mitarbeiter in der Programmgruppe „Technik und Gesellschaft“ der Kemforschungsanlage Jülich. • Ortwin Renn, Dr. rer. pol., geb. 1951; von 1981 bis 1986 Leiter der Abteilung „Mensch und Technik“ innerhalb der Programmgruppe „Technik und Gesellschaft“ und Lehrbeauftragter für Techniksoziologie an der Universität Stuttgart; ab 1986 Professor für Umweltpolitik und Techniksoziologie an der Clark Universität Boston (USA). Hans Ulrich Stegelmann, Dipl. -Math., geb. 1951; seit 1982 Mitarbeiter in der Programmgruppe „Technik und Gesellschaft“ der Kernforschungsanlage Jülich; Lehrbeauftragter für Datenverarbeitung an der Fachhochschule Aachen.
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