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Der wirtschaftliche Existenzkampf der Juden im Dritten Reich (1933-1938) | APuZ 31/1986 | bpb.de

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APuZ 31/1986 Spiele unterm Hakenkreuz Die Olympischen Spiele von Garmisch-Partenkirchen und Berlin 1936 und ihre politischen Implikationen Die deutschen Minderheiten in Polen und in der Tschechoslowakei in den dreißiger Jahren Die „Deutschland-Berichte“ der Sopade Der wirtschaftliche Existenzkampf der Juden im Dritten Reich (1933-1938)

Der wirtschaftliche Existenzkampf der Juden im Dritten Reich (1933-1938)

Avraham Barkai

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Zusammenfassung

Neuere Forschungen beweisen, daß der Verdrängungsprozeß der Juden aus der Wirtschaft früher und effektiver im Gange war, als bisher angenommen wurde. Besonders waren hiervon jüdische Erwerbstätige betroffen, die in einzelnen Berufen überproportional konzentriert waren: im Waren-einzelhandel, dem Vieh-und Landproduktenhandel und den freien Berufen. Bis zum Frühjahr 1938 waren hier bereits über 60 % aller selbständigen jüdischen Betriebe liquidiert oder arisiert. Die Verdrängung der Juden aus der Wirtschaft war ein kontinuierlicher Prozeß, der sich konsequent — wenn auch nicht in einheitlichem Tempo — radikalisierte. Eine „Schonzeit“ läßt sich für die ersten Jahre nur auf dem Gebiet der Gesetzgebung nachweisen. Gleichzeitig erwiesen sich jedoch wirtschaftliche Boykott-und Drangsalierungsmaßnahmen — zeitweilig durch physische Gewalttätigkeiten unterstützt — auf lokaler Ebene auch ohne legislative Sanktion als die effektivsten Mittel. Wenn auch die Parteiinstanzen — insbesondere die Gauwirtschaftsberater — den Boykott-und Arisierungsdruck am aktivsten betrieben, so ist doch die These einer „dualistischen“ Judenpolitik im Sinne eines unterschiedlich radikalen Vorgehens von Partei-und staatlichen Dienststellen zu revidieren: Während der ganzen Periode ist die Zusammenarbeit von Parteiinstanzen, wirtschaftlichen Verbänden und lokalen sowie zentralen Regierungs-und Verwaltungsorganen nachweisbar. Die jüdischen Führungsgremien versuchten anfangs, die wirtschaftlichen Positionen auf dem Wege der Justiz und sonstiger legaler Appellationen zu halten. Als sich schon früh die Fruchtlosigkeit dieser Bemühungen erwies, verschob sich das Schwergewicht zunehmend auf die Selbsthilfe. Ab Ende 1937 wurden die Gesetzesmaßnahmen verschärft, um die Juden von jeder aktiven Wirtschaftstätigkeit zu verdrängen. Die nach dem Novemberpogrom offiziell verkündete „Entjudung der Wirtschaft“ war nicht der Beginn, sondern der Abschluß dieses Prozesses, der nur noch Restbestände liquidierte. Danach setzte die offene Plünderung des jüdischen Vermögens ein, das bereits durch den langjährigen Verdrängungsprozeß zum größten Teil liquide — und damit „erfaßbar“ — war.

Leicht gekürzter Vorabdruck aus dem im Herbst im J-C. B. Mohr Verlag, Tübingen, erscheinenden Sammelband „DieJuden im Nationalsozialistischen Deutschland 1933— 1943“, herausgegeben von Arnold Paucker.

Seit dem neunzehnten Jahrhundert waren wirtschaftliche Argumente ein wesentlicher Bestandteil antisemitischer Propaganda. Vom Nationalsozialismus übernommen, erwiesen diese in der Wirtschaftskrise eine erneute und verstärkte Wirksamkeit. Besonders empfänglich waren dabei Gesellschafts-und Berufsgruppen, die mit Juden wirtschaftlich besonders in Kontakt traten, sei es als Konkurrenten, als Käufer oder Verkäufer. Bei der spezifischen Berufsstruktur der Juden, die sich seit dem neunzehnten Jahrhundert in Deutschland nur unwesentlich verändert hatte, waren Juden vor allem in vier Berufskategorien überproportional vertreten: im Bankwesen, im Wareneinzelhandel — insbesondere in den Bekleidungsbranchen —, in den freien Berufen und im Vieh-und Landproduktenhande

Eine sozio-ökonomische Analyse der Rezeption des Antisemitismus steht noch aus. Bei aller Vorsicht vor monokausalen Fallen kommt man indessen nicht umhin festzustellen, daß sich — wohl kaum zufällig — die aktivsten Formationen der NSDAP und insbesondere der SA aus den unteren Sparten des alten und neuen Mittelstandes rekrutierten. Auch der hohe Anteil von Ärzten und Juristen und deren studentischem Nachwuchs in den Führungseliten der SS ist nachgewiesen Alle diese nationalsozialistischen Berufsverbände vertraten vor 1933 die radikalsten Forderungen zur wirtschaftlichen Ausschaltung ihrer jüdischen Konkurrenten. Nach der Machtübernahme waren auch tatsächlich die Juden in den entsprechenden Berufen die ersten Ziele wirtschaftlicher Repressalien. Ihre Betätigung in den freien Berufen wurde bereits im April 1933 im Anschluß an das „Berufsbeamtengesetz“ gesetzlich eingeschränkt. Der Boykott vom 1. April war der Auftakt eines kontinuierlichen Diskriminierungsprozesses, der die jüdischen Stellungen im Einzelhandel auch ohne Gesetzesmaßnahmen effektiv und gründlich eliminierte. Gegen die jüdischen Viehhändler setzte auf dem Lande eine besonders gewalttätige Verdrängungsaktion ein.

In der wirtschaftlichen Sphäre konsolidierte sich das nationalsozialistische Regime erst Mitte 1934 nach einer Reihe interner Machtkämpfe und Interessenkonflikte Auch die Notwendigkeit der „Beruhigung der Wirtschaft", der Überwindung der Arbeitslosigkeit und der Devisenbeschaffung schrieben vorerst eine Rücksichtnahme auf die Reaktion des Auslands vor, und all dieses verursachte eine zeitweilige Eindämmung der offenen antisemitischen Maßnahmen. Bei den Zeitgenossen — und auch bei den Historikern — ergab sich daraus der Eindruck einer mehrere Jahre lang anhaltenden „Schonzeit” hinsichtlich jüdischer Wirtschaftstätigkeit Im Lichte der neue-ren Forschung und neuer Quellenbefragung muß m. E. dieses Bild erheblich revidiert werden. Wenn auch die extremsten Ansprüche der rabiatesten Nazis, wie z. B. diejenigen des schon im August 1933 aufgelösten Kampfbundes für den gewerblichen Mittelstand, einstweilen vertagt wurden so ging doch die Verdrängung der Juden aus ihren wirtschaftlichen Positionen unabwendbar voran.

Es gab natürlich örtliche und zeitliche Fluktuationen dieses Prozesses. Aber im ganzen nachweisbar ist die fast ununterbrochene Effizienz eines — manchmal im Stillen, zumeist aber in der Öffentlichkeit, in Lokalpresse und Straßenkrawallen offen ausgeübten — Druckes, der zuerst auf dem Lande und dann auch in den Städten immer mehr jüdische Geschäftsinhaber dazu zwang, ihre Geschäfte zu liquidieren oder unter ihrem Wert an „Arier“ zu verkaufen. Im Juli 1938 waren nach offiziellen Angaben von den über 50 000 jüdischen Einzelhandelsgeschäften, die Ende 1932 gezählt wurden nur noch ca. 9 000 in jüdischen Händen Von rund 8 000 jüdischen Ärzten praktizierten im Juli 1938 nur noch knappe 3 000, die zumeist nur jüdische Patienten behandelten. Von 4 500 jüdischen Juristen übten zur selben Zeit nur noch 1 753 ihren Beruf aus. Seit Sommer 1938 waren nur noch 709 Ärzte und 172 Rechtsanwälte als „Krankenbehandler“ und „Konsulenten“ für jüdische Klienten zugelassen

Hinsichtlicht des Verlaufs der „Arisierungen“ oder der Liquidation jüdischer Wirtschaftsbetriebe beruft sich die Forschung bis heute fast ausschließlich auf die Zahlen, die der für das „Judenreferat“ im Reichswirtschaftsministerium zuständige Alf Krüger — sinnfällig „Judenkrüger“ genannt — 1940 veröffentlichte. Demnach gab es im April 1938 noch knapp 40 000 jüdische „Betriebe“ im sogenannten „Altreich“ Nach der berufs-statistisch üblichen Definition waren darin alle selbständigen Geschäfte eingeschlossen — vom Warenhaus oder der Privatbank über die Praxen selbständiger Ärzte und Rechtsanwälte bis hin zum Wandergewerbe„betrieb“ herumziehender Hausierer. Entsprechend dieser Definition gab es nach meiner Schätzung Ende 1932 in ganz Deutschland etwa 100 000 jüdische „Betriebe“ Das heißt, daß selbst nach den nicht weiter belegten Daten Krügers im April 1938 bereits über 60% der jüdischen Betriebe nicht mehr bestanden! Wie viele davon liquidiert und wie viele zwischen 1933 und 1937 „arisiert“ worden waren, läßt sich nicht genau feststellen und ist im gegenwärtigen Zusammenhang auch nicht so wichtig. Es erscheint als erwiesen, daß die selbständige jüdische Wirtschaftstätigkeit bereits Ende 1937 in viel größerem Umfang eingestellt war, als die bisherige Forschung annimmt.

Über die Beschäftigungsquote der jüdischen Arbeiter und Angestellten fehlen zwar genaue Angaben, aber da diese zunehmend nur noch bei jüdischen Arbeitgebern Anstellung fanden, bewirkte die fortschreitende Liquidation jüdischer Unternehmen eine stetig wachsende Arbeitslosigkeit. Ende 1937, als in der Wirtschaft bereits Mangel an Arbeitskräften herrschte, mußten sich jüdische Sozialarbeiter um 30 000 nicht einzuordnende Erwerbslose kümmern. Im Frühjahr 1938 waren es bereits 60 000 Die dünne wirtschaftliche Oberschicht, darunter auch diejüdischen Privatbanken — als „jüdische Hochfinanz“ ein hervorragendes Ziel antisemitischer Hetze —, konnte sich länger behaupten. Dank ihrer Verbindungen im In-und Ausland waren die jüdischen Großunternehmen dem Boykott-Terror der Straße weniger ausgesetzt und konnten sogar zeitweilig vom allgemeinen Wirtschaftsaufschwung profitieren. Später konnten die meisten von ihnen, oft unter Verlust eines großen Teils ihres Vermögens, rechtzeitig entkommen; hatten sie doch auch zum Teil genügend Reserven und Familienbeziehungen im Ausland, die sie vor physischer Not bewahrten Herbert Strauss’ Unterscheidung zweier verschiedener jüdischer Wirtschaftsgruppen findet sich hier bestätigt. Merkwürdigerweise konnten sich auch die jüdischen Handwerksbetriebe länger halten. Der Grund dafür dürfte ihr geringer Anteil und ihre wirtschaftliche Bedeutungslosigkeit gewesen sein. Es waren zumeist Klein-oder Einmannbetriebe mit geringem Umsatz — als Konkurrenten kaum gefährlich und als Arisierungsobjekte wenig attraktiv Nach dem Novemberpogrom wurden sie im Laufe der „Entjudung der Wirtschaft“ fast ausnahmslos liquidiert und nur wenige „arisiert“

Die weit fortgeschrittene Verdrängung aus aktiver Wirtschaftsbetätigung spiegelt sich auch eindeutig in den Ergebnissen der Vermögensaufnahme vom April 1938 wider: Von den 8, 5 Milliarden, die einschließlich Österreich angemeldet wurden, waren nur knapp 1, 2 Milliarden RM, d. h. ca. 14%, aktives Betriebsvermögen. 4, 8 Milliarden, also fast 60%, waren liquide Wertpapiere, die eine streng vertrauliche Zusammenfassung bezeichnenderweise als „angreifbares Vermögen ... sofort erfaßbar“ hervorhob Der Rest bestand aus Grundvermögen, dessen „Arisierung“ die Nazis bewußt hinausschoben Da die Vermögensanmeldung im April, also kurze Zeit nach dem Anschluß Österreichs, vollzogen wurde, ist anzunehmen, daß in den für das Altreich angemeldeten Vermögen der Prozentsatz des Betriebsvermögens noch niedriger war.

Nach der ersten Gesetzeswelle von 1933 folgten einige Jahre lang nur verhältnismäßig wenig gesetzliche Beschränkungen jüdischer Wirtschaftstätigkeit. Auch die im Anschluß an die „Nürnber-ger Gesetze“ 1935 erwarteten wirtschaftlichen Gesetze blieben aus. Um so wirkungsvoller ging jedoch der Verdrängungsprozeß mit den Mitteln wirtschaftlichen und auch physischen Drucks voran. Die Parteiinstanzen waren dabei natürlich am aktivsten: In den Büros der GauWirtschaftsberater wurden — den erhalten gebliebenen Archiv-beständen nach — Einzelakten über jedes jüdische Geschäft geführt und dessen Einkünfte dauernd verfolgt Die Gauwirtschaftsberater bzw. die Gauleiter hatten bei der Bestätigung von Arisierungen das letzte Wort und sorgten unverhohlen dafür, daß verdiente Parteigenossen sich als erste an den verschleuderten jüdischen Geschäften bereichern konnten Aber genauso eindeutig geht aus diesen Akten auch die enge Zusammenarbeit mit den regierenden Stellen auf kommunaler, Landes-und Reichsebene hervor. Von einer scharfen Trennung oder gar einem Konflikt entgegengesetzter Tendenzen im wirtschaftlichen Bereich der Judenpolitik kann m. E. während der gesamten Zeit keine Rede sein. Finanzämter, Industrie-und Handelskammern und kommunale Behörden arbeiteten einverständlich Hand in Hand mit den Gauwirtschaftsberatern und anderen Parteistellen zusammen, und einige Bürgermeister — zumeist bekannte „alte Kämpfer“ — taten sich dabei besonders hervor

Gelegentliche Einsprüche der Regierungspräsidenten — oft betont widerwillig, aufgrund ebenso widerwilliger Interventionen aus Berlin vorgebracht — wurden geflissentlich zur Kenntnis genommen und „zu den Akten gelegt“, für die sie zumeist von vornherein bestimmt gewesen waren. In einigen Fällen waren diese Einsprüche das Ergebnis von Beschwerden von jüdischer Seite, wie der Reichsvertretung der deutschen Juden oder des Centralvereins deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens, die sich in den ersten Jahren noch etwas von rechtsstaatlichen Normen versprachen Zumeist halfen auch Interventionen des Reichswirtschaftsministeriums kaum. So teilte z. B.der Bürgermeister von Bochum der Regierungsinstanz kurzerhand mit, er könne für die Sicherheit jüdischer Viehhändler nicht haften, falls er sie, wie geboten, wieder auf den Schlachthöfen zulasse In fast allen Städten wurde ohne jede gesetzliche Sanktion das Kaufverbot in jüdischen Geschäften, das für Parteimitglieder obligatorisch war, auf sämtliche Kommunalangestellte erweitert Die Wohlfahrtsämter schlossen jüdische Geschäfte vom Bezug durch Bedarfdeckungsscheine aus, und kaum ein jüdischer Lieferant hatte praktisch Aussicht auf öffentliche Aufträge, noch ehe dieses gesetzlich fixiert wurde. Den wenigen noch zugelassenen Kassenärzten wurden kaum nichtjüdische Patienten zugeschickt, und welcher vernünftige „Arier“ hätte sich vor Gericht durch einen jüdischen Rechtsanwalt vertreten lassen?

Damit soll nicht gesagt sein, daß überhaupt keine Unterschiede bestanden, sondern nur, daß diese sich nicht nach irgendeinem dualistischen oder anderen Schema erfassen lassen Ausschlaggebend war eher die persönliche Einstellung mancher Beamten oder ihrer Vorgesetzten als ihre Behördenzugehörigkeit. Bei dem für das nationalsozialistische Herrschaftssystem charakteristischen Kompetenzwirrwarr konnten sich dabei für die jüdischen Betroffenen sehr erhebliche Unterschiede ergeben. Dementsprechend änderte sich auch die Taktik jüdischer Institutionen im Laufe der Jahre. Anfangs wurden noch aufgrund der Deklarationen offizieller Stellen gegen „Einzelaktionen“ und „Übergriffe“ Beschwerden und Eingaben an die Regierungsstellen bis hin zur Reichskanzlei gesandt. Nachdem sich die Fruchtlosigkeit dieser Interpellationen mehr und mehr erwies, beschränkte man sich bald darauf, Beziehungen auszunutzen und in den zuständigen Behörden denjenigen wohlmeinenden Beamten zu entdecken zu versuchen, mit dem sich noch reden ließ

Im übrigen konzentrierten sich die Bemühungen zunehmend auf die praktische Wirtschaftshilfe. Schon verhältnismäßig früh änderte sich die Einschätzung bezüglich der noch bestehenden Existenzmöglichkeiten und der Aussicht, es trotz allem in Deutschland aushalten zu können. Entsprechend änderten sich auch Arten und Ziele wirtschaftlicher Beratung und Hilfeleistung. Die zu Beginn vorherrschende Tendenz, mit allen rechtlichen Mitteln an jeder Position festzuhalten und durch Interventionen und auch juristischen Beistand „ungesetzmäßige“ Entlassungen und Boykottmaßnahmen rückgängig zu machen, wich bald einer realeren Einschätzung, die sich mehr und mehr auf die praktische und konstruktive Wirtschaftshilfe und die Vorbereitung zur Auswanderung konzentrierte

Die Masse derjüdischen Erwerbstätigen war noch früher gezwungen worden, sich den neuen Verhältnissen anzupassen. Bei den freien Berufen und zunehmend auch beim gewerblichen Mittelstand setzte auch ohne zentrale Lenkung der Prozeß einer „rückläufigen Berufsumschichtung“ ein. Entlassene Angestellte machten sich als Vertreter, Agenten und Reisende selbständig. Ehemalige Ärzte und Rechtsanwälte zogen mit dem Muster-koffer durch die Städte, um für ihre Familien das bescheidene Existenzminimum zu verdienen. Der Hausiererberuf, der seit Jahrzehnten fast restlos aus den jüdischen Berufstatistiken verschwunden war, kam wieder zu „Ehren“. Jeder Berufswechsel — auch die Verlegung des Geschäfts in bescheidenere Lokale oder selbst in die Familienwohnung — erforderte eine neue Gewerbelizenz. Daraus ergab sich die optische Täuschung „jüdischer Neueröffnungen“, die von der Nazipresse besorgt verzeichnet wurde und bis heute noch manche Historiker verwirrt

Ein Ergebnis der organisierten jüdischen Wirtschaftshilfe durch fast 70 Stellen im ganzen Land war, daß zum erstenmal in der Geschichte der deutschen Juden so etwas wie ein eigenerjüdischer Wirtschaftssektor entstand Je weniger Berufe den Juden offenstanden, je mehr ihr wirtschaftliches Tätigkeitsfeld eingeengt wurde, desto mehr arbeiteten Juden für Juden und ernährten sich voneinander. Der Verwaltungsapparat jüdischer Gemeinden und Organisationen nahm nie dagewesene Dimensionen an; er stellte, abgesehen von dem erweiterten Aufgabenkreis, zweifellos ein Mittel innerjüdischer Arbeitsbeschaffung dar Ein „jüdischer Vermittlungsdienst“ und die Anzeigenteile der jüdischen Zeitungen, deren Umfang und Vertrieb zu bisher unerreichten Rekorden anschwollen versuchten den „inneren jüdischen Markt“ zu erweitern und jüdischen Arbeitern und Angestellten Arbeitsplätze bei jüdischen Unternehmern zu besorgen Hilfsorganisationen unterstützten jüdische Handelsunternehmen durch subventionierte Warenlieferungen von jüdischen Produzenten. Das schon früher geschaffene Netz jüdischer Darlehenskassen erweiterte die Gewährung von Kleinkrediten jüdischer Handwerker und Kleinhändler. Auch die mittelständischen Genossenschaftsbanken und Versicherungen erreichten Rekorde ihrer Einlagen und ihres Kredit-und Geschäftsvolumens, als es immer schwieriger für Juden wurde, bei den allgemeinen Kreditinstitutionen und selbst bei jüdischen Privatbanken, die um ihre Solvenz besorgt sein mußten, Kredite aufzunehmen

Eine auch nur nahezu „autarke“ jüdische Selbstversorgung gab es natürlich nie, aber jüdische Produzenten und besonders Arbeitnehmer waren noch vor 1938 in zunehmendem Maße auf den jüdischen Markt beschränkt. Bis Ende 1936 beließen die Behörden den Arbeitsnachweisen der jüdischen Gemeinden einen halboffiziellen Status. Als sie geschlossen werden mußten, ging der Appell verstärkt an die Solidarität jüdischer Finnen — über die Gemeinden, Synagogen undjüdischen Organisationen bis hin zu persönlichen Kontakten. Das Resultat war allerdings begrenzt: Der Liquidierungs-und Arisierungsprozeß jüdischer Klein-und Mittelbetriebe machte deren jüdische Angestellte sofort erwerbslos, und die noch bestehenden Großunternehmen wurden durch die Betriebszellen der Deutschen Arbeitsfront scharf überwacht; sie mußten oft auch langjährig bei ihnen beschäftigte Juden entlassen

Frauen waren allgemein leichter unterzubringen als Männer, und nach den Nürnberger Gesetzen machte sich sogar ein Mangel an jüdischen Haushaltshilfen bemerkbar. Auch als Verkäuferinnen und Bürohilfen fanden Frauen im Laufe des Wirtschaftsaufschwunges leichter Anstellung. Die überkommene Einstellung jüdischer Mittelstandsfamilien zur Frauenarbeit änderte sich notgedrungen, und in vielen Familien waren die Frauen die Haupt-oder auch die Einzigverdiener Andererseits mehrten sich in der jüdischen Presse auch Proteste gegen die „doppelverdienenden“ Frauen in jüdischen Gemeinden und Organisationen

Besonders schwierig war die Lage der schulentlassenen Jugend, auch nachdem in den jüdischen Volksschulen ein neuntes Schuljahr eingeführt worden war. Das am Anfang mit viel Hoffnung aufgezogene Berufsvorbereitungswerk der Ge-meinden konnte nur einen Teil der jüdischen Jugend erfassen. Die Berufsumschichtung älterer Jahrgänge, mit der betonten Tendenz zur Auswanderungsvorbereitung, fand bei den Betroffenen nicht den erhofften Anklang, und auch die Mittel waren unzureichend Trotzdem konnte während dieser Jahre in knapp 140 Berufsschulungskursen und landwirtschaftlichen Hachscharah (Lehrfarmen) ungefähr ein Drittel der betreffenden Jahrgänge eine gewisse Zeit in einer gesellschaftlich geborgenen Umgebung verbringen und sich auf die Auswanderung, zumeist nach Palästina, vorbereiten

Für die ständig steigende Zahl von Arbeitslosen und Minderbemittelten mußten zunehmend die Wohlfahrtsämter und Gemeinden sorgen. Im Etat der Gemeinden nahmen die direkten und indirekten Ausgaben für das Wohlfahrtswesen gegen Ende 1937 fast die Hälfte der Gesamtausgaben ein, und eine große Zahl sogenannter Notstands-gemeinden mußten aus zentralen Mitteln unterstützt werden Daneben betreute die Jüdische Winterhilfe eine stets steigende Anzahl Hilfsbedürftiger mit Nahrungs-und Heizmitteln im Winter 1937/1938; sie betrug über ein Fünftel der gesamten jüdischen Bevölkerung

Wir konnten in diesem Rahmen den enormen Aufwand der jüdischen Selbsthilfewerke nur kurz skizzieren. Nimmt man das jüdische Schul-und Unterrichtswerk hinzu, so kann man die großar-, tige organisatorische und auch finanzielle Leistung des deutschen Judentums in der vorletzten Phase seiner Existenz nur mit Bewunderung betrachten. Die Kosten dieses Werks wurden fast ausschließlich von den deutschen Juden allein getragen. Nach vorsichtigen Schätzungen der Reichsvertretung erhoben die jüdischen Gemeinden zwischen 1933 und 1938 jährlich 25 bis 40 Millionen Reichsmark an Gemeindesteuern — natürlich mit abfallender Tendenz. Dagegen belief sich der Gesamtbetrag der Hilfe jüdischer Organisationen im Ausland an die Reichsvertretung auf weniger als 10 Millionen Mark während des gesamten Zeitraums. Die jüdische Winterhilfe allein gab jährlich ebensoviel oder mehr Geld aus,wie der Gesamtjahresetat der Reichsvertretung betrug

Bereits Ende 1936 hat Jakob Lestschinsky von Paris aus die wirtschaftliche Situation der Juden in Deutschland mit folgenden Sätzen umrissen: „ 20 bis 22% der jüdischen Bevölkerung sind schon heute mehr oder weniger auf die Wohlfahrtspflege angewiesen. 20 bis 25 % zehren vom Bestand. Man hat das Geschäft liquidiert oder übergeben. Man hat etwas Geld dafür erhalten; — Einzelne: Millionen; ein paar Dutzend: Hunderttausend; Zehntausende: ein paar tausend Mark. Und nun zehrt man diesen Bestand auf. Wer Kinder hatte und es irgendwie konnte, hat sie ins Ausland geschickt und hofft aufgute Nachrichten und auf den erlösenden Ruf, in die neue Heimat zu kommen, in die Kinderheimat. Wer keine Kinder hat, sitzt und zählt die Markstücke und die Jahre und bittet den Himmel, daß die Jahre Gott behüte nicht länger andauem als die Markstücke.“

Diese Worte mögen damals vielen wie eine arge Übertreibung geklungen haben — sie waren es keineswegs! Die Juden in Deutschland waren bereits 1937 eine zahlenmäßig schnell schrumpfende und veraltemde Bevölkerungsgruppe, deren wirtschaftliche Existenzbasis von Tag zu Tag enger wurde. Aus der Arbeit früherer Zeiten und früherer Generationen hatten sie immer noch beträchtliche Reserven, die jedoch schnell zusammen-schmolzen, während in den Regierungs-und Parteiämtem bereits die Pläne für ihre „Erfassung zum Einsatz in die deutsche Volkswirtschaft“ vorbereitet wurden.

Ende 1937 begann die Phase der „Entjudung der Wirtschaft“ mit dem Ziel, die Reste aktiver Wirtschaftsbetätigung zu beseitigen und das zum großen Teil bereits liquide jüdische Vermögen zu enteignen. In den Regierungs-und Parteiämtern waren nachweisbar die Vorarbeiten spätestens seit dem Sommer 1936 im Gange. 1937 wurden sie beschleunigt und Anfang 1938 war das meiste schon parat Die schnell aufeinanderfolgenden Maßnahmen des Jahres 1938 sind bekannt: Immer neue Berufsverbote wurden veröffentlicht, von denen besonders der Entzug der Reiselegitimationskarten und Wandergewerbescheine Tausende von jüdischen Hausierern, Vertretern und Reisenden traf. Im April mußten die jüdischen Vermögen über 5 000 Mark angemeldet werden. Im Juli wurden alle noch bestehenden jüdischen Betriebe registriert. Während des ganzen Jahres ging der Arisierungswettlaufum die Restbestände jüdischer Geschäfte beschleunigt weiter. Allerdings stellte sich bald heraus, daß die Hoffnungen vieler Partei-und anderer Volksgenossen auf eine mühelose Bereicherung stark übertrieben gewesene waren: Die einträglichsten Objekte waren längst vergriffen. Um auch die starrsinnigsten jüdischen Geschäftsleute zu überzeugen und die Auswanderung der Juden zu beschleunigen, wurde die wirtschaftliche „Entjudung“ im Sommer 1938 durch erneut aufflammende Gewalttätigkeiten unterstützt. Im Oktober 1938 zeichnete die Zwangsausweisung von ca. 18 000 polnischen Juden bereits die späteren Deportationen vor

In diesem Kontext setzte der Novemberpogrom nur das Signal, in wenigen Wochen endgültig das zu vollenden, was auf dem Gebiet der Wirtschaft seit Jahren konsequent und zäh — seit Ende 1937 mit beschleunigter Vehemenz — wirksam verfolgt worden war. Bereits wenige Wochen danach war die „Entjudung“ abgeschlossen. Seit Anfang 1939 lebten die Juden in einem fast völlig abgeschlossenen wirtschaftlichen Ghetto. Mit dem ihnen zugestandenen Existenzminimum — bezogen aus den Resten jüdischer Gemeinde-und Privatvermögen — konnten sie sich noch einige wenige Jahre halten. Am Ende mußten sie auch noch für die Kosten für ihre Deportation in die Vernichtungslager aufkommen.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. Esra Bennathan, Die demographische und wirtschaftliche Struktur der Juden, in: Entscheidungsjahr 1932. Zur Judenfrage in der Endphase der Weimarer Republik, herausgegeben von Werner E. Mosse unter Mitwirkung von Arnold Paucker, Tübingen 1965 (Schriftenreihe wissenschaftlicher Abhandlungen des Leo-Baeck-Instituts 13), S. 87— 131; Jakob Lestschinsky, Das wirtschaftliche Schicksal des deutschen Judentums, Berlin 1932; Alfred Marcus, Die wirtschaftliche Krise der deutschen Juden, Berlin 1931.

  2. Vgl. dazu H. A. Winkler, Die deutsche Gesellschaft der Weimarer Republik und der Antisemitismus, in: B. Martin und E. Schulin (Hrsg.), Die Juden als Minderheit in der Geschichte, München 1981, bes. S. 283 f., und B. Martin, Judenverfolgung und -Vernichtung unter der nationalsozialistischen Diktatur, ebenda, S. 293. Neuerdings Sara Gordon, Hitler, Germans and the Jewish Question, Princeton 1984.

  3. Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums vom 7. April 1933 (RGBl. 1, 175— 177), vgl. Joseph Walk (Hrsg.), Das Sonderrecht für die Juden im NS-Staat. Eine Sammlung der gesetzlichen Maßnahmen und Richtlinien — Inhalt und Bedeutung, Karlsruhe 1981, Nr. 1/46. Die davon abgeleiteten Berufsverbote: Juristen: 1/66; 1/79, 1/112; 1/105; 1/115; Hochschuldozenten: 1/90; Mediziner: 1/71; 1/95; 1/152; 1/130 (Zahnärzte und -techniker) u. a. m.

  4. Vgl. Arthur Schweitzer, Die Nazifizierung des Mittelstandes, Stuttgart 1970, bes. S. 28ff.; Avraham Barkai, Das Wirtschaftssystem des Nationalsozialismus. Der historische und ideologische Hintergrund 1933— 1936, Köln 1977, S. 87 ff.; 101 f.

  5. Helmut Genschei, Die Verdrängung der Juden aus der Wirtschaft im Dritten Reich, Göttingen 1966, S. 139 f.; Uwe D. Adam, Judenpolitik im Dritten Reich, Düsseldorf 1972, S. 359. Ebenso meinte der frühzeitig verstorbene Historiker Shaul Esh, der Novemberpogrom 1938 sei aus der Enttäuschung der Naziführung über das Versagen ihrer bisherigen Judenpolitik zu erklären: „in the eyes of the Nazi leaders the only failure ... in their policy. After more than 50 months the number of German Jews had dropped about 100000 souls, i. e. by some 20 %. Their economic Position had not been shaken fundamentally. On the contrary, the more they concentrated in the big towns ... the steadier grew their Position“. Shaul Esh, Between Discrimination and Extermination. The fateful Year 1938, in: Yad Vashem Studies, vol. 2 (1985), S. 80 u. 85.

  6. Genschei (Anm. 5), S. 63.

  7. Die Zählung wurde von der statistischen Abteilung der Reichsvertretung der deutschen Juden aufgrund einer Erhebung in 69 Großgemeinden vorgenommen. Der Verfasser des Berichts, Herbert Kahn, stand bis 1933 der „Forschungsstelle für den Handel“ in Berlin vor, und die umfangreiche vervielfältigte Schrift mit detaillierten Angaben trägt ihren Titel durchaus mit Recht: Herbert Kahn, Umfang und Bedeutung der jüdischen Einzel-handelsbetriebe innerhalb des gesamten deutschen Einzelhandels. Hauptergebnisse einer wissenschaftlichen Untersuchung, Februar 1934. Die Angaben über Umfang und Umsatz der Geschäfte beruhten aufden Ergebnissen des Geschäftsjahres 1932. Das Heft ist schwer auffindbar. Ein Exemplar befindet sich in der Bibliothek von Yad Vashem, Jerusalem.

  8. Textil-Zeitung, Berlin, 3. Dezembr 1938; Berliner Morgenpost, 25. November 1938. Identische Angaben nach offiziellen Quellen, wahrscheinlich auf der Betriebszählung vom Juli 1938 beruhend. Über ein Drittel der Einzelhandelsgeschäfte befand sich in Berlin.

  9. Die Zahlen für Ende 1932: Bennathan (Anm. 1), S. Hi, und Aufstellungen der statistischen Abteilung des „Zentralausschusses für Hilfe und Aufbau“, Nr. 516 — V — 33 (12. Mai 1933), Archiv LBI, Jerusalem, B— 11. Für 1938: Stephan Leibfried, Stationen der Abwehr. Berufsverbote für jüdische Ärzte im Dritten Reich 1933— 1938 und die Zerstörung des sozialen Asyls durch die organisierten Ärzteschaften des Auslandes, in: Bulletin des Leo-Baeck-Instituts, 62 (1982), S. 11: „Keine jüdischen Rechtsanwälte mehr in Deutschland“, Jewish Central Information Office, Amsterdam, 25. Oktober 1938, in: Wiener Library, Tel-Aviv University, PC 3/61. Vgl. auch Herbert Strauss, Jewish Emigration from Germany. Nazi Policies and Jewish Responses (I), in: Year Book XXV of the Leo Baeck Institute, London 1980, S. 340.

  10. Alf Krüger, Die Lösung der Judenfrage in der Wirtschaft. Kommentar zur Judengesetzgebung, Berlin 1940, S. 44. Krügers Angaben enthalten keinen Quellennachweis. Die Zählung der jüdischen Betriebe fand erst im Juli 1938 statt (3. Verordnung zum Reichsbürgergesetz vom 14. Juni 1938, RGBl. I. S. 672 f). Krügers Zahlen für April 1938 können demnach nicht die Ergebnisse der Zählung sein. Die Ergebnisse der Zählung selbst sind nicht erhalten oder bisher gefunden worden.

  11. Geschätzt nach den Volks-und Berufszählungen vom 16. Juni 1933, Statistik des Deutschen Reichs, Bd. 451, Heft 5, und Bd. 453, Heft 2. Nachdem seit dem Januar 1933 bereits 25000— 30000 Juden ausgewandert waren, erschienen hier 110669 jüdische selbständige Erwerbspersonen, ohne mithelfende Familienmitglieder. In der deutschen Statistik wurden alle selbständigen Unternehmen als „Betriebe“ gezählt, vom Warenhaus oder der Privatbank über selbständige Arzt-oder Rechtsanwaltpraxen bis zum Wandergewerbe„betrieb“ selbständiger Reisender und Hausierer (vgl. „Einführung in die Berufszählung“, Statistik des Deutschen Reichs, Bd. 453, Heft 1, Berlin 1936, S. 148 ff.). Wenn wir eine beschränkte Anzahl von Partnerschaften annehmen, so ist die Zahi von ca. 100000 jüdischen „Betrieben“ in diesem Sinne für Januar 1933 eher noch zu niedrig angesetzt.

  12. Jüdische Wohlfahrtspflege und Sozialpolitik (JWSP), NF, Bd. 8 (1938), S. 6, 150.

  13. Die jüdische Presse berichtete zwischen Januar und Oktober 1938 über die „Arisierung“ von 340 größeren Fabrikbetrieben und 370 Großhandelsfirmen. Hinzu kamen während der gleichen Zeitspanne 22 „arisierte" Privatbanken, darunter alte Häuser wie M. M. Warburg, Bleichröder, Gebr. Arnhold, Dreyfus und Hirschland. Vgl. Genschei (Anm. 5), S. 173ff.; Eduard Rosenbaum, M. M. Warburg & Co. Merchant Bankers of Hamburg, in: Year Book VII of the Leo-Baeck-Institute, London 1962, S. 147 f.

  14. Strauss, Jewish Emigration (I) (Anm. 9), S. 345.

  15. Mitte 1935 wurden in ganz Deutschland ca. 8500 jüdische Handwerksbetriebe gezählt. Herbert Kahn, Das jüdische Handwerk in Deutschland. Eine Untersuchung aufgrund statistischer Unterlagen der Reichsvertretung der Juden in Deutschland, Berlin 1936 (vervielfältigt), Wiener Library, Tel-Aviv, KY 3/wl.

  16. Nach dem Arbeitsbericht der Reichsvertretung für 1938, S. 15 f., gab es im Dezember 1938 noch 5 800 jüdische Handwerksbetriebe. Davon wurden nur 345 „arisiert“ und der Rest aufgelöst.

  17. Reichswirtschaftsminister, Rundschreiben III/Jd. 8910/38 vom 28. November 1938. Geheimes Staatsarchiv Dahlem, Rep. 151, Nr. 1658 a. Im „Altreich“ wurden 5, 1 Milliarden RM angemeldet, nach zuverlässigen Schätzungen weniger als die Hälfte der jüdischen Ver-mögen von 1932/1933, die auf ca. 12 Milliarden RM geschätzt wurden. (Vgl. Ludwig Pinner, Vermögens-transfer nach Palästina 1933- 1939 in: In Zwei Welten. Siegfried Moses zum Fünfundsiebzigsten Geburtstag, Tel-Aviv 1962, S. 134). Abweichende Schätzungen bei Strauss, Jewish Emigration (I) Anm. 9, S. 342

  18. Genschei (Anm. 5), S. 251 f.; Mitte 1938 verstärkte sich der Druck lokaler Stellen, die Arisierung jüdischer Häuser voranzutreiben. So z. B. „befürchtete" ein Bochumer „Gaufachwalter" in einer Eingabe an den dortigen Gauwirtschaftsberater, „daß durch den Mangel an geeigneten Wohnungen die augenblicklichen Arisierungen gestört werden, da in den letzten Tagen ein merkbarer Widerstand bei den Juden festzustellen sei, ihre Besitzungen zu verkaufen, da die Juden befürchten, mit Verkauf ihres Hauses kein Dach mehr über dem Kopfzu haben“. Daß der betreffende „Fachwalter“ von Beruf Grundstücksverwalter war, dürfte wohl kaum Zufall gewesen sein. Nach wiederholten Rückfragen teilte der Regierungspräsident in Arnsberg am 4. November 1938 dem Gauwirtschaftsberater die Entscheidung des Reichswirtschaftsministers mit, nach der „die Auswanderung der Juden gegenwärtig nicht in dem gewünschten Umfange betrieben werden könne ..., unabhängig werde jedoch die Frage des Grundbesitzes der Juden im allgemeinen geregelt werden“ (Staatsarchiv Münster, Gauleitung Westfalen-Süd, Gauwirtschaftsberater, Nr. 485). Trotzdem wurde in der entscheidenden Sitzung vom 12. November 1938 unter Vorsitz Görings, auf der die wirtschaftlichen Maßnahmen gegen die Juden nach dem Novemberpogrom festgelegt wurden, die Arisierung des nichtlandwirtschaftlichen Grundbesitzes weiterhin aufgeschoben (The International Military Tribunal [IMT], Bd. 37, PS-1816). Noch im Februar 1939 teilte der Reichswirtschaftsminister allen Landesregierungen und zuständigen Stellen mit, daß „die zwangsweise Gesamtentjudung des nicht landwirtschaftlich oder forstwirtschaftlich genutzten Grundbesitzes nach ausdrücklicher Anordnung des Beauftragten für den Vierjahresplan im gegenwärtigen Augenblick noch nicht in Angriff zu nehmen“ sei. (Reichswirtschaftsminister, III Jd. 1/2082/39 vom 6. Februar 1939, Geh. St. A. Dahlem, Rep. 151/1658 a, S. 58.)

  19. Dies geht besonders anschaulich aus dem umfangreichen Aktenbestand des Gauwirtschaftsberaters der Gau-leitung Westfalen-Süd im Staatsarchiv Münster hervor. Die Aufgaben und Kompetenzen der Gauwirtschaftsberater sind bisher noch weitgehend unerforscht. (Vgl. Barkai, Wirtschaftssystem (Anm. 4), S. 91f.; H. Kehrl, Krisenmanager im Dritten Reich, Düsseldorf 1973, S. 40 ff.) Eindeutig belegt ist jedenfalls ihre führende Funktion im „Arisierungs“ prozeß, in dem sie eine Schlüsselposition als Verbindungsglieder zwischen den Parteiinstanzen und den Interessenvertretern der Wirtschaft mit den Regierungs-und Verwaltungsbehörden auf lokaler Ebene einnahmen.

  20. Genschei (Anm. 5), S. 247; über die dabei angewandten Methoden ist illustrativ der Bericht des Gau-wirtschaftsberaters Westfalen-Süd vom 24. März 1938 an die Kommission für Wirtschaftspolitik in der Münchener Parteileitung: Nur in ganz wenigen Fällen sei es noch nötig, die Juden zum Bürgermeister zu beordern. „Die Juden werden schon nachgiebig, sobald sie erfahren, daß sich die Partei mit ihrer Person befaßt.“ (StA. Münster, Gauwirtsch. ber. Nr. 682.) Ein sicher seltener Protest eines „Nationalsozialisten, SA-Manns und Bewunderers Adolf Hitlers“ in München, der als „Arisierungssachverständiger“ wirkte, berichtete erregt über die „brutalen Maßnahmen und... Erpressungen an den Juden“, von denen er „derart angeekelt“ sei, „daß ich von nun ab jede Tätigkeit bei Arisierungen ablehne, obwohl mir dabei ein guter Verdienst entgeht ... Als alter, rechtschaffener, ehrlicher Kaufmann kann ich nicht mehr zusehen, in welch schamloser Weise von vielen . arischen'Geschäftsleuten, Unternehmen etc. versucht wird, die jüdischen Geschäfte, Fabriken etc. möglichst wohlfeil und zu einem Schundpreis zu erraffen.“ Schreiben vom 16. April 1938 an die Industrie-und Handelskammer München, abgedruckt bei Peter Hanke, Zur Geschichte der Juden in München zwischen 1933 und 1945, München 1967, S. 154 f.

  21. Vgl. dazu Ulrich Knipping, Die Geschichte der Juden in Dortmund während der Zeit des Dritten Reiches, Dortmund 1977, bes. S. 69 ff., wo die enge Zusammenarbeit der Industrie-und Handelskammer und der Stadt-behörde mit der „Deutschen Arbeitsfront“ und anderen Parteiämtern bei Boykott-und „Arisierungs“ aktionen belegt ist. Auch die Gerichte waren in den Verdrängungsprozeß eingeschaltet, so z. B. durch Anerkennung des Arbeitsgerichts, daß Verstöße von städtischen Angestellten gegen das — ohne jegliche Gesetzesbasis erlassene — Verbot, in jüdischen Geschäften zu kaufen, als Entlassungsgrund gelten konnten. F. Muellerheim, Die gesetzlichen • und außergesetzlichen Maßnahmen zur wirtschaftlichen Vernichtung der Juden in Deutschland 1933— 1945, Hamburg o. J., S. 14.

  22. So beschwerte sich z. B. die Essener Bezirksstelle des Centralvereins deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens noch im Mai und Juni 1935 wiederholt beim Regierungspräsidenten in Arnsberg über Boykottmaßnahmen in der ländlichen Umgebung. Als die Aufstellung von Boykottschildern auf einem städtischen Grundstück beanstandet wurde, redete sich der befragte Landrat damit heraus, daß der Zeitungskasten der NSDAP und nicht der Stadt gehöre. In diesem Falle veranlaßte der Regierungspräsident widerwillig die Entfernung der Schilder, unter Berufung auf eine Verfügung des Reichsinnenministers. (StA Münster, Regierung Arnsberg, IG 572.)

  23. Ebenda, Oberbürgermeister Bochum an Regierungspräsidenten Arnsberg, 3. Juli 1933.

  24. Ebenda, eine längere Eingabe des Regierungspräsidenten an das Reichsinnenministerium vom 27. September 1933: die örtlichen Behörden sähen „keine Möglichkeiten, den Erlassen (über die Zulassung jüdischer Händler, der Inseratensperre für jüdische Firmen und dem Verbot für Beamte, in jüdischen Geschäften zu kaufen A. B.)... voll Rechnung zu tragen, weil... im Falle ihrer Durchführung mit einer erheblichen Störung der öffentlichen Ruhe und Ordnung zu rechnen sein wird“.

  25. Wie vor allem Adam, der in Anlehnung an Carl Schmitt und Ernst Fraenkel die nationalsozialistische Judenpolitik oder eigentlich das Fehlen „einer geplanten und gelenkten Politik auf diesem Gebiet“ (Adam [Anm. 5], S. 357) durch den dualistischen Charakter des nationalsozialistischen Herrschaftssystems und die Spannung zwischen dem „autoritären Normenstaat“ und dem „totalitären Maßnahmenstaat“ zu erklären sucht. Neuerdings ist dieses Erklärungsmodell in der m. E. völlig abwegigen Kontroverse über die „funktionalistische“ oder „internationalistische“ „Genesis der Endlösung“ wieder aufgetaucht. Vgl. dazu A. Barkai, Regierungsmechanismen im Dritten Reich und die „Genesis der Endlösung“, in: Jahrbuch des Instituts für Deutsche Geschichte, XIV, Tel-Aviv 1985, S. 371— 384.

  26. Vgl. dazu Kurt Sabatzky, in: Monika Richarz (Hrsg.), Jüdisches Leben in Deutschland. Selbstzeugnisse zur Sozialgeschichte 1918— 1945, Stuttgart 1982. Dagegen Ernst Herzfeld, Meine letzten Jahre in Deutschland 1933— 1938, LBI Archiv New York, ME 163, S. 42 f., berichtet über die zunehmende Fruchtlosigkeit dieser Bemühungen: „Die Ministerialbürokratie (wollte) sich — soweit sie überhaupt gutwillig war — nicht für die Juden exponieren.“

  27. Vgl. S. Adler-Rudel, Jüdische Selbsthilfe unter dem Naziregime 1933— 1939 im Spiegel der Berichte der Reichsvertretung der Juden in Deutschland, Tübingen 1974 (Schriftenreihe wissenschaftlicher Abhandlungen des Leo-Baeck-Instituts 29), S. 121 ff.; Alexander Szanto, Economic Aid in the Nazi Era. The Work of the Berlin Wirtschaftshilfe, in: Year Book IV of the Leo Baeck Institute, London 1959, S. 211f., beschreibt die anfängliche Einstellung, „that no economic or legal Position should be surrendered". Trotz mancher anfänglichen Erfolge verlagerte sich das Schwergewicht bald auf die dringlichste Selbsthilfe. Vgl. auch die Erinnerungen Szantos in: Richarz (Anm. 26), S. 221 ff.

  28. Die Gauleitung Westfalen-Nord war um die vielen jüdischen Vertreter und neuen Handelsreisenden schon 1935 und später noch mehr besorgt. Man habe gehört, daß es in Berlin Tausende solcher neuen Berufstätigen gäbe (StA Münster, Gauleitung Westfalen-Nord, Nr. 10 [1935] u. 25 [1937]). Siehe auch Adam (Anm. 9), S. 123; Strauss, Jewish Emigration (I), S. 343.

  29. Szanto, in: Richarz, Jüdisches Leben (Anm. 26), S. 225; über die Auseinandersetzungen innerhalb derjüdischen Gremien Anfang 1936 und die Ablehnung eines

  30. 1937 beschäftigte die jüdische Gemeinde in Berlin rund 1 300 Beamte, Angestellte und Arbeiter, einschließlich der Kultusbeamten und Lehrer (Jüdische Gemeinde Berlin, Verwaltungsbericht für das Jahr 1937, S. 3. Wiener Library Tel-Aviv, W/6/Jud.). Im Verlauf der fortschreitenden Verdrängung fanden nach meinen Schätzungen 4000 bis 5 000 Menschen Beschäftigung im „offiziellen jüdischen Sektor“ in ganz Deutschland, d. h. in Gemeinden und jüdischen Organisationen.

  31. Vgl. Margaret T. Edelheim-Mühsam, The Jewish Press in Germany, in: Year Book I of the Leo Baeck Institute, London 1956, bes. S. 174 ff.

  32. Die jüdische Presse als Wirtschaftsspiegel, in: Israelitisches Familienblatt, XXXIX (2. April 1937).

  33. Arbeitsberichte der Reichsvertretung der deutschen Juden (anfangs: des Zentralausschusses für Hilfe und Aufbau. Forthin: ABer.): für 1934/1, S. 59, 65ff.; 1934/11, S. 48f.; 1935, S. 115f-, 1936, 102f„ 120; 1937, S. 80 f. Vgl. auch Adler-Rudel, Jüdische Selbsthilfe (Anm. 27), S. 133; Szanto (Anm. 29), S. 221.

  34. Paul Eppstein, Vierzig Jahre jüdische Arbeitsvermittlung in Deutschland, in: JWSP, 7 (1937), bes. S. 5 ff. Detaillierte Angaben für Berlin bei Gertrud Prochownik. Die jüdische Arbeitsvermittlung in Berlin, ebenda, S. 7— 13.

  35. Marion A. Kaplan, The Jewish Feminist Movement in Germany. The Campaigns of the Jüdischer Frauen-bund, 1904— 1938, Westport (Conn.) -London 1979, S. 184f. Ich zitiere die englische Originalausgabe: deutsche Fassung: Die jüdische Frauenbewegung in Deutschland. Organisation und Ziele des Jüdischen Frauenbundes 1904— 1938, Hamburg 1981 (Hamburger Beiträge zur Geschichte der Deutschen Juden Band VII).

  36. Im Dezember 1935 rief ein Vorschlag, Männer als Hausgehilfen zu beschäftigen, um dem durch die Nürnberger Gesetze verursachten Mangel abzuhelfen, erregte Proteste in Leserbriefen in der jüdischen Presse hervor: Es sei vernünftiger, die in den jüdischen Gemeinden und Organisationen tätigen Frauen und jungen Mädchen in die Haushalte zu schicken und die dadurch frei werdenden Arbeitsplätze älteren und erfahreneren Angestellten, die erwerbslos geworden waren, zu überlassen. (C. V. -Zeitung, XIV [12. Januar u. 19. Januar 1935. ]) Das Problem der älteren Erwerbslosen, die auf die von jüngeren Kräften besetzten Arbeitsplätze in den Gemeinden Anspruch erhoben und auch für geringeren Lohn arbeitswillig waren, tauchte wiederholt in derjüdischen Presse auf. So z. B. in Leserbriefen: Jüdische Rundschau, XXXXI (26. Mai 1936); Israelitisches Familienblatt, XXXVIII (24. Dezember 1936).

  37. Ausführlich zur Problematik der Berufsumschichtung: Abraham Margaliot, Berufsumschichtung und Produktivierung als Thema innerer Auseinandersetzungen im deutschen Judentum zu Beginn des Dritten Reiches, in: Yalkut Moreshet, Nr. 29 (in Hebräisch) (Mai 1980), S. 99-120.

  38. Reichsvertretung der Juden in Deutschland, Richtlinien für die Berufsausbildung (Berlin, Ende 1936), S. 13.

  39. ABer., 1935, S. 49; Adler-Rudel, Jüdische Selbsthilfe (Anm. 27), S. 161f.; Yehuda Bauer, My Brother’s Keeper. A History of the American Jewish Joint Distribution Commitee 1929— 1939, Philadelphia 1974, S. 125.

  40. ABer. F. 1938, S. 22.

  41. Berechnet nach den Arbeitsberichten und Etats der Reichsvertretung. Vgl. auch Adolf Kober, Jewish Com-munities in Germany form the Age of Enlightenment to their Destruction by the Nazis, in: Jewish Social Studies, vol. IX (1947), S. 227. Für Wohlfahrtszwecke allein gaben die jüdischen Gemeinden zwischen 1934 und Ende 1937 nach vorsichtiger Schätzung ca. 25 Millionen Mark aus. Die Reichsvertretung steuerte in der gleichen Zeit 1, 3 Millionen Mark für Notstandgemeinden bei. Die Zuschüsse ausländischer jüdischer Hilforganisationen an die Reichsvertretung beliefen sich in den gleichen vier Jahren auf insgesamt 7, 5 Millionen Mark.

  42. Jakob Lestschinsky, Der wirtschaftliche Zusammenbruch der Juden in Deutschland und Polen, ExekutivKomitee für den jüdischen Weltkongreß, Paris-Genf 1936, S. 31.

  43. Zum folgenden: Barkai, Schicksalsjahr 1938 (Anm. 18).

  44. Vgl. Sybil Milton, The Expulsion of Polish Jews from Germany. October 1938 to July 1939. A Documentation, in: Year Book XXIX of the Leo Baeck Institute, London 1984, S. 169— 199.

  45. Immer noch taucht in der Literatur die böswillig verharmlosende Bezeichnung „Kristallnacht“ auf. Wie sie entstanden ist, scheint bisher noch nicht völlig geklärt zu sein. Sollte sie, wie manchmal angenommen wird, aus dem damaligen „Volksmund“ stammen, so war dies sicher kein Zeichen von Anteilnahme. Jedenfalls sollte eine Bezeichnung, die Mord, Totschlag und Brandstiftung in ein funkelndes Fest verwandelt, ebenso aus der Historiographie verschwinden wie die im „NaziDeutsch“ erfundene Umschreibung der Massenermordung der Juden als „Endlösung“.

Weitere Inhalte

Avraham Barkai, Ph. D., geb. 1921 in Berlin; Dozent für Wirtschaftsgeschichte und wissenschaftlicher Mitarbeiter am Leo-Baeck-Institut Jerusalem. Veröffentlichungen u. a.: Die Wirtschaftsauffassung der NSDAP, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 9/75; Das Wirtschaftssystem des Nationalsozialismus. Der ideologische und historische Hintergrund 1933— 1936, Köln 1977; Sozialdarwinismus und Antiliberalismus in Hitlers Wirtschaftskonzept, in: Geschichte und Gesellschaft, (1977) 3.