Leicht gekürzter Vorabdruck aus dem im Herbst im J-C. B. Mohr Verlag, Tübingen, erscheinenden Sammelband „DieJuden im Nationalsozialistischen Deutschland 1933— 1943“, herausgegeben von Arnold Paucker.
Seit dem neunzehnten Jahrhundert waren wirtschaftliche Argumente ein wesentlicher Bestandteil antisemitischer Propaganda. Vom Nationalsozialismus übernommen, erwiesen diese in der Wirtschaftskrise eine erneute und verstärkte Wirksamkeit. Besonders empfänglich waren dabei Gesellschafts-und Berufsgruppen, die mit Juden wirtschaftlich besonders in Kontakt traten, sei es als Konkurrenten, als Käufer oder Verkäufer. Bei der spezifischen Berufsstruktur der Juden, die sich seit dem neunzehnten Jahrhundert in Deutschland nur unwesentlich verändert hatte, waren Juden vor allem in vier Berufskategorien überproportional vertreten: im Bankwesen, im Wareneinzelhandel — insbesondere in den Bekleidungsbranchen —, in den freien Berufen und im Vieh-und Landproduktenhande
Eine sozio-ökonomische Analyse der Rezeption des Antisemitismus steht noch aus. Bei aller Vorsicht vor monokausalen Fallen kommt man indessen nicht umhin festzustellen, daß sich — wohl kaum zufällig — die aktivsten Formationen der NSDAP und insbesondere der SA aus den unteren Sparten des alten und neuen Mittelstandes rekrutierten. Auch der hohe Anteil von Ärzten und Juristen und deren studentischem Nachwuchs in den Führungseliten der SS ist nachgewiesen Alle diese nationalsozialistischen Berufsverbände vertraten vor 1933 die radikalsten Forderungen zur wirtschaftlichen Ausschaltung ihrer jüdischen Konkurrenten. Nach der Machtübernahme waren auch tatsächlich die Juden in den entsprechenden Berufen die ersten Ziele wirtschaftlicher Repressalien. Ihre Betätigung in den freien Berufen wurde bereits im April 1933 im Anschluß an das „Berufsbeamtengesetz“ gesetzlich eingeschränkt. Der Boykott vom 1. April war der Auftakt eines kontinuierlichen Diskriminierungsprozesses, der die jüdischen Stellungen im Einzelhandel auch ohne Gesetzesmaßnahmen effektiv und gründlich eliminierte. Gegen die jüdischen Viehhändler setzte auf dem Lande eine besonders gewalttätige Verdrängungsaktion ein.
In der wirtschaftlichen Sphäre konsolidierte sich das nationalsozialistische Regime erst Mitte 1934 nach einer Reihe interner Machtkämpfe und Interessenkonflikte Auch die Notwendigkeit der „Beruhigung der Wirtschaft", der Überwindung der Arbeitslosigkeit und der Devisenbeschaffung schrieben vorerst eine Rücksichtnahme auf die Reaktion des Auslands vor, und all dieses verursachte eine zeitweilige Eindämmung der offenen antisemitischen Maßnahmen. Bei den Zeitgenossen — und auch bei den Historikern — ergab sich daraus der Eindruck einer mehrere Jahre lang anhaltenden „Schonzeit” hinsichtlich jüdischer Wirtschaftstätigkeit Im Lichte der neue-ren Forschung und neuer Quellenbefragung muß m. E. dieses Bild erheblich revidiert werden. Wenn auch die extremsten Ansprüche der rabiatesten Nazis, wie z. B. diejenigen des schon im August 1933 aufgelösten Kampfbundes für den gewerblichen Mittelstand, einstweilen vertagt wurden so ging doch die Verdrängung der Juden aus ihren wirtschaftlichen Positionen unabwendbar voran.
Es gab natürlich örtliche und zeitliche Fluktuationen dieses Prozesses. Aber im ganzen nachweisbar ist die fast ununterbrochene Effizienz eines — manchmal im Stillen, zumeist aber in der Öffentlichkeit, in Lokalpresse und Straßenkrawallen offen ausgeübten — Druckes, der zuerst auf dem Lande und dann auch in den Städten immer mehr jüdische Geschäftsinhaber dazu zwang, ihre Geschäfte zu liquidieren oder unter ihrem Wert an „Arier“ zu verkaufen. Im Juli 1938 waren nach offiziellen Angaben von den über 50 000 jüdischen Einzelhandelsgeschäften, die Ende 1932 gezählt wurden nur noch ca. 9 000 in jüdischen Händen Von rund 8 000 jüdischen Ärzten praktizierten im Juli 1938 nur noch knappe 3 000, die zumeist nur jüdische Patienten behandelten. Von 4 500 jüdischen Juristen übten zur selben Zeit nur noch 1 753 ihren Beruf aus. Seit Sommer 1938 waren nur noch 709 Ärzte und 172 Rechtsanwälte als „Krankenbehandler“ und „Konsulenten“ für jüdische Klienten zugelassen
Hinsichtlicht des Verlaufs der „Arisierungen“ oder der Liquidation jüdischer Wirtschaftsbetriebe beruft sich die Forschung bis heute fast ausschließlich auf die Zahlen, die der für das „Judenreferat“ im Reichswirtschaftsministerium zuständige Alf Krüger — sinnfällig „Judenkrüger“ genannt — 1940 veröffentlichte. Demnach gab es im April 1938 noch knapp 40 000 jüdische „Betriebe“ im sogenannten „Altreich“ Nach der berufs-statistisch üblichen Definition waren darin alle selbständigen Geschäfte eingeschlossen — vom Warenhaus oder der Privatbank über die Praxen selbständiger Ärzte und Rechtsanwälte bis hin zum Wandergewerbe„betrieb“ herumziehender Hausierer. Entsprechend dieser Definition gab es nach meiner Schätzung Ende 1932 in ganz Deutschland etwa 100 000 jüdische „Betriebe“ Das heißt, daß selbst nach den nicht weiter belegten Daten Krügers im April 1938 bereits über 60% der jüdischen Betriebe nicht mehr bestanden! Wie viele davon liquidiert und wie viele zwischen 1933 und 1937 „arisiert“ worden waren, läßt sich nicht genau feststellen und ist im gegenwärtigen Zusammenhang auch nicht so wichtig. Es erscheint als erwiesen, daß die selbständige jüdische Wirtschaftstätigkeit bereits Ende 1937 in viel größerem Umfang eingestellt war, als die bisherige Forschung annimmt.
Über die Beschäftigungsquote der jüdischen Arbeiter und Angestellten fehlen zwar genaue Angaben, aber da diese zunehmend nur noch bei jüdischen Arbeitgebern Anstellung fanden, bewirkte die fortschreitende Liquidation jüdischer Unternehmen eine stetig wachsende Arbeitslosigkeit. Ende 1937, als in der Wirtschaft bereits Mangel an Arbeitskräften herrschte, mußten sich jüdische Sozialarbeiter um 30 000 nicht einzuordnende Erwerbslose kümmern. Im Frühjahr 1938 waren es bereits 60 000 Die dünne wirtschaftliche Oberschicht, darunter auch diejüdischen Privatbanken — als „jüdische Hochfinanz“ ein hervorragendes Ziel antisemitischer Hetze —, konnte sich länger behaupten. Dank ihrer Verbindungen im In-und Ausland waren die jüdischen Großunternehmen dem Boykott-Terror der Straße weniger ausgesetzt und konnten sogar zeitweilig vom allgemeinen Wirtschaftsaufschwung profitieren. Später konnten die meisten von ihnen, oft unter Verlust eines großen Teils ihres Vermögens, rechtzeitig entkommen; hatten sie doch auch zum Teil genügend Reserven und Familienbeziehungen im Ausland, die sie vor physischer Not bewahrten Herbert Strauss’ Unterscheidung zweier verschiedener jüdischer Wirtschaftsgruppen findet sich hier bestätigt. Merkwürdigerweise konnten sich auch die jüdischen Handwerksbetriebe länger halten. Der Grund dafür dürfte ihr geringer Anteil und ihre wirtschaftliche Bedeutungslosigkeit gewesen sein. Es waren zumeist Klein-oder Einmannbetriebe mit geringem Umsatz — als Konkurrenten kaum gefährlich und als Arisierungsobjekte wenig attraktiv Nach dem Novemberpogrom wurden sie im Laufe der „Entjudung der Wirtschaft“ fast ausnahmslos liquidiert und nur wenige „arisiert“
Die weit fortgeschrittene Verdrängung aus aktiver Wirtschaftsbetätigung spiegelt sich auch eindeutig in den Ergebnissen der Vermögensaufnahme vom April 1938 wider: Von den 8, 5 Milliarden, die einschließlich Österreich angemeldet wurden, waren nur knapp 1, 2 Milliarden RM, d. h. ca. 14%, aktives Betriebsvermögen. 4, 8 Milliarden, also fast 60%, waren liquide Wertpapiere, die eine streng vertrauliche Zusammenfassung bezeichnenderweise als „angreifbares Vermögen ... sofort erfaßbar“ hervorhob Der Rest bestand aus Grundvermögen, dessen „Arisierung“ die Nazis bewußt hinausschoben Da die Vermögensanmeldung im April, also kurze Zeit nach dem Anschluß Österreichs, vollzogen wurde, ist anzunehmen, daß in den für das Altreich angemeldeten Vermögen der Prozentsatz des Betriebsvermögens noch niedriger war.
Nach der ersten Gesetzeswelle von 1933 folgten einige Jahre lang nur verhältnismäßig wenig gesetzliche Beschränkungen jüdischer Wirtschaftstätigkeit. Auch die im Anschluß an die „Nürnber-ger Gesetze“ 1935 erwarteten wirtschaftlichen Gesetze blieben aus. Um so wirkungsvoller ging jedoch der Verdrängungsprozeß mit den Mitteln wirtschaftlichen und auch physischen Drucks voran. Die Parteiinstanzen waren dabei natürlich am aktivsten: In den Büros der GauWirtschaftsberater wurden — den erhalten gebliebenen Archiv-beständen nach — Einzelakten über jedes jüdische Geschäft geführt und dessen Einkünfte dauernd verfolgt Die Gauwirtschaftsberater bzw. die Gauleiter hatten bei der Bestätigung von Arisierungen das letzte Wort und sorgten unverhohlen dafür, daß verdiente Parteigenossen sich als erste an den verschleuderten jüdischen Geschäften bereichern konnten Aber genauso eindeutig geht aus diesen Akten auch die enge Zusammenarbeit mit den regierenden Stellen auf kommunaler, Landes-und Reichsebene hervor. Von einer scharfen Trennung oder gar einem Konflikt entgegengesetzter Tendenzen im wirtschaftlichen Bereich der Judenpolitik kann m. E. während der gesamten Zeit keine Rede sein. Finanzämter, Industrie-und Handelskammern und kommunale Behörden arbeiteten einverständlich Hand in Hand mit den Gauwirtschaftsberatern und anderen Parteistellen zusammen, und einige Bürgermeister — zumeist bekannte „alte Kämpfer“ — taten sich dabei besonders hervor
Gelegentliche Einsprüche der Regierungspräsidenten — oft betont widerwillig, aufgrund ebenso widerwilliger Interventionen aus Berlin vorgebracht — wurden geflissentlich zur Kenntnis genommen und „zu den Akten gelegt“, für die sie zumeist von vornherein bestimmt gewesen waren. In einigen Fällen waren diese Einsprüche das Ergebnis von Beschwerden von jüdischer Seite, wie der Reichsvertretung der deutschen Juden oder des Centralvereins deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens, die sich in den ersten Jahren noch etwas von rechtsstaatlichen Normen versprachen Zumeist halfen auch Interventionen des Reichswirtschaftsministeriums kaum. So teilte z. B.der Bürgermeister von Bochum der Regierungsinstanz kurzerhand mit, er könne für die Sicherheit jüdischer Viehhändler nicht haften, falls er sie, wie geboten, wieder auf den Schlachthöfen zulasse In fast allen Städten wurde ohne jede gesetzliche Sanktion das Kaufverbot in jüdischen Geschäften, das für Parteimitglieder obligatorisch war, auf sämtliche Kommunalangestellte erweitert Die Wohlfahrtsämter schlossen jüdische Geschäfte vom Bezug durch Bedarfdeckungsscheine aus, und kaum ein jüdischer Lieferant hatte praktisch Aussicht auf öffentliche Aufträge, noch ehe dieses gesetzlich fixiert wurde. Den wenigen noch zugelassenen Kassenärzten wurden kaum nichtjüdische Patienten zugeschickt, und welcher vernünftige „Arier“ hätte sich vor Gericht durch einen jüdischen Rechtsanwalt vertreten lassen?
Damit soll nicht gesagt sein, daß überhaupt keine Unterschiede bestanden, sondern nur, daß diese sich nicht nach irgendeinem dualistischen oder anderen Schema erfassen lassen Ausschlaggebend war eher die persönliche Einstellung mancher Beamten oder ihrer Vorgesetzten als ihre Behördenzugehörigkeit. Bei dem für das nationalsozialistische Herrschaftssystem charakteristischen Kompetenzwirrwarr konnten sich dabei für die jüdischen Betroffenen sehr erhebliche Unterschiede ergeben. Dementsprechend änderte sich auch die Taktik jüdischer Institutionen im Laufe der Jahre. Anfangs wurden noch aufgrund der Deklarationen offizieller Stellen gegen „Einzelaktionen“ und „Übergriffe“ Beschwerden und Eingaben an die Regierungsstellen bis hin zur Reichskanzlei gesandt. Nachdem sich die Fruchtlosigkeit dieser Interpellationen mehr und mehr erwies, beschränkte man sich bald darauf, Beziehungen auszunutzen und in den zuständigen Behörden denjenigen wohlmeinenden Beamten zu entdecken zu versuchen, mit dem sich noch reden ließ
Im übrigen konzentrierten sich die Bemühungen zunehmend auf die praktische Wirtschaftshilfe. Schon verhältnismäßig früh änderte sich die Einschätzung bezüglich der noch bestehenden Existenzmöglichkeiten und der Aussicht, es trotz allem in Deutschland aushalten zu können. Entsprechend änderten sich auch Arten und Ziele wirtschaftlicher Beratung und Hilfeleistung. Die zu Beginn vorherrschende Tendenz, mit allen rechtlichen Mitteln an jeder Position festzuhalten und durch Interventionen und auch juristischen Beistand „ungesetzmäßige“ Entlassungen und Boykottmaßnahmen rückgängig zu machen, wich bald einer realeren Einschätzung, die sich mehr und mehr auf die praktische und konstruktive Wirtschaftshilfe und die Vorbereitung zur Auswanderung konzentrierte
Die Masse derjüdischen Erwerbstätigen war noch früher gezwungen worden, sich den neuen Verhältnissen anzupassen. Bei den freien Berufen und zunehmend auch beim gewerblichen Mittelstand setzte auch ohne zentrale Lenkung der Prozeß einer „rückläufigen Berufsumschichtung“ ein. Entlassene Angestellte machten sich als Vertreter, Agenten und Reisende selbständig. Ehemalige Ärzte und Rechtsanwälte zogen mit dem Muster-koffer durch die Städte, um für ihre Familien das bescheidene Existenzminimum zu verdienen. Der Hausiererberuf, der seit Jahrzehnten fast restlos aus den jüdischen Berufstatistiken verschwunden war, kam wieder zu „Ehren“. Jeder Berufswechsel — auch die Verlegung des Geschäfts in bescheidenere Lokale oder selbst in die Familienwohnung — erforderte eine neue Gewerbelizenz. Daraus ergab sich die optische Täuschung „jüdischer Neueröffnungen“, die von der Nazipresse besorgt verzeichnet wurde und bis heute noch manche Historiker verwirrt
Ein Ergebnis der organisierten jüdischen Wirtschaftshilfe durch fast 70 Stellen im ganzen Land war, daß zum erstenmal in der Geschichte der deutschen Juden so etwas wie ein eigenerjüdischer Wirtschaftssektor entstand Je weniger Berufe den Juden offenstanden, je mehr ihr wirtschaftliches Tätigkeitsfeld eingeengt wurde, desto mehr arbeiteten Juden für Juden und ernährten sich voneinander. Der Verwaltungsapparat jüdischer Gemeinden und Organisationen nahm nie dagewesene Dimensionen an; er stellte, abgesehen von dem erweiterten Aufgabenkreis, zweifellos ein Mittel innerjüdischer Arbeitsbeschaffung dar Ein „jüdischer Vermittlungsdienst“ und die Anzeigenteile der jüdischen Zeitungen, deren Umfang und Vertrieb zu bisher unerreichten Rekorden anschwollen versuchten den „inneren jüdischen Markt“ zu erweitern und jüdischen Arbeitern und Angestellten Arbeitsplätze bei jüdischen Unternehmern zu besorgen Hilfsorganisationen unterstützten jüdische Handelsunternehmen durch subventionierte Warenlieferungen von jüdischen Produzenten. Das schon früher geschaffene Netz jüdischer Darlehenskassen erweiterte die Gewährung von Kleinkrediten jüdischer Handwerker und Kleinhändler. Auch die mittelständischen Genossenschaftsbanken und Versicherungen erreichten Rekorde ihrer Einlagen und ihres Kredit-und Geschäftsvolumens, als es immer schwieriger für Juden wurde, bei den allgemeinen Kreditinstitutionen und selbst bei jüdischen Privatbanken, die um ihre Solvenz besorgt sein mußten, Kredite aufzunehmen
Eine auch nur nahezu „autarke“ jüdische Selbstversorgung gab es natürlich nie, aber jüdische Produzenten und besonders Arbeitnehmer waren noch vor 1938 in zunehmendem Maße auf den jüdischen Markt beschränkt. Bis Ende 1936 beließen die Behörden den Arbeitsnachweisen der jüdischen Gemeinden einen halboffiziellen Status. Als sie geschlossen werden mußten, ging der Appell verstärkt an die Solidarität jüdischer Finnen — über die Gemeinden, Synagogen undjüdischen Organisationen bis hin zu persönlichen Kontakten. Das Resultat war allerdings begrenzt: Der Liquidierungs-und Arisierungsprozeß jüdischer Klein-und Mittelbetriebe machte deren jüdische Angestellte sofort erwerbslos, und die noch bestehenden Großunternehmen wurden durch die Betriebszellen der Deutschen Arbeitsfront scharf überwacht; sie mußten oft auch langjährig bei ihnen beschäftigte Juden entlassen
Frauen waren allgemein leichter unterzubringen als Männer, und nach den Nürnberger Gesetzen machte sich sogar ein Mangel an jüdischen Haushaltshilfen bemerkbar. Auch als Verkäuferinnen und Bürohilfen fanden Frauen im Laufe des Wirtschaftsaufschwunges leichter Anstellung. Die überkommene Einstellung jüdischer Mittelstandsfamilien zur Frauenarbeit änderte sich notgedrungen, und in vielen Familien waren die Frauen die Haupt-oder auch die Einzigverdiener Andererseits mehrten sich in der jüdischen Presse auch Proteste gegen die „doppelverdienenden“ Frauen in jüdischen Gemeinden und Organisationen
Besonders schwierig war die Lage der schulentlassenen Jugend, auch nachdem in den jüdischen Volksschulen ein neuntes Schuljahr eingeführt worden war. Das am Anfang mit viel Hoffnung aufgezogene Berufsvorbereitungswerk der Ge-meinden konnte nur einen Teil der jüdischen Jugend erfassen. Die Berufsumschichtung älterer Jahrgänge, mit der betonten Tendenz zur Auswanderungsvorbereitung, fand bei den Betroffenen nicht den erhofften Anklang, und auch die Mittel waren unzureichend Trotzdem konnte während dieser Jahre in knapp 140 Berufsschulungskursen und landwirtschaftlichen Hachscharah (Lehrfarmen) ungefähr ein Drittel der betreffenden Jahrgänge eine gewisse Zeit in einer gesellschaftlich geborgenen Umgebung verbringen und sich auf die Auswanderung, zumeist nach Palästina, vorbereiten
Für die ständig steigende Zahl von Arbeitslosen und Minderbemittelten mußten zunehmend die Wohlfahrtsämter und Gemeinden sorgen. Im Etat der Gemeinden nahmen die direkten und indirekten Ausgaben für das Wohlfahrtswesen gegen Ende 1937 fast die Hälfte der Gesamtausgaben ein, und eine große Zahl sogenannter Notstands-gemeinden mußten aus zentralen Mitteln unterstützt werden Daneben betreute die Jüdische Winterhilfe eine stets steigende Anzahl Hilfsbedürftiger mit Nahrungs-und Heizmitteln im Winter 1937/1938; sie betrug über ein Fünftel der gesamten jüdischen Bevölkerung
Wir konnten in diesem Rahmen den enormen Aufwand der jüdischen Selbsthilfewerke nur kurz skizzieren. Nimmt man das jüdische Schul-und Unterrichtswerk hinzu, so kann man die großar-, tige organisatorische und auch finanzielle Leistung des deutschen Judentums in der vorletzten Phase seiner Existenz nur mit Bewunderung betrachten. Die Kosten dieses Werks wurden fast ausschließlich von den deutschen Juden allein getragen. Nach vorsichtigen Schätzungen der Reichsvertretung erhoben die jüdischen Gemeinden zwischen 1933 und 1938 jährlich 25 bis 40 Millionen Reichsmark an Gemeindesteuern — natürlich mit abfallender Tendenz. Dagegen belief sich der Gesamtbetrag der Hilfe jüdischer Organisationen im Ausland an die Reichsvertretung auf weniger als 10 Millionen Mark während des gesamten Zeitraums. Die jüdische Winterhilfe allein gab jährlich ebensoviel oder mehr Geld aus,wie der Gesamtjahresetat der Reichsvertretung betrug
Bereits Ende 1936 hat Jakob Lestschinsky von Paris aus die wirtschaftliche Situation der Juden in Deutschland mit folgenden Sätzen umrissen: „ 20 bis 22% der jüdischen Bevölkerung sind schon heute mehr oder weniger auf die Wohlfahrtspflege angewiesen. 20 bis 25 % zehren vom Bestand. Man hat das Geschäft liquidiert oder übergeben. Man hat etwas Geld dafür erhalten; — Einzelne: Millionen; ein paar Dutzend: Hunderttausend; Zehntausende: ein paar tausend Mark. Und nun zehrt man diesen Bestand auf. Wer Kinder hatte und es irgendwie konnte, hat sie ins Ausland geschickt und hofft aufgute Nachrichten und auf den erlösenden Ruf, in die neue Heimat zu kommen, in die Kinderheimat. Wer keine Kinder hat, sitzt und zählt die Markstücke und die Jahre und bittet den Himmel, daß die Jahre Gott behüte nicht länger andauem als die Markstücke.“
Diese Worte mögen damals vielen wie eine arge Übertreibung geklungen haben — sie waren es keineswegs! Die Juden in Deutschland waren bereits 1937 eine zahlenmäßig schnell schrumpfende und veraltemde Bevölkerungsgruppe, deren wirtschaftliche Existenzbasis von Tag zu Tag enger wurde. Aus der Arbeit früherer Zeiten und früherer Generationen hatten sie immer noch beträchtliche Reserven, die jedoch schnell zusammen-schmolzen, während in den Regierungs-und Parteiämtem bereits die Pläne für ihre „Erfassung zum Einsatz in die deutsche Volkswirtschaft“ vorbereitet wurden.
Ende 1937 begann die Phase der „Entjudung der Wirtschaft“ mit dem Ziel, die Reste aktiver Wirtschaftsbetätigung zu beseitigen und das zum großen Teil bereits liquide jüdische Vermögen zu enteignen. In den Regierungs-und Parteiämtern waren nachweisbar die Vorarbeiten spätestens seit dem Sommer 1936 im Gange. 1937 wurden sie beschleunigt und Anfang 1938 war das meiste schon parat Die schnell aufeinanderfolgenden Maßnahmen des Jahres 1938 sind bekannt: Immer neue Berufsverbote wurden veröffentlicht, von denen besonders der Entzug der Reiselegitimationskarten und Wandergewerbescheine Tausende von jüdischen Hausierern, Vertretern und Reisenden traf. Im April mußten die jüdischen Vermögen über 5 000 Mark angemeldet werden. Im Juli wurden alle noch bestehenden jüdischen Betriebe registriert. Während des ganzen Jahres ging der Arisierungswettlaufum die Restbestände jüdischer Geschäfte beschleunigt weiter. Allerdings stellte sich bald heraus, daß die Hoffnungen vieler Partei-und anderer Volksgenossen auf eine mühelose Bereicherung stark übertrieben gewesene waren: Die einträglichsten Objekte waren längst vergriffen. Um auch die starrsinnigsten jüdischen Geschäftsleute zu überzeugen und die Auswanderung der Juden zu beschleunigen, wurde die wirtschaftliche „Entjudung“ im Sommer 1938 durch erneut aufflammende Gewalttätigkeiten unterstützt. Im Oktober 1938 zeichnete die Zwangsausweisung von ca. 18 000 polnischen Juden bereits die späteren Deportationen vor
In diesem Kontext setzte der Novemberpogrom nur das Signal, in wenigen Wochen endgültig das zu vollenden, was auf dem Gebiet der Wirtschaft seit Jahren konsequent und zäh — seit Ende 1937 mit beschleunigter Vehemenz — wirksam verfolgt worden war. Bereits wenige Wochen danach war die „Entjudung“ abgeschlossen. Seit Anfang 1939 lebten die Juden in einem fast völlig abgeschlossenen wirtschaftlichen Ghetto. Mit dem ihnen zugestandenen Existenzminimum — bezogen aus den Resten jüdischer Gemeinde-und Privatvermögen — konnten sie sich noch einige wenige Jahre halten. Am Ende mußten sie auch noch für die Kosten für ihre Deportation in die Vernichtungslager aufkommen.