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Die „Deutschland-Berichte“ der Sopade | APuZ 31/1986 | bpb.de

Archiv Ausgaben ab 1953

APuZ 31/1986 Spiele unterm Hakenkreuz Die Olympischen Spiele von Garmisch-Partenkirchen und Berlin 1936 und ihre politischen Implikationen Die deutschen Minderheiten in Polen und in der Tschechoslowakei in den dreißiger Jahren Die „Deutschland-Berichte“ der Sopade Der wirtschaftliche Existenzkampf der Juden im Dritten Reich (1933-1938)

Die „Deutschland-Berichte“ der Sopade

Johannes Klotz

/ 32 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Die Darlegung der unmittelbaren Lebenslage und Alltagserfahrungen der Gesellschaftsklassen und -schichten in den Deutschland-Berichten der Sopade war eingebettet in ein widerspruchsvolles politisch-ideologisches Gesamtkonzept, das sich in konkreten politischen Auseinandersetzungen herausbildete: Die politische Situation nach der Machtübernahme des Faschismus drängte den Sopade-Parteivorstand zur Veröffentlichung des Prager Manifestes im Januar 1934. Mit ihm schienen Möglichkeiten eines einheitlichen antifaschistischen Kampfes der Arbeiterbewegung gegeben. Dennoch konnte der Parteivorstand nie seinen Alleinvertretungsanspruch als dem einzig legitimen Vertreter der Arbeiterklasse verhehlen, Dieser Anspruch war verknüpft mit der politisch-ideologischen Öffnung hin zum Konzept einer Volkspartei demokratisch-sozialistischen Charakters, also mit der Öffnung hin zum Bürgertum und den Mittelschichten unter Aufgabe des Charakters als Klassenpartei. Die Schrift „Die Partei der Freiheit“ (1939) war der erste Versuch, für die gesamte SPD den demokratischen Sozialismus verbindlich zu machen und damit den Marxismus endgültig zu überwinden. Die Deutschland-Berichte dokumentieren einerseits den politisch-ideologischen Weg der Sopade zum demokratischen Sozialismus, insofern die Stimmungsberichte interpretierend und einordnend das Leben im Faschismus beschreiben, andererseits widerspiegeln sie die komplexen Integrationsund Desintegrationsmechanismen des faschistischen Systems, insbesondere sozialpsychologische und ideologische Mechanismen; damit leisten sie einen Beitrag zur Analyse des Charakters, des Wesens und der sozialen Funktion des Faschismus in seiner alltäglichen Form.

I. Alltagsgeschichte als methodisches Problem

Die historische Forschung in der Bundesrepublik Deutschland hat sich in den letzten Jahren stärker der „Geschichte von unten“ zugewendet. Diese sozialgeschichtliche Dimension wurde auch als Bereicherung für eine komplexere Analyse des deutschen Faschismus verstanden. Einige Thesen der Vertreter dieses Ansatzes seien kurz genannt: Die Nationalsozialismusforschung habe sich bisher fast durchweg eine Quelle von erheblicher Bedeutung entgehen lassen, meinte Peter Maser in einer Gedenkschrift für Erich Rinner, dem Herausgeber der „Deutschland-Berichte“ (= „Grüne Berichte“, Abk. DB) der Sopade (der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands) Lange Zeit habe sich die Quellenforschung aufAkten der Gestapo, der Gerichte sowie der Staats-und Partistellen gestützt, jedoch die parteiliche Opposition gegen das Regime, wie sie in den „DeutschlandBerichten“ ausführlich dokumentiert wird, nicht oder nur mit großen Vorbehalten zur Kenntnis genommen Erst allmählich — mit der schrittweisen Erweiterung eines Widerstandskonzeptes — finde auch der sozialdemokratische Widerstand die Beachtung, die er verdiene

Zweierlei möchte ich dazu ausführen.

Erstens: Im Rahmen eines Konzepts der „Geschichte von unten“ richtet sich seit den siebziger Jahren das Augenmerk der Forschung über den Widerstand gegen den Nationalsozialismus auf die zahlreichen unorganisierten, oft spontanen Erscheinungsformen von nicht angepaßtem Verhalten, Protest und Opposition im Alltags-leben der Bevölkerung. Diese sozialgeschichtlich orientierte Gesellschaftsgeschichte führte zu neuen wertvollen Erkenntnissen und eröffnete anregende Perspektiven. Nicht nur die Richtung der Widerstandsforschung wurde von diesem Ansatz stark beeinflußt, sondern natürlich auch die Geschichtschreibung über die Arbeiterbewegung. Vor allem von jüngeren Historikern wurde versucht, die Geschichte der Arbeiterbewegung „von unten“ zu schreiben, unterhalb der Strukturen der Parteien, Gewerkschaften und staatlicher Politik. Aber die Orientierung aus der historischen Perspektive ins . Milieu* bzw. zu den sozialgeschichtlichen Quellen barg eine Gefahr: Ohne die Erarbeitung eines forschungsrelevanten Gesellschaftsbegriffs drohen die innovatorischen Vorstöße der vergangenen Jahre zu versanden. Der Zugewinn jener Arbeiten, die sich durch eine neue Sensibilität für sozialgeschichtliche Quellen und für die Möglichkeiten ihrer Ausweitung auszeichnen, darf nicht erkauft werden durch einen Theorie-und Politikverlust. Die Darlegung der unmittelbaren Lebenslage und der Alltagserfahrungen muß zugleich Moment einer gesamtgesellschaftlichen Analyse sein, die zur theoretischen Klärung drängt. Mit dem Ausbleiben einer tragfähigen Gesellschaftskonzeption wird nämlich zugleich die praktische Relevanz, die Rückwirkung auf die Gesellschaft, in Frage gestellt.

Zweitens: Die Widerstandsforschung hat vor allem unter Berücksichtigung der Geschichte der Arbeiterbewegung am Institut für Politikwissenschaft in Marburg eine besondere Tradition. Es ist das Verdienst Wolfgang Abendroths gewesen, die Forschungen auf diesem Gebiet vorangetrieben zu haben Eine Vielzahl von Dissertationen und Veröffentlichungen sind zu dieser Problematik erschienen und haben für ihr Thema Zeitschriften, Zeitungen und anderes Quellenmaterial des Exils und der illegalen Arbeit — so auch die „Deutsch-land-Berichte" — intensiv ausgewertet Für diese Arbeiten kann weder Voges’ Kritik gelten, nur ideen-und organisationsgeschichtlich ausgerichtet gewesen zu sein — die Ideen-und Organisationsgeschichte wurde vielmehr immer im Zusammenhang mit der Realentwicklung der Partei(en) /Gewerkschaften, der Gesellschaft und des Staates analysiert —, noch die Ansicht Lehnerts, die Interpretation der sozialdemokratischen Neuordnungskonzeptionen stagnierten auf dem Informationsstand und Denkhorizont der fünfziger Jahre Zuletzt belegte die Marburger Dissertation von Wolfgang Saggau die sich mit „Faschismustheorien und antifaschistischen Strategien in der SPD“ befaßt, daß die Schwächen des SPD-Parteivorstandes im Kampf gegen den (aufkommenden) Faschismus in unmittelbarem Zusammenhang mit erheblichen Defiziten in der Analyse des Faschismus standen — trotz des umfangreichen Quellenmaterials, das über die Stimmungslage der Bevölkerung Auskunft gab.

Zwischen Darlegung der Stimmungsberichte und Analyse der politischen Situation traten in der Tat erhebliche Widersprüche auf, die im folgenden aufgezeigt werden sollen. Es waren Widersprüche, die die Sopade oft daran hinderten, die reale Lage des Faschismus zu analysieren, was sich konsequenterweise auf ihre antifachistische Strategie auswirken mußte. Die „Deutschland-Berichte“ stellen insofern einen unschätzbaren Wert dar, als sie die Widersprüchlichkeiten des fachistischen Systems, die stabilisierenden und destabilisierenden Momente sozialer Integration in Politik, Wirtschaft und Ideologie aufzeigen. Diese Präzisierungen sollen belegen, daß die Veröffentlichung der DB (durch den Verlag Zweitausendundeins) zu einer Popularisierung der Geschichte der SPD während des Faschismus beigetragen hat und damit der wissenschaftlichen Analyse eine wichtige Quelle zugänglich gemacht wurde.

Die „politische Berichterstattung* der Sopade wurde als „originellste und zugleich effektivste Form sozialdemokratischen Widerstands“ betrachtet. Die Sopade hoffte, damit die Massenbasis des Faschismus erschüttern zu können. „Der Welt die Wahrheit zu sagen und der Wahrheit einen Weg nach Deutschland hineinzusprengen“ und „das Regime geistig (zu) erschüttern und die Massen auf den Sturz des Regimes“ vorzubereiten, war ihre Hauptaufgabe.

Im folgenden soll der Zusammenhang zwischen politischer Berichterstattung und dem Widerstandskonzept hergestellt werden:

1. Inwieweit spiegelten die Deutschland-Berichte die wirkliche Lage in Deutschland wider, und ist der Versuch gelungen, eine „objektive und zuverlässige Tatsachendarstellung“ zu präsentieren?

2. Wie flossen die Berichte in die Widerstands-konzeption ein?

3. Welcher Charakter zeichnete die Widerstands-konzeption der Sopade aus?

Für Teilgebiete ist schon überprüft worden, ob das Bild, das die DB vom deutschen Faschismus entwarfen, der Realität entsprach, so die Berichterstattung der DB über den Kirchenkampf und die DB als Quelle zum Widerstand der Industriearbeiter im Dritten Reich Im Zentrum der folgenden Untersuchung soll die Berichterstattung über das Bürgertum und . Handel und Gewerbe* stehen. Unter dem Begriff . Bürgertum* faßte der PV (= Parteivorstand — J. K.) . höhere Beamte*, . Reichswehroffiziere*, allgemein , die Mittel-schichten*, . kleine Unternehmer*, aber auch Teile der . großen Industrie* zusammen

Die Analyse geht davon aus, daß das Bürgertum (das, als politisch-ideologischer Begriff verstanden, das Gesamtinteresse der herrschenden Klasse ausdrückt) seine Vorstellungen über die Krisenlösung und die Abwehr des Sozialismus in den Jahren 1929 bis 1933 keineswegs von Anfang an einheitlich aufden Faschismus gerichtet hatte und daß die „Machtübernahme der Nationalsozialisten erst das Produkt eines komplizierten Kompromißprozesses zwischen verschiedenen konservativen und reaktionären Kraftlinien war“ Letztlich erfolgte erst 1933 die politische Konzentration des Bürgertums auf der Basis des Faschismus. Aber: Ebenso entscheidend wie die „Unter-nehmerstrategie zur wirtschaftlichen Krisenlösung auf dem Rücken der Arbeiter waren für die Wahl des faschistischen Weges diejenigen Prozesse in den sozialen Zwischenschichten, die breite Teile der Angestellten, Beamten, Gewerbetreibenden und Bauern aus ihren traditionellen politischen Bindungen lösten und der nationalsozialistischen Bewegung zuführten“

II. SPD und Faschismus

Wie wirkte sich der Machtantritt des Faschismus auf die SPD aus? Schon vor ihrem Verbot am 22. Juni 1933 war sie als Organisation praktisch zerfallen. Die faschistische Terrorwelle und die Politik des Abwartens und Stillhaltens durch den Parteivorstand hatten bereits im März und April 1933 zur Auflösung der organisatorischen Strukturen der Partei geführt. Das Parteileben erstarb größtenteils, weil die Mitglieder auf einen organisierten antifaschistischen Widerstand nicht vorbereitet waren. Nur ein kleiner Teil versuchte, den Zusammenhalt der Parteiorganisation durch private Kontakte oder über kulturelle Vereine und Klubs zu halten. Anfang Juni 1933 verlegte der . Parteivorstand seinen Sitz von Saarbrücken, wo er schon eine Auslandszentrale eingerichtet hatte, nach Prag. Seine Anpassungspolitik war gescheitert

Bereits im Mai 1933 hatten SPD-Funktionäre aus Sachsen und Thüringen begonnen, von Karlsbad aus den Widerstand zu organisieren, ein System von Kontaktpersonen und Verbindungen aufzubauen. Die Sopade, wie die SPD sich in der Emigration jetzt nannte, bemühte sich um den Aufbau weiterer Grenzsekretariate nach dem Karlsbader Vorbild. Über dieses Netz erhielt sie Nachrichten aus Deutschland („Deutschland-Berichte“) und ließ umgekehrt Materialien der SPD-Führung an die illegalen Gruppen im Reich verteilen. Der Aufbau einer illegalen Funktionärsorganisation gelang allerdings nur in Ansätzen. Aber das „Büro“ (= Parteivorstand und Mitarbeiter) in Prag entfaltete eine rege publizistische Tätigkeit.

Der Autoritätsverlust der Sopade-Führung konnte dadurch nicht aufgefangen werden. Vor allem jene sozialdemokratischen Gruppen und Organisationen kritisierten das Zurückweichen vor der faschistischen Gefahr, die von sich aus begonnen hatten, antifaschistischen Widerstand zu leisten (Roter Stoßtrupp, Neu Beginnen, SAP u. a.). Die Sopade mußte letzten Endes aufdie von der sozialdemokratischen Linken vorgebrachten Kritik inhaltlich reagieren. Im Januar 1934 veröffentlichte sie einen Aufruf, das „Prager Manifest“. Es enthielt zwar widersprüchliche und verschieden auslegbare Formulierungen aber auch Weisungen und Erkenntnisse für eine „selbständige, wirklich antifaschistische Arbeiterpolitik“

Die Absage an den Reformismus wurde verbunden mit einer Reihe von Sofortmaßnahmen nach dem Sturz des Faschismus, die den Gegner vollständig und auf Dauer entmachten sollten:

„Im Kampf gegen die nationalsozialistische Diktatur gibt es keinen Kompromiß, ist für Reformismus und Legalität keine Stätte. Die sozialdemokratische Taktik ist allein durch das Ziel der Eroberung der Staatsmacht, ihrer Festigung und Behauptung zur Verwirklichung der sozialistischen Gesellschaft...“ bestimmt.

„Die Zerschlagung des alten politischen Apparates muß gesichert werden gegen seine bisherigen gesellschaftlichen Träger. Das erfordert: sofortige entschädigungslose Enteignung des Großgrundbesitzes, Überführung der Forsten in Reichseigentum und Reichsverwaltung, Verwendung des Ackerlandes zur Schaffung lebensfähiger Bauern-Siedlungen und genossenschaftlicher Betriebe von Landarbeitern mit ausreichender Förderung durch Staatsmittel. Übernahme der Reichsbank in den Besitz und die Verwaltung des Reiches. Vergesellschaftung und Übernahme der Großbanken durch die vom Reich bestimmten Leitungen.“

Ein besonderer Abschnitt des Prager Manifestes war der „Einheit des revolutionären Sozialismus“ gewidmet:

„Die Differenzen in der Arbeiterbewegung werden vom Gegner selbst ausgelöscht. Die Gründe der Spaltung werden nichtig. Der Kampf zum Sturz der Diktatur kann nicht anders als revolutionär geführt werden. Ob Sozialdemokrat, ob Kommunist, ob Anhänger der zahlreichen Splittergruppen, der Feind der Diktatur wird im Kampf durch die Bedingungen des Kampfes selbst der gleiche sozialistische Revolutionär. Die Führung der deutschen Sozialdemokratie weiß sich deshalb frei von jeder sektenhaften Abschließung und ist sich ihrer Mission bewußt, die Arbeiterklasse in einer politischen Partei des revolutionären Sozialismus zu vereinigen.“

Die Wirkung dieses Aufrufs, der in über 50000facher Ausfertigung über die Grenze gebracht worden war, war unterschiedlich. Zahlreiche Sozialdemokraten fühlten sich bestätigt, und die illegale Tätigkeit bekam 1934 auf Grund dieses Manifestes erst „den richtigen Schwung“ In vielen illegalen sozialdemokratischen Gruppen und in Teilen der Emigration wurde allerdings bezweifelt, ob sich die Sopade vom Reformismus befreit hätte, der von jenen für das Scheitern verantwortlich gemacht wurde. Das „Prager Manifest“ erzielte jedenfalls Wirkungen über taktisch-organisatorische Überlegungen und Begrenzungen durch den Parteivorstand hinaus Das grundsätzliche Bekenntnis zur Einheit der Arbeiterklasse und auch die organisatorische Vereinigung der verschiedenen Strömungen der Arbeiterbewegung wären die Grundlage für die Ausarbeitung einer gemeinsamen antifaschistischen Strategie und Praxis gewesen.

Die Kontakte zwischen sozialdemokratischen und kommunistischen Widerstandskämpfern in Deutschland verbesserten sich trotz der — nur wenige Monate nach der Veröffentlichung des Manifests und der darin geforderten Aktionseinheit — ablehnenden Haltung der sozialdemokratischen Parteiführung in Prag. Die Dokumente belegen, daß die Frage der Einheits-und Volksfront zwischen 1934 und 1936 eine bedeutende Rolle im antifaschistischen Kampf spielte, sowohl in der Emigration als auch im faschistischen Deutschland selbst Die Sopade arbeitete jedoch allen Versuchen, eine antifaschistische Volksfront-bewegung ins Leben zu rufen, entgegen. Linke Sozialdemokraten machten der politischen Berichterstattung den Vorwurf, gemeinsame Aktivitäten zwischen Sozialdemokraten und Kommunisten in Deutschland auszufiltern

In einer Denkschrift der Revolutionären Sozialisten, eines Arbeitskreises von linken Sozialdemokraten innerhalb der Sopade, hatte „eine kritische Überprüfung der . Grünen Berichte'der Sopade mit den Erfahrungen der eigenen Berichterstattung und denen anderer Emigranten ... zu der Einschätzung geführt, daß einmal die Sopade-Mitarbeiter im Reich selbst zu wenig Kontakt mit der illegalen Bewegung hätten, zum anderen finanziell an die Sopade gebunden wären. Deshalb seien ihre Berichte als Ausdruck des Bemühens zu interpretieren, in Deutschland das zu sehen, was „dem Wunschbild des PV entsprach. Der PV hatte diese Tendenz kräftig unterstützt, indem er in seinen Publikationen die kritischen Berichte fast restlos ausmerzte und nur die ihm günstig gestimmten Berichte brachte .. . * Dort aber, wo durch die Vorbereitungen auf die Illegalität ein gut funktionierendes Nachrichtensystem aufgebaut worden sei, wie z. B. durch das Karlsbader Grenzsekretariat, dort, wo »ungeschminkte Darstellungen über die wirkliche Situation in Deutschland gegeben'würden, seien die »Präger Illusionen'am härtesten mit der Wirklichkeit zusammengeprallt. Um ungestört ihre Illusionspolitik weiter betreiben zu können, habe schließlich die Sopade auch das Karlsbader Grenzsekretariat zu liquidieren versucht, bzw.seinen Leiter durch einen ihr ergebenen Funktionär ersetzt.“

Die politisch-ideologischen Traditionen und Bindungen an die sozialdemokratische Parteiführung erwiesen sich im Zusammenwirken mit der Entfernung vieler illegaler Widerstandskader stärker als das Wirken jener sozialdemokratischen Gruppierungen, welche die Autorität des Parteivorstandes bezweifelten, den politischen Kampf gegen den deutschen Faschismus anführen zu können. Deshalb konnten auch Versuche der Sopade erfolgreich sein, im weiteren Verlauf der Entwicklung des Widerstandskampfes getroffene Abkommen oder die Zusammenarbeit zwischen Sozialde-mokraten und Kommunisten wieder aufzukündigen. Die Kritik an der risikoreichen und opferbereiten illegalen Tätigkeit der Kommunisten tat ein übriges. Die politisch-ideologischen Bewußtseinsstrukturen in der SPD/Sopade wirkten insofern retardierend, wie die Bewegung die Vorlage eines politischen Widerstandskonzeptes durch ihre Führung erwartete, ohne selbst die Möglichkeit zu haben bzw. zu erringen, darauf Einfluß zu nehmen. Hier wird die große Verantwortung sichtbar, die eine politische Führung übernimmt, wenn sie vom Ausland aus den politischen Kampf anleiten muß.

Wesentlich bestimmt wurden Form und Inhalt des von der Sopade-Führung organisierten antifaschistischen Kampfes durch die rege publizistische Tätigkeit über ein System von Kontaktpersonen und Verbindungen, aber auch durch die antikommunistische Grundeinstellung, mit welcher der politisch-ideologische Kampf geführt wurde. Dieser wurde determiniert durch die Einschätzung des Charakters des faschistischen Regimes, seiner weiteren Entwicklung und den Möglichkeiten, es zu stürzen, nachdem alle anfänglichen Hoffnungen auf einen baldigen Zusammenbruch obsolet geworden waren. Das Material hierfür lieferten vor allem die „Deutschland-Berichte“.

Bezüglich der Einschätzung des Faschismus in Deutschland dominierte zwischen 1934 und 1939 die Auffassung, es handele sich um einen . totalen Staat*, „in dem die Ausweitung der Macht der Staatsorgane zum Selbstzweck geworden sei und die Politik das Schicksal der Wirtschaft bestimme. Der Faschismus war demnach keine Form der kapitalistischen Herrschaft, und die wirtschaftspolitischen Maßnahmen des faschistischen Staates standen im Widerspruch zu den eigentlichen Entwicklungsgesetzen der Ökonomie.“ Diese schon von der SPD in der Weimarer Republik mehrheitlich angenommene Trennung von Politik und Ökonomie widerspiegelte sich natürlich auch im Bewußtsein der Arbeiterklasse und wirkte sich auf Form und Inhalt des antifaschistischen Kampfes aus. Die „neue“ Form des Klassenkampfes in der . Betriebsgemeinschaft*, so Voges, sei geprägt durch die „verbreitete Kombination von Widerstand im Betrieb und politischer Indifferenz oder gar nationalsozialistischer Einstellung“

Umgekehrt richtete sich die antifaschistische Propaganda der Sopade vorwiegend gegen die Träger der staatlichen Machtpolitik, wobei die ökonomische Basis des Faschismus ausgeblendet blieb.

Die Auseinandersetzungen innerhalb der faschistischen Führung konnten deshalb auch nicht in den Zusammenhang von Machtkämpfen zwischen politischen Repräsentanten verschiedener Kapitalfraktionen gebracht werden, die ihre jeweiligen besonderen Interessen durch die staatliche Wirtschaftspolitik gewahrt wissen wollten. Auseinandersetzungen im faschistischen Staatsapparat wie in der Partei — zwischen Reichswehr und SA und der blutigen Liquidierung der Führer letzterer im Juni 1934 — interpretierte die Sopade noch als Zeichen des baldigen Zusammenbruchs. Der Ausgang des Konflikts zwischen Reichswehr und SA ließ den sozialdemokratischen Parteivorstand auf einen Umsturz durch die Reichswehr hoffen Spätestens mit der Vereidigung der Reichswehr auf Adolf Hitler am 2. August 1934 erwiesen sich die Hoffnungen auf die Reichswehr jedoch als Trugbild. Jetzt versuchte die Sopade mehr und mehr, für die bürgerliche Opposition bündnisfähig zu werden, was mit schärferen Abgrenzungen des Emigrationsvorstandes gegenüber den opponierenden sozialdemokratischen Gruppen und vor allem gegenüber den Kommunisten korrespondierte, wenn auch 1935 noch einmal Verhandlungen mit den Kommunisten geführt wurden, bei denen jedoch schon vorher das Scheitern feststand Die Hoffnungen auf das Bürgertum pflegte die Sopade auch noch in der Folgezeit, als sie ihren Sitz von Prag nach Paris verlegen mußte (1938), weil Hitler nach dem Münchner Abkommen die Tschechoslowakei okkupierte. Die weitgehende Ausschaltung sozialdemokratischer und kommunistischer Widerstandsgruppen Mitte der dreißiger Jahre entband den Emigrationsvorstand davon, „sich durch verbale Bekenntnisse zur Einheit der Arbeiterbewegung oder durch Rückgriffe auf die marxistische Theorie... zu legitimieren“ Die politische Berichterstattung des Parteivorstandes war in ein politisch-ideologisches Gesamtkonzept eingeordnet, das die angeblich wachsende Opposition bestimmter Kreise des Bürgertums im faschistischen Deutschland für das Ziel einer bürgerlich-parlamentarischen Demokratie nach dem Sturz der Hitlerdiktatur gewinnen wollte. Zur Klarstellung dieser Position brachte der Sopade-PV im Neuen Vorwärts am 30. Januar 1936 — also zwei Jahre nach der Veröffentlichung des Prager Manifestes — den Aufruf„Für Deutschland — gegen Hitler!“

Die im Frühjahr 1939 in Paris veröffentlichte Schrift Curt Geyers „Die Partei der Freiheit“ war im Auftrag des sozialdemokratischen Parteivor- Standes verfaßt worden. Mit ihr wurden wichtige Grundlagen zur Schaffung einer neuen weltanschaulichen Begründung des Sozialismus, der des demokratischen Sozialismus, der Öffentlichkeit vorgelegt. Darin enthalten war die konzeptionelle Entwicklung einer umfassenden Struktur des kommenden Deutschlands’ nach dem Sturz des Faschismus. Es wurde der Anspruch formuliert, daß die deutsche Sozialdemokratie unter Führung einer bestimmten Fraktion erneuert werden müsse. Nicht mehr der Klassenkampf, sondern die Idee der Freiheit sei die Triebfeder der gesellschaftlichen Entwicklung. Eine wesentliche Bedingung zur Konkretisierung der Vorstellungen über die politische Strategie des Übergangs zum Sozialismus fehlte noch: die organisatorische Einheit der Sozialdemokratie. Sie wäre Ausdruck einer ideologischen Annäherung. Dieser politisch-ideologische und organisatorische Entwicklungsprozeß begann 1942 mit der Gründung der „Union deutscher sozialistischer Organisationen in Großbritannien“, in der sich SPD, SAP (= Sozialistische Arbeiterpartei), ISK (= Internationaler Sozialistischer Kampfbund) und Neu Beginnen zusammen-schlossen.

III. Die Stimmungslage des Kleinbürgertums und Bürgertums, dokumentiert in den „Deutschland-Berichten“

Welche Belege für die geschilderten Entwicklungslinien der Sopade Enden wir in den „Deutschland-Berichten“? Wie wird die allgemeine Stimmungslage charakterisiert und welche Schlüsse werden daraus gezogen? Wie entwickelten sich Motive, Intentionen und Interessen der faschistischen Bewegung, dargestellt an . Handel und Gewerbe*, und wie diejenigen des Bürgertums an den Brennpunkten der sozialen, politischen und ökonomischen Auseinandersetzungen? Welchen Realitätsgehalt weisen diese Berichte auf? Und welche politischen Interpretationen und Schlüsse zieht die Sopade daraus?

Die Berichterstatter der DB berichten Anfang 1934 von einem allgemeinen Stimmungsumschwung, vom „Abbröckeln“ der Massengrundlage des NS-Regimes. Gleichzeitig aber wird gemahnt, Jenseits von Optimismus und Pessimismus festzustellen, welche wesentliche Schwächung das Regime erfahren hat und auf welche Kräfte es sich noch stützen kann“ Darin drückt sich der Versuch aus, verschiedene herrschaftsstabilisierende und -destabilisierende Faktoren gegeneinanderzustellen und politisch-interpretierend zu gewichten Konzentrieren wir uns zunächst auf die Ereignisse des 30. Juni 1934, deren politische Bewertung und sozialpsychologische Hintergründe.

Die Gesamteinschätzung der Lage des faschistischen Systems geht davon aus, „daß die Nazis nicht in der Lage sind, die wirklichen Machtpositionen zu besetzen und den Staat auf die Dauer wirklich zu beherrschen“ Als wirkliche Macht wird die Gesamtheit von äußerer Macht, die noch in den Händen der Nazis liege, und innerer Macht, die immer mehr auf die alten Kräfte der Bürokratie, der Wirtschaft, des Feudalismus übergehe, verstanden Konsequenterweise sieht man das Kleinbürgertum nicht nur als sozialen Träger der „nationalsozialistischen Revolte“, sondern ordnet ihm darüber hinaus die politische Funktion zu, „die große Bourgeoisie“ eine Zeit-lang zurückgedrängt zu haben Es wird im technizistischen Sinne einfach der „Unfähigkeit der braunen Repräsentanten dieses Kleinbürgertums“ zugeschrieben, daß die Wirtschaft nicht floriere Was aber hält dennoch die faschistische Herrschaft aufrecht? Neben dem Propaganda-apparat und einer großen faschistischen Klientel wird die Schwäche des Gegners (also der Arbeiterbewegung) als Stärke des Regimes genannt Die ideologische Schwäche der Gegner rühre daher, daß die Unzufriedenheit der großen Masse aus engen persönlichen und wirtschaftlichen Interessen entspringe. Insbesondere gelte das für den Mittelstand und das Bauerntum. Das faschistische System versuchte aber nicht nur durch Propagandaschlachten (wie z. B. „Arbeitsschlachten“, „Kraft durch Freude“ usw.) die notwendige Akklamation zu erhalten, um die nicht befriedigten elementaren Bedürfnisse zu überdecken, sondern auch, indem es sich innenpolitisch als Ordnungsfaktor präsentierte und dem Ruf nach Ordnung in . eindrucksvoller* Weise nachkam.

Der Führermythos spielte in der Bewertung der Ereignisse des 30. Juni 1934 eine bedeutende Rolle. Die „Deutschland-Berichte“ dokumentie-ren und interpretieren diese Vorgänge: „Nach der Mehrzahl der Meldungen scheint festzustehen, daß die Popularität Hitlers bei der großen Masse unter den Ereignissen kaum gelitten hat, sondern in manchen Kreisen vielleicht noch gestiegen ist... Auf den ersten Blick mußte es weiter so aussehen, als ob durch die reihenweise Umlegung politischer Gegner ohne jedes richterliche Verfahren das Rechtsempfinden des Volkes aufs tiefste getroffen sein mußte. Auch das ist einstweilen nicht eingetreten ... Daß diese Führer diese brutale Offenheit wagen können, erscheint nicht so verwunderlich, wenn man bedenkt, daß das Rechtsempfinden des Volkes durch die Ereignisse der letzten Jahre systematisch untergraben worden ist und daß auch schon vorher das Volk immer starke Sympathien für möglichst »kurzen Prozeß'und harte Strafen gehabt hat.“

Die politische Interpretation wertet den 30. Juni 1934 als weitere Machtverschiebung, indem die Reichswehr sich innerhalb des Staatsapparates durchgesetzt habe. Die Machtverschiebungen resultierten aus divergierenden Interessen der rivalisierenden Machtgruppen. Diese Annahme von Machtverschiebungen innerhalb des faschistischen Herrschaftssystems durchzieht das Faschismusbild der Sopade während der gesamten Dauer der NS-Diktatur und legt die Interpretation nahe, daß es sich in keiner Phase um ein stabiles System gehandelt habe. Die instrumentelle Sichtweise der Sopade wird dabei deutlich: Die herrschenden Kräfte ringen um die Besetzung von Machtpositionen im Staat, der weder ein Gesamtinteresse zu wahren hat noch irgendeinen sozialen Charakter besitzt.

In der Tendenz vollziehe sich „die Umwandlung der faschistischen Diktatur der NSDAP, der .despotischen* Staatsgewalt, hin zu einer Diktatur des . Großkapitals* und/oder des Militärs, eine Interpretation also, die die Annahme einer sukzessiv voranschreitenden bzw. völligen Isolierung und Ausschaltung der faschistischen Machthaber aus dem Staatsapparat beinhaltete“ In gleicher Weise werden die Verabschiedung bestimmter Gesetze und personelle Veränderungen im Staatsapparat gewertet. Für die antifaschistische Orientierung hatte dies fatale Folgen: „Die Entwicklung ist für das geistige Wiedererstarken des Sozialismus in Deutschland nicht ungünstig ... Der Kampf gegen diese (faschistische — J. K.) Macht-Ideologie wird die Sozialisten in Deutschland vor ihre entscheidende Aufgabe stellen. Es ist der Kampf um die Umgestaltung des deutschen National-Charakters, der der eigentliche Inhalt der sozialistischen Revolution ist. Und die Entwicklung wird noch in anderer Beziehung für uns arbeiten ... Die kämpferische Haltung geht (von der nationalsozialistischen Bewegung — J. K.) über auf die Opposition, auf die erneuerte sozialistische Bewegung und verschafft ihr damit eine unermeßliche Anziehungskraft auf alle, die den Kampf um die Bewegung wollen.“ Aber in den DB wird auch davon ausgegangen, daß der Sturz des faschistischen Systems den alten Machtträgern (Wirtschaft, Reichswehr, Bürokratie) solange nicht opportun scheint, wie es eine Massen-basis habe.

Die Forschung hat anschaulich die Prozesse in der Spätphase der Weimarer Republik analysiert, die breite Teile der Angestellten, Beamten, Gewerbetreibenden und Bauern aus ihren traditionellen Bindungen lösten und zwischen 1930 und 1933 zur breiten Massenbasis der NSDAP werden ließen Diese Massenbewegung war der Favorisierung der NSDAP durch eine größere Anzahl von Unternehmern und zuletzt fast der gesamten sozialen Oberschicht vorausgegangen. Der Entwicklung der sozialen Basis des deutschen Faschismus gilt somit ein Hauptaugenmerk.

In den DB wird davon berichtet, daß neben den Bauern vor allem die Kleinhändler und Kleingewerbetreibenden diejenigen Schichten waren, die nach 1933 „am stärksten mit Mißstimmung gegen das Regime“ reagierten. Es heißt dort weiter: „Die Nationalsozialisten haben keines der Versprechen gehalten, mit denen sie die Gunst der Kleingewerbetreibenden geködert hatten: Warenhäuser und Konsumvereine werden mit staatlichen Krediten weitergeführt, die Steuern werden schärfer denn je eingetrieben und die Belastung wird durch die Spendenwirtschaft noch außerordentlich verschärft. Aber darüber hinaus hat die nationalsozialistische Wirtschaftspolitik den Kleinhändler geradezu als Prellbock benutzt: Die nationalsozialistische Agrarpolitik, die Arbeitsschlacht und die Kartell-Hochflut bewirkten ein Steigen der Preise. Der Kleinhandel aber wurde gezwungen, seine Handelsspanne in vielen Fällen zu verkleinern. Als trotzdem auch die Preise im Kleinhandel stiegen, wurden die Kleinhändler zu Sündenböcken gemacht, ihre Geschäfte polizeilich geschlossen und Strafexpeditionen der . empörten Volksgenossen* inszeniert... Eine besondere Ursache der Mißstimmung sind schließ-lieh noch die Zwangsinnungen, die hohe Beiträge erheben und nichts für die Mitglieder herausholen, die Strafen für Nichtbesuch von Versammlungen eingeführt haben usw.“

Diese Mißstimmung und Enttäuschung unter den Kleingewerbetreibenden hatte jedoch keine politischen Gründe gehabt, sondern sie war ein Reflex materieller Sorgen und Nöte, der dann ökonomisch und sozial, aber insbesondere sozialpsychologisch vom faschistischen System ausgeglichen wurde. Denn zwischen 1933 und 1935 wurden wichtige ökonomische und soziale Forderungen des Handwerks erfüllt auch wenn sie „zwar nicht die erhofften Reservatrechte zugesprochen erhielten, die sie als ganzen Stand gegen die Entwicklungsprozesse der modernen Industriegesellschaft abgegrenzt hätten, daß aber doch wichtige Einzelforderungen erfüllt wurden, und daß sie am rüstungsinduzierten Wirtschaftsaufschwung zumindest teilweise mitprofitierten" Eine ähnliche Entwicklung zeigte sich im Handel, wenn auch die versprochene Auflösung der Konsumgenossenschaften und Warenhäuser zugunsten des Einzelhandels nicht erfolgt war Neben einer partiellen Erfüllungspolitik des faschistischen Regimes zog die Wirtschaftspolitik materielle Belastungen für den Handel und das Gewerbe nach sich: Durch die Einführung des „Neuen Plans“ im September 1934 verschärfte sich die wirtschaftliche Lage gegen Ende 1935 (Mißernte 1935) vor allem auf dem Ernährungssektor, weil versucht wurde, den Rohstoff-und Devisenmangel durch Einschränkung der Lebensmittelexporte zu kompensieren

Die Aufrüstungs-und Wirtschaftspolitik hatte eine erhebliche Anspannung der sozialen Zwischenschichten und der Arbeiterklasse zur Folge. Innerhalb der herrschenden Klasse brachen heftige Kontroversen aus — sowohl über den Weg, der die Kriegsrüstung vorantreiben sollte, als auch darüber, wie eine Verschlechterung der Versorgungssituation verhindert oder aufgefangen werden konnte. Denn diese hätte auf Dauer zu Unruhen und Widerständen in weiten Teilen der Bevölkerung geführt. Wie konnten diese Widersprüche ausgeglichen und/oder in Zustimmung verwandelt werden? Die Zustimmung der Bevölkerung war auch abhängig davon, inwieweit „das Regime in immer neuen tatsächlichen oder vorgewiesenen Erfolgen seine Fähigkeit suggerieren konnte, elementare alltägliche Bedürfnisse nach Sicherheit, Aufstieg und sinnvoller Lebensperspektive“ zu erfüllen. „Sein Anfangskapital bestand darin, daß die Weimarer Republik zwischen Weltkriegsniederlage, Inflation und Weltwirtschaftskrise eine tiefgreifende Verunsicherung geschaffen hatte, die viele Deutsche auch nach Scheinlösungen dankbar greifen ließ. Nur durch eine immer hektischere Jagd nach immer neuen realen oder scheinbaren Erfolgen ließ sich der charismatische Führermythos gegen die Desillusionierung durch alltägliche Erfahrungen behaupten.“

Die Zustimmung konnte aber nur aufgrund der konkreten psychischen und ideologischen Dispositionen dieser sozialen Zwischenschichten überhaupt erst greifen, denn für sie waren es ja keine Scheinlösungen, sondern für sie bedeutete der Schein die wirkliche Lösung. Um so widersprüchlicher und wenig realistisch sind die DB, wenn sie fortwährend von einem Zerbröckeln der faschistischen Massenbasis berichten ja gerade dies zum Kern antifaschistischer Propaganda und den anderen Publikationsorganen der Sopade wurde Systemstabilisierende Erfolge der faschistischen Diktatur wie die Saarabstimmung werden zwar aufgeführt, aber geringer eingeschätzt als die Bewegung in der Opposition, die „sich durch solche Aufwallungen der Volksstimmung nicht mehr beirren“ ließe Und diese „Opposition“ werde durch all jene bestimmt, die „unzufrieden“ seien. Der organisierten Opposition sei es lediglich noch nicht gelungen, „dem Volke Vorstellungen darüber zu vermitteln, was nach Hitler kommen, welche Neuordnung der Dinge das Regime ablösen könnte Ein Schwerpunkt der politischen Arbeit der Sopade war es deshalb, diese Neuordnungsdiskussion verstärkt zu führen, denn von den Zielen her (z. B. Ausschaltung der Kommunisten) wurde ganz wesentlich der praktisch-politische Kampf gegen den Faschismus mitbestimmt Daß diese Vorstellungen, was nach Hitler komme, nicht vorhanden seien, stelle die „eigentliche, negative Massengrundlage des Regimes“ dar

Nachdem sich erwiesen hatte, daß mit einem baldigen Zusammenbruch der Diktatur nicht mehr zu rechnen sei — die Massenbasis hatte sich trotz aller Irritationen als relativ stabil erwiesen —, er-wartete man nun die etappenweise Umformung des politischen Systems und setzte auf das breite Band der organisierten Opposition Hier liegt offensichtlich eine erhebliche Diskrepanz vor zwischen der Schilderung der realen Lage der sozialen Zwischenschichten wie der gesamten Bevölkerung und ihrer politisch-prognostischen Bewertung in den „Berichten“.

Bevor die Sopade es wagen konnte, in der öffentlichen Diskussion auf die Möglichkeit einer Kooperation mit den „oppositionellen alten Kräften“ im Kampf gegen Hitler zu setzen, deuteten schon vorher private Schriftwechsel Hoffnungen auf diese Form des antifaschistischen Bündnisses an „Bereits im Mai 1934 verhandelten Delegierte des Prager PV mit Vertretern Schleichers, Klauseners und Gregor Strassers in Kopenhagen über die Unterstützung einer Militärdiktatur in Deutschland. Im Februar 1935 folgten in London Verhandlungen mit Brüning und Treviranus . über ein konservativ-militärisches Übergangsregime*. Ferner lassen sich intensive Kontakte zwischen Sopade-Delegierten — insbesondere Sollmann — und der Organisation Otto Strassers (. Schwarze Front*) ab 1935 nachweisen.“

In weiten Teilen der Emigration und z. T. auch im Widerstand wurde die reale Lage dagegen völlig anders eingeschätzt und vor den bündnispolitischen Konsequenzen im Kampf gegen den Faschismus gewarnt Die Überbewertung von Machtverschiebungen innerhalb des faschistischen Systems und die Vernachlässigung system-stabilisierender Faktoren — obwohl gerade jene auch in den „Berichten“ beeindruckend dokumentiert sind — durch die Sopade hat Wolfgang Saggau für die forcierte Aufrüstungsphase 1936— 1939 nachgezeichnet

Vor dem Hintergrund, daß die Sopade bereits erste Oppositionsbewegungen selbst bei jenen ausmachte, die 1933 Hitler unterstützt hatten, stellt sich die Frage, wie sich die Haltung des Bürgertums in der Darstellung der „Deutschland-Berichte" entwickelte. Ein „Querschnitt durch das Bürgertum“ wird erstmals im Juni 1935 von einem soziologisch dazu gehörenden Berichterstatter gegeben: „Beim Bürgertum ist festzustellen, daß die bis Mitte 1934 vorherrschende Faszinierung durch die Hitlerbegeisterung vorüber ist ... Am ehesten sind noch größere Unternehmer zufrieden, weil ihnen die Rüstungskonjunktur erhebliche Gewinne abwirft und weil sie im Betriebe ihre Ruhe vor den Gewerkschaften haben und die Arbeiterschaft alles hinnehmen muß. Denn an den größeren Betrieb traut sich die Arbeitsfront nicht heran. Anders ist es schon im Mittelbetrieb und bei den Kleineren. Auf ihnen lastet die ganze Unsicherheit der Wirtschafts-und Finanzgesetzgebung, sie werden mit Beiträgen aller Art überhäuft. Der Kleinhandel, das Handwerk und das Kleingewerbe, einst die hoffnungsvollste Gefolgschaft und die Wegbereiter Hitlers, sind heute wohl die am tiefsten Enttäuschten, weil alle ihnen gegebenen Versprechen nicht gehalten wurden. Bei dem höheren Beamtentum und großen Teilen des intellektuellen Bürgertums kommt noch hinzu, daß sie durch die nationalsozialistische Beamtenpolitik abgestoßen werden.“ Auch hier wird nicht nach den Faktoren, Dispositionen und Traditionen gefragt, die die angebliche oder wirkliche Gegnerschaft daran hinderte, politisch aktiv zu werden oder Gleichgültigkeit hervorrief, auch wird nicht die These des Berichterstatters hinterfragt, wonach vom Bürgertum „ebensowenig wie 1918 ein ernstlicher Widerstand gegen einen neuen Umsturz zu erwarten“ sei Zwei Monate später, im August 1935, heißt es sogar: Weite Schichten des Bürgertums stünden in Opposition zum Regime und darüber hinaus an der Seite der Arbeiterschaft (!)

Wenngleich von den Möglichkeiten des NS-Regimes berichtet wird, z. B. durch außenpolitische Entlastungsoffensiven eine Wendung der Volksstimmung zugunsten des Systems zu erzielen, oder auch die Technik der Massenbeherrschung hervorgehoben wird, womit selbst die kleinste gesellschaftliche Regelung erfaßt und darauf reagiert werden könne, dominiert dennoch die Hoffnung auf einen Umwandlungsprozeß. Diese Widersprüchlichkeiten, die häufig in den „Berichten“ anzutreffen sind, werden in der politischen Arbeit der Sopade jedoch eingeebnet und den politisch-ideologischen Vorstellungen untergeordnet, und zwar unter einem erheblichen Verlust an Realitätssinn: Das Bürgertum wird nunmehr antifaschistisch. Die DB nähren diese Tendenzen: „Es gibt heute in weiten bürgerlichen Kreisen keinen Zweifel mehr darüber, daß Grund und Boden, Kohle und Stahl genau wie die Verkehrsmittel und die Großbanken in die Hände des Staates gehören. Solchen Lösungen würde man sich nicht nur nicht entziehen, man würde sie sogar begrüßen, wenn zugleich gewisse persönliche Freiheiten, die nun einmal das Leben erst lebenswert machen und erträglich, gewährleistet würden. Ein sozialistischer Staat mit demokratischen Freiheiten würde heute, wenn er großzügig propagiert würde, weitesten Anklang und Widerhall finden.“ Welche Gründe gab es für die Kritik oder Mißstimmung innerhalb der bourgeoisen Schichten während der Phase der forcierten Aufrüstung und insbesondere nach der Verabschiedung des „Vierjahresplans“ im Herbst 1936? Von den mittleren und größeren Unternehmern wird die Rüstungskonjunktur, die enorme Profite abwarf, zwar begrüßt, aber es werden auch Bedenken geäußert: „Allgemein wird über den... guten, teilweise sehr starken Geschäftsgang in dem Sinne gesprochen: , Ja, aber wofür ist das? Wer weiß, wie lange diese unnatürliche Belebung anhält? Und wer weiß, was danach kommt? * Man denkt hier natürlich an den Krieg, man nützt die Konjunktur aus, so gut man kann, wobei man allerdings über viel zu geringen Verdienst klagt, , so daß es sich bald überhaupt nicht mehr lohnt zu arbeiten*.“ Mit Realitätssinn für die konjunkturelle Entwicklung fürchteten diese Kreise den Ausbruch einer schweren Wirtschaftskrise — sofern der Krieg ihr nicht zuvorkäme. So wirkte sich die explosionsartige Steigerung der Gewinne aus der Rüstungsproduktion für bestimmte Schichten des großen Kapitals sehr positiv aus, andererseits hemmte sie diejenigen Bereiche der Wirtschaft, die unter dem Mangel an Rohstoffen litten oder von ihrer Exportorientierung abhängig waren.

Beeindruckend sind hier die „Berichte“ insofern, als sie belegen, daß in dieser Phase die explosionsartigen Gewinne der mit der Kriegs-und Rüstungsindustrie verbundenen Wirtschaftsbereiche auf Kosten der Gewinne anderer Industriebranchen gingen: „Der Generaldirektor eines... Werkes machte bei einem Auslandsbesuch seinem Herzen mit folgendem Stoßseufzer Luft: ... Kaum noch Rohstoffe. Wir arbeiten von einer Tasche in die andere. Den Arbeitern müssen wir faulen Zauber vorflunkern ... Unser Betrieb ist längst illiquid. Aber es wird weitergewurstelt. Es geht alles in die Brüche, wenn nicht bald Rettung kommt. Das ganze ist eine Bankrottwirtschaft, die kaum noch zu übertreffen ist.“

Der NS-Staat griff regelnd in die Produktion ein, um sie völlig auf die Vorbereitung des Krieges zu konzentrieren. Einschwörungsformeln und Führermythos wirkten jedoch auch in den Kreisen des „unzufriedenen“ Bürgertums. Zudem galt es, das Gesamtinteresse als Klasse zu wahren, denn eine soziale Revolution wollte man nicht Goebbels erklärte vor einem größeren Kreis von Angehörigen der Lederbranche: „Der Führer hat in Nürn61) berg den Vierjahresplan des Nationalsozialismus verkündet. An seiner Verwirklichung hat jeder Deutsche an seinem Platz mitzuwirken und alle persönlichen Ansprüche zurückzustellen. So hat auch der Lederwarenfabrikant seine nationalsozialistische Bestimmung zu erfüllen. Wenn es nicht mehr möglich ist, aus gutem Rind-oder Schweineleder Taschen aller Art herzustellen, dann ist es eben die nationalsozialistische Pflicht der Fabrikanten dieser Branche, aus deutschen Werkstoffen und deutschen Rohstoffen für die .deutschen Frauen und Damen* gefällige Waren zu erzeugen... Unsere neue große Armee muß für jeden Fall und für alle Bedürfnisse dreifach ein-gedeckt sein ... Heute haben wir erst 75 % dieser Aufgabe erfüllt, 25 % müssen in den nächsten vier Jahren erfüllt werden. Das ist die Aufgabe des Vierjahresplanes und das ist die Aufgabe jedes Deutschen.“

Die faschismustheoretische Interpretation, daß sich „nichtökonomische“ Parteiinteressen im Staatsapparat mehr und mehr durchsetzten, entsprach der theoretischen Trennung von Ökonomie und Politik. Daher konnte die Sopade zwar die Auswirkungen der Rüstungsproduktion auf die Wirtschaft genau analysieren, aber diese Entwicklungen nicht in den Zusammenhang bringen mit den politischen Auseinandersetzungen innerhalb des Staatsapparates. Hieraus resultierten gleichzeitig die falschen Interpretationen bezüglich der „Meckerei“ und Unzufriedenheit von Teilen des Bürgertums. Gestützt auf die Information in den DB begreift die Sopade die Ernennung Hitlers zum Oberbefehlshaber der Wehrmacht am 4. Februar 1938 so: „Jetzt . zittert alles vor ihm ... Die Unternehmer ringen die Hände über den Vierjahresplan, der sie zum Bankrott führt, aber sie gehorchen aus Angst... Es rühre sich bereits die Opposition in der MonopolWirtschaft; die Wirtschaftsführer (arbeiten) schon an Hitlers Sturz*, denn die Verzweiflung . über die hoffnungslosen wirtschaftlichen Zukunftspläne des Führers* treibe sie dazu ... Für den PV war es in diesem Zusammenhang auch . eine oft festgestellte Tatsache*, daß das Regime im Bürgertum auf mehr Ablehnung stößt als bei den Arbeitern.“ Damit wird negiert, daß Eingriffe des Staates in den gesellschaftlichen Produktions-bzw. Reproduktionsprozeß durchaus dem unternehmerischen Einzelinteresse widersprechen können, ohne daß damit zugleich das kollektive Gesamtinteresse der herrschenden Klasse tangiert wird

IV. Alltag, Faschismus und Antifaschismus

Die „Deutschland-Berichte“ stellen eine überaus wertvolle Dokumentensammlung dar, die anschaulich die Widersprüchlichkeiten und die komplexen Integrations-und Desintegrationsmechanismen des faschistischen Systems vermittelt. Vor allem tritt die Bedeutung sozialpsychologischer und ideologischer Mechanismen hervor, denn sie waren in der Lage, Unmutsäußerungen und Enttäuschungen in den Klassen und Schichten zu individualisieren und zu entpolitisieren. Der deutsche Faschismus war durch seine verschiedenen Charaktereigenschaften (für „Ordnung“ nahm man allemal den Terror in Kauf, auch wenn keine materiellen Vorteile dabei heraussprangen; zuallererst ansprechbar sind dafür die sozialen Zwischenschichten) wie durch seine ideologischen sowie außen-und innenpolitischen Maßnahmen und Erfolge in der Lage, materielle, ökonomische, soziale und auch politische Mißerfolge zu kompensieren. Dafür sind die „Deutschland-Berichte“ Beleg und ein noch nicht ausgeschöpftes Reservoir.

Nicht untersucht wurde die Methodik und Problematik der eigentlichen Quellenerhebung in den DB Bei der kategorialen Bestimmung und Einordnung dieser Berichte entstehen jedoch weitere Probleme, so z. B. bei der Frage, ob in den Mittel-schichten und im Bürgertum Aktivitäten ausfindig zu machen waren, die zu einer Begrenzung des faschistischen Macht-und Herrschaftsanspruches führten. Für die angeführten Beispiele ist diese Frage eindeutig mit „nein“ zu beantworten, weil die Enttäuschungen und Unmutsäußerungen sich im wesentlichen nicht gegen das politische System richteten. Die Analysen und Bewertungen der oppositionellen sozialdemokratischen Gruppen und Organisationen zeigten dagegen einen größeren Realitätssinn

Die Interpretation und Einordnung der Stimmungsberichte charakterisiert den politisch-ideologischen Standpunkt. Hier war die Sopade publizistisch-propagandistisch ganz darauf aus, den Mittelstand und das Bürgertum für sich zu gewinnen — eben jenes Bürgertum und jener Mittelstand, die sich 1933 und schon vorher für den Faschismus entschieden hatten. Den unzufriedenen Teilen wollte man sich als bessere Alternative ausgeben. Aber waren jene Versuche des Zurückweichens, indem man sich nicht auf die Einheit der Arbeiterbewegung, sondern auf das Bürgertum politisch konzentrierte, nicht die gleichen Mechanismen, die 1933 den Faschismus nicht ver-* hindert hatten? Aufgrund ihres politisch-ideologischen Standortes mußte die Sopade an die „Unzufriedenheit“ und darüber hinaus an die oppositionelle Haltung von Teilen dieser Klasse und Schichten glauben. Die wesentlich stabileren Strukturen zwischen Bourgeoisie und faschistischem Staat bzw. zwischen NSDAP und faschistischem Massenanhang mußten folglich aus dem Blick geraten. Weil die Sopade nicht annahm, daß sich das Bürgertum politisch für den Faschismus entschieden hatte, mußte die publizistische Propaganda der Sopade in das „Reich“ hinein desorientierend wirken. Sie wirkte desorientierend auf die Arbeiterbewegung, der ja mit dem Prager Manifest noch ein einheitliches Vorgehen seitens der Führung vermittelt worden war, aber auch hinsichtlich des Bürgertums und der Mittelschichten, weil jene sich in der politischen Publizistik der Sopade nicht wiederfinden konnten. Trotz der „Unzufriedenheit“ und „Meckerei“ standen sie prinzipiell zum faschistischen System.

Die politische Interpretation in den DB stand oftmals konträr zum eigenen Anspruch über die politische Berichterstattung. Zu den Aufgaben und Grundsätzen der politischen Berichterstattung führte Erich Rinner, der Herausgeber der „Berichte“, aus: „Zum Wesen der systematischen Arbeit gehört auch ein ständiger Kampf gegen die kurzfristigen politischen Illusionen. Es ist verständlich, daß sich in der Zeit der Unterdrückung drinnen und draußen immer wieder neue Illusionen bilden. Aber sie sind auch immer wieder neue Gefahren. Sie entnerven die Kraft der Opposition und stören immer aufs neue den Prozeß der geistigen Klärung, sie verführen zu kurzfristigen Fehl-prognosen und hindern die Erarbeitung weitblikkender Konzeptionen, sie säen wieder und wieder unbegründete Hoffnungen und treiben die Leichtgläubigen von Enttäuschung zu Enttäuschung. Gegen diese aufreibenden Erregungen einer Stimmungs-und Illusionspolitik wenigstens den Kern der Bewegung immun zu machen, ist die Aufgabe der nüchtern-skeptischen Betrachtungsweise, die wir zum Grundsatz unserer Berichterstattung gemacht haben.“

An diesen Grundsätzen ist die politische Interpretation oftmals gescheitert. Dennoch muß diese systematische Berichterstattung durch die Organisationen der Arbeiterbewegung als eine Voraussetzung dafür gelten, die proletarische Lebens-und Arbeitswelt unter den Bedingungen der faschisti- sehen Diktatur zusammenzuhalten, die faschistische Propaganda zu entlarven und den Widerstand gegen das NS-System zu organisieren. Der politische Kampfgegen den Faschismus hätte sich notwendigerweise auf die sozialen, politischen und ideologischen Auseinandersetzungen im Kembereich der gesellschaftlichen Produktion, der Industriearbeiterschaft, konzentrieren und handlungsanleitend orientieren müssen, weil diese von der Illegalisierung der Arbeiterbewegung durch den Faschismus hauptsächlich tangiert war. Eine gleichzeitige Orientierung aufdas Bürgertum und andere „oppositionelle“ Kräfte mußte unglaubwürdig bleiben, wenn man sich noch als politische Vertretung der Arbeiterklasse sah bzw. sie als soziale Basis für eine entsprechende politische Theorie und politische Praxis nahm.

Die Herstellung und Verbreitung antifaschistischen Schriftenmaterials stand im Mittelpunkt der Tätigkeit der Sopade. Aber nur in Verbindung mit anderen Formen illegaler Arbeit, so etwa mit dem Aufbau geschulter Kadergruppen und mit der Sammlung und Organisierung antifaschistischer Kräfte auf Betriebsebene’ konnte ein Sturz des faschistischen Regimes — wenn überhaupt — Erfolg haben. Die „Revolutionären Sozialisten“ bezeichneten als konkrete Aufgabe der Kader: „Gewinnung neuer Mitarbeiter, Selbst-schulung und Kaderdisziplin, Berichterstattung über Deutschland, Agitation gegen sozialdemagogische Phrasen des Nationalsozialismus und Entlarvung der Propaganda, Beobachtung spontaner Widerstandshandlungen.“ Die Sopade hatte sich dagegen weder „als fähig noch willens erwiesen ..., allgemeine Richtlinien für die illegale Arbeit zu entwickeln. Auf diesen Mangel an Konzeption und seine für die illegalen Kader schädli71) chen — ja lebensgefährlichen — Auswirkungen wurde in den Berichten Langes an die Sopade und in den . Monatsberichten* der RSD(= Revolutionäre Sozialisten Deutschlands — J. K.) immer wieder hingewiesen; ebenso auf die Konsequenzen der illegalen Kader, nämlich die Arbeit für die Sopade einzustellen.“ Deshalb ist die Charakterisierung des Widerstandskonzepts der Sopade durch Voges sehr treffend: „Die illegale Tätigkeit der Sopade ging weitgehend auf in der politischen Berichterstattung selbst. Damit wurden zwar notwendige, aber nicht hinreichende Bedingungen für die Entfaltung eines wirksamen kollektiven Widerstandes geschaffen. Die Opposition im Reich war angewiesen auf die politische Organisation ihrer Erfahrungen im Ausland. Die Sopade hat dies nicht verkannt Ihre eigene Tätigkeit konzentrierte sich jedoch auf den Aufbau eines politischen Nachrichtenwesens, das seinen politischen Zweck, die Organisation des Widerstandes, nur teilweise zu erreichen vermochte. So nützlich die langfristige Perspektive der Beobachtung für die Erkenntnis des sozialen und politischen Herrschaftszusammenhangs des Dritten Reichs war, so hinderlich war das Konzept der . übersprungenen Gegenwart* für die illegale Arbeit in Deutschland selbst.“

Resümierend ist festzustellen, daß der unschätzbare Wert für die historische und politische Forschung darin liegt, daß mit den „Deutschland-Berichten“ ein außerordentlich umfangreiches Quellenmaterial vorliegt, welches zur Erhellung des gesellschaftlichen Bewußtseins der Klassen und Schichten während der Herrschaft des Nationalsozialismus und damit zur Charakterisierung und Wesensbestimmung des deutschen Faschismus selbst beiträgt, aber natürlich der kritischen Interpretation bedarf.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Die „Grünen Berichte“ der Sopade, Gedenkschrift für Erich Rinner (1902— 1982), hrsg. von der Friedrich-Ebert-Stiftung, Bonn 1980; hier: Peter Maser, Die „Deutschland-Berichte“ der Sopade, S. 125 ff.

  2. Ebd., S. 127.

  3. Vgl. Michael Voges, Politische Opposition als Organisationsprozeß gesellschaftlicher Erfahrung. Zum Widerstandskonzept der Sopade im Dritten Reich, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 26/84. Zur Quellenkritik vgl.ders., Klassenkampf in der . Betriebsgemeinschaft'. Die „Deutschland-Berichte“ der Sopade (1934— 1940) als Quelle zum Widerstand der Industriearbeiter im Dritten Reich, Archiv für Sozialgeschichte, Bd. 21/1981, S. 332ff.; Die Reihen fast geschlossen. Beiträge zur Geschichte des Alltags unterm Nationalsozialismus, hrsg. von Detlev Peukert und Jürgen Reulecke, Wuppertal 1981, hier: Ian Kershaw, Alltägliches und Außeralltägliches: ihre Bedeutung für die Volksmeinung 19331939, S. 273 ff.

  4. Siehe hierzu auch die kleine . Widerstandsbibliographie'des Instituts für Politikwissenschaft, Marburg.

  5. Neben den Werken von Wolfgang Abendroth (siehe die Bibliographie in der IWK/1985): Jutta v. Freyberg, Sozialdemokraten und Kommunisten. Die Revolutionären Sozialisten Deutschlands vor dem Problem der Aktionseinheit, Köln 1973; Eva Gottschaldt, Antifaschismus und Widerstand. Der Kampf gegen den deutschen Faschismus 1933— 1945. Ein Überblick, Heilbronn 1985; Bärbel Hebel-Kunze, SPD und Faschismus. Zur politischen und organisatorischen Entwicklung der SPD 1932— 1935, Frankfurt 1977; Johannes Klotz, Das . kommende Deutschland*. Vorstellungen und Konzeptionen des sozialdemokratischen Parteivorstands im Exil 1933— 1945 zu Staat und Wirtschaft, Köln 1983; Kurt Kliem, Der sozialistische Widerstand gegen das Dritte Reich. Dargestellt an der Gruppe . Neu Beginnen*, Phil. Diss., Marburg 1957; Wolfgang Saggau, Faschismustheorien und antifaschistische Strategien in der SPD. Theoretische Einschätzungen des deutschen Faschismus und Widerstandskonzeptionen in der Endphase der Weimarer Republik und in der Emigration, Köln 1981.

  6. Michael Voges, Politische Opposition (Anm. 3), S. 15.

  7. Der Widerstand gegen den Nationalsozialismus. Die deutsche Gesellschaft und der Widerstand gegen Hitler, hrsg. von Jürgen Schmädeke und Peter Steinbach, Berlin 1985, hier: Detlef Lehnert, Vom Widerstand zur Neuordnung? — Zukunftsperspektiven des demokratischen Sozialismus im Exil als Kontrastprogramm zur NS-Diktatur.

  8. Vgl. Anm. 5.

  9. Michael Voges, Politische Opposition (Anm. 3), S. 16.

  10. Peter Maser, Die „Deutschland-Berichte“ der Sopade (Anm. 1), S. 131.

  11. Siehe die Gedenkschrift für Erich Rinner (Anm. I).

  12. Siehe Anm. 3 (Michael Voges).

  13. Vgl. Wolfgang Saggau, Faschismustheorien, (Anm. 5), S. 523, FN 44.

  14. Bernd Brauckmüller, Zum Verhältnis von Sozialdemokratie und Bürgertum in der großen Krise (1928— 1933), Hannover 1980, S. 8f.

  15. Detlev Peukert, Volksgenossen und Gemeinschafts-fremde. Anpassung, Ausmerze und Aufbegehren unter dem Nationalsozialismus, Köln 1982, S. 37.

  16. Vgl. Eva Gottschaldt, Antifaschismus und Widerstand (Anm. 5), S. 78 ff.

  17. Vgl. Geschichte der deutschen Sozialdemokratie 1917— 1945, Autorenkollektiv unter Leitung von Heinz Niemann, S. 367; zur Problematik der Einschätzung des Prager Manifests vgl. insbesondere: Lienhard Schulz. Hilferdings Revolutionsprogramm: Das Prager Manifest von 1934. Innerparteiliche Bindungen der SPD und Gehalt des Prager Manifest, Diplomarbeit, Berlin 1976; Wolfgang Saggau, Faschismustheorien (Anm. 5), S. 230 ff., und Johannes Klotz, Das . kommende Deutschland'(Anm. 5), S. 65 ff.

  18. Geschichte der deutschen Sozialdemokratie, (Anm. 17), S. 367.

  19. Ebd.

  20. Vgl. Eva Gottschaldt, Antifaschismus und Widerstand (Anm. 5), S. 94.

  21. Vgl. Wolfgang Saggau, Faschismustheorien (Anm. 5), S. 325 ff.

  22. Vgl. Erich Matthias, Mit dem Gesicht nach Deutschland. Eine Dokumentation über die sozialdemokratische Emigration. Aus dem Nachlaß von Friedrich Stampfer, ergänzt durch andere Überlieferungen, bearbeitet von Werner Link, Düsseldorf 1968, Dok. 18, S. 259, und Dok 19, S. 264.

  23. Jutta v. Freyberg, Sozialdemokraten und Kommunisten (Anm. 5), S. 94f.; alle Zitate entstammen der „Denkschrift der Parteivorstandsminderheit über die dauernde Verletzung der Parteidemokratie durch das Büro der Sopade-Prag".

  24. Eva Gottschaldt, Antifaschismus und Widerstand (Anm. 5), S. 98.

  25. Michael Voges, Klassenkampf in der . Betriebs-gemeinschaft* (Anm. 3), S. 330.

  26. Vgl. Eva Gottschaldt, Antifaschismus und Widerstand (Anm. 5), S. 98 f.

  27. Ebd., S. 59.

  28. Ebd., S. 100.

  29. DB, Mai/Juni 1934, S. 165.

  30. Vgl. Wolfgang Saggau, Faschismustheorien, (Anm. 5), S. 301.

  31. Deutschland-Berichte der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (Sopade) (fortan zitiert als DB) 1934— 1940, Frankfurt 19826.

  32. Vgl. ebd.

  33. Ebd., S. 168.

  34. Vgl. ebd.

  35. DB, Mai/Juni 1934, S. 171.

  36. DB, Juni/Juli 1934, S. 249.

  37. Wolfgang Saggau, Faschismustheorien (Anm. 5),

  38. DB, Juli/August 1934, S. 365.

  39. Zur Kennzeichnung der Forschungslage vgl. u. a.: Reinhard Kühnl, Der deutsche Faschismus in Quellen und Dokumenten, Köln 19751, und ders., Faschismus-theorien. Texte zur Faschismusdiskussion 2, Hamburg 1979.

  40. DB, Nov. /Dez. 1934, S. 744

  41. Ebd., S. 745.

  42. Vgl. Detlev Peukert, Volksgenossen und Gemeinschaftsfremde (Anm. 15), S. 105 ff.

  43. Ebd., S. 107.

  44. Ebd., S. 108; DB, April 1935, S. 453.

  45. Vgl. Wolfgang Saggau, Faschismustheorien (Anm. 5), S. 313f.

  46. Detlev Peukert, Volksgenossen (Anm. 5), S. 88.

  47. Vgl. DB, Januar 1935, S. 135.

  48. Vgl. Wolfgang Saggau, Faschismustheorien (Anm. 5), S. 301 ff.

  49. DB, Januar 1935, S. 136.

  50. Ebd., S. 139.

  51. Vgl. Johannes Klotz, Das . kommende Deutschland'(Anm. 5), S. 128 ff.

  52. DB, Januar 1935, S. 139.

  53. Vgl. ebd.

  54. Vgl. Wolfgang Saggau, Faschismustheorien (Anm. 5), S. 308.

  55. Ebd.

  56. Vgl. ebd., S. 308f.

  57. Vgl. ebd., S. 312 ff.

  58. DB, Juni 1935, S. 653.

  59. Ebd.

  60. DB, August 1935, S. 905.

  61. DB, Oktober 1936, S. 1251.

  62. Ebd., S. 1253.

  63. DB, September 1937, S. 1233.

  64. Vgl. DB, April 1937, S. 466.

  65. DB, Oktober 1936, S. 1259

  66. Wolfgang Saggau, Faschismustheorien (Anm. 5), S. 318.

  67. So sahen es auch die „Revolutionären Sozialisten“, vgl. Jutta v. Freyberg, Sozialdemokraten und Kommunisten (Anm. 5), S. 65 ff.

  68. Siehe Anm. 3.

  69. Vgl. Kurt Kliem und Jutta v. Freyberg (Anm. 5).

  70. Erich Rinner, Über Aufgaben und Grundsätze der politischen Berichterstattung, DB, Mai 1937, S. 744 ff., hier: S. 757.

  71. Vgl. zur Problematik Michael Voges, Klassenkampf in der , Betriebsgemeinschaft‘ (Anm. 3).

  72. Jutta v. Freyberg, Sozialdemokraten und Kommunisten (Anm. 5), S. 163.

  73. Ebd., S. 166.

  74. Michael Voges, Politische Opposition (Anm. 3), S. 23.

Weitere Inhalte

Johannes Klotz, Dr. phil., geb. 1952; Lehrer, z. Z. Lehrbeauftragter am Institut für Politikwissenschaft der Philipps-Universität Marburg und am Fachbereich Sozial-und Kulturwissenschaften der Fachhochschule Fulda. Veröffentlichungen u. a.: Das . kommende Deutschland*. Vorstellungen und Konzeptionen des sozialdemokratischen Parteivorstandes im Exil 1933 bis 1945 zu Staat und Wirtschaft, Köln 1983; Neuere Literatur zur Theorie und Geschichte der Arbeiterbewegung, in: Neue Politische Literatur, (1986) 1.