I. Methodische Überlegungen zum Minderheitsbegriff
Professor Dr. Werner Jochmann aus langer Verbundenheit “ nläßhch seines 65. Geburtstages am 5. August 1986 zugeeignet.
Der deutsche Begriff „Minderheit“ ist ebenso wie das polnische „mniejszo" ein substantivierter Komparativ. Seine politische Bedeutung erschöpft sich allerdings nicht im quantitativen Vergleich, sondern weist auch auf Ansprüche einer Mehrheit hin. Gegenüber dem hergebrachten Minderheitenbegriff drängte seit Ende der zwanziger Jahre die Selbstbezeichnung der deutschen Minderheiten in Ostmitteleuropa jedoch immer entschiedener zum Begriff „Volksgruppe“. Durch ihn wurde der quantitative Vergleich neu gewichtet. Indem er darauf hinwies, daß deutsche Minderheiten als Gruppen des vom Reich repräsentierten Gesamtvolkes zu betrachten seien, gewann er politische Schärfe gegenüber dem jeweiligen Staatsvolk. Seine Verwendung stellte die Ansprüche zweier — wie Lepsius sagen würde — „Volksnationen“ einander gegenüber und machte sie prinzipiell unversöhnlich
Der Staatenbildungsprozeß nach dem Ersten Weltkrieg, der sich aus deutscher Sicht als Zerfallsprozeß darstellte, schuf einen günstigen Nährboden für wechselseitig adversative Mentalitäten. Alte Denkmuster wie Herders Bild von der „arglistigen grausamen Knechtsträgheit" der Slawen (aus dem 16. Buch seiner „Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit“) bereicherten den Komplex aggressiver Vorurteile, Ressentiments und Überlegenheitsgefühle. Die Niederlage verlieh diesen Gedanken besondere Schärfe. Ihnen stand von Seiten der neuen Staaten ein Bewußtsein des Sieges und der nun endlich möglich gewordenen nationalstaatlichen „Sendung“ gegenüber.
Die Pariser Vorortsverträge schufen allerdings nur „unechte“ (Peter Burian) Nationalstaaten, die durch massive Minderheitsprobleme belastet waren Dabei wurden in der Regel die ethnischen Unterschiede von den Minderheiten als Identitätschance, von den Mehrheitsvölkern als Loyalitätsmangel begriffen. Besonders im Miteinander-leben von Polen und Deutschen prägte sich aus, was Werner Conze treffend „Nationalbildung durch Trennung“ genannt hat. Ostmitteleuropa wurde charakteristisch für jene Nationalstaats-idee, die sich primär an der Volkszugehörigkeit, nicht am politischen Bekenntnis orientierte, und die daher im national so unentwirrbar gemischten Osteuropa Nationalitätenprobleme unlösbar machen mußte.
Auch die völkerrechtlichen Regelungen bieten ein Bild von Zerrissenheit. Zweifellos hatte der Völkerbund das Verdienst, den Minderheitenschutz erstmals justitiabel gemacht zu haben Aber dennoch lag auch ein markanter Konstruktionsfehler vor. Denn Minderheiten wurden nicht als Korporationen mit Rechtseigenschaften aufgefaßt; Rechtssubjekte waren vielmehr die Staaten. Daraus folgte der hemmende indirekte Charakter des Beschwerderechts: Petitionen mußten erst von Ratsmitgliedem aufgegriffen werden, ehe sie überhaupt in Verfahrensnähe gelangen konnten. Doch war der Minderheitenschutz zweifellos nicht ineffektiv und sinnlos. Der polnische Einwand, es habe der Minderheitenschutz staatliche Souveränität beschränkt und die Minderheiten zur Bildung von sogenannten Fünften Kolonnen aufgestachelt, ist eine Schutzbehauptung und wäre schon in sich unverständlich, wenn sich eine aggressive polnische Nationalpolitik nicht am Minderheitenschutz gerieben hätte Auch das Dritte Reich lehnte die Bindungswirkung des Minderheitenschutzes nicht als solche ab, sondern deshalb, weil sie kollektiven Ursprungs und organisatorisch mit dem Völkerbund verknüpft war. Denn als die Genfer Konvention für Oberschlesien Mitte 1937 erlosch, legte die deutsche Politik großen Wert auf Ersatz, der nach dem neuen Maßstab zweiseitiger Außenpolitik als bilaterale Erklärung am November 1937 erfolgte.
Andere Schattierungen hingegen entdecken wir auf der normativen Seite. In einer 1923 halboffiziös veröffentlichten Schrift forderte der Völkerbund definitorisch, daß Minderheiten, wenn sie mehr als nur ethnisch merkwürdige Gruppen sein wollten, eigene ethnische Traditionen mit kräftigem Existenzwillen vertreten müßten 5). Darüber hinaus unterschied die Völkerrechtslehre der Zwischenkriegszeit „echte“ Minderheiten inmitten einer ihnen fremden Mehrheitsbevölkerung von „unechten“ Minderheiten an den Grenzsäumen von Staaten. Hans Eibl führte diesen Gedanken konsequent weiter mit der Feststellung, Grenzlandminderheiten seien überhaupt keine Minderheiten, sondern ein Indiz für eine falsche Grenzziehung — Hierin vermag der Historiker dem Völkerrechtler freilich nicht mehr zu folgen. Die Kategorien des Historikers sind nicht normativer, sondern deskriptiver Natur; sie suchen Sachver-halte zu beschreiben, die der Völkerrechtler — vielleicht — normativ auflösen kann.
Will man die unhistorischen Elemente des völkerrechtlichen Minderheitsbegriffs ebenso vermeiden wie die alle historische, soziale und regionale Differenzierung verwischende Kampfvokabel „Volksgruppe“, so darf man die Minderheiten nicht durch isolierten Blick zu erfassen hoffen. Erst aus dem Vergleich von Minderheiten in ihren staatlichen, politischen und sozialen Zusammenhängen läßt sich ein Ansatz finden, der die einseitige Fremdwahrnehmung von Minderheiten durch nationale Mehrheiten ebenso vermeidet wie die nicht minder irrtumsanfällige Enge, mit der Minderheiten sich und ihre Geschichte selbst wahrnehmen.
Komparatistische Studien würden vielleicht auch den Weg dafür öffnen, daß wir über die gegenwärtig ständig wachsende Unbestimmtheit in der Verwendung des Begriffs „Minderheit“ hinausgeführt werden und daß wir Handlungsoptionen und politische Entscheidungsmuster vor allem im ostmitteleuropäischen Raum wahmehmen können, wo sie so problematisch waren. Daß wir dabei nun die nationalen Affekte zügeln könnten, ist ein Gewinn, für den wir mit der realgeschichtlichen Zerstörung des alten Ostmitteleuropa freilich einen zu hohen Preis gezahlt haben.
II. Voraussetzungen aus den zwanziger Jahren
Prägend für die neuen deutschen Minderheiten in der Tschechoslowakei wie in Polen war die Verkehrung der Machtgewichte. Der nationale Machtwechsel traf den Großteil der Sudetendeutschen, wie sie seit Mitte der zwanziger Jahre genannt werden sollten, unvorbereitet. Es schokkierte sie zu Recht, daß sie nun von offizieller Seite unverblümt als „Kolonisten“, d. h. Landes-fremde, bezeichnet wurden Der Zustand nationaler Depression, in dem sich viele nach zeitgenössischen Berichten befanden, war ausgeprägt. Ähnliches ließ sich bei den deutschen Bewohnern des neuen polnischen Staates beobachten. Dort waren solche Reaktionen vielleicht noch verständlicher. Denn gerade im Osten waren militärische Niederlage und politischer Umbruch nicht zeitig erkennbar gewesen. Vielmehr hatte noch der Vertrag von Brest-Litowsk (3. März 1918) die Vorstellungen eines deutschen Siegfriedens im Osten genährt. Zudem erfolgten die Territorialentscheidungen nicht (wie in der CSR) auf einmal, sondern zogen sich bis 1924 hin, enttäuschten deutsche Hoffnungen und Wünsche mehrfach
Sowohl in den sogenannten historischen Ländern Böhmen und Mähren wie auch auf den neuen polnischen Territorien hatten Deutsche seit Jahrhunderten gesiedelt. Die konkrete Siedlungsstruktur der deutschen Minderheit in beiden Ländernwarjedoch unvergleichbar Da sich die drei ehemaligen Teilungsgebiete des neuen Polen in den 130 Jahren Teilungszeit stark auseinanderentwikkelt hatten, bestand auch die deutsche Minderheit — anders als in der CSR — aus Gruppen unterschiedlichster Herkunft, einer über mehr als drei Jahrhunderte streuenden Einwanderungszeit und stark voneinander abweichendem konkreten Schicksal. Wenn die deutsche Minderheit in der SR als geschlossenes Siedlungsgebiet in Gestalt eines halbkreisförmigen Kranzes in Erscheinung trat, das nach Osten im tschechischen, dann slowakischen Kernland nur noch degressive Sprach-inseln aufwies, so war die deutsche Minderheit in Polen als ein massiver ethnischer Riegel ausgebildet, der von der Ostsee bis zum Teschener Gebiet reichte. Allein Posen, der Netzedistrikt, Pommeteilen und Ostoberschlesien umfaßten 53 % der Deutschen in Polen; nimmt man das seit 1823 entwickelte Lodzer Industriegebiet hinzu, so steigt der Anteil sogar auf 73 %.
In allen anderen Wojewodschaften lagen die deutschen Anteile weit unter dem Landesdurchschnitt. Die östlichen Landesteile — Polesien, Wolhynien, Galizien — hatten von der geringen Zahl der Deutschen bis hin zu ihrer vorherrschend agrarischen Verfassung (94 % in Wolhynien) den Zustand der Josephinischen „Peuplierungen" des späten 18. Jahrhunderts bewahrt. Diese bäuerlichen Inseln standen dem Reich fern. Nicht politische Beziehungen bestanden, sondern sprachliche (auf alten Lautständen verharrende und dialektdurchsetzte) und religiöse (seit langem in protestantische Sekten zersplitterte) Bindungen der Kulturnation. Stark war indessen der Zwang zum Zusammenleben mit den andersethnischen Mehrheiten ringsum. Und als in den dreißiger Jahren von Weißrussen und Ukrainern zunehmend irredentistische Bestrebungen ausgingen, denen von polnischer Seite mit der Münze militärischer Strafexpeditionen heimgezahlt wurde, galten die deutschen Siedlungen als Inseln der Ruhe. Jedenfalls war eindeutig — auch ablesbar an der Häufigkeit förmlicher Beschwerden an den Völkerbund —, daß die eigentliche deutsch-polnische Frontstellung im Posenschen und Pommereilen lag.
Hier hatten sich bis zum Ende der zwanziger Jahre die stärksten Veränderungen der deutschen Minderheiten in ganz Ostmitteleuropa ergeben, nämlich Abwanderungen in singulärer Höhe: von 1, 1 Millionen auf 350 000, so daß Hermann Rauschning 1930 von einem „Prozeß der Entdeutschung“ dieser Gebiete sprach Die deutsche Minderheit hatte eine reiche und weitverzweigte kulturelle Organisation besessen, die freilich bis 1919 großenteils in Händen des Staates gelegen hatte und damit dem polnischen Zugriff gute Ansatzpunkte bot. Es ist erklärlich, daß die polnische Seite in der Schwächung dieser konzentrierten deutschen Gruppe eine entscheidende Voraussetzung für die politische Behauptung der Westgebiete erblickte. So wurzelte der Konflikt auf beiden Seiten. Wenn der nationaldemokratische Politiker Stanislaw Grabski (Volksbildungsminister vom 2. Kabinett Witos bis zum Staatsstreich 1926) in Posen 1919 öffentlich erklärte: „Das fremde Element wird sich umsehen müssen, ob es nicht anderswo besser aufgehoben ist“ so stand dem entgegen, daß die Deutschen ihre Zuweisung an Polen als ein schweres Unrecht und eine revisionsbedürftige Entscheidung ansahen. Darin unterstützte sie die Weimarer Republik moralisch und materiell, um den außen-politischen Revisionsanspruch aufrechtzuerhalten. Unter diesen Voraussetzungen hatte sich der soge-nannte Volkstumskampf in Polen schon früh zu einem abstrakten Gegnerprinzip verselbständigt, das wohl nationale Identität, aber nicht Sachverhalte klärte. Man muß ihn nicht leugnen, um sagen zu können, daß die Fixierung auf historische Unrechtserfahrungen die deutschen Bewertungsmaßstäbe verzerrte, übrigens auch in der westdeutschen wissenschaftlichen Literatur der fünfziger Jahre, die ausnahmslos von Erlebnisträgern dieser Minderheitserfahrung erarbeitet wurde. Es ist wichtig, wenigstens an einem Beispiel zu zeigen, daß diese deutsche Erlebnisperspektive nicht ausreicht. Breyer führt in seiner Untersuchung aus: „In Posen/Pommerellen war die Entdeutschung ein Kampf vor allem um den Bodenbesitz. Weder Berufungen bei der polnischen Regierung noch beim Völkerbund oder dem Haager Gerichtshof konnten die konstante Abnahme deutschen Bodenbesitzes aufhalten.“ Dieses Bild einer rechtlos gemachten Minderheit ist einseitig. Unzweifelhaft ist, daß polnische Behörden die Entschädigungsbestimmungen des Versailler Vertrags für eine Politik der Polonisierung nutzten. Grundbesitz war Deutschen wie Polen allerdings nicht Eigentum schlechthin, sondern galt ihnen als Indikator geheimer Herrschaft und nationalen Besitzstandes. Gut 70% der Deutschen in Posen und Pommereilen lebten von der Landwirtschaft, nur 30% in den Städten. Unterstellt man eine gezielte polnische Pressionspolitik, so hätte die enorme deutsche Abwanderung in den zwanziger Jahren vor allem auf dem Lande erfolgen müssen; tatsächlich aber kamen die Abwanderungen zu 85 % aus den Städten In Städten wie Kulm, Thorn oder Rawitsch, die seit ihrer Gründung deutsch geführt waren, schmolz die Zahl der Deutschen zu einer unbedeutenden Größe zusammen. Es wanderten nicht nur ganze Familien ab, sondern auch spezifische gesellschaftliche Gruppen. Zum Beispiel wurden 1919/20 jüngere Männer in hellen Scharen militärflüchtig, weil sie am polnisch-sowjetischen Kriege nicht teilnehmen wollten. Gewiß spielten wirtschaftliche Gründe eine leitende Rolle. Aber sie waren von anderer Natur, als sie uns in den Lebenszeugnissen deutscher Minderheitsangehöriger und der ihnen vertrauenden wissenschaftlichen Literatur vorgestellt werden.
Die wirtschaftlichen Strukturen der drei polnischen Teilungsgebiete waren auf die Teilungsmächte ausgerichtet gewesen Ihre Zusammen-führung im neuen polnischen Staat gab gerade den entwickelteren Industrien schwere Probleme auf. Das besondere Merkmal der kleinen, vielfältig eingeschnürten Wirtschaftsräume der Nachkriegszeit forderte erhebliche Umstellungen und Einschränkungen. Und erst daran knüpften sich nationale Motive: Weshalb sich für die Wirtschaft eines Staates engagieren, dessen Existenz man aus tiefer Überzeugung ablehnte? Technisches Knowhow ließ sich bei der Abwanderung mitführen, Grundbesitz dagegen nicht. Die von Krekeler untersuchte massive finanzielle Stützungspolitik der Weimarer Republik wurde zudem in die Landwirtschaft und nicht in die mittelständische Industrie kanalisiert. Es wanderte also eine technisch-administrative Führungsschicht ab. Ähnlich wie in Polen gab es auch in der SR Versuche, den Einfluß der deutschen Minderheit durch Reduktion ihres Besitzstandes zu dämpfen. Läßt man die zeitgenössische aufgeregte Agitation beiseite, es seien die deutschen Verhältnisse mit dem Instrument der Bodenreform tschechisiert worden, so ergibt sich ein ganz anderers Bild. Am 1. Dezember 1938 gutachtete Dr. Guido Klieber im Auftrage des Reichskommissars und Gauleiters Henlein über die Möglichkeit von Wiedergutmachungsforderungen wegen Schädigung des Deutschtums in der CSR, daß solche Forderungen keinen Ansatz besäßen, weil ein rechtswidriges Vorgehen nicht erkennbar sei. Er sprach sich auch gegen den Gedanken aus, innerhalb der jeweiligen nationalen Siedlungsgebiete durch erzwungene Bodenverkäufe — also eine nationalsozialistische Bodenreform — Kongruenz herzustellen: Da sich auf deutschem Siedlungsgebiet nur 33 000 ha großbetrieblich genutzten Bodens in tschechischer Hand befänden, auf tschechischem Gebiet jedoch 250 000 ha in deutscher Hand, müßte sich dieser Plan für die deutschen Interessen als nachteilig erweisen — Rechnet man alle Enteignungs-und Umwidmungsflächen zusammen, dann gingen letztlich nur 7 200 ha Acker aus deutschem Besitz an tschechische Kolonisten. Nach den Begriffen des Nationalitätenkampfes war es gewiß ein Verlust. Aber wenn man bedenkt, daß das deutsche Siedlungsgebiet in der SR etwa die Fläche Belgiens umfaßte, bot dieser Verlust keinen Anlaß, den Vorgang zu überschätzen.
III. Die dreißiger Jahre
Äußerlich hatte sich Anfang der dreißiger Jahre der Minderheitenkampf ein wenig beruhigt, ohne daß freilich die nationalbewußte Rigidität der polnischen oder tschechoslowakischen Staatsführung geschwunden wäre. Aber sie suchte nicht mehr die große Aktion, sondern entfaltete sich im Alltag von Verwaltung, war kleinformatig und kleinlich. Vor allem in der CSR bot der aus der Doppelmonarchie überkommene hohe Anteil von Deutschen in den staatlichen und kommunalen Verwaltungen Gelegenheit zu administrativer Diskriminierung, besonders im empfindlich wahrgenommenen Bereich des Beförderungswesens. Auch die generelle Degradierung deutscher Kriegsteilnehmer, wenn sie zu tschechischen Waffenübungen herangezogen wurden, schürte Emotionen. Stabilisiert hatten sich auch die Minderheitenzahlen. In Polen konnte die nach dem Kriterium der Muttersprache wertende Volkszählung von 1931 das Ergebnis von rd. 740 000 (oder 2, 3%) Deutschen erheben, das freilich selbst von polnischer Seite angezweifelt wurde. Deutsche Versuche, die eigene Stärke mit bis zu 1, 14 Millionen zu bestimmen, stellten ähnlich unvollkommene Schätzwerte dar Wesentlicher Grund für diese bis heute nicht ausgeräumte Ungewißheit waren nicht nur die jeweiligen politischen Absichten, sondern auch die ethnische Sonderstellung Oberschlesiens, wo eine Gruppe von 336 000 Personen sich der Zuordnung von Sprache und nationalem Bekenntnis entzog. Selbst wenn man dieses soge-nannte schwebende Volkstum großzügig zur deutschen Minderheit rechnet und ihren Bevölkerungsanteil bei über 3 % annimmt, so bildeten die Deutschen doch nur die viertgrößte Minderheit. Gegenüber den Ukrainern (15%), Juden (10%) und Weißrussen (5%) war ihre Zahl eher unbeachtlich. Daher konnte die „Straznica Zachodnia“, die „Westwarte“ des nationalistischen Westmarkenvereins, 1933 schreiben, das deutsche Problem sei „nur noch als Restproblem vor allem wirtschaftlicher Art“ zu betrachten; von allen Minderheitenproblemen Polens sei es „das einfachste und leichteste“, dessen Bedeutung sich „von Jahr zu Jahr verringert“ Hierin deutete sich an, daß die polnische Staatsführung sich in den östlichen Wojewodschaften vor ungleich größeren Minderheitenproblemen sah und daß sie vor allem keinen Grund hatte, gegen die deutsche Minderheit den Verdacht politischer Illoyalität zu hegen.
Die deutsche Minderheit in der SR unterschied sich von der in Polen nach Quantität und Status beträchtlich. Während Tschechen und Slowaken mit rund 8, 8 Millionen Personen 66% der Bevölkerung stellten, kam die deutsche Minderheit mit rund 3, 5 Millionen auf 23, 5%, war also relativ zehnmal so stark wie in Polen. Es war daher nicht nur Diplomatie oder innenpolitische Klugheit, die den tschechischen Gesandten Krofta in Berlin von den Deutschen als dem „zweiten Staatsvolk“ sprechen ließ. Nicht weniger als 4 000 Gemeinden besaßen eine absolute deutsche Mehrheit bei weitgehender Verwaltungsautonomie. Die Deutschen verfügten über ein eigenes Schulwesen mit allein drei Hochschulen, stellten mit 86 000 Beamten 55% aller Staatsbediensteten. Ein reiches, weit verzweigtes deutsches Organisations-und Vereinswesen besaß deutsche Tageszeitungen und Zeitschriften, Gemeindebüchereien, Theater usw.
Für die ÖSR war bei der nationalstaatlichen Verwirklichung des Nationalitätenstaates eine zwingend entnationalisierende Politik gegenüber den Sudetendeutschen undenkbar. Dazu waren diese nach Zahl, sozialer Position und Wirtschaftskraft zu gefestigt. Zum Teil übertraf deren Leistungsstand sogar das Reich. Etwa im Bereich des Bildungswesens, das ein empfindlicher Indikator für Minderheitenfragen ist, stellten drei Hochschulen für 3, 5 Millionen Sudetendeutsche eine bessere Ausstattung dar als im Reich. Das Lehrer-Schüler-Verhältnis betrug im Reich 1: 42, 5; in tschechischen Schulen 1: 37; an den sudetendeutschen Schulen 1 ; 34, 2. Die Sudetendeutschen besaßen also relativ mehr Volksschulen als die Reichsdeutschen oder die Tschechen, von denen sie angeblich brutal unterdrückt wurden Das signalisiert gewiß keine übernationale Idylle, wohl aber eine auskömmliche Lage und einen erheblichen Vorsprung gegenüber der Situation in Polen. Denn dort war allein die Zahl der staatlichen Volksschulen mit deutscher Unterrichtssprache von 299 im Jahr 1929 auf nur noch 65 im Jahr 1937 gesunken. Die Steigerung von 80 privaten deutschen Volksschulen auf 105 reichte nicht aus, diese Polonisierungserfolge wettzumachen
Alle diese Bedingungen wandelten sich jedoch in der ersten Hälfte der dreißiger Jahre von Grund auf. Verantwortlich für diesen Umbruch waren vier Vorgänge, die zum Teil interdependent waren: Es handelte sich um die Folgen der Weltwirtschaftskrise, die in der CSR besonders einschneidend waren, um die Krise demokratisch-parlamentarisch legitimierter Regierungssysteme in Ostmitteleuropa, vor allem in Polen, um eine bei allen deutschen Minderheiten in Europa zu beobachtende Ablösung der in der Führung befindlichen Generation, und endlich um die Ausstrahlung der nationalsozialistischen Machtergreifung. Jeder einzelne dieser Vorgänge allein hätte schon große Probleme aufgeworfen. In ihrem zeitlichen Zusammenfall verwandelten sie jedoch nahezu alle bisher bekannten und eingespielten Voraussetzungen. 1. Folgen der Weltwirtschaftskrise Zwar umfaßte die CSR nur ein Fünftel der Land-fläche und ein Viertel der Bevölkerung der ehemaligen Habsburg-Monarchie. Aber es hatten sich auf ihrem Boden Dreiviertel der Industrie entwikkelt. Die Weltwirtschaftskrise traf vor allem die Ausfuhr, den empfindlichsten Punkt in der Wirtschaft der CSR. Der dadurch bedingte Produktionsverfall war größer als irgendwo anders; die Industrieproduktion sank tief unter den Vorkriegsstand. Die Arbeitslosigkeit war nicht gleichmäßig verteilt, sondern traf das deutsche Siedlungsgebiet doppelt. Während in den tschechischen Gebieten auf 1 000 Bewohner 40 Arbeitslose entfielen, waren es in den deutschen Gebieten 90. Das hatte seinen Grund einmal im hohen Industrialisierungsgrad der sudetendeutschen Gebiete, zum anderen im Strukturmerkmal einer rasch veraltenden Leichtindustrie. Zusätzlich zur allgemeinen Exportabhängigkeit rächten sich auch die sudetendeutschen Modernisierungsrückstände
Nicht nur der numerische Umfang, sondern auch die Dauer der Arbeitslosigkeit führte bei der deutschen Minderheit zu ausgeprägter Staatsverdrossenheit. Denn als anderswo, besonders im Reich, die Wirtschaftskrise bereits wieder abgeflaut war, gab es 1936 noch immer gut 500 000 Arbeitslose unter den Deutschen — mehr als z. B. die Arbeitslosenquote der Französischen Republik. Zudem gingen nun staatliche Investitionen bevorzugt an die Schwerindustrie — aus Gründen der Staatsräson und der internationalen Wettbewerbsfähigkeit — und berührten damit die typisch deutschen Industriegebiete nicht, so daß der deutschen Minderheit die anhaltende Arbeitslosigkeit als böswillige Diskriminierung erschien. Tatsächlich aber krankte das sudetendeutsche Sozialgefüge an uneingestandener Veralterung, nicht am „tschechischen Würgegriff, wie die erwachende völkische Demagogie vermeinte, die nach außerhalb blickte: „Auch du wirst wieder rauchen“, lautete die Aufschrift auf einem Fabrikschlot im Sudetenland, „wenn dich wird Hitler brauchen“
Im Gegensatz zur SR fühlte sich in Polen die deutsche Minderheit nicht als Opfer der Wirtschaftskrise. Zudem artikulierte sich die Wirtschaftskrise in Polen auf einem ganz anderen, mit der CSR nicht vergleichbaren Wirtschaftsstand. Während die CSR erstmals Ende der zwanziger Jahr in eine wirtschaftliche Krise geraten war, wurde in Polen lediglich eine schon seit der Staatsgründung nicht behobene Krise verstärkt. Für die Tatsache, daß Polen das wirtschaftlich am schlechtesten entwickelte Land Europas war, waren im wesentlichen drei Gründe maßgeblich: die innere Strukturschwäche einer überwiegend agrarischen Volkswirtschaft, an der die Deutschen, die zu 72% von der Landwirtschaft lebten, vollauf teilhatten; die deflationäre Geldpolitik der polnischen Regierung bis in die Mitte der dreißiger Jahre hinein ferner die erhebliche Außenhandelsschwäche der Republik. Aus geographischen wie aus politischen Günden war der polnische Außenhandel auf Deutschland verwiesen. Diese Beziehungen waren also nicht volkswirtschaftlich autonom entwickelt, sondern außenpolitisch bestimmt. Sie beruhten, wie der deutsch-polnische Wirtschaftskrieg 1925— 1934 zeigte, auf einem Junktim zwischen politischen Forderungen und wirtschaftlicher Kooperationsbereitschaft. Erst auf dieser Ebene war die deutsche Minderheit von Wirtschaftsfragen besonders berührt. 2. Die Krise der Demokratie in Ostmitteleuropa Für die Regierungsform der parlamentarischen Demokratie ist in Osteuropa seit der Mitte der zwanziger Jahre eine krisenhafte Situation evident. Demokratie ist hier nicht politischer Maßstab, denn die Frage, ob das westeuropäische Staats-und Gesellschaftsmodell überhaupt auf Osteuropa anwendbar war, ist durchaus strittig. Die Krise muß vielmehr als Indikator für tiefreichende Veränderungen gelten, zumal Regierungsformen den Rahmen für Minderheitspolitiken abstecken. Schon die Ermordung des ersten, vor allem mit den Stimmen der Minderheiten gewählten polnischen Staatspräsidenten Gabriel Narutowicz am 16. Dezember 1922 durch einen nationalistischen Fanatiker hatte die Minderheiten schokkiert. Und der seit Pilsudskis Staatsstreich vomMai 1926 beschleunigt zurückgelegte Weg zu einem autoritär regierten Staatswesen öffnete neue Perspektiven. Denn der Zerfall demokratischer Herrschaftslegitimation machte weniger fühlbar, daß ethnische Minderheiten zugleich parlamentarisch-demokratische Minderheiten sind. Entsprechend nahmen die Deutschen Ende der zwanziger Jahre von den bisherigen Versuchen Abstand, ihre Interessen durch wahlstrategische Blockbildung mit anderen Minderheiten gemeinsam zu vertreten. Solche Absprachen waren, solange sie bestanden, ein bemerkenswerter Zug im Minderheiten-leben in Polen gewesen; in der CSR dagegen hatten sich solche Gedanken allein schon wegen der numerischen Größe der deutschen Minderheit nicht nahegelegt.
Der Übergang zur sogenannten moralischen Diktatur Pitsudskis in Polen machte den Weg frei zur völkischen Radikalisierung der Minderheiten, die vor allem in Ostpolen bürgerkriegsähnliche Zustände heraufbeschwor. Angesichts des Versagens des Parlamentarismus wuchs auch der deutschen Minderheit eine vermeintliche Berechtigung dafür zu, daß sie Interessen zu vertreten begann, die tendenziell mit dem Zusammenleben im polnischen Staatsverband nicht vereinbar waren. Wie Hans Wiese 1963 in seiner Schrift unter dem viel-sagenden Titel „Ausländsdeutsche Erneuerung“ formulierte, traten nunmehr „die sittlichen Kräfte des Grenzkampfes und des Volkstumsschutzes“ in den Vordergrund.
Allein in der CSR, die mit ihrer entwickelten industriellen Gesellschaft, eingespielten Administration und rechtsstaatlichen Überlieferung den Typus westlicher nationalstaatlicher Demokratie verkörperte, hielt sich die parlamentarisch-demokratische Verfassung bis zur deutschen Besetzung. Seit 1934 war ihre Stabilität unter anderem der Grund dafür, daß sie das klassische Exilland etwa der deutschen Sozialdemokratie vor nationalsozialistischer Verfolgung wurde: „Rettungsinsel der deutschen Demokratie“, wie Brügel erklärte Bei der Abtretung der Sudetengebiete an das Reich im Herbst 1938 flüchteten annähernd 30 000 politisch gefährdete Deutsche ins Landesinnere, davon waren etwa 20 000 politische Emigranten. 3. Der Generationenwechsel in der Führung der Minderheiten Die Aufladung der deutschen Minderheiten mit innergesellschaftlichen Konfliktstoffen ist nicht ohne den Generationswechsel zu verstehen, der Ende der zwanziger Jahre einsetzte und nicht nur auf Polen beschränkt war, wo er in der „Jungdeutschen Partei“ Gestalt annahm, oder auf die CSR, wo die spätere „Sudetendeutsche Partei“ aus der jungen Tumerschaft hervorging. Vielmehr finden wir auch im Elsaß den Zusammenschluß der jungen Generation in der „Jungmannschaft“
Die Angehörigen dieser Generation glaubten, keinen oder nur einen schlechten Platz im Gesellschaftsgefüge zu haben. Daher stellten sie die Gesellschaft radikal in Frage. Sie suchten, wie Hans Mommsen unlängst erläutert hat nach stimulierenden Handlungsbedingungen und besaßen dabei einen meist visionären geschichtlichen Horizont für das eigene Tun. Auch ökonomische Motive gehörten zu den Antrieben. Mindestens in der CSR stand die junge Generation vor der Drohung eines sozialen Abstiegs infolge verschlechterter Ausbildungs-und Berufschancen. Der Wandel in den Wertorientierungen dieser Generation konnte sich daher auf ökonomische Interessen berufen und war zugleich politisch angestachelt. Wichtig war die damit verbundene qualitative Veränderung. Der neue Führungsanspruch erfolgte über die Ablösung des herkömmlichen Honoratioren-Charakters der Parteien. Er legte damit die Insuffizienz einer Parteienwelt bloß, die den Weg zur modernen Funktionspartei noch nicht beschritten hatte Aber mit dem Eintausch autoritärer Denkmuster und Organisationsprinzipien wurde auch die europäische Gemeinsamkeit eines liberalen Bürgertums mit ähnlichen Wertgefühlen und Verhaltensweisen über die Nationengrenzen hinweg aufgegeben, die bisher alle Honoratioren-parteien geprägt hatte.
Beispielhaft hierfür ist Konrad Henleins Sudetendeutsche Partei, die aus der völkisch-bündischen Welt der jungen Turnerschaft kam und ein Sammelbecken für Volkstumsgruppen war, die sich jedoch auf der anderen Seite mit der Massenbasis moderner Parteien ausstatten konnte, mit Mitteln der Massensuggestion arbeitete, weltanschauliche Ziele vertrat und sich an den Zwecken offener und verdeckter Machtpolitik orientierte. Dadurch erhielt die ohnehin suggestive völkische Bewegung zusätzliche Schubkraft 4. Die nationalsozialistische Machtergreifung Zweifellos gingen die größten Impulse auf die Minderheiten von der Machtergreifung der Nationalsozialisten aus. Der Nationalsozialismus als eine säkularisierte Erlösungsideologie wurde von beiden Minderheiten spontan aufgegriffen. Breyer berichtet von einer Gemütsverfassung der Deutschen in Polen, „die an Ergriffenheit und Verzückung“ heranreichte Der deutschnationale Abgeordnete Dr. Keibl äußerte im März 1933 vor dem Prager Parlament, niemand werde die „nationale Wiedergeburt“ aufhalten: „Die Deutschen grüßen sie als ersten Sonnenblick einer besseren Zukunft.“
Während sich solche völkischen Sehnsüchte in der CSR vor einem politisch stabilen Hintergrund artikulierten, führte in Polen der schon für die Wirtschaftsverhältnisse erkannte Grundzug der Mediatisierung durch außenpolitische Faktoren dazu, daß die Deutschen innerhalb kürzester Zeit klare innere Bindungen zum Nationalsozialismus entwickelten. Schon zwei Tage nach den März-Wahlen 1933 begrüßte der Hauptschriftleiter der „Kattowitzer Zeitung“ das Erstarken des nationalen Gedankens im Reich, da „die Rettung auch des Deutschtums in Polen nicht von irgendwelchen auswärtigen Mächten kommen könne“ Der Nationalsozialismus galt also als eine „innere“ Macht. Er profitierte zweifellos von der verklärenden Perspektive, mit der die im Ausland lebenden Deutschen „das Reich“ schon seit dem 19. Jahrhundert umgeben hatten. Jedenfalls verkündete das „Posener Tageblatt“ am 9. Juli 1933: „Wir Deutsche in Polen sind alle Nationalsozialisten“.
Diese allgemeine Zustimmung zum Nationalsozialismus unter den Deutschen in Polen begründete auch den Widersinn, daß dort — anders als in der CSR — die Jungdeutsche Partei, bereits 1921 von Rudolf Wiesner unter dem Namen „Deutscher Nationalsozialistischer Verein für Polen“ gegründet, die angestrebte Dominanz nicht erreichte. Die Jungdeutsche Partei war von der Konkurrenz der anderen Parteien zu stark bedrängt, und zwar gerade auf dem Felde der völkischen Radikalität. Wiesners Versuche, Kontrolle über die alten nationalen Organisationen zu erlangen — den „Deutschen Volksbund“, die „Deutsche Vereinigung" oder den „Deutschen Volksverband“ —, scheiterten daran, daß sich auch diese Gruppen dem Nationalsozialismus zu-wandten
Daß die Machtergreifung von den Vertretern völkischer Normen in der CSR erfolgreicher exploitiert werden konnte als in Polen, lag u. a. auch daran, daß in den zwanziger Jahren aus den Siedlungsschwerpunkten des Deutschtums in Polen gerade die junge Generation abgewandert war. In der CSR dagegen stand sie als Träger der neuen völkischen Dynamik uneingeschränkt zur Verfügung. Hier war das Potential für völkische Radikalisierung relativ und absolut ungleich größer als in Polen. Konrad Henleins Partei konnte schon bei den Wahlen am 19. Mai 1935 mit über 1, 2 Millionen Stimmen knapp 36 % aller wahlberechtigten Deutschen auf sich vereinen Die von Henlein errungenen 44 Mandate waren ein politischer Erdrutsch für die anderen deutschen Parteien, bei denen die Sozialdemokratie nur noch elf gegenüber 21 Mandaten aus dem Jahr 1929, die Agrarier nur noch fünf gegenüber 16 und die Christsozialen nur noch sechs gegenüber 14 gewinnen konnten. Unter dem Druck äußerer Krisenerscheinungen war das sudetendeutsche Parteiensystem zusammengebrochen. Die Verbindung von parlamentarischer Demokratie und national getrennten Parteiorganisationen hatte sich als wenig belastbar erwiesen. Intakt geblieben waren dagegen die Volkstumsorganisationen, unter deren Nutzung Henlein eine Wählerkonzentration auf seine Partei lenken konnte, die in Polen bis 1939 unbekannt blieb.
Wenngleich Henlein (nach den Worten von Wenzel Jaksch) „im Zaubergewand des nationalen Befreiers“ auftrat und trotz des spektakulären Partei-wachstums auf 600 000 Mitglieder 1937 — ein su« detendeutscher „Hitler“ war Henlein nicht. Er war ein trockener, undemagogischer Redner, ohne Charisma, gewiß ein tüchtiger Organisator, aber nach zeitgenössischem Urteil lediglich ein „Prototyp des rechtschaffenen Subalternbeamten“. Schon Ronald Smelser hat darauf hingewiesen, daß man daher zwischen dem Parteiführer Henlein und seiner symbolischen Geltung unterscheiden müsse Mitglieder und Wähler der Sudetendeutschen Partei sahen in ihr, wie sie sich selbst sehen wollten: wirtschaftlich geschädigt, politisch unfrei und völkisch bedroht.
Die Sudetendeutschen haben von den klaren Startvorteilen der CSR in sozialer, wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Hinsicht profitiert, ohne es zu merken; und sie haben sich, als die große Krise diesen Vorsprung aufgezehrt hatte, moderner radikalisiert. Die Deutschen in Polen besaßen solche Vorteile nicht, entwickelten als überwiegend agrarische Minderheit auch nur geringere Verlust-Ängste. Sie blieben gegenüber den Sudetendeutschen vor-modern, auch in der politischen Praxis, wo ein Zusammengehen mit anderen Minderheiten oder zwischen der deutschen Sozialdemokratie und der polnischen PPS über lange Jahre zur Normalität gehört hatte. Bezeichnend für den nicht aggressiven Zustand der deutschen Parteienwelt in Polen war der Vorwurf der Jungdeutschen Partei, die anderen Parteien hätten bislang „nicht viel mehr getan, als Subventionen zu verwirtschaften“ Die Loyalität zum polnischen Staat wurde von der deutschen Minderheit jedenfalls nicht in Frage gestellt. Im September 1939 haben mehr als 5 000 Deutsche ihr Leben in polnischer Uniform verloren.
IV. Schlußbemerkungen
Der Blick auf die mentalen Veränderungen unter den deutschen Minderheiten Polens und der CSR wäre nicht ganz vollständig ohne Berücksichtigung der nationalsozialistischen Impulse. Der Einfluß des Nationalsozialismus wirkte allerdings nur indirekt und nicht im geraden Verlauf volks-deutscher Wünsche. Zwar gab die neue „Bewegung“ die vermeintlich klarsten Antworten auf die schwierigen Minderheitenfragen, zwar kam von ihr das angemessenste Echo volksdeutscher Sehnsüchte, und sie erschien als „Garant“ für radikalste Lösungen. Aber in Hitlers tatsächlicher Politik waren den volkstumspolitischen Belangen die macht-und territorialpolitischen Ziele klar vorgeordnet. Schon allein deshalb war die Volksdeutsche Mittelstelle als die Agentur, die für die Kanalisierung volksdeutscher Probleme in die Macht-und Entscheidungszentren des Dritten Reiches zuständig war, eine eher ephemere Einrichtung ohne Entscheidungsmonopol von Gewicht.
Es ist wohl richtig, daß sich der Nationalsozialismus, wenn es nützlich war, als eine Bewegung ausgab, die nicht an Staatsgrenzen gebunden sei und die Aufgabe habe, eine nationalpolitische Bewußtseinsgemeinschaft der Deutschen schlechthin herzustellen. Aber dabei bestand kein wirkliches Interesse an den nationalkulturellen Grundgedanken der Volkstumspflege, sondern ausschließlich ein Interesse an der machtpolitischen Instrumentierung der deutschen Minderheiten.
Beide Minderheiten hingen der Vorstellung einer „Politik über die Grenze“ an. Eine solche Politik wurde indessen nicht von ihnen betrieben, sondern sie wurden in diese Politik eingespannt, wurden von einer Bewegung benützt, die sie nie verstanden hatten, weil deren Endziele außerhalb ihres Gesichtskreises lagen. Daher wäre die Frage nach dem Einfluß der Minderheiten auf die Außenpolitik des Dritten Reiches falsch gestellt. Hitler nutzte vielmehr Minderheitenfragen als bloße Versatzstücke seiner zynischen Expansionspolitik Die Minderheiten wurden nach machtpolitischer Zweckmäßigkeit mobilisiert (wie durch Hitlers Auftrag an Henlein, gegenüber Prag unerfüllbare Forderungen zu erheben), enttäuscht (wie durch die deutsch-polnische Verständigung vom 26. Januar 1934), fallengelassen (wie Süd-tirol) oder umgesiedelt wie die Deutschen aus dem Baltikum, der Bukowina, Bessarabiens, Rumäniens usw.
Sie waren nicht Subjekte, sondern Objekte von Politik, macht-und territorialpolitischen Zielen klar untergeordnet: Lieferanten für Vorwände in der Außenpolitik von 1937 bis 1939, Siedlungsmaterial im Kriege für die rassenbiologische Germanisierungspolitik im Osten, Adressaten für persönlichen Zorn und nationales Racheverlangen der befreiten Völker 1944/45, und als Vertriebene ein zunächst nur lästiges Massenproblem für die westlichen Besatzungsmächte.