Das politische System in der DDR ist — wie in anderen „real-sozialistischen“ Ländern (Polen, Ungarn vor allem) — zunehmend vor veränderte Steuerungsprobleme gestellt, die sich an einer Frage exemplarisch aufzeigen lassen: der funktional erforderlichen Anpassung an sich wandelnde innergesellschaftliche Bedingungen. Es handelt sich hierbei um Veränderungen im Verhältnis von Staat und Gesellschaft, von politischen Institutionen des Staates und gesellschaftlichen Organisationen (Gewerkschaften) bzw. Verbänden (wie den evangelischen Kirchen), die nicht mehr durch eine Bedeutungsanalyse des „Wesens“ der „marxistisch-leninistischen“ Ideologie erfaßt werden können. Ideologische Selbstdeutungen der politischen Systeme „sozialistischer Macht“ werden in der Staatsdiskussion von Rechts-und Sozialwissenschaftlern in der DDR häufig nur noch als Grundsatzerörterungen den Aufgaben einer Funktionsanalyse vorangestellt
Im Mittelpunkt einer systemtheoretisch orientierten Staats-und Politikanalyse stehen Überlegungen, die mehr oder weniger direkt die Frage qualitativ neuer Problemlösungskapazitäten des Staates und veränderter Bedingungen einer Integrationspolitik betreffen: „Dabei hat sich die Untersuchung des Platzes, der Funktionen und der Rolle einzelner Bestandteile der politischen Organisation unter kausal-genetischen und strukturell-funktionalen Gesichtspunkten als ein wichtiger Weg erwiesen. Es konnte die Tendenz überwunden werden, das Wesen einzelner politischer Organisationen, Institutionen und Bewegungen lediglich , aus sich selbst heraus* zu erklären und deren Beschreibung relativ isoliert voneinander vorzunehmen.“
Eine Schlußfolgerung für die systemtheoretisch orientierte Betrachtungsweise des politischen Systems läßt sich festhalten: Inhaltliche Aussagen über die Wirkungsweise des politischen Systems, seine internen „Bestandteile“ (Subsysteme) und externen Austauschverhältnisse sollen „differenziert“ formuliert werden. Die Bedingungen einer staatlichen Integrationspolitik wären dann bezeichnet, wenn „komplexe“ Ebenen der Machtausübung berücksichtigt werden. Mit den Worten Schöneburgs: „So zeichnet sich m. E. das politische System der herrschenden Arbeiterklasse auch dadurch aus, daß es als Gesamtsystem wie in vielen seiner Elemente Vorsorge dafür trifft, daß mannigfaltigste bewußte, teilweise nicht-organisierte und auch spontane (im Sinne von , Keimformen der Bewußtheit*) Aktivitäten von Gruppen oder Einzelpersonen sich nicht außerhalb oder neben den sozialistischen Organisationsformen zur Machtausübung konstituieren, sondern einfließen können in die Gesamtorganisation der von der Partei geführten politischen Macht.“
In diesen Überlegungen wird zwar nicht ausdrücklich von dem Erfordernis einer Interessen-politik des Staates ausgegangen. Kennzeichnend für diese Auffassung einer Machtausübung ist es jedoch, daß die Frage der Funktionsfähigkeit des politischen Systems davon abhängig gemacht wird, ob es dem Staat gelingt, „vorsorglich“ nicht organisierte Aktivitäten und sich außerhalb der politischen Institutionen von Partei und Staat entfaltende Einstellungen, Ziele und Interessenanlagen wahrzunehmen und zu berücksichtigen. Damit ist aber (ohne daß diese Parallele eingeräumt wird) ein Grundproblem korporatistischer Interessenvermittlung angesprochen, das in Analysen staatlicher Interessenpolitik kapitalistischer Industriegesellschaften (Bundesrepublik Deutschland, Großbritannien, Österreich, skandinavische Länder u. a.) ebenfalls im Mittelpunkt steht die Erhöhung der Integrationsfähigkeit des politischen Systems durch vorwegnehmende Lösungsmöglichkeiten in Konfliktfeldern, in denen sich Staat und Gesellschaft gegenüberstehen. Korporatistisch handelnde Interessenorganisationen „verfügen über staatliche Anerkennung oder Lizenz, wenn sie nicht sogar auf Betreiben des Staates hin gebildet worden sind. Innerhalb der von ihnen vertretenen Bereiche wird ihnen ausdrücklich ein Repräsentationsmonopol zugestanden, wofür sie als Gegenleistung bestimmte Auflagen bei der Auswahl der Führungspersonen und bei der Artikulation von Ansprüchen oder Unterstützung zu beachten haben.“
I. Korporatistische Gesichtspunkte in der Sozialismusanalyse
In der Sozialismusforschung sind Probleme einer korporatistischen Interessenpolitik zumeist an der Rolle von Massenorganisationen wie den Gewerkschaften, den Mitwirkungsrechten von Arbeitern in Industriebetrieben in der Perspektive von Staat und Recht untersucht worden. Aussagen über die politische Bedeutung korporatistischer Strukturen schwanken zwischen Analogien zu Verrechtlichungstendenzen in der gewerkschaftlichen Interessenpolitik westeuropäischer Länder und der Annahme einer eigenständigen Version eines staatlichen oder autoritären Korporatismus. Darüber hinaus werden Formen einer korporatistischen Übereinkunft in den Beziehungen zwischen Staat/Partei, Gewerkschaften, Kirchen und gesellschaftlichen Organisationen auf dem Hintergrund besonderer gesellschaftliehet und nationaler Vorbedingungen und Systemkrisen thematisiert
In Beiträgen zur DDR-Forschung, die sich mit Verrechtlichungstendenzen im Verhältnis von Staat, Massenorganisationen und Gesellschaft auseinandersetzen, überwiegen Urteile wie ein zunehmender Trend der Verrechtlichung in den Mitwirkungsmöglichkeiten von Arbeitern Aspekte eines „realsozialistischen Korporatismus“ und die Vorstellung eines partiell veränderten politisch-gesellschaftlichen Grundkonsensus in der DDR. Gemeinsam ist diesen Auffassungen, daß die Herausbildung korporatistischer Elemente im politisch-sozialen System der DDR als Ausdruck einer veränderten instrumentalistischen Politikformulierung der Partei gedeutet werden kann.
Im folgenden wird das Verhältnis von Staat und evangelischen Kirchen in der DDR als ein Fallbeispiel für einen korporatistisch geprägten Versuch des Interessenausgleichs dargestellt. Dabei ist erstens zu prüfen, welche Konfliktursachen und Konfliktbereiche im Verhältnis von sozialisti-schem Staat und Gesellschaft davon betroffen sind. Zweitens ist die Frage zu erörtern, ob die in den vergangenen Jahren entwickelten Dimensionen eines konsensorientierten Austauschverhältnisses zwischen Staat und Kirchen in der DDR als Tendenz eines gesellschaftlichen Korporatismus bestimmt werden können. Drittens: Eng damit verknüpft ist eine andere Frage zu sehen, die durch eine Auswertung von Stellungnahmen staatlicher und kirchlicher Akteure beantwortet werden kann: Welche Veränderungen für die Legitimation staatlichen und kirchlichen Handelns ergeben sich aus den Versuchen eines korporatistischen Interessenausgleichs?
II. Merkmale korporatistischer Interessenpolitik
Während das Selbstverständnis des Marxismus-Leninismus hegemoniale Ansprüche gegenüber anderen (vor allem auch den christlichen) Weltanschauungen einschließt, formulieren die Repräsentanten von Partei und Staat in ihrer Politik gegenüber den Kirchen in der DDR eher konsensorientierte Maßstäbe. Nach einer Stellungnahme von Paul Verner aus dem Jahre 1971 beabsichtigt der Staat keine Sozialisierung der Kirche (Diese programmatische Äußerung fiel zeitlich mit der Anerkennung der Kirche durch den Staat zusammen.) Und in einem neueren Beitrag über Perspektiven für ein gemeinsames politisches Handeln von Kommunisten und Christen heißt es: „Im Geiste echter Toleranz respektieren Kommunisten den religiösen Glauben und seine Ausübung: Sie zwingen dem Anhänger einer Religion nicht die wissenschaftlich-materialistische Weltanschauung auf. Sie machen ihre Annahme auch nicht zur Vorbedingung der Zusammenarbeit.“ Zugleich betonen Repräsentanten der Partei „nicht überbrückbare weltanschauliche Gegensätze zwischen Christen und Marxisten“ (P. Verner), die auch durch eine Praxis punktueller Kooperation und einer Politik des Interessenausgleichs nicht aufgehoben werden.
Damit ist ein zentrales korporatistisches Strukturelement in den Beziehungen zwischen Staat, Partei und Kirche bezeichnet: die Anerkennung der jeweiligen Eigenständigkeit und (weltanschaulichen) Verschiedenheit von Partnern, die aus einem bisher antagonistischen Interessengegensatz zu einer Politik des Kompromisses und begrenzter Übereinkünfte übergehen. In diesem Sinne umschreibt Bischof Schönherr das Verhältnis von Staat und evangelischen Kirchen in der DDR zutreffend als eine Beziehung zwischen weltanschaulich und „machtmäßig“ verschieden bestimmten Gruppierungen „Die Spannung zwischen der herrschenden, materialistischen Weltanschauung und dem christlichen Glauben muß ausgehalten werden ... Allen Versuchen einer Vermischung sollten wir widerstehen. Wir sind dankbar, daß der Versuch, eine sozialistische Theologie 4 zu schaffen, eindeutig abgewiesen worden ist.“
In einem anderen Zusammenhang hebt Schön-herr das zentrale Problem der Identität („Eigenständigkeit“) der Partner in korporatistischen Austauschbeziehungen hervor: „Das Gespräch vom 6. März brachte keinen Wendepunkt in der Geschichte des Verhältnisses von Staat und Kirche insofern, als sich beide nun völlig gewandelt hätten. Wir sind die gleichen geblieben, aber unser Verhältnis wurde deutlicher ... erkennbar. Ideologisch ist die DDR ein marxistisch-leninistischer Staat mit allen Konsequenzen.“
Ein anderes Problem der korporatistischen Politik in der DDR läßt sich ebenfalls an der Praxis „sachbezogener“, punktueller Übereinkünfte zwischen Repräsentanten des Staates und der Kirchen seit dem 6. März 1978 aufzeigen: das Bestre-ben der Kooperationspartner, die Politik der gegenseitigen Anerkennung von Macht-und Interessenunterschieden bis an die Basis durchzusetzen Landesbischof Hempel umschreibt diese Politik zutreffend als ein „Experiment mit Risiko“ Das Risiko besteht für den sozialistischen Staat darin, daß er sich „erstmalig mit Kirchen arrangieren wollte, zu deren Programm im Prinzip die Sozialethik gehört; solche sozialethischen Aktivitäten tangieren das Mandat des Staates.“ Der Staat muß ideologisch den hegemonialen Anspruch in diesen Fragen zurücknehmen.
Der Staat muß darüber hinaus den Kirchen einen autonomen Handlungssprielraum und Kompetenzen zuerkennen. Das Risiko für die Kirchen stellt sich an den „ideologisch besonders geprägten Stellen“ (Schönherr) wie den Schulen und im höheren Bildungssystem. Die Diskriminierung junger Christen kann nicht immer durch „Verabredungen“ zwischen Kirchenvertretern und staatlichen Behörden aufgehoben werden. Die staatliche Seite ließ Gesprächsangebote über solche Konfliktfelder unbeantwortet — eine Reaktion, die zeigt, daß korporatistische Arrangements zwischen Staat und Kirchen von dem „machtmäßig“ stärkeren Konfliktpartner auch wieder aufgekündigt werden können.
Im Zusammenhang mit „offenen“ Fragen des Einsatzes von Bausoldaten, der Forderung nach Einrichtung eines zivilen Wehrersatzdienstes und der Möglichkeit des waffenlosen Dienstes für vereidigte Reservisten der Praxis des Wehrkundeunterrichts und der Verhaftungen von Mitgliedern autonomer Friedensgruppen in der DDR wurde die Politik des Interessenausgleichs von Gemeindemitgliedern und Jugendlichen kritisiert. Die Kirche als Verband stand vor einem innerorganisatorischen Dilemma, das auch Gewerkschaften in der Bundesrepublik Deutschland und anderen westeuropäischen Ländern in der Praxis korporatistischer Interessenpolitik erfahren haben: Der Politik eines punktuellen Kompromisses mit staatlichen Vertretern wurde mit Mißtrauen begegnet; eine Entfremdung zwischen Gemeinde-mitgliedern und Jugendlichen auf der einen Seite und den Vertretern in den Kirchenleitungen auf der anderen deutete sich an Das Risiko für die Kirchen besteht also darin, daß sie ihren Handlungsspielraum „nach außen“ (auf den anderen Konfliktpartner gerichtet) erhöhen können, sich zugleich aber einem permanenten Test ihrer Integration „nach innen“ aussetzen.
Die veränderten „realistischen“ Beziehungen zwischen Staat und Kirchen in der DDR werden von Repräsentanten des Staates (Honecker) und der Kirchenleitung zunehmend mit den Merkmalen offen, vertrauensvoll, verfassungsgemäß und konstruktiv umschrieben. „Kirche im Sozialismus“ und „Grundvertrauen“ zwischen Staat und Kirche stellen Formeln dar, die zur Frage einer veränderten Legitimationsgrundlage für das Handeln der (ehemals gegensätzlichen) Konfliktpartner überleiten. Die inhaltlichen Schlußfolgerungen für die Wahl der eigenen (und der gemeinsamen) Legitimationsbasis für einen Interessenausgleich werden zuerst in Diskussionsbeiträgen von kirchlichen Akteuren bezeichnet. Die Reflexion von Schlüsselbegriffen wie „Wohl des Menschen“, gesellschaftliche Verantwortung, Gerechtigkeit, Macht, Grund-, Welt-und Zukunftsvertrauen steht im Mittelpunkt von öffentlichen Diskussionen auf Synoden und anderen kirchlichen Treffen. Dabei beinhalten die Beiträge und Stellungnahmen der Bischöfe und Kirchenvertreter durchgängig eine inhaltliche Orientierung, die kennzeichnend für das Selbstverständnis korporatistischer Akteure ist: der Bezug auf eine Verantwortung gegenüber der Gesellschaft im ganzen. Sie wird als Ausdruck des Bemühens aufgefaßt, den Dialog mit dem Staat als Lernprozeß zu nutzen Das kann auch eine kritische Infrage-Stellung von politischen Entscheidungen des Staates einschließen. Die Verantwortung für die Umwelt und die Zukunft des Menschen verstehen kirchliche Vertreter als Problemstellung, die nicht mehr allein durch herkömmliche politische Lösungen getragen werden kann. Sie fordern deshalb eine Erweiterung der Vorstellungen von sozialer Gerechtigkeit (auch auf die Natur übertragen). In praktisch-ideologiekritischer Absicht bezweifeln H. Falcke u. a. daß Begriffe und Leitbilder wie sozialistische Lebensweise und wissenschaftlicher Fortschritt eine ausreichende Grundlage für die Reflexion ökologischer Krisenzusammenhänge bieten. Kirchliche Vertreter kritisieren so indirekt verengte Legitimationsgrundlagen für politische und ökonomische Entscheidungen, die der Staat in der DDR nach primär technokratischen Maßstäben trifft.
Halten wir fest: In dem Kooperationsverhältnis zwischen Staat und Kirche beschränkt sich die Kirche nicht auf eine akklamative Rolle. Im Gegenteil: Kirchliche Vertreter initiieren immer wieder auch öffentliche Diskussionen über den Sinn traditioneller politischer Legitimationsgrundlagen, erörtern Perspektiven für veränderte moralische und politische Bedingungen der Lebensweise in einer sozialistischen Gesellschaft. Sie werfen häufig Fragen auf, die den Stellenwert von globalen Integrationsformeln wie „Humanismus“ /„Humanität“ betreffen. Hier ist es eine ideologiekritische Absicht — trotz Parallelen in bestimmten Grundauffassungen —, die Unterschiede in der Legitimität christlicher Existenz/christlichen Handelns und einer „marxistischleninistischen“ Politik zu verdeutlichen
Daran läßt sich ein weiteres zentrales Element für korporatische Interessenpolitik aufzeigen: Die beteiligten Organisationen/Institutionen betonen die „Verschiedenheit“ der Grundpositionen, um zu zeigen, daß es sich um einen freiwilligen, auf Zeit und auf Konsens in Sachfragen beruhenden Interessenausgleich handelt.
Die bisherigen Überlegungen zur korporatistischen Interessenpolitik der Kirche gegenüber dem Staat in der DDR sollen noch an einem anderen Schlüsselbegriffbelegt werden, der unter dem Gesichtspunkt der Verantwortung für das „Wohl des Ganzen“ von Kirchenvertretern angeführt wird: dem Begriff der Partnerschaft.
A. Schönherr, J. Hempel, H. Falcke, M. Stolpe u. a. wenden sich grundsätzlich dagegen, daß dieser Begriff zugunsten von globalen Kompromißformeln entleert wird, wie sie staatliche Vertreter bevorzugen: „Wichtig ist, aus dem Begriff der Partnerschaft das Element der Teilhabe und Teilnahme an gesellschaftlichen Beratungs-und Entscheidungsprozessen bewußt zu halten, wie es in dem ökumenischen Leitbegriff der Partizipation enthalten ist.“ Sie plädieren damit für konsensorientierte Maßstäbe in Entscheidungsprozessen über gesellschaftliche Probleme, die über das instrumentalistische Verständnis von Partizipation der Partei-und Staatsvertreter hinausweisen. Partizipation, die sich für alle Beteiligten in „angstfreier Offenheit“ (Falcke, Hempel) vollzieht, würde dem „konstruktiven Zusammenwirken und vom Respektieren unterschiedlicher Standpuntke“ (Staatssekretär Gysi) geprägten Interessenausgleich zwischen Staat und Kirchen einen politisch qualitativ neuen Inhalt verleihen: Die Legitimation für Machtausübung würde demnach (punktuell) von einer Öffentlichkeit beurteilt, die sich nicht auf eine akklamative Rolle beschränkt. Die Praxis des korporatistischen Interessenausgleichs in der DDR zeigt allerdings, daß die staatliche Seite immer wieder versucht, solche Tendenzen auf die innerkirchliche Öffentlichkeit (von Synoden u. a.) zu begrenzen.
III. Ideologieprobleme
Welche Ideologieprobleme ergeben sich für die SED und die staatlichen Vertreter, indem sie sich auf einen Interessenausgleich mit den evangelischen Kirchen einlassen? Staat und Partei müssen einer gesellschaftlichen Organisation Mitwirkungsrechte einräumen, die sich im Unterschied zum FDGB und den Blockparteien nicht an den ideologischen und organisatorischen Prämissen demokratischer Zentralismus, Avantgardeprinzip, Transmissionsriemen der Partei u. a. orientiert. Das entscheidende Problem stellt sich jedoch auf einer anderen Ebene. Durch die Praxis eines korporatistischen Interessenausgleichs mit den Kirchen werden Legitimationsprobleme für Partei und Staat aufgeworfen, die sich mit dem Stichwort „ideologische Koexistenz“ bezeichnen lassen. Der hegemoniale Anspruch des „MarxismusLeninismus“ („Die Ideologie der Arbeiterklasse wird immer mehr zur Weltanschauung der ganzen Gesellschaft“ wird im Dialog mit den Kirchen relativiert. Der Konfliktpartner Kirche fordert als Voraussetzung für den Interessenausgleich „allgemein“ anerkannte Koexistenzformeln: „Wir haben häufig darauf hingewiesen, daß das Wort Ideologische Koexistenz gibt es nicht, das man gelegentlich hört, mindestens für das Zusammenleben in einer Gesellschaft nicht zutreffend und gefährlich ist.“
Der Verlauf von Grundsatzdiskussionen über die Lebensweise, das ökonomische Wachstum und den sozialen Wandel in einer sozialistischen Gesellschaft zeigt, daß die Vertreter von Partei und Staat mit dem Rekurs auf uninterpretierte Werte und Leitbilder des Marxismus-Leninismus hinter das Argumentationsniveau von kirchlichen Autoren zurückfallen.
An diese Fragestellung läßt sich noch eine andere anschließen, die ein zentrales Problem korporatistischer Übereinkunft beleuchtet: Es geht zunächst durchgängig um eine Neutralisierung von „antagonistischen“ ideologischen Selbstdeutungen der Konfliktpartner. Es können aber auf diesem Weg im Dialog auch Probleme wieder aktualisiert werden, die gerade durch die selbstbegrenzten Forderungen eines Konfliktpartners (Kirche) ausgeklammert schienen: Ideologieprobleme des real „existierenden“ Sozialismus. Die Friedens-diskussion, Kontroversen über die gesellschaftliche Situation der Jugendlichen in der DDR und die Forderungen nach einer Einlösung individueller Beteiligungsrechte verdeutlichen, welche Dynamik Ideologieprobleme im Verhältnis von Kirchen und Staat annehmen. Die Kontroversen über diese Grundprobleme liefern auch Anhaltspunkte dafür, welche Zukunftsperspektiven ein korporatistischer Interessenausgleich zwischen Staat und Gesellschaft in der DDR hat.
IV. Friedenspolitik und „Friedenshandeln“ der Kirchen
In der Friedensdiskussion der vergangenen Jahre zeichneten sich in der DDR Konfliktlinien ab, die einem korporatistischen Interessenausgleich zwi-sehen Staat und evangelischen Kirchen entgegen liefen. Das von staatlichen und. kirchlichen Vertretern hervorgehobene Einverständnis in Friedensfragen, die Betonung einer gemeinsamen Verantwortung für Probleme der Friedenssicherung, symbolisierten häufig Integrationsbemühungen, die im Gegensatz zu den aktuellen Kontroversen innerhalb der Kirchen stand.
In den Gemeinden, der Friedensbewegung und auf Synoden wurden seit Anfang der achtziger Jahre Auffassungen vertreten, die den Bezugsrahmen eines konsensorientierten Redens zwischen Staat und Kirchenleitung überschritten. Es wurden zum Beispiel Positionen eines Pazifismus aufgenommen, die den Gleichgewichtsmaßstäben der staatlichen Friedenspolitik widersprechen: „Während die aktuelle sicherheitspolitische Dis-B kussion fast ausschließlich auf die Frage fixiert ist“, heißt es in einem 1981 für die Gemeinden verfaßten Diskussionspapier, „wie weit eine an nationale und bündnisinterne Sicherheitsinteressen gebundene Abrüstungsstrategie (gerade noch) gehen kann, erinnert die pazifistische Herausforderung daran, nicht aus dem Blick zu verlieren, was Friedenspolitik, gemessen an ihrem Ziel, eigentlich leisten soll. Der Anspruch des Pazifismus an die Politik ist kritisch-normativ.“
Für die Begründung einer korporatistischen Politik ergibt sich daraus für die Kirche die Aufforderung, gegenüber dem Staat normativ-kritische Maßstäbe einer politischen Rationalität zu verdeutlichen — eine Forderung, die auf die „weltanschauliche Verschiedenheit“ der Kooperationspartner Kirche und Staat zielt. Der Position einer „instrumenteilen“ Rationalität, die durchgängig die Sicherheitspolitik des Staates prägt, steht so die Vorstellung einer politischen Rationalität gegenüber, die gerade diese ideologische Begründung der staatlichen Interessenpolitik zurückweist: ein Pazifismus, der sich auf einen Politikbegriff des Überlebens gründet
Diese Gegensätze in den politischen Orientierungen sind so grundsätzlich, daß sie auch nicht durch Appelle für eine Wiederaufnahme von Gesprächen über Friedensprobleme aufgelöst werden. Vielmehr zeigt sich, daß die Aufforderung an die kirchlichen Vertreter, die „Verschiedenheit“ der friedenspolitischen Positionen in Gesprächen mit der Regierung der DDR zu verdeutlichen, von einer Absicht bestimmt wird: den Staat unter Legitimationsdruck zu setzen. In diesem Sinn stellen die Beschlüsse auf Synoden gegen eine zunehmende Militarisierung der Lebensbereiche in der DDR Versuche der Kirche dar, die weltanschauliche Verschiedenheit gegenüber dem Kooperationspartner Staat zu dokumentieren.
Der Bezug auf ethische Maßstäbe eines „Friedenshandelns“ wirft für kirchliche Vertreter Probleme auf, die im Verhältnis zu den Gemeinden als Verständnisschwierigkeiten erscheinen können. Dieses Dilemma korporatistischer Akteure spricht J. Hempel an, indem er auf die Spannungen zwischen einem gesinnungsethischen Handeln und dem Erfordernis eines „wirklichkeitsnahen“ Handelns während des Dresdner Friedensforums vom 12. Februar 1982 eingeht. Dabei handelt es sich nicht nur um Kommunikationsprobleme zwischen kirchlichen Repräsentanten und Mitgliedern der Gemeinde, sondern auch um Anzeichen für eine drohende Entfremdung in den Zielen der korporatistischen Akteure und der Gemeindemitglieder.
Die Kluft in den Zielen wird ersichtlich, sobald die Forderungen der Friedensbewegung auf strukturelle Eingriffe in die staatliche Handlungssphäre hinauslaufen. Während die Einführung des waffenlosen Dienstes für „Bausoldaten“ noch durch das Aushandeln eines Kompromisses zwischen Staat und Kirchen erreicht werden konnte, muß der Initiative für einen „sozialen Friedensdienst“ eine andere Bedeutung zugeschrieben werden. Sie weist über den Rahmen eines korporatistischen Arrangements hinaus. Die Kontroversen über das Modell eines sozialen Friedensdienstes innerhalb der Kirchen und die staatlichen Reaktionen hierauf belegen, daß in diesem Fall Konfliktbereiche bezeichnet worden sind, die durch einen korporatistischen Interessenausgleich „kanalisiert“ werden sollen. Voraussetzungen korporatistischer Interessenpolitik sind nämlich die funktionale Abgrenzung der Sphären, in denen sich Staat und Kirchen wechselseitig ein Repräsentationsmonopol zugestehen. In einer Stellungnahme des DDR-Staatssekretärs für Kirchenfragen, Klaus Gysi, zu Vorschlägen eines sozialen Friedensdienstes wird dieses stillschweigende Einverständnis zwischen den Kooperationspartnern Staat und Kirchen zusammengefaßt: „Die Bischöfe sehen das auch ganz klar, daß das ein Eingriff in das ureigenste Recht des Staates wäre. Die Regelung mit den Bausoldaten hat sich bei uns bewährt, und wir sehen keinen Grund, davon abzugehen. Wer mit dieser klaren Stellungnahme des Staates nicht einverstanden ist, zeigt deutlich, daß es ihm um die Konfrontation geht.“
Auf diesem Hintergrund kann die Einstellung der Kirchenleitung näher bestimmt werden. Die evangelischen Kirchen treiben die Forderung nach einem sozialen Friedensdienst nicht bis zu einem Punkt, an dem eine Konfrontation mit dem Staat und eine Aufhebung des korporatistischen Interessenausgleichs droht. Gleichwohl wurde auf Synoden immer wieder erkennbar, daß als ein erster selbstbegrenzter Schritt in Richtung einer Erweiterung Aqs waffenlosen Dienstes in der Volksarmee die Idee eines sozialen Friedensdienstes bzw. Ersatzdienstes aus Gewissengründen die Auseinandersetzung mit dem Staat beeinflußt.
In einem „Sachstandsbericht“ für die Synode des Bundes der evangelischen Kirchen in Berlin (31. Januar bis 2. Februar 1986) wurde der Stellenwert dieser Politik hervorgehoben: „Sie läßt nur darauf vertrauen, daß auch in noch ungelösten Fragen Wege zur Verständigung gefunden werden, selbst wenn es gegenwärtig bei der unmißverständlichen Ablehnung der Bitten der Synode um Einrichtung eines zivilen Waffendienstes und um die Möglichkeit des waffenlosen Dienstes für vereidigte Reservisten geblieben ist.“
V. Erwartungen der Jugendlichen an die Kirche
Jugendliche in der DDR sehen sich in der Regel mit politischen Strukturen konfrontiert, von denen ein starker Druck zur Anpassung ausgeübt wird. Staatliche Institutionen, Betriebe und Schulen werden als sich selbst erhaltende Verkörperungen von Macht wahrgenommen, die den einzelnen Jugendlichen vor die Wahl stellen, „sich mitintegrieren zu lassen oder nicht“ Auf die Kirche als Institution richten sich häufig Erwartungen und Mißtrauen, die durch Erfahrungen im Umgang mit staatlichen Behörden geprägt worden sind.
Mißtrauen erzeugen zum Beispiel abgewogene Entscheidungen der Kirchenleitung in der Friedenspolitik. Gegen Übereinkünfte zwischen Kirchen und Staat polemisiert so ein Jugendlicher: „Ich bin 19 Jahre und habe trotzdem nichts mehr zu verlieren. Sie reden und reden hinter fester Tür. Wollen sie uns bis zum Untergang vertrösten?“
Erwartungen löst die Kirche in den Jugendlichen aus, weil sie eine der wenigen Institutionen in der DDR ist, in der Jugendliche ihre altersspezifische „Eigenart“ leben können. Diese Erwartungshaltung, die Kirche primär als eine unabhängige Institution mit Raum für selbstbestimmte Initiativen und Bedürfnisorientierungen zu begreifen, kollidiert mit der Rolle der Kirchenvertreter als Kooperationspartner in einem Interessenausgleich mit dem Staat. Diese Problematik wurde auf der letzten Synode der Berlin-Brandenburgischen Landeskirche mit den Worten umschrieben: „Jugendliche haben oft besonders starke Erwartungen an die Kirche. Sie soll eine deutliche Position in den wichtigen Fragen beziehen und konsequent und kompromißlos danach handeln. Abgewogene Entscheidungen und Äußerungen der Kirchenleitung werden häufig von ihnen nicht verstanden und als ängstliches Taktieren und Anpassung der Kirche an den Staat gedeutet... Auch in der Kirche fühlen sich viele Jugendliche allein gelassen.“
Der Anspruch der Jugendlichen auf Selbstbestimmung und Kritik (z. B. an Tendenzen einer Militarisierung des Alltags in der DDR) markiert die Grenzen der Legitimität eines Interessenausgleichs der Kirchen mit dem Staat. Dies wird besonders deutlich in den Kontroversen über Symbole der Friedensbewegung wie „Schwerter zu Pflugscharen : Auf Seite “ der einen der Versuch von Jugendlichen, einem christlichen Motiv einen aktuellen politischen Gehalt zu verleihen, auf der anderen Seite die Bemühungen von kirchlichen Vertretern, die System-und machtkritische Bedeutung dieses Symbols zu relativieren: „Ihr habt das Recht, Eurer Einstellung gemäß „Alarm’ zu schlagen, aber ich bitte Euch, auch ernste Politik zu lernen, wie schwer Politik für den Frieden auch in unserer Epoche zu realisieren ist.“
Die Unterschiede zwischen kirchlicher Interessenpolitik und jugendlichen Grundeinstellungen, die Hempel als Differenzen politischer Stile auffaßt, deuten auf ein Grundproblem hin. Das Angebot der evangelischen Kirchen, Jugendlichen Partizipationsmöglichkeiten zu eröffnen, die in anderen Lebensbereichen nicht bestehen, läßt sich nicht darauf beschränken, „daß Jugend ein Teil der Kirche ist, der seinen Teil beiträgt und seinen Teil erhält“ Die „Suche nach Lebenssinn“ kann zwar aus der Sicht kirchlicher Repräsentanten anerkannt, jedoch nicht als Ziel einer konsensorientierten Politik gegenüber dem Staat vertreten werden. Das Bestreben nach einer offenen und kritischen Auseinandersetzung mit gesellschaftli-chen Leitbildern durch Jugendliche schließt nämlich häufig auch eine Problematisierung des „Sinns“ des Sozialismus ein, und zwar in einer Weise, die für die Kirche im Sozialismus nicht permanent eröffnet werden kann („sozialistische Lebensweise“ — utopische Formen einer „sinnvollen Lebensweise“). Das heißt, gegenkulturelle Orientierungen, die den Protest der Jugendlichen an der konventionellen sozialistischen Lebensweise bestimmen, lassen sich nicht unvermittelt in verhandelbare Ziele eines korporatistischen Interessenausgleichs übersetzen.
Dieses Dilemma wird in dem jüngsten Bericht zur „Situation Jugendlicher“ indirekt angesprochen, indem von Tendenzen der Resignation unter Jugendlichen die Rede ist: „Es ist zu vermuten: Je stärker Autoritätsorientierung in Kirche und Gesellschaft gefordert wird, um so mehr nehmen Resignation und Rückzug Jugendlicher mit zunehmenden Alter auf private Bereiche zu: »Protest nützt doch nichts 4.“
VI. Individuelle Bürgerrechte
Das Unbehagen vieler Jugendlicher gegenüber dem Staat und der staatlichen Jugendszene in der DDR entspricht einer skeptischen Grundeinstellung von DDR-Bürgern gegenüber Regierungsvertretern, die auf Erfahrungen im Umgang mit staatlichen Behörden beruht. Obwohl über ein rechtlich garantiertes Eingabe-und Beschwerde-wesen in der DDR die Möglichkeit der Kritik für einzelne Bürger an staatlichen Entscheidungen gegeben ist, handelt es sich doch um Regelungen, die dem verrechtlichten Status eines korporatistischen Arrangements vergleichbar sind. Es werden Einflußnahmen für den einzelnen Bürger (formal) eröffnet. Die Praxis des Verwaltungshandelns zeigt allerdings, daß die Garantien für eine Verrechtlichung der sozialen Beziehungen wieder zurückgeschraubt werden können.
In einer Stellungnahme des Vorsitzenden des evangelischen Kirchenbundes der DDR, M. Stolpe, werden die Begründungsschwierigkeiten für diesen Typ staatlicher Politik durch einen Rekurs auf den Maßstab „Vertrauenwürdigkeit“ direkt bezeichnet. Dem schrittweisen Ausbau individueller Bürgerrechte und der Erweiterung der Menschenrechte mißt Stolpe den Stellenwert einer erweiterten Legitimationsgrundlage für staatliches Handeln bei („Vertrauenswürdigkeit“, „Gerechtigkeit“). Die geforderte Anerkennung von individuellen Bürgerrechten wird nicht durch einen „Systemvergleich“ mit den normativen Versprechen „westlicher“ Gesellschaften begründet. Die Einlösung verfassungsstaatlicher Rahmenbedingungen wird vielmehr als Vervollständigung einer verallgemeinerbaren Legitimationsbasis bestimmt. In der DDR seien „bedeutende soziale und kulturelle Rechte verwirklicht.“ Um so mehr lohne es sich in der DDR, „noch vorhandene Defizite bei individuellen Rechten und Möglichkeiten abzubauen“ Indem Stolpe so die Forderung nach individuellen Bürgerrechten als Konsequenz eines gesellschaftlichen Lernprozesses in der DDR vorträgt, erscheint ein gängiger Ausweg für die Politiker von Regierung und Staat veraltet: die pauschale Abwertung von Prinzipien des Verfassungsstaates als Relikte einer bürgerlichen Ideologie. Und je grundsätzlicher aktuelle Konfliktlinien um individuelle Bürgerrechte und soziale Rechte potentiell „ausgegrenzter“ Gruppen (wie „abweichende“ Jugendliche) als öffentliche Angelegenheiten von Kirchenvertretern thematisiert werden, desto deutlicher wird, daß sich das Verhältnis der evangelischen Kirchen zum Staat nicht auf ein einseitiges Systemvertrauen gründen kann: „Wir haben den neuen Beschluß des Staatsrates über die Bearbeitung der Eingaben der Bürger und die dringende Notwendigkeit des Ernstnehmens persönlicher Anliegen begrüßt“ stellt Stolpe nach einem Gespräch mit Regierungsvertretern fest, das über die Durchsetzung der „Gleichberechtigung“ und „Gleichbehandlung“ aller Bürger in allen Lebensbereichen handelte. Und: „Die Kirchen sollten ihre Gläubigen ermuntern, bei anstehenden Problemen diese gewährte Bereitschaft des Staates abzurufen. Gerechtigkeit im Lande fördert auch die Vertrauenswürdigkeit unseres Staates im Ausland und kommt direkt dem Entspannungsprozeß zugute.
VII. Schlußbemerkungen
Die Beziehungen zwischen Staat und evangelischen Kirchen in der DDR lassen sich nicht in der Perspektive eines „staatlichen“ oder „autoritären“ Korporatismus einordnen Die evangelischen Kirchen beschränken sich nicht auf die Rolle eines Kooperationspartners, der durch vorwegnehmende Krisenwahrnehmungen und partielle Konfliktbewältigungen im gesellschaftlichen Bereich die Steuerungsfähigkeiten des politischen Systems in der DDR erhöht. Diese Rolle übernehmen der Gewerkschaftsbund FDGB und andere gesellschaftliche Organisationen, denen im Sinn einer monistischen Interessenpolitik ein begrenzter Aktionsrahmen zukommt („Transmissionsriemen“ der Partei).
Die Politik der „Kirche im Sozialismus“ ist eher durch Elemente eines gesellschaftlichen Korporatismus gekennzeichnet. Das heißt, der Konflikt-partner Kirche verleiht durch offensive Forderungen (Bürgerrechte, soziale „Teilhaberrechte“) und die öffentliche Erörterung von sozialen und politischen Benachteiligungen korporatistischer Interessenpolitik einen „Sinn“, der veränderte Bedingungen sozialer Integration für die DDR einschließt. Die Bedeutung korporatistischer Über-einkünfte reicht so über die einmal getroffene Anerkennung getrennter Interessenbereiche zwischen Staat und Kirchen hinaus. Es handelt sich eher um Diskussionsbemühungen der Kirchen, die vom Konfliktpartner Staat nicht umstandslos in traditionelle Integrationsformeln (monistische Interessenpolitik) übersetzt und abgeschwächt werden können. Vielmehr zeigt sich am Verlauf der Debatten auf Synoden, daß auch bereits verrechtlichte Kompromisse für gesellschaftliche Lebensbereiche in der DDR immer wieder neu zur Diskussion gestellt werden.
Eine zu klärende Frage in dem vorliegenden Beitrag war es, ob ein konzeptueller Bezugsrahmen auf die Analyse sozialistischer Gesellschaften anwendbar ist, der in systemischen Kontexten „westlicher“ Gesellschaften entworfen worden ist Es konnten in den Dokumenten von Synoden und Stellungnahmen kirchlicher und staatlicher Vertreter Anhaltspunkte dafür gewonnen werden, daß sich in der DDR zwischen Staat und Kirchen Formen eines Interessenausgleichs herausgebildet haben, die z. B. nicht durch den Rückgriff aufAnnahmen einer Totalitarismusanalyse interpretiert werden können. Totalitarismusansätze sind durchgängig von Annahmen einer Strategie der sozialen Kontrolle bestimmt Danach stellt sich das Verhätnis von Staat und Gesellschaft als einseitig geprägtes Herrschaftsverhältnis dar: Der Staatsapparat kontrolliert die Gesellschaft in der DDR. Daß in der Perspektive eines Totalitarismusdenkens korporatistische Arrangements keinen Gegenstand der Untersuchung des sozialen Wandels in der DDR darstellen, ist offensichtlich. Allein die Bezugnahme auf vorhandene Formen eines bedingten Interessenausgleichs in der DDR würde zentrale normative und inhaltliche Prämissen des Totalitarismusdenkens entkräften. Unter diesem Gesichtspunkt erscheint es nur konsequent, wenn ein westdeutscher Kommentar des Treffens zwischen Honecker und Landesbischof Hempel vom 11. Februar 1985 zwar einräumte, im Verhältnis von Staat und Kirchen habe sich „vieles verbessert“. Doch, so nimmt H. Matthies im Einklang mit alten Argumenten des Totalitarismusdenkens an, das „Regime“ sei gleich geblieben „eine in vieler Hinsicht brutale Diktatur ...“
Die eigenständige Rolle der Kirche als ein gesellschaftlicher Verband wurde in den vergangenen Monaten noch von einer anderen Position aus in Zweifel gezogen. In den „Weißenseer Blättern“, einer von dem Ost-Berliner Theologen H. Müller mitherausgegebenen Zeitschrift, stellte ein Autor fest: Die evangelischen Kirchen in der DDR seien nicht berufen, eine „. eigenständige gesellschaftliche Kraft’ zu sein“. In beiden Kommentaren aus unterschiedlichen politischen Traditionen scheint die Tendenz zu überwiegen, normativen Gesichtspunkten einer Interpretation der „Kirche im Sozialismus“ einen Vorrang gegenüber empirisch überprüfbaren Entwicklungstendenzen einzuräumen. Der Gefahr einer empirischen Fehldiagnose über die relativ eigenständige Rolle der evangelischen Kirchen als gesellschaftlicher Kraft in der DDR könnte auf einem Weg begegnet werden. Es scheint mir sinnvoll, zu untersuchen, wie in Zukunft die politische Bedeutung der sich verstärkenden Umweltproblematik in dem Interessenausgleich zwischen Kirchen und Staat aufgenommen wird. Näheren Aufschluß über den Stellenwert des gesellschaftskorporatistischen Arrangements zwischen Staat und Kirchen in der DDR könnte durch vergleichende Analysen über die Rolle von Staat und Kirchen in der DDR und Polen erreicht werden. )