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Jugend in der DDR: Zwischen Resignation und Aussteigertum | APuZ 27/1986 | bpb.de

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APuZ 27/1986 Jugend in der DDR: Zwischen Resignation und Aussteigertum Der Jugendverband FDJ und die gesellschaftliche Erziehung in der DDR Politisches System und Interessenpolitik im „real existierenden“ Sozialismus. Zum Verhältnis von Staat und evangelischen Kirchen in der DDR

Jugend in der DDR: Zwischen Resignation und Aussteigertum

Antonia Grunenberg

/ 43 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Jugend wird in Parteiideologie und Parteipolitik als Objekt der Erziehung im Stadium des Nochnicht-Erwachsenseins aufgefaßt. Ihre soziale Funktion ist die einer Organisations-und Mobilisierungsreserve. Ihre Eingliederung in das Arbeitsleben und die Verinnerlichung der sozialistischen Weltanschauung sind die beiden Hauptziele sozialistischer Erziehung. Die SED erweckt dabei den Eindruck, als sei die Einpassung der Jugendlichen in Gesellschaft und Staat kein ernstliches Problem. Wie sehr ihre Verlautbarungen noch immer von Wunschdenken geprägt sind, wird aus den Untersuchungen und Daten der Jugendforschung deutlich. Daraus geht hervor, daß Jugendliche generell keineswegs die „Hoffnungsträger“ der Partei sind, sondern daß sie sich frühzeitig auf ein Leben einstellen, das einerseits von notwendiger Arbeit, andererseits von Sicherheits-und Konsumdenken geprägt ist. Die Bereitschaft zum politischen Engagement ist hingegen als relativ gering anzusehen. Dabei ist die Privatisierungstendenz bei Mädchen noch ausgeprägter als bei Jungen. Die Familienerziehung trägt dazu bei, daß sich die traditionelle Geschlechterrollenverteilung frühzeitig festsetzt. In der Belletristik läßt sich eine beginnende Problematisierung der Jugendfrage feststellen, aber von einer Wahrnehmung der Jugendlichen als eigenständiger sozialer Gruppe ist man auch hier noch weit entfernt. Bis auf wenige Ausnahmen dringt die belletristische Gestaltung jugendlichen Lebens und Erlebens nicht darüber hinaus, Verständnis für die Anpassungsschwierigkeiten zu fordern, aber die fraglose Einpassung der Jugendlichen in die Erwachsenenwelt zu bejahen. Wie unvollständig das Bild der Partei und auch der Jugendforschung von der Jugend ist, wird vor dem Hintergrund der neuen städtischen Jugendkultur deutlich, die sich in den letzten Jahren weitgehend unabhängig von den Einflüssen der Partei und des Staates bzw. ihrer Organisationen entwickelt hat. Sie ist zentriert um die Pop-Kultur, deren Produktion und Konsum ein gemeinsames Selbstverständnis unter Jugendlichen bewirkt. — Auch die Jugendarbeit der evangelischen Kirchen trägt zum Selbstverständnis dieser neuen Kultur bei. Dabei erweist sich, daß Jugendliche nicht nur Konsumenten sind, sondern über die Umwelt-, Friedens-und Fortschrittsdiskussion an einem gesellschaftlichen Umdenkungsprozeß teilhaben, der zwar minoritär ist, dessen langfristige Auswirkungen aber nicht unterschätzt werden sollten. Die offiziellen Strategien zur politischen Integration und Erziehung von Jugendlichen haben diese Entwicklungen und Erscheinungen noch gar nicht wahrgenommen und setzen weiterhin auf traditionelle Sozialisationsmuster.

„Um ihren Platz in der sozialistischen Gesellschaft voll auszufüllen, um stets auf der richtigen Seite der Barrikade zu kämpfen, braucht die Jugend die wissenschaftliche Weltanschauung der Arbeiterklasse. Wie Lenin treffend bemerkt, ist das aus Schriften geschöpfte Wissen über den Kommunismus ohne Arbeit, ohne Kampf keinen Pfifferling wert. Unsere Partei hält sich an den Grundsatz, daß sich die Jugend nur dann erfolgreich entwickeln kann, wenn man ihr Vertrauen entgegenbringt und ihr Verantwortung überträgt. Welche Aufgabe in unserer Gesellschaft auch immer zu lösen ist — stets bringen wir sie auch in Verbindung mit dem Leben, Lernen und Arbeiten der jungen Generation. Deshalb setze ich mich ständig dafür ein, daß die Jugend ihren Tatendrang entfalten kann und sich die Partei auf die große gesellschaftliche Kraft des sozialistischen Jugendverbandes stützt.“

Dieser Abschnitt aus den politischen Lebenserinnerungen des Parteivorsitzenden Erich Honecker enthält in nuce die Grundlagen der Jugendpolitik der SED: Die Jugend der DDR soll heute wie damals die sozialistische Weltanschauung verinnerlichen — und sie soll gut und fleißig arbeiten. Nimmt man die Worte Erich Honeckers für bare Münze, so ist es um die Jugend nicht schlecht bestellt; Partei und Staat haben die Jugendpolitik und deren erfolgreiche Ergebnisse fest im Griff. Liest man zwischen den Zeilen, so wird deutlich, daß hier das Grundproblem der Jugendpolitik der SED klar angesprochen ist: die Schwierigkeit, die sozialistische Weltanschauung erfolgreich zu vermitteln und diese Vermittlung in den Arbeitsalltag der Jugendlichen umzusetzen. Die Partei scheint sich der Jugend bei näherem Hinsehen keineswegs so sicher zu sein, wie es auf den ersten Blick aussieht. Nicht umsonst wird immer wieder, gerade von führenden Persönlichkeiten, darauf hingewiesen, wie notwendig die Bindung der Jugend an Partei und Staat sei

Die Jugend von heute wurde Ende der sechziger/Anfang der siebziger Jahre geboren. Sie ist aufgewachsen in einer Zeit, in der Partei und Staat etliches für die Verbesserung der Lebensverhältnisse der Bevölkerung getan haben (Sozialpolitik, Wohnungsbau, Konsumgüterproduktion). Doch im Gegensatz zu ihren Müttern und Vätern, die die Aufbauzeit entweder mittrugen oder doch eine direkte Bindung zu ihr hatten, wächst die Jugend der achtziger Jahre in einer Gesellschaft auf, in der die ökonomische und soziale Dynamik sich verändert hat und keine den fünfziger und sechziger Jahren vergleichbare soziale Mobilität mehr besteht. Die Erfahrungen, die diese Jugendlichen mit ihrer Gesellschaft und ihrem Staat machen, basieren auf den heutigen Verhältnissen, in denen der Lebensweg jedes einzelnen von der Wiege bis zur Bahre von vorgegebenen Verhaltensmustern, statistischen Daten und politischen Organisationen geprägt ist, in denen trotz gegenteiliger Appelle Eigeninitiative immer wieder im bürokratischen Apparat versiegt. Es herrscht keine Not mehr, sondern ein Maß an sozialer Sicherheit und bescheidenem Wohlstand, um das mancher arbeitslose westliche Jugendliche inzwischen seinen Kumpel im Osten beneiden mag.

Die politische Geschichte der DDR, mit der sich einstmals nicht wenige Jugendliche identifizierten, ist für die Jugendlichen von heute zum abfragbaren Lernstoff geworden, der vom Kinderhort über die „Jungen Pioniere“ bis hin zu Schule und Betrieb vermittelt wird. Da Partei und Staat aus dieser Geschichte nach wie vor einen großen Teil ihrer Legitimation beziehen, zielt ihre Erziehungsstrategie darauf ab, diese Geschichte zu vermitteln und sie als Gegenwart erscheinen zu lassen. Nur ein Staat, der politisch, historisch und moralisch legitimiert ist, kann seine Jugendlichen erfolgreich für den Arbeitsprozeß mobilisieren. Diese Problemlage ist in den Institutionen von Partei und Staat in wachsendem Maße bewußt; das geht aus den Klagen führender Funktionäre über das mangelnde Geschichtsbewußtsein der Jugend von heute her-3 vor Mitunter wird auch davon gesprochen, man müsse der Jugend endlich wieder einen „historischen Optimismus“ vermitteln — eine Forderung, die angesichts der weltpolitischen Entwicklung und ihrer Rückwirkung auf die DDR sicher noch lange Zeit ein frommer Wunsch bleiben wird.

Schaut man sich an, welches Personalprofil sich Partei und Jugendorganisation von einem „gelungenen“ Jugendlichen machen, so fällt auf, wie wenig jugendspezifisch hier argumentiert wird. Das politische Profil eines „guten FDJlers“ ruht, wie oben schon aus der Äußerung von Erich Honekker hervorging, auf den gleichen Säulen wie das Profil eines erwachsenen Parteimitglieds.

Den bewußten FDJler soll auszeichnen:

1. Treue zum Sozialismus 2. Patriotisches und internationalistisches Handeln

3. Hohes fachliches Wissen und Können 4. Verteidigungsbereitschaft 5. Disziplin 6. Verantwortungsbewußtsein 7. Schöpfertum

An diesen Idealeigenschaften eines jugendlichen Sozialisten ist bemerkenswert, daß hier weltanschauli Schöpfertum 5).

An diesen Idealeigenschaften eines jugendlichen Sozialisten ist bemerkenswert, daß hier weltanschauliche und arbeitsideologische Eigenschaften in enger Verbindung zueinander stehen. Die Eigenschaften 1, 2 und 4 beziehen sich ganz eindeutig auf weltanschauliche Inhalte; die Eigenschaften 3, 6 und 7 sind arbeitsorientiert, wobei die Eigenschaften 6 und 7 auch für andere Inhalte zutreffen können. Die Eigenschaften 5 und 6 sind sowohl dem Arbeitsleben als auch der Weltanschauung zuzuordnen. Insgesamt gesehen scheint es hier um die Herstellung einer Lebensgrundhaltung, der „sozialistischen Lebensweise“ und ihrer bewußtseinsmäßigen Verankerung zu gehen, die die notwendige Voraussetzung für den Erwerb und die Anwendung der vorgeschriebenen Weltanschauung und Arbeitsethik sind.

Alle Sozialisationsinstanzen, von der Familie angefangen, über den Kinderhort, die Schule, die zuständigen politischen Organisationen bis hin zum Militär als „Schule der Nation“, sind darin eingebunden, diese oben beschriebenen Eigenschaften dem Jugendlichen nahezubringen, ihn darin einzuüben.

Daß das Militär eine tragende Säule der Gesinnungsbildung ist, darin sind sich sowohl die Partei-und die Staatsführung als auch deren Kritiker einig. Immer wieder wird die pädagogische Bedeutung des Militärs hervorgehoben. Die praktische Einübung (vor) militärischer Disziplin und militärischen Wehrbewußtseins beginnt nicht erst mit dem Eintritt des 18jährigen Jugendlichen in die Nationale Volksarmee. Schon in den Kinderbüchern werden Eingewöhnung in militärische Zusammenhänge, Traditionen, Gebräuche und Feindbilder gepflegt. Den Kindern sollen früh schon die beiden Grundinhalte sozialistischer Wehrerziehung vermittelt werden: Liebe zum Vaterland — Haß auf den Feind 6). Im Hort, im Kindergarten und in den ersten Klassen der Polytechnischen Oberschule überwiegen dabei die emotionalen Inhalte der Vermittlung; der Lehrer/Betreuer soll Identifikationsmechanismen vermitteln. Identifikation schaffen ebenso die Märchen und Histörchen, die wahren und erfundenen Geschichten, die den Kindern im Hort und im Kindergarten über die nationalsozialistische Vergangenheit und die Bedrohung der Heimat durch die Raketen des Gegners erzählt werden, wie die Sportveranstaltungen und technischen Wettbewerbe, die im Rahmen vormilitärischer Ausbildung für die Kinder größeren Alters veranstaltet werden 7).

In den höheren Klassen wird die rationale Seite der Überzeugungsvermittlung stärker in den Vordergrund gestellt

Die paramilitärische „Gesellschaft für Sport und Technik“, der von der Partei ebenfalls eine direkte persönlichkeitsbildende Funktion für die Jugendlichen zugesprochen wird, übernimmt dabei die Aufgaben einer speziellen Grundausbildung, die dem Wehrdienst vorgelagert ist

Die Ableistung der allgemeinen Wehrpflicht wird von der Partei nicht nur in ihrer Bedeutung als Erfüllung einer allgemeinen Grundpflicht des männlichen Bürgers gesehen, sie soll auch der Einübung in die oben angesprochene grundlegende Lebens-und Arbeitsdisziplin dienen

Man sieht also: Der Jugendliche soll von frühen Kindesbeinen an — und dies auf allen Ebenen der erzieherischen Einwirkung — darin eingeübt werden, sowohl loyaler Staatsbürger als auch leistungswilliger Arbeitsbürger zu sein. Er soll zunächst emotional, später auch rational die beiden Grundtugenden sozialistischer Lebensführung verinnerlichen, um sie dann — im Arbeitsleben — selbst praktizieren zu können.

Ganz sicher verweist das Ineinanderverwobensein von allgemeinen Lebens-und Arbeitstugenden mit der staatsbürgerlichen Gesinnung darauf, daß Weltanschauung im Gegensatz zu früheren Zeiten stärker für den Arbeitsprozeß und das „normale“ Leben funktionalisiert werden soll. Ob damit de facto auch eine Depolitisierung der Gesellschaft verbunden ist, wäre in diesem Zusammenhang sicher eine interessante Frage. Zu untersuchen wäre dabei, ob diese Depolitisierung das beabsichtigte Resultat eines Prozesses ist, innerhalb dessen die SED zu der Einsicht gekommen ist, daß soziale Mechanismen und Hebel (wie etwa die Sozialpolitik) ein stärkerer Integrationsmechanismus sind als politische Parolen.

Daß Fragen wie diese auch in die Jugendproblematik hineinspielen, ja daß die Frage, wie weltanschauliche Erziehung bei Jugendlichen heute überhaupt noch greifen kann, einen wichtigen Bereich der Diskussion über Jugend bestimmt, wird aus der Rolle und den Forschungsfeldern der Jugendforschung in der DDR deutlich.

I. Jugendforschung zwischen Affirmation und Selbstzweifeln

Erst Mitte der sechziger Jahre, d. h. fast zwanzig Jahre nach Konstituierung der SBZ/DDR, wird die Jugend von der Sozialforschung der DDR als eigenständiges soziales Problemfeld anerkannt. Offensichtlich mußte die politische Führung erst ein Problembewußtsein entwickeln, ehe an eine wissenschaftliche Erforschung der jugendlichen Bedürfniswelt und des jugendlichen Verhaltens gegangen werden konnte. Bis dahin wurden strukturelle Unterschiede zwischen Erwachsenen und Jugendlichen nicht ernstlich wahrgenommen bzw. anerkannt.

Die Versachlichung und Verwissenschaftlichung der Diskussion um die Jugend findet in den Grenzen statt, die durch die politischen Kontrollinstanzen gegeben sind. Das Zentralinstitut für Jugendforschung, das 1966 in Leipzig gegründet wurde (Leitung: Prof. Dr. W. Friedrich) und seither das wichtigste Institut der Jugendforschung ist, untersteht der Kontrolle von Partei, Staat und FDJ und ist dem Amt für Jugendfragen beim Ministerrat der DDR unterstellt. Deren Weisungen betreffen sowohl die Forschungsprogramme wie die Veröffentlichung erhobener Daten, die Auswahl von Mitarbeitern sowie die langfristige Planung. Umgekehrt ist auch davon auszugehen, daß eine Beeinflussung nicht nur im Sinne der politischen Kontrolle, sondern auch im Sinne der Aufnahme und Umsetzung von Forschungsergebnissen durch Partei und Jugendorganisationen erfolgt. Seit der Gründung des Jugendforschungsinstituts sind inzwischen zwanzig Jahre vergangen. Die sozialen Probleme der Jugend drängen nach einer Erweiterung des Forschungsfelds und der Untersuchungspraktiken, ohne daß dies in den Forschungsprogrammen selbst zu erkennen wäre. Die gegenwärtigen thematischen Schwerpunkte der Jugendforschung liegen auf den Gebieten — politische und moralische Einstellungen und Verhaltensweisen, — Gruppenverhalten (formelle und informelle Gruppen), — Leistungsverhalten in Schule, Studium und Beruf, — Freizeitverhalten, — Leitungsfragen in Jugendpolitik und Jugendgruppen, — Massenkommunikation und Massenmedien.

Daß sich in diesem Forschungsprogramm auch die Kernfragen der gegenwärtigen jugendlichen Szenerie (politische Apathie, abweichendes Verhalten, Kriminalität, „neue Jugendbewegung“ etc.) verbergen, wird noch kaum deutlich. In Maßen ist jedoch davon auszugehen, daß sich die Forscher damit beschäftigen, wenngleich gewiß nicht alles veröffentlicht wird Offensichtlich aber ist, daß noch keine neuen Integrationsstrategien für die Jugend gefunden worden sind. Vor allem die Existenz der mittlerweile bis ins öffentliche Bewußtsein gedrungenen Randgruppenproblematik ist noch längst nicht in die Forschung integriert.

Gleichwohl widersprechen die Ergebnisse der Jugendforschung der Strategie der Partei, die noch immer von der lückenlosen Durchplanung des jugendlichen Entwicklungsweges und der problem-freien Anpassung an die gegebenen Verhältnisse ausgeht. Vorsichtig, aber dennoch klar werden die grundsätzlichen Hindernisse benannt, die das erfolgreiche Greifen politischer Erziehungsideale — vor allem in weltanschaulicher Hinsicht — verhindern. Chancen und Grenzen dieses Problembewußtseins innerhalb der Jugendforschung sollen an zwei Beispielen erläutert werden:

Das erste Problem betrifft die Differenz zwischen der Kenntniserweiterung des Schülers in Sachen sozialistischer Weltanschauung und seinem tatsächlichen Verhalten im Alltag. So heben Friedrich und Müller in ihrer Untersuchung „Soziale Psychologie älterer Schüler“ von 1983 warnend hervor: „Kenntniserweiterung bedeutet nicht zugleich auch fester gefügte Wertorientierungen. Ein solcher intellektueller Reduktionismus wäre gefährlich. Im Jugendalter entwickelt sich auch die Fähigkeit, geistige Reflexionen von tatsächlichem Verhalten zu lösen. Es gibt genügend Beispiele, daß gute Kenntnisse nicht immer übereinstimmen mit den erforderlichen Bekenntnissen.“ Anders ausgedrückt: Die Herausbildung der sozialistischen Weltanschauung verläuft nicht parallel zur Akkumulation politischen Wissens. Gute Schüler — im Sinne des Staatsbürgerkundeunterrichts — müssen nicht unbedingt ideologisch gefestigt sein, d. h. es mangelt ihnen mitunter an Weltanschauung. Hier wird ein Problem angesprochen, das inzwischen weithin wahrgenommen und auch in der Belletristik seinen Niederschlag findet (Erik Neutschs „Zwei leere Stühle“, 1980). Die Partei und die anderen Erziehungsinstanzen können den Prozeß der Umsetzung von Wissensvermittlung in emotionale Verinnerlichung nicht kontrollieren geschweige denn erzwingen. Es herrscht, das geht vielfach aus der Literatur und aus den Gesprächen mit Bürgern der DDR hervor, eine Tendenz zur „Veräußerlichung“ und „Abspaltung“ des politischen Wissenskanons vor. Politisches Wissen wird von Jugendlichen gelernt, ist abfragbar, benotbar, kann aber — ebenso wie anderes Wissen — beiseitegelegt werden, d. h. ist funktionalisierbar und manipulierbar. Kuhrt spricht in diesem Zusammenhang von einer „Flucht in den Ritualismus“

Hinter dem Eingeständnis der Jugendforschung, daß es objektive Grenzen der ideologischen Steuerung gibt, steckt einmal die Erkenntnis, daß die von der Partei schon immer angestrebte, in den letzten Jahren aber als doppelt notwendig empfundene emotionale Fixierung im Kind und im Jugendlichen nicht derart wirksam wird, wie es wünschenswert erscheint. Es scheint im Gegenteil eher so zu sein, daß mit zunehmendem Alter eine vorrangig rationale Verarbeitung der weltanschaulichen Inhalte erfolgt (die ja auf fachlichem Gebiet durchaus gefördert wird), die die vorhandenen Widersprüche als solche registriert und mit einer rationalen und emotionalen Distanzierung beantwortet.

Ein Paradebeispiel für diesen Vorgang liefert der biographische Bericht eines Studenten, der 1978 in die Bundesrepublik übersiedelte: „Allein die Primitivität der Propaganda, die einem mit zunehmendem Alter immer fragwürdiger erscheint, ihre Eindringlichkeit und Penetranz, erschöpfen sehr schnell die Aufnahmefähigkeit und vor allem den Aufnahmewillen des Jugendlichen. So kommt es, daß der Staatsbürgerkundeunterricht bald zum Horrorfach wird, das einem nur die Zeit stiehlt und tödlich nervt. — Dieser Anti-Effekt wurde bei mir noch verstärkt, als ich allmählich , erwachteund meine Umwelt genauer wahrnahm. Ich hörte aufmerksamer den Gesprächen meiner Eltern zu, die sich keineswegs mit dem deckten, was der Lehrer in der Schule erzählte. Meine Mutter beklagte nicht endenwollende Versorgungsschwierigkeiten, mein Vater schimpfte auf die Innenpolitik. Dazu kam noch das Fernsehen, das buchstäblich jeden Tag den enormen Qualitätsunterschied in Information und Unterhaltung demonstrierte. So wurde ich, wie fast alle Kinder in diesem Land, zur DDR-spezifischen Schizophrenie erzogen, nämlich in der Schule so zu tun als ob und das zu sagen, was der Lehrer hören wollte, und zu Hause, unter Freunden die eigene wirkliche Meinung zu sagen ... In der DDR heißt das die Acht-Stunden-Ideologie. Dieser Begriff macht deutlich, daß sich die Persönlichkeitsspaltung von der Schule bis ins Berufsleben fortsetzt; es sei denn, der jeweils Betroffene durchbricht gewaltsam diese Spirale ... Selbst für uns als Kinder war es eine ausgemachte Sache, daß wir vor fremden Personen nicht erzählten, was wir gestern im Westfernsehen gesehen hatten und wie wir über viele Dinge im Staat dachten. Wir sind so hineingewachsen in das Klima der Denunziation und der Vorsicht vor den Mitmenschen, insbesondere vor den Lehrern, daß auch ich an dieser untragbaren Situation nichts Ungewöhnliches fand. Es war halt eben so und ließ sich nicht ändern.“

Mathias Bothe war der Sohn von nonkonform denkenden (wenngleich nicht handelnden) Eltern. Bei ihm ist der Prozeß der Persönlichkeitsspaltung bzw.der Abspaltung des Staatsbürgers vom Privatmenschen durch sein Elternhaus geprägt. Der umgekehrte Fall funktioniert aber auch. Vielfach wird inzwischen berichtet (so in Ulrich Plenzdorfs „Die neuen Leiden des jungen W.“, 1973; in Thomas Braschs „Vor den Vätern sterben die Söhne“, 1977; in Volker Brauns „Unvollendete Geschichte“, 1975), daß die Veräußerlichung politischer Inhalte und die Ritualisierung politischer Handlungen Prozesse sind, die auch in Elternhäusern mit engagierten Sozialisten/Funktionären stattfinden können Der Bruch hat augenscheinlich mehr zu tun mit der Intensität der eigenen Erfahrungen als Jugendlicher und mit dem Eltern-Kind-Konflikt als mit der Existenz oder Nichtexistenz einer geschlossenen Weltanschauung bei den Eltern.

Eine andere Art von Vermittlungsproblem wird von der Jugendforschung in der Mehrdeutigkeit der Begrifflichkeiten erblickt, in denen Weltanschauung vermittelt wird: „Wie Analysen ergeben, verführt die umgangssprachliche und emotionale Vertrautheit vieler Begriffe wie Sozialismus, Kommunismus, Demokratie, Freiheit zu einer oberflächlichen Verarbeitung. Viele Schüler haben eine nur ungenaue Begriffsvorstellung und glauben, damit auszukommen. Auf diese Weise können Definitionselemente bürgerlicher Ideologien Verwirrung stiften und eine eindeutige Bewertung im Sinne des Marxismus-Leninismus erschweren.“

Hier wird ein Dilemma angesprochen, mit dem die Lehrer und die anderen ideologischen Wissensvermittler in Zukunft noch mehr zu tun haben werden. Von Kindheit an werden die Jugendlichen mit den oben genannten Begriffen vertraut gemacht, ja es wird auf die emotionale Besetztheit der Begriffe geachtet; dadurch geraten Begriffe, die ursprünglich wissenschaftlich-analytische Qualitäten hatten — dies durchaus beabsichtigt — in den Alltagsbereich und werden inflationiert, d. h. ihre Aussagefähigkeit verringert sich zunehmend. Es kommt hinzu, daß durch die hohe Beeinflussung der Jugendlichen seitens der westlichen Medien die Begriffe des wissenschaftlichen Sozialismus wiederum in einem anderen Licht erscheinen. Für die Jugendlichen ist es eine alltägliche Erfahrung, mit z. T.den gleichen Begriffen aus unterschiedlichen weltanschaulichen Richtungen konfrontiert zu werden (z. B. Demokratie, Freiheit, Individuum). Daß diese Inflationierung der Begrifflichkeiten auch zu einer emotionalen und rationalen Distanzierung führen kann, verwundert dann nicht mehr. Diese Problematik wird im übrigen von neueren westlichen Untersuchungen über die Verschiebung von Begrifflichkeiten in der politischen Sprache bestätigt

Aus diesem Dilemma gibt es für die Pädagogen und Politiker der DDR kaum einen Ausweg. Re-konstruieren sie die wissenschaftlich-analytische Qualität der Begriffe, so können daraus unter Umständen kritische Potenzen entstehen, die in Konflikt mit der Staatsmacht geraten. Im Bereich der intellektuellen Diskussion wäre dies nicht das erste Mal (vgl.den „Fall Bahro“). Wird darauf beharrt, die ideologischen Begrifflichkeiten in den Alltag der Jugendlichen zu integrieren — und das ist die gegenwärtig vorherrschende Tendenz —, so werden sie zwar populärer, aber auch sinnentleerter, bloße Glaubensartikel. Ein solches System festgelegter sprachlicher Kodifikation dient dazu, die Kommunikation zu kontrollieren; es kann aber auch dazu führen, daß sich unterhalb der kodifizierten Sprachregelung informelle, gruppenspezifische Formen der sprachlichen und habituellen Verständigung entwikkeln. Es wird zu zeigen sein, daß dieser Prozeß bei einem Teil der Jugendlichen in vollem Gange ist.

II. Die Bedeutung der Familie für die Bewußtseinsbildung von Jugendlichen

Wie groß die Schwierigkeiten sind, jugendliche Bewußtseinsbildung in eindeutigem Sinne zu steuern, geht, das hat die Jugendforschung inzwischen mehrfach bestätigt, aus der traditionellen und immer wieder neu bestätigten Rolle der Familie hervor. Die Familie ist nachweislich der größte Einflußfaktor im Leben der Jugendlichen. In der Studie „Jugend konkret“ wird dies ausdrücklich bestätigt, sei es, indem die „strategische Fernwirkung“ der Familie auf die Persönlichkeitsherausbildung hervorgehoben wird, sei es, indem auf die direkte Übernahme elterlicher Wertsysteme und Verhaltensmuster durch die Jugendlichen verwiesen oder auf die geringen Einflußmöglichkeiten parteilicher und staatlicher Erziehungsinstitutionen auf jene Jugendlichen hingewiesen wird, die schon im Kindesalter stabile Wertorientierungen im Elternhaus vermittelt bekamen

Dies bedeutet, daß den ideologischen Erziehungsbemühungen von Partei und Staat Grenzen gesetzt sind. Zwar wachsen die heutigen Jugendlichen in Familien auf, in denen Mutter und Vater selbst durch die von Partei und Staat dominierten Sozialisationsinstanzen gegangen sind. Aber die Zeiten, in denen die Partei (und augenscheinlich auch die damals in den Kinderschuhen steckende Jugendforschung) behaupten konnte, die Domi-nanz der Partei über die Familie sei gewährleistet, sind vorbei Nicht länger mehr gilt, was Rudolf Maerker in seiner Untersuchung über die Jugend der DDR am Ende der sechziger Jahre feststellen wollte, als er schrieb, die (damaligen) Elternhäuser in der DDR verhielten sich „angepaßt“; die häuslichen Bindungen der Kinder ließen — vor allem wegen der Berufstätigkeit der Mütter — nach; es gäbe kein Generationsproblem mehr, und schließlich ziehe die Anpassung der Eltern an Partei und Staat eine weitgehende Nivellierung der Jugend nach sich

Richtig ist hingegen, daß die häuslichen Bindungen nicht nachgelassen haben, und daß die Partei dies bei ihren Erwägungen zur Jugenderziehung in Rechnung stellen muß. Der Familienverband besitzt nach wie vor — trotz der sicher vorhandenen Anpassungsleistung — eine relative Selbständigkeit im Gesellschaftsgefüge, mit der Partei und Staat zu rechnen haben

So wird in der Studie „Die Freizeit der Jugend“ eingestanden: „Durch die Erziehung in der Familie werden bestimmte Verhaltensweisen von Generation zu Generation reproduziert. In viel stärkerem Maße als im Arbeitsprozeß wirken im Frei-zeitbereich (und in den gehört die Familie ja — A. G.) Traditionen, Gewohnheiten, Bräuche und andere Erscheinungen der gesellschaftlichen und nationalen (sic!) Psyche. Willkürliche Eingriffe in diese Späre des gesellschaftlichen Lebens durch unüberlegte Versuche, die Lebensweise zu „vervollkommnen", können problematische und schwer vorhersehbare Folgen haben.“

Weil sie erkannt hat, daß die Persönlichkeit des Kindes durch die Familie geprägt wird, strebt die Partei eine Arbeitsteilung zwischen den öffentlich-politischen Erziehungsinstitutionen und der Familie an. Dabei wird der Familie mit der Vermittlung sozialer Grundwerte (eben der oben erwähnten Lebensdisziplin) eine weitaus größere Bedeutung beigemessen, als noch in den sechziger Jahren In ihr sollen die Grundlagen für die Anpassungsbereitschaft des Kindes geschaffen werden, an der dann Schule, Partei und Betrieb anknüpfen.

Die wichtigsten Wertorientierungen, die sich die Partei von der Familienerziehung wünscht, sind Arbeitsdisziplin und politisches Wertebewußtsein. Dabei bezieht sich Arbeitsdisziplin nicht nur auf die später im Erwachsenen-und Berufsleben geforderte Leistungsbereitschaft; sie beginnt schon bei der Haus-bzw. bei den Schularbeiten. In einem von Otmar Kabat vel Job verfaßten Eltern-ratgeber wird die richtige Erziehung zur Mitarbeit im Haushalt ebenso hoch bewertet wie die Förderung der dauerhaften Bereitschaft zum Lernen, der Vorstufe der „erwachsenen“ Arbeitsdisziplin Angestrebtes Ziel dieser Erziehung ist, daß die Kinder/Jugendlichen erkennen sollen, daß individuelles und gesellschaftliches Interesse zusammenfallen, bzw. daß ihr individuelles Interesse im Konfliktfall hinter dem gesellschaftlichen Interesse zurückzustehen hat

Einem Grundverhalten, das in den Familien auch der DDR gepflegt wird, dürften Partei und Staat zumindest zwiespältig gegenüberstehen: Trotz des in der Verfassung (Art. 20 Abs. 2) und im Familiengesetzbuch verankerten Gleichheitsgebots und trotz der von Frauen verlangten gleichen ökonomischen Leistungsbereitschaft, wird in den Familien nach wie vor geschlechtsspezifisch erzogen. Mädchen lernen, weibliche Fähigkeiten auszubilden, bei Jungen wird das technische Interesse gepflegt. Und wie das tradiert wird von einer Generation zur anderen, das erzählt in Kabat vel Jobs Untersuchung ein Mädchen, daß über die Verteilung der Erziehungsfunktionen in der Familie spricht: „Meine Mutter ist mir in ihrem Verhalten anderen Menschen gegenüber ein Vorbild, da sie zu allen Familienmitgliedern stets freundlich ist. Selbst wenn sie Ärger gehabt hat, versucht sie, uns gegenüber ruhig und ausgeglichen zu sein. Ich habe großes Vertrauen zu ihr. Sie nimmt sich viel Zeit für mich, über alles kann ich mit ihr reden. Mein Vater ist mir in seinem Arbeitsfleiß ein Vorbild. Auch versucht er, sich stets so viel Zeit wie nur möglich für uns zu nehmen, unterstützt mich bei den Hausaufgaben und gibt mir wertvolle Hilfen. Nach den Nachrichten erklärt er mir die Hintergründe weltpolitischer Ereignisse. Ich möchte so werden wie meine Eltern.“

Hinter dieser Schilderung der elterlichen Arbeitsteilung steht das alte Modell der geschlechtsspezifischen Tradierung von Verhaltensmustern. Die Mutter: stets freundlich, ruhig, ausgeglichen; die Tochter kann alles mit ihr besprechen. Der Vater sorgt für die strategischen Orientierungen; er erklärt den Weltzusammenhang anhand der Nachrichten in den Medien, er unterstützt und kontrolliert das Kind bei den Hausaufgaben. Diese Rollenaufteilung setzt sich von der Mutter auf die Tochter und vom Vater auf den Sohn fort. Daß dies wirklich so ist und nicht etwa nur ein Einzelfall, geht vielfach aus den Ergebnissen der Jugend-und auch der Familienforschung hervor, ob es nun Untersuchungen zur Arbeitsmotivation, zum politischen Interesse oder zu den Lebensziel-vorstellungen betrifft Daraus erhellt, wie schwer die rollenspezifischen Klischees, die jahrhundertelang gewachsen sind und auch von der gesellschaftlichen Moral des Sozialismus gestützt werden, zu verändern sind.

Diese Beurteilung wird durch Daten über die Freizeitgewohnheiten von Jugendlichen bestätigt. So besteht eine erhebliche Differenz sowohl im Freizeitumfang als auch in den Freizeitinhalten. Weibliche Jugendliche, ob nun in Schule, Lehre oder Betrieb, haben durchschnittlich 20% weniger Freizeit als männliche Jugendliche; darüber hin-aus ist ihre freie Zeit in höherem Maße von Hausarbeit (also typisch „weiblicher“ Tätigkeit) geprägt

Weibliche Schüler lesen mit fortschreitendem Alter immer weniger technische Literatur und immer mehr Literatur über Liebe und Ehe; dies in einem Alter, in dem die endgültige Festlegung auf die gesellschaftliche Rolle erfolgt Gleiches ist über die Fernsehgewohnheiten zu berichten: Unterhaltungssendungen werden mehr von Mädchen gesehen, Sportsendungen und Kriminalfilme mehr von Jungen

Auch ihre Zukunft stellen sich Mädchen anders als Jungen vor. So stand bei 14-bis 16jährigen Mädchen 1978 an zweiter Stelle nach dem beruflichen Erfolg (72 Prozent) das persönliche Glück und der Kinderwunsch (57 Prozent und 42 Prozent), an dritter Stelle Wohnung (40 Prozent) und Geld (28 Prozent), während bei Jungen im gleichen Alter die Rangordnung gleich ist, aber insgesamt bei weniger Prozent liegt. Bei ihnen schlagen die Wünsche nach dem Erwerb von technischen Geräten, dem Besitz von Geld und dem Erleben von Abenteuern mehr zu Buche Schaut man sich vergleichbare Untersuchungen aus den sechziger Jahren an, so ist interessant, daß im Vergleich zu damals das Fortkommen im Beruf für Mädchen heute eine größere Bedeutung einnimmt. So berichtet Maerker in seinem 1969 erschienenen Buch „Jugend im anderen Teil Deutschlands“ von einer Befragung, nach der 14-bis 16jährige Mädchen das Fortkommen im Beruf mit nur 13 Prozent favorisierten, während Liebe, Familie und Ehe mit 20 Prozent, der Erwerb einer Wohnung mit 14 Prozent angegeben wurden Aber es handelt sich hier um „Lebenswünsche“, nicht um tatsächliche Rangplätze im Leben der Mädchen. Tatsächlich ist die Bindung der jungen Frauen an ihren Beruf heute geringer als die der jungen Männer. Weiterbildung spieit für sie eine geringere Rolle als für ihre männlichen Kollegen, und — da eine positive Korrelation zwischen Weiterbildung und politischem Interesse unterstellt wird — auch ihr politisches Interesse ist geringer Dies ist freilich keine neue Erscheinung, sondern wurde schon Ende der sechziger Jahre in der Intervallstudie „Junge Arbeiter“ festgestellt

Die geschlechtsspezifische Erziehung in den Familien reproduziert sich nicht nur in der Tradierung der Geschlechterrollen, sondern sie scheint auch einen spezifischen Konservatismus zu produzieren, der sich im gesellschaftlichen Verhalten der Kinder fortsetzt. Dabei wird Konservatismus hier zunächst verstanden als mentale und handlungsgerichtete Haltung des Bewahrens und der Kontinuität, die auf die Fortsetzung bestehender Strukturen abhebt. Indizien dafür lassen sich im Freizeitverhalten und in den Lebenswünschen von Jugendlichen finden.

III. Freizeit und Konsum als Kompensationsmöglichkeiten

Das Freizeitverhalten von Jugendlichen ist stark von Konsumwünschen und Konsumdenken geprägt. Fernsehen steht an erster Stelle der nationalen Freizeitgewohnheiten, dies auch bei jugendlichen Schülern, Lehrlingen und Arbeitern (zwi-sehen 8, 9 Stunden bei Schülern und 6, 3 Stunden bei jungen Arbeitern durchschnittlich pro Woche); ebenfalls einen hohen Anteil an der Freizeit nimmt der Konsum von Musik ein (zwischen 3, 7 Stunden bei Schülern und 3, 5 Stunden bei Lehrlingen; junge Arbeiter dagegen hören mit 1, 8 Stunden pro Woche deutlich weniger Musik). Dabei sind diese Angaben mit Vorbehalt zu betrachten, da sie sicher zu niedrig angesetzt sind; ihnen wurde wahrscheinlich nur der Stundenaufwand an rein mit Musik verbrachter Zeit zugrunde gelegt. Da Musikhören aber eine Tätigkeit ist, die oft neben einer anderen Tätigkeit gepflegt wird, dürfte hier ein höherer Zeitaufwand angesetzt werden. — Und schließlich die Pflege von Freundeskontakten; auch sie nimmt einen hohen Zeit-B anteil ein (zwischen 5, 1 Stunden bei jungen Arbeitern und 6, 5 Stunden bei Schülern)

Die konsumorientierte und vor allem private — d. h. nicht von Partei und Staat organisierte — Gestaltung der Freizeit durch Jugendliche macht denn auch der Partei und den Jugendforschern Sorge, und dies zu Recht: Zwar tangiert der private Charakter der Freizeit in keiner Weise die Staatsinteressen; im Gegenteil: er kann auch die Bereitschaft zum „Arrangement“ fördern. Und Vermutungen wie die von Queißer, daß der Konsum von Westmedien plus einem Zuviel an Freizeit ursächlich zur Jugendkriminalität beitrügen, werden weder allgemein geäußert, noch haben sie viel Plausibilität für sich Aber eine frei verbrachte Freizeit, die dem Konsum der internationalen Popkultur und dem Kontakt mit Freunden dient, führt nicht unbedingt zur Anhebung der ökonomischen Leistungsbereitschaft. Auf die aber wird es — und dies ist nicht nur eine Floskel in den besorgten Reden von Parteifunktionären — in Zukunft vermehrt ankommen. Der Anteil der Freizeit am Leben der Menschen wird künftig in der DDR zunehmen: Die gegenwärtig forciert betriebene Technologisierungswelle wird nicht nur Arbeitskräfte frei-und umsetzen, sondern auch — langfristig — die Arbeitszeit verringern, d. h. die Freizeit vermehren. In diesen Genuß werden schon diejenigen Jugendlichen kommen, die heute am Ende ihrer Schulzeit stehen. Es ist daher nur zu verständlich, daß sich Partei und Staat samt den Freizeitsoziologen und den Jugendforschern darüber Gedanken machen, wie sie auf diese Freizeit Einfluß nehmen können.

Einerseits wachsen die Anforderungen der Jugendlichen an die Freizeitangebote, andererseits wollen Partei und Staat die Kontrolle über die Freizeitkultur behalten. Einerseits müssen Partei und Staat die Ventilfunktion, die beispielsweise die 5 000— 6 000 Diskos im Land haben, akzeptieren, auch wenn die damit verbundenen Alkohol-und Gewaltprobleme nicht geringer werden, andererseits müssen sie verhindern, daß die gegenwärtig vorherrschende Tendenz bei den Jugendlichen, sich im Arbeitsleben auf minimalster Ebene zu arrangieren, um in der Freizeit ihre Persönlichkeit auszuleben, außer Kontrolle gerät. Die Zeiten dafür sind nicht günstig: Der Verlust an gesellschaftlicher Perspektive, die Reduzierung der Zukunft auf das Schlagwort der „sozialen Sicherheit“, wie es Otto Reinhold, Philosophieprofessor und ZK-Mitglied anläßlich des XI. Parteitags der SED unlängst im West-Fernsehen ausführte, werden den Jugendlichen keine Alternative bieten können.

Dieser Prozeß, der im Ergebnis zur Entpolitisierung bzw. zur Abspaltung des politischen vom persönlichen Leben führt, ist in vollem Gange. Ablesbar ist dies unter anderem an der Bedürfnis-struktur und den Lebensvorstellungen von Jugendlichen. Die Jugendforscher Friedrich und Gerth schreiben: „Die Jugend von heute hat eine in vielem anders geartete Erwartungs-und Strebensstruktur als junge Leute vor 20 bis 30 Jahren. Vieles, was damals Strebensideal war, ist heute schon selbstverständlich. Heute haben die 13-bis 16jährigen mehr allgemeine Lebensideale. Ihre Wünsche sind weniger auf konkrete Dinge (Gegenstände für Spiel, Sport, Kleidung, einzelne Geräte) gerichtet, dafür im sächlichen Bereich mehr auf finanzielle Liquidität, Lebenskomfort und langfristige Anschaffungen. Es spielen heute soziale Orientierungen (Partner, Ehe, eigene Kinder) viel zeitiger eine größere Rolle... Weitere Orientierungen, die früher in den Wunschangaben dominierten (Schulerfolg, Gesundheit, auch Kleidungsstücke, Spielsachen), treten heute in den Nennungen der Jugendlichen zurück, da sie zu den Selbstverständlichkeiten der Lebensweise, zu gewohnten Errungenschaften gehören. Andererseits werden jetzt auch Wünsche betont (Wohnung, Fahrzeug, Geld), an deren Realisierung früher nicht zu denken war.“

In diesen Überlegungen wird der Eindruck erweckt, als sei die Jugend anspruchsvoller geworden. Dies ist sicher richtig. Entscheidend ist aber: Es geht klar aus den Untersuchungen hervor, daß die Privatisierung des Lebens und die Fixierung auf Konsumziele im Bewußtsein der Jugendlichen zugenommen haben. Diese Orientierungen kollidieren eindeutig mit den tradierten Politikformen und den aus ihnen hervorgehenden Mobilisierungs-und Leistungsanforderungen an Jugendliche Die Forscher warnen davor, bei den Jugendlichen Vorstellungen vom „bequemen Le-ben“ zu unterstützen Hier täte ideologische Schulung not, so wird argumentiert, damit die Konsumwünsche in den „richtigen Rahmen“ gelenkt werden könnten und die Bereitschaft zu mehr Leistung im Arbeitsleben und zu mehr Engagement im gesellschaftlich-politischen Leben zunehme

Die Jugendforscher befürchten also — konkret gesprochen — Desintegrationserscheinungen bei den Jugendlichen: Rückzug, Verweigerung, gar Resistenz. Aber außer der Forderung nach mehr parteilicher und staatlicher Einflußnahme fällt ihnen dazu gegenwärtig nichts ein.

Die Sorgen, die sich Partei, Staat, Jugendforschung und andere Erwachsene um die Jugendlichen machen, werden auch in der Jugendliteratur aufgegriffen. Dabei entsteht ein spezifisches — wenngleich mitunter künstlerisch verfremdetes— (Wunsch-) Bild von Jugendlichen, vom dem im folgenden die Rede sein soll.

IV. Jugendliteratur: Zwischen erhobenem Zeigefinger und Schulterklopfen

Jugendliteratur in der DDR, das heißt Literatur von Erwachsenen über Jugendliche und für Jugendliche. Von Seiten der Partei ist relativ klar, was Jugendliteratur zu leisten hat: Ihre Autoren sollen die Erziehungsbemühungen der Partei um die Jugend verstärken helfen. Jugendliteratur soll die von der Partei vermittelten allgemeinen Erziehungsziele aufnehmen und erzählerisch gestalten. Dies sind vor allem: — die Einübung loyalen, d. h. sozialistischen Bewußtseins und — die Gewöhnung an gesellschaftliche Arbeitsdisziplin und Leistungsbereitschaft.

Es soll hier nicht die Rede sein von der von den Jugendlichen bevorzugt gelesenen sogenannten „Heftreihenliteratur“, also den Kriminal-, Abenteuer-und Science-fiction-Heften, die die Jugendlichen ab 10 Jahren verschlingen Hier soll hingegen gehandelt werden über jene ästhetisch und literarisch höhergestellte schöngeistige Jugendliteratur, die in Buchform erscheint und — wenn gleich sicher weniger — auch von Jugendlichen gelesen wird.

Als ernsthaftes Genre in der Literatur ist das Jugendbuch 1972 ins Bewußtsein gedrungen, als Ulrich Plenzdorf „Die neuen Leiden des jungen W.“ geschrieben hatte. Dieser Tagebuchroman im Montagestil enthielt den exponiertesten Ausdruck dessen, was Jugendliche damals bewegte und was ein Erwachsener davon aufnehmen konnte. Dieses Stück Literatur ist — nachdem sein Erscheinen zunächst behindert und verzögert wurde — seinerzeit in der DDR, aber auch in der Bundesrepublik lebhaft wahrgenommen und vielfach rezensiert worden. Das Buch, das ja dann auch erfolgreich als Theaterstück in der DDR aufgeführt wurde, wirbt um Verständnis für die Nöte und individuellen Freiheitswünsche von Jugendlichen, ohne daß ihm ein penetrant pädagogischer Ton anhaftet. Plenzdorf gestaltet die Geschichte eines Jugendlichen, der von zu Hause wegläuft, weil ihm der vorgezeichnete Lebensweg als Sackgasse erscheint. Er zieht aus der Provinz in eine Laubenkolonie am Rande Berlins und lebt dort als „langhaariger Nichtstuer“, bis er Arbeit in einer Malerbrigade findet. In dem Bemühen, dieser Brigade durch Erfindung einer Spritzpistole die Arbeit zu erleichtern, kommt er ums Leben.

Der Ausbruch des Helden aus dem Alltag, sein Tod am Schluß und der in dem Roman verwendete Jugendlichen-Jargon entfachten in der DDR viele Debatten Hier wurde zum ersten Mal literarisch formuliert, daß sich die Welt der Erwachsenen meilenweit von der der Jugendlichen ent-fernt hatte und umgekehrt die Welt der Jugendlichen von der der Erwachsenen. Jugend wird hier in der Gestalt eines empfindsamen, sich seiner Gefühle keineswegs sicheren, hochintelligenten jungen Mannes als eigenständige, wenngleich keineswegs gradlinige Lebensphase geschildert. Besonderen Ausdruck findet dies in der Sprache, die voll von Amerikanismen, Kürzeln, Übertreibungen ist, kurz: das ganze Gegenteil der zweckrationalen und schmucklosen Erwachsenensprache. Es ist die (internationale) Sprache einer in-group, die mit der Erwachsenenwelt nur noch die räumliche, aber nicht mehr die seelische Nähe verbindet. Wie nahe Plenzdorf an der sprachlichen Kommunikation der DDR-Jugend war, beweisen auch neuere Untersuchungen Wer wollte, konnte in dem Roman auch die generelle Schwierigkeit gestaltet sehen, in der DDR der Gegenwart seine Individualität sinnvoll zu entwickeln und zu leben.

Plenzdorfs 1972 erschienenes Buch war und ist der einsame Höhepunkt einer Jugendliteratur, die ihrer Annäherung an die jugendliche Kultur und Lebensweise noch immer hinterherhinkt.

Die Jugendliteratur schwankt insgesamt gesehen zwischen bevormundender Darstellung jugendlicher Devianz und schulterklopfender Schilderung jugendlicher Eingliederungsschwierigkeiten ins Arbeitsleben. So gab es einige Schriftstellerkollegen, die Plenzdorf mit ihren eigenen Arbeiten „korrigieren“ wollten und es nicht schafften, ihn nachzuahmen: Wolfgang Johos moralinsaures Epos „Der Sohn“ (1974) handelt von einem Oberschichtkind, das, um die Aufmerksamkeit des vielbeschäftigten Vaters auf sich zu lenken, das Wochenendhaus der Eltern anzündet. Hier wurde Schuld verteilt. In erster Linie wurde sie bei den „moralisch verwahrlosten“ Eltern gefunden. Der Sohn wurde den staatlichen Institutionen zur Umerziehung in die Hände gegeben. Joho ging es nicht darum, die Normen zu hinterfragen, sondern den Erziehungsanspruch des Staates vor dem der Familie herauszustreichen. Die jugendlichen Lebensprobleme standen deshalb für ihn im Hintergrund. Jugend erscheint bei ihm auf die Funktion eines Erziehungsobjekts reduziert. Auch Rolf Schneiders „Reise nach Jaroslaw“ (ebenfalls 1974) war nur ein schwacher Abklatsch dessen, was Plenzdorf aufgerissen hatte. Seine Heldin kehrt nach einem Ausbruchsversuch anpassungswillig in dieselben Lebensverhältnisse zurück, derentwegen sie rebellierend aus dem Elternhaus ausgezogen war.

Was in der sogenannten „Erwachsenenliteratur“ als selbstverständliches Lebensproblem seit Jahrzehnten artikuliert wird: die Differenz zwischen den Generationen, so vor allem der Konflikt zwischen der Generation der „Erbauer“ und der der „Genießer“, wird in der Jugendliteratur oftmals noch negiert. Wenn man bei Thomas Brasch („Vor den Vätern sterben die Söhne“, 1977 im Westen erschienen) oder bei Monika Maron („Flugasche“, 1981 im Westen erschienen), aber auch vorsichtig bei Christa Wolf oder Günter de Bruyn und Klaus Schlesinger die Frustration und die Kritik der Jungen an den Alten spürt, dann ist dies — und es wird auch so wahrgenommen — eine Kritik an den gesellschaftlichen Verhältnissen und zugleich ein Indiz dafür, daß die junge Generation sich selbst behaupten will, ihren eigenen, immer schwieriger werdenden Weg gehen will. In Monika Marons Roman „Flugasche“ heißt es in einer Unterhaltung zwischen der noch jugendlichen Reporterin Josefa Nadler und ihrer um einige Jahre älteren Chefin Luise:

Luise: „Ich habe den Faschismus erlebt. Euer Grunderlebnis ist ein anderes, ich weiß. Ihr könnt die Vorteile des Sozialismus nicht an der Vergangenheit messen, die habt ihr nicht erlebt.“

Josefa: „Willst du ernstlich, daß wir unsere Vorzüge im Vergleich mit dem Faschismus beweisen? Als ihr angefangen habt 45, da hattet ihr doch ganz andere Ansprüche, oder? Als du plötzlich, antifaschistisch und sozialdemokratisch, für die Kommunisten Zeitung machen wolltest, haben sie dich nicht mit offenen Armen empfangen? Sie konnten dich gebrauchen so wie du warst. Ich weiß das alles: Ihr hattet wenig zu essen, ihr habt bis nachts gearbeitet und am Sonntag habt ihr auch noch Steine geklopft. Und warum bekommt ihr trotzdem alle leuchtende Augen, wenn ihr von dieser Zeit erzählt? Warum nicht, wenn ihr von 55 sprecht oder von 65? Weil irgendwann die Jahre begannen, einander zu gleichen, von einer Wahl zur anderen, von einem Parteitag zum nächsten Parteitag, Wettbewerbe, Jahrestage, Kampagnen.“

Gewiß ist der Generationskonflikt zwischen der Generation derer, die, wie Monika Maron, in der Nachkriegszeit aufgewachsen sind, und denen, die in den sechziger und siebziger Jahren geboren sind, noch einmal verschärft worden. Und ebenso gewiß nimmt er heute in den seltensten Fällen politische Formen an. Im Gegenteil: Der normale Konflikt ist eher so gelagert, wie ihn Dieter Eue an seinem Helden Ketzer in seinem dokumentarischen Roman „Ketzers Jugend“ beschreibt: Die Jugendlichen empfinden die Anpassungsanforderungen, die von Schule, Partei und Betrieb, aber auch von der Familie an sie gestellt werden, als Verlust jugendspezifischer Lebens-und Ausdrucksmöglichkeiten. Dies kommt in Ketzers Anrede an seine Freundin B. zum Ausdruck: „Was soll denn nun kommen, B.? Was denn? Was sollen wir tun gegen die Schwere und gegen die Trauer erst? Diese grenzenlose Trauer. Die kommen wird mit den Jahren 26, 27, 28, 29, 30. Dreißig Jahre, B.! Wie leben ohne Jugend? ... Wie nicht bitter werden an diesem Zählen? Wie sich schützen davor? Wo wir doch allein sind, allein bleiben. Womit sollen wir uns noch täuschen? Womit noch verführen? Wir sind durch alles durch. Nicht einmal die Arbeit schützt mehr.“

Doch von dieser Trauer und Resignation, die beispielsweise auch in den Dokumentarfilmen von Junge und Leupold „Leben in Wittstock“ und „Lebensläufe“ förmlich zu fühlen ist — von dieser Trauer und Resignation ist im Gros der gehobenen Jugendliteratur wenig zu spüren. Drei Beispiele sollen das erhellen:

Beispiel 1: Weltanschauung contra Leistung An Erik Neutschs Erzählung „Zwei leere Stühle“ (1980) wird deutlich, daß ein Großteil der Literatur für Jugendliche erzieherischen Charakter hat, aber nicht jugendlichen Lesebedürfnissen oder gar literarischen Qualitätsmaßstäben entspricht.

Erzählt wird ein Stück aus der Biographie zweier ehemaliger Schüler, deren Stühle beim Klassentreffen nach Jahren frei bleiben. Ihre Charaktereigenschaften lagen in der Schulzeit (scheinbar) klar zutage, verkehrten sich jedoch nach Schulabschluß: Der Musterschüler wird zum „Verräter“ am Sozialismus und flieht gen Westen — der Widerspenstige hingegen gibt sein Leben im Dienst am Vaterland (Armee). Neutsch diskutiert daran Sinn und Unsinn der schulischen Erziehung.

In Unterhaltungen und Reflexionen der ehemaligen Lehrer und der Parteifunktionäre wird kritisiert, daß die schulische Erziehung zu sehr am Prinzip der Leistungssteigerung ausgerichtet sei und zu wenig Wert auf die menschliche, vor allem aber weltanschauliche Erziehung lege. Der Kern-satz der Selbstkritik des Direktors der Schule lautet: „Wir erziehen die Schüler mehr zu Spezialisten als zu Sozialisten.“ Doch die Kritik daran, daß der Staat seine Schüler zu Menschen erzieht, die an Karriere, Geld und individuelles Glück denken, wird nur als Menetekel an die Wand gemalt. In Wirklichkeit müssen, so die „Botschaft“ Neutschs, Partei, Staat und Eltern nur ihre Verantwortlichkeit mehr wahrnehmen, dann könne diese Gefahr abgewendet werden. Ein Jugend-buch ist Neutschs Erzählung nicht, sondern nur ein Buch über Jugendliche. Es eignet sich gewiß mehr als Schulungsheft für FDJ-und Parteifunktionäre. Beispiel 2: Resozialisierung als Anpassung an die Arbeitswelt Heinz Kruschels Roman eines jungen, straffällig gewordenen Mädchens („Gesucht wird die freundliche Welt“, 1976) interessiert insofern, als bei ihm die Grenzen des Problems weiter gespannt werden als in der Erzählung von Erik Neutsch.

Sabine Wulf verbrachte zwei Jahre im Jugendwerkhof, weil sie gestohlen hatte und weder Schule, noch Eltern mit ihr fertig wurden. Die Haupthandlung beginnt mit dem ersten Tag, den Sabine in Freiheit erlebt.

Das Mädchen bekommt einen Arbeitsplatz in einer Schuhfabrik zugewiesen und wird dort freundlich aufgenommen. In Konfliktsituationen allerdings wird von den Kolleginnen immer auf Sabines Werkhof-Vergangenheit zurückgegriffen. Sie wird als erste festgenommen, als in der Schuh-fabrik ein Brand ausbricht.

Der vorurteilsbehafteten Umwelt wird Sabines Anstrengung gegenübergestellt, zu sich selbst zu finden. Sabine wird als sehr gutwillig dargestellt. An keinem Punkt werden von ihr die gesellschaftlichen Normen angezweifelt. Ihre Arbeit verrichtet sie gerne und leistet freiwillig Überstunden; sie ist selbstlos und hilfsbereit. Als Mitverursacher am Straffälligwerden der Jugendlichen werden vor allem die Eltern benannt. Sie haben versagt. Der nur auf Karriere und Ansehen bedachte autoritäre Vater Sabines verabreichte seiner aufmüpfigen Tochter Prügel und provozierte damit den Bruch. Auch die Schule hatte ihre Erziehungsaufgabe nicht wahrgenommen. Die „gesellschaftliche Lehre“, die der Roman zu vermitteln sucht, ist zwiespältig. Auf der einen Seite wird dem Problem mit Offenheit begegnet. Niemand wird geschont, die Eltern nicht, die Schule nicht, die Partei nicht. Alle tragen Mitschuld. Darin wird die Forderung nach einer gesellschaftlichen Fürsorge deutlich, deren Institutionen straffällig gewordene Jugendliche nicht mehr bloß ausgrenzen, sondern schon im Vorfeld der Kriminalität nach Lösungen suchen sollen. Um diese Botschaft in die gesellschaftlichen Verhältnisse einzupassen, werden diese klischeehaft verschönt, so in der Darstellung der Volkspolizei, die (etwa gegenüber den Eltern) als positive Erziehungsinstanz par excellence hingestellt wird. Von den Jugendlichen selbst wird (darin der Darstellung der Jugendlichen in Jan Koplowitz’ „Sumpfhühner“ [1977] ähnlich) nicht Büßfertigkeit gefordert, sondern sofortige Anpassung an die Arbeitswelt. So ist Sabine freiwillig bereit, anstrengende Akkordarbeit zu übernehmen, und am Schluß des Romans steht fest, daß sie ihre Facharbeiterprüfung machen wird. Qualifizierung ist also auch Instrument und Ausdruck erfolgreicher Resozialisierung.

Auf der anderen Seite ist das hier dargestellte Resozialisierungsmuster nur auf den ersten Blick fortschrittlich. Es beruht auf einseitiger Anpassung des Jugendlichen an die Arbeits-und Lebenswelt der Erwachsenen. Alles, was sich nicht in dieses Muster einfügt, wird ausgegrenzt, so z. B. die Freizeit-und Bedürfniswelt der Jugendlichen. Jugendliche Musikkultur wird in Gestalt des Freundes Jimmy als asozial eingestuft. Ein guter Freund dagegen ist zugleich auch politisch bewußt. Mit dem FDJ-Sekretär geht Sabine eine regelrechte Erwachsenenbeziehung ein, deren Perspektive in Heirat, Kinderkriegen und Wohnungseinrichten besteht. Von jugend-gemäßer Wiedereingliederung in die Gesellschaft, d. h. auch von Anerkennung derjugendlichen Kultur und Bedürfniswelt, ist nicht die Rede.

Beispiel 3: Rock’n Roll-Jugend an der Grenze zur Kriminalität „Gleisverwerfung“ von Jürgen Höpfner spielt zu Ende der fünfziger Jahre in Berlin, zu einer Zeit, in der der kleine Grenzverkehr für die im Osten wohnenden Einwohner — auch und gerade für die Jugendlichen — eine große Rolle spielte, und endet mit dem Bau der Mauer im August 1961, die Flucht-und Ausweichungsmöglichkeiten nach Westen hin abschnitt.

Erzählt wird das alltägliche Leben des Schülers Volker Brahm. Der Autor verwendet eine Montagemethode, die in den nicht eigentlich Handlung zu nennenden Lebenslauf Ebenen der intellektuellen und emotionalen Verarbeitung der Wirklichkeit durch die Jugendlichen einbaut. So werden Zusammenhänge und Sachverhalte oft nicht in der „normalen Sprache“ ausgedrückt, sondern erscheinen in Form von Schlagertexten der fünfziger Jahre, von Werbesprüchen aus Ost-und Westradio, von Rock’n Roll-Texten, von Traumphantasien, Arbeiterliedern und politischen Losungen. Auf diese Weise sollen Realität und Phantasie, die in der jugendlichen Erlebniswelt einander durchdringen, adäquat wiedergegeben werden.

Eine Handlung mit Anfang und Ende gibt es nicht, statt dessen Episoden, die das jugendliche Leben und die Instanzen, die es lenken und beeinflussen, erleuchten. Die Lehrer werden durchweg als wenig verständnisvoll gegenüber den Schülern geschildert. Ihre Erziehungsmethoden beruhen vor allem auf dem Prinzip des Strafens. Dumme Streiche der Jungen werden wie Delikte von Berufsverbrechern geahndet. In den Jugendlichen keimt durch dieses autoritäre Gebaren der Lehrer eine Anti-Haltung gegen die Schule auf. Ihre Streiche werden boshafter und schlimmer, bis sie Ernstliches anrichten und die Polizei sich einschalten muß In der Schule werden die Jugendlichen nicht zu selbständigen Menschen erzogen, sondern zu Opportunisten Seine Identität bildet der Jugendliche gegen die Erzieher, nicht mit ihnen heraus. An deren schlechtem Beispiel schärfen sich sein Gerechtigkeitssinn und seine Moralität.

Die Eltern werden ebenfalls als unfähig geschildert, die Jugendlichen zu begreifen, sie zu lenken und zu fördern. Sie sind Opfer ihres kleinbürgerli-chen Milieus, ängstlich bedacht, alles, was nicht in die Norm paßt, abzuwehren. Die Mütter sind schwach und hilflos, die Väter entweder autoritär oder zu nachgiebig. Sie unterdrücken die Kinder, statt deren Fähigkeiten zu fördern, sie lassen dort freien Lauf, wo gelenkt werden müßte. Vorbilder sind sie ihren Kindern nicht, höchstens Objekte von Furcht, Haß und Mitleid.

Der Generationskonflikt wird in dem Roman zur Voraussetzung jugendlichen Lebens erklärt. Nach einer Episode, in der Volkers Vater ihm gewaltsam die Haare auf Kommißschnitt zu bringen versucht, räsonniert der Autor: „Die Nachbarin hatte nicht recht. Es klaffte kein Riß zwischen dem Ort (Lankenhagen) und der Siedlung (der Volkspolizei). Nicht mal zwischen Ost und West, Fortschrittlichen und Reaktionären und was immer man da für Gruppierungen gegenübersetzen mochte. Das waren alles harmlose Sprünge in einer Glasur, verglichen mit dem augenfälligen, alltäglichen Riß, der quer durch die Familien ging. Der tiefen, schmerzhaften Kluft zwischen Eltern und ihren heranwachsenden Kindern.“

Die einzigen Erwachsenen, die verständnisvoll gegenüber den Jugendlichen auftreten, sind Außenseiter, ein Zeichenlehrer, der später die Schule verlassen muß, ein anderer, der immer am Rande steht. Ihre Rolle aber ist eher die einer quantite negligeable.

In diesem Milieu leben, denken, fühlen die Jugendlichen. Volker und seine Freunde bilden eine richtige Gang. Bis zum Bau der Mauer fahren sie regelmäßig nach West-Berlin, konsumieren die Westkultur, kleiden sich wie die Westjugendlichen, hören die gleiche Musik. Ihre ganze Liebe ist die Rockmusik. Sie gründen einen geheimen Rockklub, der schließlich von der Polizei aufgelöst wird, weil er als kriminelles Zentrum gilt. Überhaupt macht der Autor seinen Lesern deutlich, daß sich diese jugendlichen Lebensläufe auf einer Gratwanderung zwischen „ormalem" Leben und dem Abrutschen in die Kriminalität bewegen.

Das Bild von der Jugend, das der Autor in seinem Roman vermittelt, unterscheidet sich von dem in anderen Jugendbüchern. Hier wird eine stark gefährdete soziale Gruppe angesprochen, die Verständnis und Fürsorge benötigt, aber immer wieder gegen die Mauern erwachsenen Unverständnisses anrennt. Der Roman spielt in den fünfziger Jahren, aber es ist unschwer zu erkennen, daß hinter dem historischen Rahmen Strukturen und Probleme jugendlichen Lebens heute freigelegt werden sollen.

V. Das Dilemma der Jugendliteratur

Vergegenwärtigt man sich die Gestaltung der jugendlichen Lebenswelt in Romanen und Erzählungen der DDR-Literatur, so ist das Dilemma offensichtlich. Die Autoren sollen und wollen aufmerksam machen, sehen sich jedoch verpflichtet, die Jugendkriminalität oder das jugendliche Aussteigertum als prinzipiell vermeidbar und durch „vermehrte Anstrengungen“ von Eltern, Schule und Parteiorganisation von Kindesbeinen an (Junge Pioniere, FDJ, GST u. a.) reparabel hinzustellen. Aus der Kanalisierung des Problems auf die Dimension von jugendlichem „Fehlverhalten“ oder von „Ausrutschern“ resultiert aber auch die Ohnmacht dieser Literatur und ihrer Schöpfer: Sie bleiben an der Oberfläche kleben. Es wird nicht erklärt, warum die Eltern nicht imstande sind, den Kindern die Werte des Sozialismus so zu* vermitteln, daß sich diese entsprechend verhalten. Es bleibt letztlich offen, warum Lehrer und Erzieher diese Bindung der Jugendlichen an das System nicht leisten können. Ursachen werden hier wie in anderen gesellschaftlichen Bereichen individualisiert. Der „Schuldige“ wird benannt, und damit ist das Problem ausgelotet.

Daß der in der sogenannten Erwachsenenliteratur längst überwundene „sozialistische Realismus“ in diser Sparte der Literatur noch so unangefochten regiert, ist sicherlich auf die politische Brisanz des Themas, vielleicht aber auch auf die literarische und ästhetische Unterbewertung dieses Genres zurückzuführen.

Wie weit diese Darstellungen jugendlicher Realität manchmal von dieser entfernt sind, geht auch aus der Existenz und den Äußerungsformen der städtischen Jugendkultur hervor, die sich in den letzten Jahren erheblich erweitert hat.

VI. Aussteigerjugend im VEB-Nachwuchs

„Wir sind zwischen zwanzig und dreißig, sind viele und denken scharf. Wir haben keine Fragen.“ Uwe Kolbe 53)

Diese Worte bezeichnen die Situation und das Bewußtsein des — kleinen — Teils der Jugendlichen, der mit Wörtern wie „Aussteiger“, „RockJugend“, „Neue Jugendbewegung“ nur unzureichend beschrieben ist. Es handelt sich um Jugendliche, die aus dem allgemein anerkannten „Lebensarrangement“, das die Bevölkerung mit der politischen Führung eingegangen ist, ausgebrochen sind. Zutreffend haben Büscher und Wensierski sie in ihrem ansonsten oberflächlichen Buch „Null Bock auf DDR. Aussteigerjugend im anderen Deutschland“ als „Notgemeinschaft von Einzelgängern“ bezeichnet Denn es ist keine Bewegung, wie wir sie hierzulande vorfinden, die sich in Demonstrationen, Kneipenkulturen und Organisationsformen ausdrückt, sondern es sind kleine Kreise von Freunden und Bekannten, die sich auf Musikfesten, in Privatwohnungen und Hinterhöfen treffen. Die Szenerie hat sich in den letzten zehn bis fünfzehn Jahren ausgeweitet, aber sie bleibt nach wie vor auf die größeren Städte beschränkt. Hier lassen sich eher Wohnungen für Wohngemeinschaften finden; hier kann man in Lebensstil und Kleidung am ehesten aus Traditionsformen und Zwängen ausbrechen.

Wollte man das Bewußtsein dieser Jugendlichen beschreiben, so müßte man sicher damit anfangen, daß nur ein kleiner Teil von ihnen wirklich mit der Gesellschaft „gebrochen“ hat und wirklich „Null Bock auf DDR“ hat, wie der reißerische Titel von Büscher/Wensierski suggerieren will. Ein weitaus größerer Teil setzt sich sehr wohl mit der Gesellschaft auseinander, sei es, indem nach einem anderen Lebensstil gesucht wird, sei es, indem das Selbstverständnis der Gesellschaft bezweifelt wird. „Wir haben keine Fragen“ heißt, daß aus den Enttäuschungen heraus, die diese Jugendlichen unter dem Anpassungszwang an die Normen der Erwachsenenwelt erleiden, eigene Antworten gesucht werden.

Deutlichen Ausdruck findet dieser jugendliche Ausbruch aus der Anpassung in der Verweigerung des Militärdienstes. Hier haben die evangelischen Kirchen in der DDR am meisten — und nicht immer religiös motivierten — Zulauf von Seiten der Jugendlichen. Und wie vielfach beschrieben, hat sich die Frage der Wehrdienstverweigerung inzwischen ausgeweitet zu einer allgemeinen In-fragestellung des politischen Selbstverständnisses der Gesellschaft. Aus der Ablehnung des Wehrdienstes und der harten Reaktion der politischen Führung ist inzwischen ein Umdenkungsprozeß entstanden, der alle zentralen Fragen gesellschaftlichen Selbstverständnisses umfaßt:

— Die Kritik an der Umweltzerstörung und der geltenden Kulturwerte wie Wachstum, Industrialisierung, Technisierung, Automatisierung;

— die Kritik am Lebensstil und dem Konsum-denken

— die Kritik an der geltenden Arbeitsideologie, nach der nur der ein nützlicher Mensch ist, der durch seine Arbeit zum Wachstum des Bruttosozialprodukts beiträgt

— schließlich die implizit und explizit geäußerte Kritik an den mangelnden Teilhabechancen im politischen Leben.

Alle diese Kritikpunkte treffen Schwachstellen des offiziellen Selbstverständnisses. Sie sind ein Ausdruck dafür, daß aus der Identitätskrise der Jugend inzwischen eine latente Legitimationskrise der Partei und des Staates geworden ist. Denn hier wird am Kernbestand der Werte gerüttelt, die die Familie und die parteilichen und staatlichen Institutionen den Kindern und Jugendlichen von Kindesbeinen an einimpfen: Arbeit — und weltanschauliche Standfestigkeit. In diesen kleinen Diskussionszirkeln, in diesen Lebenszusammenhängen wird mehr an den Festen von Partei und Staat gerüttelt, als in großen politischen Diskussionen — oder gar in den wenigen politischen Manifesten, die uns aus der DDR erreichen und die in ihrer trockenen Politsprache ein negativer Abklatsch der Parteipolitik sind

Die evangelischen Kirchen tragen, indem sie diese Diskussion in einer eher behutsamen Weise führen, einerseits zum Umdenkungsprozeß innerhalb der Gesellschaft bei, andererseits setzen sie an bestehenden Unsicherheiten innerhalb der Jugend an und gehen auf Fragen ein, die im Bereich des staatlich-politischen Lebens noch überhaupt nicht gestellt, geschweige denn beantwortet werden. Gegenüber dieser artikulierten Minderheit, die eine wirkliche Wertediskussion in Gang setzt und — mit Einschränkung — für einen Teil der Jugend zur Alternative für die Parteipolitik werden könnte, nimmt sich der Rest der Jugend angepaßt und passiv aus. Aber auch hier gibt es Ausfallerscheinungen.

Ihren zahlenmäßig stärksten Ausdruck findet die Jugendkultur in der Rockmusik. Diese ist seit je geprägt von den im Westen vorherrschenden Moden und Trends; gleichwohl hat sich seit Mitte der sechziger Jahre auch eine beachtliche Entwicklung der DDR-eigenen Rockmusik eingestellt Sowohl in den Texten wie im musikalischen Arrangement findet sich ein Lebensgefühl der Jugendlichen wieder, das mit den Worten „Resignation, stille Wut, Lethargie“ umschrieben werden kann Die drei Begriffe beschreiben das durchaus jugendspezifische Aufbegehren (und dies nicht nur in der DDR) gegen die Verhältnisse, denen man sich anpassen soll, in denen man sich aber nicht wiederfindet.

Musikgenuß und Diskokultur an der ca. 84 Prozent der Jugendlichen teilnehmen ist von daher ein wirksames Ventil für aufgestaute Aggressionen Ärger in Beruf und Familie kann hier abreagiert, Kummer mit Alkohol betäubt werden. Die Jugendlichen sind hier wie nirgends sonst in Gruppen zusammen, entwickeln ein Gruppengefühl und demonstrieren ihre Lebensweise und ihre Träume. Das haben inzwischen auch Pädagogen und Kulturfunktionäre erkannt: Die Diskokultur hat schließlich auch von daher ihre offizielle Legitimation erhalten, daß sie eine Ergänzung zum Sport ist. In beiden Bereichen können sich die Jugendlichen austoben und abreagieren, auch Potentiale ausleben, die sonst in den Kriminalitätsbereich fallen

Disko-und Freizeitkultur, gemeinsames Wohnen von Jugendlichen, Kleidungsmoden, Sprache sind zunächst nicht mehr als normale Erscheinungsformen einer Jugend, die sich noch nicht vollends in die Verhältnisse eingepaßt hat. Und so sehr sich das Pädagogen und politische Führung wünschen mögen, die bruchlose Einpassung der Jugend ins Erwachsenenleben ist zwar erklärte Zielvorstellung der Erwachsenen, aber auch in sozialistischen Ländern nicht Realität. Darüber hinaus zeichnet sich ab, daß Musikkultur und die Herausbildung städtischer Szenen Erscheinungen sind, an die Partei und Staat sich gewöhnen müssen. Ein bestimmter Prozentsatz an jugendlichen Dröp-outs bleibt dieser Gesellschaft erhalten, da im Zuge der Modernisierung und Technologisierung der Integrationsgrad der Gesellschaft abgenommen hat. Dieser Prozeß, der in den sechziger Jahren beginnt und sich in den siebziger Jahren fortsetzt, wird auch durch die Depolitisierung der Gesellschaftspolitik befördert. Mehr und mehr scheint die Entwicklung dahinzugehen, große politische Zielsetzungen, ideologische Auseinandersetzungen und vor allem Disziplinierungen der Bevölkerung aufzugeben. Die große Klammer, auf die Partei und Staat augenscheinlich immer mehr setzen, heißt „Soziale Sicherheit“, dies bestätigten unlängst auch die Beschlüsse des XL Parteitags.

Der Drop-out-Anteil, zu dem ich nicht nur jene ganz dem Arbeitsleben Entzogenen rechnen würde (da in der DDR Nicht-Arbeiten unter Kriminalitätsdrohung steht, arbeiten auch diejenigen, die sich unter anderen Verhältnissen der ungeliebten Arbeit eher entziehen würden), wird wahrscheinlich in den nächsten Jahren noch zunehmen. Nur bei einer Minderheit nimmt er politische Formen an (was nichts über die Qualität der Minderheit aussagt), ansonsten verbleibt er im vorpolitischen Feld der Resignation und des Rückzugs ins Private.

Diese Beobachtungen über jugendliches Verhalten widersprechen keineswegs den berichteten Ergebnissen der Jugendforschung, sie drücken den Sachverhalt nur klarer aus.

Angesichts dieser Lage läßt sich vorstellen, welche Umsetzungsprobleme beispielsweise Pädagogen in der Schule mit der weltanschaulichen Erziehung der Schüler haben. Die Diskussion darum reißt seit den sechziger Jahren nicht ab, aber globale Lösungen sind weder den Forschern noch den Politikern bisher eingefallen. So setzt die Jugendforschung vor allem auf folgende Instrumente, Mechanismen und psychologische Beeinflussungsmethoden : — Die weitgehend emotionale Verankerung der Weltanschauung bei den Kindern solle auch bei den Jugendlichen ausgenutzt werden, um sie dann intellektuell zu festigen — Weltanschauung solle im Gruppenzusammenhang „geübt“ werden, dabei solle der in Freundeskreisen, aber auch in der FDJ bestehende Gruppendruck und die Vorbildwirkung von „leaders“ ausgenutzt werden — Schüler sollen ermutigt und provoziert werden, sich weltanschaulich zu äußern

Bei jungen Arbeitern wird hingegen vor allem darauf gesetzt, daß es einen positiven Zusammenhang zwischen Qualifikation und politischem Bewußtsein gibt D. h. besser ausgebildete und qualifizierte Arbeiter sind politisch interessierter. Darüber hinaus wird auf die positive (oder negative) Wirkung der Familien auf das politische Bewußtsein hingewiesen Während früher vor allem auf die positive Wirkung von Vorbildern bei der politischen Weiterbildung der jungen Arbeiter gesetzt wurde erscheinen in der neueren Forschung das Arbeitskollektiv und die Brigade als Hauptmedien der politischen Weiterbildung

Alle diese Maßnahmen, Aktionsvorschläge und pädagogischen Überlegungen bleiben hinter der aktuell feststellbaren Lage zurück: Der Prozeß der Veräußerlichung, Ritualisierung, wenn nicht gar der vollständigen Abweisung politischer Ideologie nimmt mit zunehmendem Alter — mit oder ohne positiven Familieneinfluß — zu. Eine Durchpolitisierung der Gesellschaft ist heute nicht mehr vorstellbar: nicht bei den Erwachsenen, nicht bei den Jugendlichen.

Nach wie vor greifen aber Mechanismen der Arbeitserziehung. Disziplin, Ordnung, Leistungsbereitschaft sind wirkungsvollere Mittel der Bewußtseinsbeeinflussung der Jugendlichen, zumal wenn sie mit materiellen Sanktionen verbunden sind. Sie widersprechen der Familienerziehung nicht, stimmen vielmehr mit ihr überein: Wer will sich schon sagen lassen, daß er arbeitsscheu ist. Selbst Drop-outs wahren immer noch den Schein von Arbeit. Aus alledem ist aber nicht mehr — wie seinerzeit Rudolf Maerker feststellen wollte — auf eine generelle Anpassungsbereitschaft, Integrationsbereitschaft etc. zu schließen. Die Gesellschaft der DDR wird tendenziell mit ihren Jugendlichen ebenso leben müssen, wie die Gesellschaften im Westen: immer in der Angst, daß die Zahl der sich absentierenden Jugendlichen größer wird, immer in der Angst, daß hier ein neues gesellschaftskritisches Potential entsteht.

Fussnoten

Fußnoten

  1. E. Honecker, Aus meinem Leben, Berlin (DDR) 1980, S. 334 f.

  2. Vgl.ders, Zur Jugendpolitik der SED, Berlin (DDR) 1977, S. 462.

  3. Vgl. E. Honecker (Anm. 2), S. 602, und R. Miller, Werte des Sozialismus und Entwicklung der Wertvorstellungen der Jugend, in: Pädagogik, 39(1984) 7/8, S. 538.

  4. Vgl. D. Kirchhöfer, Die marxistisch-leninistische Weltanschauung als Wert und Triebkraft, in: Pädagogik, 39(1984) 3, S. 194.

  5. Vgl. Zentralrat der FDJ (Hrsg.), Fragen und Antworten zum Programm der SED, Berlin (DDR) 1980, S. 47; vgl. auch C. Mahrad, Jugendpolitik der SED, in: Deutsche Studien, XIX (1981) 76.

  6. Vgl. K. Schmitt, Politische Erziehung in der DDR, Paderborn — München — Wien — Zürich 1980, S. 98.

  7. Vgl. E. Kuhrt, Wider die Militarisierung der Gesellschaft. Friedensbewegung und Kirche in der DDR, Forschungsbericht 35, hrsg. im Auftrag der Konrad Adenauer-Stiftung, Melle 1984, S. 34.

  8. Vgl. E. Honecker, Bericht des Zentralkomitees der SED an den VIII. Parteitag der SED, in: Protokoll der Verhandlungen des VIII. Parteitags der SED, Berlin (DDR) 1972, S. 381, und Kuhrt (Anm. 8), S. 34.

  9. Vgl. E. Honecker, Zur Jugendpolitik der SED (Anm. 2), S. 610; H. Lindner u. a. (Hrsg.), Fragen und Antworten zum Wehrdienst, Berlin (DDR) 1984, S. 174 ff., S. 179, 203.

  10. Vgl. DDR-Handbuch, hrsg. v. Bundesministerium für innerdeutsche Beziehungen, wiss. Leitung: H. Zimmermann, 2 Bde., Köln 1 9853, S. 688 f.; Wörterbuch zur sozialistischen Jugendpolitik, Berlin (DDR) 1975, S. 177.

  11. Vgl. W. Friedrich und H. Müller (Hrsg.), Soziale Psychologie älterer Schüler, Berlin (DDR) 1983, S. 67.

  12. Vgl. E. Kuhrt (Anm. 8.), S. 40.

  13. M. Bothe, Die Acht-Stunden-Ideologie, in: L. Julius und G. Finn (Hrsg.), Von Deutschland nach Deutschland. Zur Erfahrung der inneren Übersiedlung, Köln 1983, S. 60 f. — Hervorhebungen von mir.

  14. Das berichten auch W. Büscher und P. Wensierski in ihrem Buch „Null Bock auf DDR. Austeigerjugend im anderen Deutschland“, Hamburg 19843, S. 28 und 91 ff.

  15. W. Friedrich und H. Müller (Anm. 12), S. 73

  16. Vgl. P. C. Ludz, Mechanismen der Herrschaftssicherung. Eine sprachpolitische Analyse gesellschaftlichen Wandels in der DDR, München — Wien 1980, und O. Gudorf, Sprache als Politik. Untersuchung zur öffentlichen Sprache und Kommunikationsstruktur in der DDR, Köln 1981.

  17. Vgl. W. Friedrich und W. Gerth (Hrsg.), Jugend konkret, Berlin (DDR) 1984, S. 272 f.; vgl. dazu auch die Vergleichsuntersuchung von Y. van den Auweele (1973) über „Zukunftsvorstellungen von 15jährigen in der DDR und der BRD“, in der festgehalten ist, daß die Familienbindung von Jugendlichen in der DDR stärker und positiver ist als bei Jugendlichen in der Bundesrepublik, Y. van den Auweele, in: W. Jaide und B. Hille (Hrsg.), Jugend im doppelten Deutschland, Opladen 1977, S. 265.

  18. Vgl. W. Ulbricht, Fragen der sozialistischen Bewußtseinsbildung, in: ders., Über die Dialektik unseres sozialistischen Aufbaus, Berlin (DDR) 1960, S. 168— 175.

  19. Vgl. R. Maerker, Jugend im anderen Teil Deutschlands. Schrittmacher oder Mitmacher?, München 1969, S. 13 ff.

  20. Vgl. A. Pinther, Zum Einfluß der Familienerziehung auf die Nutzung der Massenkommunikationsmittel durch Schüler, in: Jugendforschung, (1970) 16, S. 61.

  21. P. Voß u. a., Die Freizeit der Jugend, Berlin (DDR) 19813, S. 32.

  22. Vgl. DDR-Handbuch (Anm. 11), S. 373.

  23. Vgl. O. Kabat vel Job, Keine Angst vor großen Kindern. Ratschläge für den Umgang mit Jugendlichen in der Familie, Leipzig 1983, S. 37 f. und S. 75 ff.

  24. Vgl. DDR-Handbuch (Anm. 11), S. 371

  25. Vgl. H. Roggemann (Hrsg.), Die DDR-Verfassungen, Berlin 19762, S. 121.

  26. Vgl. DDR-Handbuch (Anm. 11), S. 375.

  27. O. Kabat vel Job (Anm. 24), S. 53.

  28. Vgl. G. Helwig, 20 Jahre Familiengesetzbuch. Tradition und Fortschritt in der Familienpolitik der DDR, Vortrag auf der XIX. DDR-Forschertagung, Ms.

  29. Vgl. W. Friedrich und W. Gerth (Anm. 18), S. 161, und P. Voß u. a. (Anm. 22), S. 84.

  30. Vgl. W. Friedrich und W. Gerth (Anm. 18), S. 221.

  31. Vgl. W. Friedrich und W. Gerth (Anm. 18), S. 222.

  32. Vgl. W. Friedrich und H. Müller (Anm. 12), S. 61.

  33. Vgl. R. Maerker (Anm. 20), S. 79.

  34. Vgl. W. Friedrich und W. Gerth (Anm. 18), S. 50 und 52.

  35. Vgl. W. Gerth, Die Rolle der Arbeiterjugend im gesellschaftlichen Gesamtsystem der DDR und ihre Widerspiegelung im Bewußtsein von Lehrlingen und jungen Facharbeitern, in: Jugendforschung, (1970) 11, S. 70.

  36. Vgl. P. Voß u. a. (Anm. 22), S. 88 und 132.

  37. Wobei es hier Überschneidungen gibt; man denke nur an die von der FDJ regelmäßig organisierten Rock-veranstaltungen wie „Rock für den Frieden“.

  38. Vgl. W. Queißer, Jugendstreiche oder Rowdytum?, Berlin (DDR) 1983, S. 35 und 37.

  39. W. Friedrich und W. Gerth (Anm. 18), S. 60.

  40. Vgl. W. Friedrich und H. Müller (Anm. 12), S. 65.

  41. „Deshalb Mängel im Leistungsanspruch oder sind Vorstellungen von einem konfliktfreien, bequemen Leben, wie sie bei manchen Jugendlichen noch feststellbar sind, ernste Signale, daß wesentliche Voraussetzungen für die inhaltliche Lösung gesellschaftlicher Prozesse nicht erfüllt werden.“ W. Friedrich, und H. Müller (Anm. 12), S. 65.

  42. So wird bei Friedrich und Gerth angeführt: „Mehr Wissen und Können führen allgemein zu einem reichhaltigeren und sinnvolleren Gebrauch der Freizeit. Je besser die Leistungen in Schule und Beruf, desto häufiger werden geistig anspruchsvolle Freizeitaktivitäten realisiert.“ W. Friedrich und W. Gerth (Anm. 18), S. 167.

  43. Anita Mallinckrodt hat in ihrem Buch über „Das kleine Massenmedium“ die weltanschaulichen Gehalte der Heftreihenliteratur aufgelistet; vgl. A. Mallinckrodt, Das kleine Massenmedium. Soziale Funktion und politische Rolle der Heftreihenliteratur, Köln 1984, insbes. S. 259 ff.

  44. Vgl. A. Grunenberg, Bedingungen und Formen gesellschaftlicher Bewußtseinsbildung, Habil. -Schrift, Ms., S. 258 f.

  45. Vgl. W. Oschlies, „Ich glaub’, mich rammt ein Rotkehlchen ...“. Jugendjargon und Soziolinguistik in der DDR, in: Muttersprache, (1981) 3— 4, S. 185— 195.

  46. M. Maron, Flugasche, Frankfurt/M. 1981, S. 80.

  47. D. Eue, Ketzers Jugend, Hamburg 1982, S. 289.

  48. E. Neutsch, Zwei leere Stühle, Halle—Leipzig 1980, München 1980, S. 110.

  49. Vgl. J. Höpfner, Gleisverwerfung, Halle—Leipzig 1982, S. 100 ff.

  50. Ebenda, S. 205 f.

  51. Ebenda, S. 51.

  52. Vgl. W. Büscher und P. Wensierski (Anm. 15), S. 17.

  53. Vgl. ebenda, S. 42 f.

  54. Vgl. ebenda, S. 45.

  55. Vgl. „Es ist das Konzept, die Bevölkerung politisch zu entmündigen“. Die Eingabe einer DDR-Friedens-gruppe an Erich Honecker und die SED, in: Frankfurter Rundschau v. 13. Mai 1986, S. 12.

  56. Vgl. O. Leitner und W. Hagen, Artikel „Rockkultur“ in: Kulturpolitisches Wörterbuch Bundesrepublik Deutschland/DDR im Vergleich, hrsg. v. W. Langenbucher u. a., Stuttgart 1983, S. 617 ff.

  57. Vgl. O. Leitner, Rockszene DDR. Aspekte einer Massenkultur im Sozialismus, Reinbek 1983, S. 389.

  58. Vgl. W. Büscher und P. Wensierski (Anm. 15), S. 17.

  59. Vgl. O. Leitner und W. Hagen (Anm. 58), S. 618.

  60. Vgl. O. Leitner (Anm. 59), S. 229.

  61. Vgl. O. Leitner (Anm. 59), S. 211, und D. Eue (Anm. 48), S. 73 ff.

  62. Vgl. W. Friedrich und H. Müller (Anm. 12), S. 6.

  63. Ebenda, S. 72 und 75.

  64. Vgl. Friedrich und Müller (Anm. 12), S. 75.

  65. Vgl. W. Friedrich und W. Gerth (Anm. 18), S. 63.

  66. Ebenda, S. 59 und 60 f.

  67. Vgl. B. Bertram, Einige Probleme der Arbeits-und Berufseinstellungen bei Lehrlingen und jungen Facharbeitern, in: Jugendforschung, (1969) 12, S. 58 f.

  68. Vgl. W. Friedrich und W. Gerth (Anm. 18), S. 36.

Weitere Inhalte

Antonia Grunenberg, Dr. phil., geb. 1944, habilitiert sich an der RWTH Aachen im Fach Politische Wissenschaft. Veröffentlichungen u. a.: Die gespaltene Identität. Gesellschaftliches Doppelleben in der DDR, in: W. Weidenfeld (Hrsg.), Die Identität der Deutschen, Bonn — München — Wien 1983; Sinnverlust oder Funktionalisierung? Chancen und Grenzen ideologischen Wandels, in: Ideologie und gesellschaftliche Entwicklung in der DDR, XVIII. Tagung zum Stand der DDR-Forschung in der Bundesrepublik Deutschland, Edition Deutschland Archiv, Köln 1985; Reise in den Traum. Vier Schriftsteller der DDR (Klaus Schlesinger, Christoph Hein, Barbara Honigmann, Monika Maron), Drehbuch, WDR 1985; Ein Volk steht im Streß. Zwischen Fortschritt und industrieller Modernisierung (I), in: DIE ZEIT vom 28. 3 1986; Nichts ist mehr gültig. Der sozialistische Realismus ist out — alles ist erlaubt (II), in: DIE ZEIT vom 4. April 1986; „Eine Lust an der Zerstörung“. Heiner Müllers Umgang mit Fortschrittsglauben und Geschichtsoptimismus, in: GDR Culture and Society, no. 5, New York 1985; Der Skandal. Eine Weimarer Geschichte, in der Reihe: Weimarer Geschichten, Drehbuch, WDR 1985.