Meine Merkliste Geteilte Merkliste PDF oder EPUB erstellen

Die deutsch-amerikanischen Beziehungen in den Nachkriegsjahrzehnten | APuZ 26/1986 | bpb.de

Archiv Ausgaben ab 1953

APuZ 26/1986 Das deutsche Amerikabild seit der Weimarer Republik Die deutsch-amerikanischen Beziehungen in den Nachkriegsjahrzehnten Nach dem Neokonservatismus der Neoliberalismus?. Neuere politisch-ideologische Strömungen in den USA

Die deutsch-amerikanischen Beziehungen in den Nachkriegsjahrzehnten

Wolfram F. Hanrieder

/ 34 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Eine wesentliche Zielsetzung — vielleicht ein Paradoxon — der alliierten und besonders der amerikanischen Politik gegenüber der Bundesrepublik Deutschland der fünfziger Jahre bestand darin, daß die Westdeutschen frei werden sollten und gleichzeitig nicht frei: Die Deutschen sollten frei sein hinsichtlich der persönlichen Grundrechte und der Verfassungsgarantien; nicht frei sollten sie sein in bezug auf die Formulierung und Durchführung einer unabhängigen Außenpolitik. In ihren frühen Jahren besaß die Bundesrepublik weder die Macht noch die Legitimierung zur Gestaltung einer eigenen auswärtigen Politik. Wenngleich die USA bereit waren, als Gegenleistung für Westdeutschlands Bereitschaft zur Wiederaufrüstung politische und ökonomische Konzessionen zu machen, so blieben doch die diplomatisch-politischen, wirtschaftlichen und militärischen Instrumente dieser Politik eingebettet in die Strukturen des westlichen Bündnisses. Die Schaffung integrativer westeuropäischer und atlantischer Strukturen hatte somit einen entscheidenden Einfluß auf den raschen politischen und ökonomischen Wiederaufbau Westdeutschlands. In den sechziger Jahren bestand das zentrale Dilemma der westdeutschen Außenpolitik in der Notwendigkeit, zwischen den europäisch-atlantischen Sicherheitsinteressen und dem Aufbau der europäischen Gemeinschaft wählen zu müssen. Es entwickelten sich Spannungen zwischen Bonns an Washington orientierter Sicherheitspolitik und seiner an Paris orientierten Europapolitik. Diese Spannungen innerhalb des westlichen Bündnisses beeinflußten nicht nur Bonns Westpolitik, sondern auch seine Ostpolitik, da Washington und Paris eine voneinander abweichende Politik gegenüber der Sowjetunion und Osteuropa verfolgten und Bonn Schwierigkeiten hatte, seine starre Ostpolitik an die mehr auf Verständigung ausgerichtete Haltung der Westmächte anzupassen. In den siebziger Jahren veränderte sich das globale wie das regionale Kräfteverhältnis, wodurch für die deutsch-amerikanischen Beziehungen neue Möglichkeiten ebenso wie neue Probleme entstanden. Da war der relative Niedergang der amerikanischen Macht; die USA mußten nun ihre wirtschaftliche und monetäre Vormachtstellung mit Westeuropa und Japan teilen; sie waren gezwungen, den sowjetischen Paritätsanspruch hinsichtlich des nuklearen Potentials anzuerkennen. Mit diesen Entwicklungen sowie mit dem wachsenden Selbstbewußtsein Westeuropas verband sich die Erkenntnis auf beiden Seiten des Atlantiks, daß die amerikanischen und westeuropäischen Interessen nicht mehr so stark übereinstimmten, wie dies in der Nachkriegszeit der Fall gewesen war. In der Bundesrepublik gibt es zwar nach wie vor ein großes Reservoir des guten Willens und Verständnisses gegenüber den Vereinigten Staaten, das die Grenzen der Generationen und des politischen Bewußtseins überspannt. Doch die Übertragung dieses guten Willens in die praktische Politik, die letztlich den Charakter der deutsch-amerikanischen Beziehungen bestimmt, erfolgt nicht automatisch. Sie verlangt Umsicht und Pflege auf beiden Seiten des Atlantiks, insbesondere bei den Sicherheitsfragen, die für die jeweiligen nationalen Interessen als zentral angesehen werden.

Leicht gekürzter Vorabdruck aus dem Ende Juni im Westdeutschen Verlag erscheinenden Sammelband „Amerika und die Deutschen. Bestandsaufnahme einer 300jährigen Geschichte, herausgegeben von Frank Trommler.

I. Die formative Phase: Das erste Jahrzehnt

Eine wesentliche Zielsetzung — vielleicht ein Paradoxon — der alliierten und besonders der amerikanischen Politik gegenüber der Bundesrepublik Anfang der fünfziger Jahre bestand darin, daß die Westdeutschen frei werden sollten und gleichzeitig nicht frei. Die Deutschen sollten frei sein hinsichtlich der persönlichen Grundrechte und der Verfassungsgarantien, die den Kern einer demokratischen politischen Ordnung bilden; nicht frei sollten sie sein in bezug auf die Formulierung und Durchführung einer unabhängigen Außenpolitik. In ihren frühen Jahren besaß die Bundesrepublik weder die Macht noch die Legitimierung zur Gestaltung einer eigenen Außenpolitik. Als sie 1949 geschaffen wurde, war sie kein souveräner Staat (das wurde sie erst 1955, als die Bundesrepublik der NATO beitrat, und selbst dann blieben Einschränkungen bestehen); und die Alliierte Hochkommission, die auf die Militärgouverneure des Besatzungsregimes folgte, kontrollierte in allen wesentlichen Belangen die politischen und ökonomischen Beziehungen der Bundesrepublik zu anderen Staaten und besaß außerdem die Befugnis, innere politische und wirtschaftliche Entwicklungen zu reglementieren oder wenigstens zu überwachen. Die Bonner Regierung besaß daher in der Innen-wie in der Außenpolitik nur eine begrenzte und provisorische Autorität. Das erste und unverzichtbare außenpolitische Ziel der Bundesrepublik war es deshalb, das Recht auf eine eigene Außenpolitik zu gewinnen. Wenngleich die Westmächte, besonders die Vereinigten Staaten, bereit waren, als Gegenleistung für Westdeutschlands Bereitschaft zur Wiederaufrüstung politische und ökonomische Konzessionen zu machen, ließen es diese Konzessionen doch nicht zu, daß Bonn eine unabhängige Außenpolitik verfolgte, weil die diplomatisch-politischen, wirtschaftlichen und militärischen Instrumente dieser Politik voll in die Strukturen des westlichen Bündnisses eingebettet waren. Im Deutschlandvertrag (1952) und in den Pariser Verträgen (1954) tauschte Bonn die Wiederaufrüstung für die Wiederherstellung der legalen Souveränität und die westliche Verpflichtung ein, die Wiedervereinigung Deutschlands zu unterstützen und die Bonner Regierung als einzige legitime Vertretung Gesamtdeutschlands anzuerkennen. Doch die Elemente der legalen Souveränität, die man der Bundesrepublik zugestand, wurden zugleich in den internationalen Organisationen, denen sich Deutschland anschloß, eingefroren: Der Hauptnutzen lag dabei für Bonn eher im Bereich der Gleichberechtigung als in dem der Unabhängigkeit. Die Beschränkungen, die der Bundesrepublik durch internationale Organisationen und vertragliche Verpflichtungen erwuchsen, waren das Ergebnis bewußter Politik, denn den Kern der Nachkriegs-Europapolitik Washingtons bildete eine Strategie des Doppel-Containment: das In-Schach-Halten der Sowjetunion mittels Eindämmung und das In-Schach-Halten der Bundesrepublik mittels integrativer westlicher Bündnisstrukturen. Jedes entscheidende Ereignis in der Nach-kriegsgeschichte Europas resultiert daraus: die Wiederaufrüstung und der politische und wirtschaftliche Aufbau der Bundesrepublik innerhalb der Beschränkungen der internationalen Organisationen, die Entwicklung der NATO von einem locker organisierten Beistandspakt zu einem integrierten Militärbündnis, die amerikanische Unterstützung für die westeuropäische Integration und die aus diesen Fakten resultierende Zementierung der Teilung Deutschlands und Europas. Solange die beiden Komponenten der amerikanischen Doppeleindämmungspolitik sich gegenseitig stärkten, stand Amerikas Europa-Diplomatie auf festem Boden; in späteren Jahren, als sich zwischen den beiden Komponenten Spannungen und Widersprüche entwickelten, wurden die deutsch-amerikanischen Beziehungen zunehmend problematisch — ein Thema, das uns später noch beschäftigen wird.

Die Wendung zum Westen Aus der Sicht der deutschen Regierung und insbesondere Bundeskanzler Konrad Adenauers war die „Verwässerung“ des Zugewinns an Souveränität — ein Begriff, der in den Nachkriegsjahrzehnten durch politische und wirtschaftliche Interdependenz ohnehin seine Gültigkeit einbüßte — durch den Beitritt zu integrativen Organisationen im Grunde nicht zu beanstanden. Seine Einschätzung der Prioritäten ließ ihn in die gleiche Richtung tendieren. Für Adenauer war die Substanz des Zieles des politischen Wiederaufbaus die Integration der Bundesrepublik in eine fest geknüpfte westeuropäische Gemeinschaft — und dieses Kernziel konnte selbst mit der Einschränkung der deutschen Handlungsfreiheit erlangt werden, solange das den Anspruch auf Gleichberechtigung bewerkstelligte. Tatsächlich wäre es für Bonn viel schwieriger gewesen, von den Westmächten Konzessionen zu gewinnen, wenn die gewährten Elemente der „Souveränität“ nicht einer internationalen Überwachung unterworfen worden wären. Die Schaffung integrativer westeuropäischer und atlantischer Strukturen hatte somit einen entscheidenden Einfluß auf den raschen politischen und ökonomischen Wiederaufbau Westdeutschlands. Sie etablierten Mechanismen für die Kontrolle der Bundesrepublik, und sie machten den deutschen Gleichberechtigungsanspruch für die Westmächte, insbesondere Frankreich, weniger riskant. Umgekehrt schuf der zunehmende Druck, Westdeutschland politische und wirtschaftliche Konzessionen zu gewähren, einen kräftigen Antrieb zur Errichtung integrativer Strukturen, die zur Überwachung der Bundesrepublik dienen konnten. In dieser Wechselbeziehung war Adenauers integrative Europapolitik eine wesentliche Vorbedingung eines erfolgreichen politischen und ökonomischen Wiederaufbaus. Die Verfolgung des Ziels der Sicherheit — zumal es mittels einer engen Anlehnung an den Westen und der Entscheidung für die Wiederbewaffnung verwirklicht wurde — war dementsprechend nicht nur mit dem Ziel des politischen Aufbaus vereinbar, sondern dessen Voraussetzung. Das Streben nach Sicherheit und das Ziel des politischen Wiederaufbaus mit der Bedeutung, die Adenauer dem Wiederaufbau beimaß, standen in einem Komplementärverhältnis zueinander.

Die beißende Charakterisierung Adenauers als „Kanzler der Alliierten“ durch die sozialdemokratische Opposition war demnach unangemessen, denn worum es ging, war nicht eine Absprache zwischen der deutschen Regierung und den Alliierten auf Kosten der deutschen Interessen, sondern vielmehr Adenauers Zustimmung zu einem Kurs der westlichen Diplomatie, den er selbst bevorzugte. Für ihn fielen Wahl und Notwendigkeit zusammen. Die Doppel-Eindämmungs-Politik Amerikas wurde ergänzt durch eine deutsche Selbst-Eindämmung: Adenauer, der die politische Reife und Umsicht seiner Landsleute mit tiefer Skepsis betrachtete, war entschlossen, sie an den Westen zu binden und auf diese Weise seine Nachfolger daran zu hindern, eine Schaukelpolitik zwischen Ost und West zu verfolgen. Außerdem konnte der prowestliche Kurs, den die deutsche Regierung einschlug, auf die politische Zustimmung und die Wahlunterstützung der Bürger der Bundesrepublik zählen, schon deshalb, weil Adenauers Politik rasche Fortschritte in Richtung des wirtschaftlichen Wiederaufbaus und der politischen Rehabilitation versprach. Wenngleich die Wiederbewaffnung nicht populär war, so wurde sie doch weithin und richtig als der Eckpfeiler von Adenauers Westpolitik erkannt, die es der Bundesrepublik ermöglichte, unverzüglich wirtschaftliche und politische Vorteile zu gewinnen. Tatsächlich ergänzten einander ökonomischer und politischer Wiederaufbau in hohem Maße. Eine schwache westdeutsche Wirtschaft hätte eine Belastung für die westliche Allianz bedeutet, da sie die politische Stabilität untergraben und Ansatzpunkte für sowjetische Manöver geboten hätte. Wegen der integrativen Elemente der westlichen Allianz hätten massive wirtschaftliche Schwierigkeiten eines Bündnispartners den ganzen Block geschwächt, was wiederum negative Konsequenzen für die militärische Dimension der amerikanischen Eindämmungspolitik gehabt hätte. Die Spannungen des Kalten Krieges schufen im Westen eine Atmosphäre, aus der Sympathie für das deutsche Streben nach Wiederherstellung einer lebensfähigen Wirtschaft erwuchs.

Die Erzielung eines wirtschaftlichen Wiederaufschwungs wurde durch Bonns Politik der politischen Rehabilitation ergänzt und untermauert und war dadurch auch mit der Sicherheits-und Wiederaufrüstungspolitik verkoppelt. In ebenso politischen wie ökonomischen Unternehmen wie dem Schuman-Plan (und später in der EWG) wurden zugleich politische und ökonomische Ge17 winne durch eine koordinierte Strategie erreicht, in der deutsche Forderungen im Namen der europäischen und atlantischen Einheit vorgetragen werden konnten, nicht im Namen eines diskreditierten deutschen Nationalismus. Die Entschlossenheit der deutschen Regierung, den Binnen-und den internationalen Handel zu liberalisieren, war langfristig politisch ebenso wie ökonomisch vorteilhaft, weil damit das Engagement Bonns für den politischen Internationalismus unterstrichen wurde. Indem Bonn auf den traditionellen Protektionismus verzichtete, verwarf es die ökononische Ergänzung des politischen Nationalismus — eine Politik, die von Washington nachdrücklich unterstützt wurde. Sicherheit/Wiederbewaffnung, politische Rehabilitation und wirtschaftlicher Wiederaufbau waren interdependent und ergänzten und verstärkten sich also gegenseitig, wie es sich deutlich in den verschränkten Bestimmungen der Pariser Verträge widerspiegelt.

Auf diese Weise ergab sich während der 1950er Jahre, im formativen Stadium der Entwicklung der Bundesrepublik, eine frappante Übereinstimmung zwischen den Grundsätzen der inneren Wirtschaftsordnung Deutschlands und denen der von den USA gelenkten und von den Institutionen der westeuropäischen Integration ergänzten internationalen Wirtschaftsordnung. Die deutsche Neigung zu niedrigen Inflationsraten, Budgetdisziplin und Handelsliberalisierung wurde von den Vereinigten Staaten geteilt; das Währungssystem von Bretton Woods kam Ende der 1950er Jahre mit der freien Konvertierbarkeit der Währungen zur vollen Entfaltung und leitete eine Periode des Gleichgewichts zwischen vergangener Dollarknappheit und zukünftiger Dollar-schwemme ein; Unternehmen wie der Schuman-Plan und die EWG trugen Deutschland ebenso politischen wie ökonomischen Nutzen ein. Außerdem waren die Auffassungen Washingtons und Bonns über Mittel und Wege zur Eindämmung der Sowjetunion ebenso wie die Persönlichkeiten deutscher und amerikanischer Staatsmänner zu jener Zeit einander ähnlicher als danach je wieder. In weinig augenfälliger, aber grundsätzlicher Weise stellten diese Entwicklungen die Stabilisierung der amerikanischen Einflußsphäre in Westund Mitteleuropa sicher und gewährleisteten damit ebenso die Realisierbarkeit der Doppel-Eindämmungs-Politik Washingtons. Anders als ihre ostdeutschen Landsleute gewannen die Westdeutschen die Überzeugung, daß ihre Supermacht ihnen nicht nur Sicherheitsgarantien biete, sondern ihnen auch den Weg zur politischen, wirtschaftlichen und vielleicht sogar moralischen Rehabilitation weise und erleichtere. Militärische Siege sind für den Besiegten immer hart. Doch auf den amerikanischen militärischen Sieg über Deutschland am Ende des Zweiten Weltkrieges folgte bald eine subtilere, abgemessenere Eroberung, die durch wirtschaftliche Anreize, politisches Drängen und diplomatische Überredung bewerkstelligt wurde. Es ist nicht möglich und auch nicht nötig, über das genaue Zusammenspiel der Motive hinter der amerikanischen Politik zu spekulieren — altruistische Erwägungen, aufgeklärtes Eigeninteresse, Hegemoniestreben oder das Kalkül, die Deutschen als Verbündete gegen die Sowjetunion zu gewinnen; die Tatsache bleibt bestehen, daß in jenen Jahren die Grundlagen für bemerkenswert stabile deutsch-amerikanische Beziehungen gelegt wurden, die in beiden Ländern eine solide Unterstützung bei Regierungs-und Oppositionsparteien gewinnen sollte. Die Durchdringung Westeuropas durch die transatlantische imperiale Macht, die mittels der konstruktiven und unwiderstehlichen Invasionen der amerikanischen Wirtschaftskraft und des American way of life bewerkstelligt wurde, schuf für die USA eine Einflußsphäre, die ebenso umfassend war wie jene, die die Rote Armee der Sowjetunion sich in Osteuropa gesichert hatte. Um es noch deutlicher zu sagen: 1955 hatte sich Amerikas Politik des Doppel-Containment sowohl hinsichtlich seines sowjetischen als auch seines deutschen Aspekts als erfolgreich erwiesen. Die Sowjetunion war innerhalb der politischen und geographischen Einflußgrenzen, die sie am Ende des Zweiten Weltkrieges gewonnen hatte, eingedämmt, und die Bundesrepublik war sicher im westlichen Bündnissystem eingebettet.

Angesichts der Grundsätze einer demokratischen Ordnung, die in der Bundesrepublik galten, und der Möglichkeiten, die sie dem Ausdruck politischen Willens durch freie Wahlen boten, erfolgte die Eingliederung der Bundesrepublik in das westliche Bündnis unter politischen und moralischen Bedingungen, die grundsätzlich von jenen verschieden waren, unter denen die Deutsche Demokratische Republik Teil des östlichen Blocks der sozialistischen Staaten wurde. Doch realpolitisch betrachtet waren die Konsequenzen der Integration beider deutschen Staaten in ihre jeweiligen Allianzen im Kalten Krieg ähnlich, und sie verstärkten einander: Die Teilung Deutschlands und damit Europas wurde zu einem entscheidenden stabilisierenden Element in der globalen Auseinandersetzung zwischen den Vereinigten Staa-B ten und der Sowjetunion, die keine der beiden Seiten grundsätzlich in Frage zu stellen gewillt war, weil auf diese Weise das regionale und das globale Kräftegleichgewicht gestört worden wäre.

Front gegen Osten Bundeskanzler Adenauer war sich dieser Realitäten voll bewußt, und seine langfristige Wiedervereinigungspolitik für Deutschland stützte sich auf zwei zentrale Voraussetzungen: Erstens, daß Washington und Moskau den Schlüssel zur deutschen Frage besaßen; und zweitens, daß im Laufe der Zeit das Kräfteverhältnis zwischen den beiden Blöcken im Kalten Krieg sich zugunsten des Westen verschieben würde, wodurch Verhandlungen aus einer Position der Stärke möglich würden, in denen die Sowjetunion veranlaßt werden könnte, die deutsche Frage in einer Weise zu lösen, die für den Westen annehmbar wäre. Die erste dieser Annahmen war richtig, die zweite falsch — falsch vor allem, weil die Sowjetunion sich zu einer vollwertigen Nuklearmacht entwickelte und dadurch weniger unter politischen Druck gesetzt werden konnte.

Aus der ersten Voraussetzung folgte, daß Bonn innerhalb der westlichen Allianz politischen Einfluß benötigen würde, um für die Sache der deutschen Wiedervereinigung die Unterstützung der Westmächte, besonders der USA, zu gewinnen, und um sicherzustellen, daß der Westen die deutsche Frage nicht in einer Globallösung des Kalten Krieges preisgeben würde. Es war Adenauer klar, daß bei den Westmächten der Gedanke an ein vereinigtes Deutschland erhebliche Befürchtungen auslöste. Deshalb erforderte Bonns Wiedervereinigungspolitik einen zunehmenden deutschen Einfluß innerhalb des westlichen Bündnisses, damit die rechtliche und moralische Verpflichtung der Westmächte, die Wiedervereinigung zu unterstützen und die Bonner Regierung als die einzige legitime Vertretung Deutschlands anzuerkennen, auf der politischen Ebene gefestigt werden konnte. Doch die einzige Weise, in der Bonn seine Position innerhalb des westlichen Bündnisses zu stärken vermochte, bestand darin, daß es zu einem unentbehrlichen Partner darin wurde. Diese Partnerschaft jedoch richtete sich gegen die Sowjetunion und war deshalb kaum geeignet, den Kreml zu einer Lösung der deutschen Frage in einem für den Westen akzeptablen Sinne zu bewegen. Dementsprechend war Adenauers Moskau-orientierte Wiedervereinigungspolitik weitaus passiver und negativer als seine Washington-orientierte Politik —-sie war lediglich ein formalistisches und phantasieloses Anhängsel seiner Westpolitik. Ihrem Wesen nach war es eine Politik der in rechtliche Begriffe gekleideten Politik der Verneinung, mit der sich Bonn weigerte, die Deutsche Demokratische Republik und die Oder-Neiße-Linie — kurz, die existierende Lage der Dinge in Mittel-und Osteuropa — anzuerkennen.

Beide Lager im Kalten Krieg hielten es für politisch ratsam, die deutschen Wiedervereinigungsbestrebungen zumindest verbal zu unterstützen. Doch weder die Vereinigten Staaten noch die Sowjetunion wünschten ein vereinigtes Deutschland, das tatsächlich freie Hand gehabt hätte, seine Außenpolitik zu gestalten, weil dies das Kräftegleichgewicht in Europa gestört und damit negative Auswirkungen auf den Zusammenhalt beider Bündnissysteme gehabt hätte. Die Sicherung der Bündnistreue und des Machtpotentials des jeweiligen Teils von Deutschland, das sich bereits unter der Kontrolle der beiden Lager im Kalten Krieg befand, versprach für jede Seite einen massiven Kräftezuwachs. Nachdem es der Sowjetunion mißlungen war, den westdeutschen Beitritt zur NATO zu verhindern, wechselte sie über zu einer , Zwei Deutschland‘-Politik, die in der Bereitschaft des Kreml Ausdruck fand, diplomatische Beziehungen mit Bonn anzuknüpfen. Spätestens 1955 hatte die Sowjetunion den Status quo in Mitteleuropa anerkannt, und von diesem Zeitpunkt an war es ihr zentrales Ziel, die bestehende Lage politisch und vertraglich zu festigen — ein Prozeß, der beinahe zwei Jahrzehnte später in Bonns Ostverträgen und den Abkommen der Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa von Helsinki gipfelte.

Dieser Schwenk in der Moskauer Deutschlandpolitik hatte wichtige Konsequenzen für die westliche Basis der Bonner Wiedervereinigungspolitik — eine Basis, von der Adenauer befürchtete, sie werde in dem Maße geschwächt, wie die Westmächte sich bemühten, von der scharfen Konfrontation des Kalten Krieg abzurücken in Richtung einer entspannteren Periode der Koexistenz. Nach 1955 beschränkten sich die wichtigeren Wiedervereinigigungsbemühungen Bonns zwangsläufig darauf, der Sowjetunion und Ostdeutschland die De-jure-Anerkennung der existierenden Lage zu verweigern — gab es doch wenig Hoffnung, die Wiedervereinigung selbst herbeizuführen —, und Bonn erwartete von seinen Verbündeten, daß sie diese Verweigerungspolitik diplomatisch unterstützten. Auf verbaler Ebene wurde diese Unterstützung geleistet, besonders von den USA. Doch Adenauer blieb argwöhnisch, da ihm das fundamentale Paradoxon der deutschen Frage voll bewußt war.

Die Polaritäten von Spannungen, Interessen und Macht waren nicht dazu angetan, die deutsche Wiedervereinigung herbeizuführen; das war die Lehre, die man aus der internationalen Konstellation der Periode vor 1955 ziehen mußte. Doch das entstehende nukleare Gleichgewicht des Schrekkens, die sich allmählich wandelnden Einschätzungen der sowjetischen Bedrohung, der Gaullistische Druck auf das westliche Bündnis und die generelle Veränderung der Konstellation von Macht und Interesse aus einer bipolaren in eine multipolare Struktur waren gleichermaßen ungünstig für die Aussichten auf Wiedervereinigung.

II. Übergänge und Widersprüche: Das zweite Jahrzehnt

In der zweiten Phase der Entwicklung der Bonner Außenpolitik — in dem Jahrzehnt zwischen Ende der 1950er und Ende der 1960er Jahre — bestand das zentrale Dilemma der westdeutschen Außenpolitik in der Notwendigkeit, schwierige Entscheidungen zwischen Washington und Paris zu treffen, oder noch prägnanter ausgedrückt: das Dilemma, zwischen Sicherheitsinteressen und dem Bestreben, eine lebensfähige europäische Gemeinschaft aufzubauen, wählen zu müssen. Die Konstellation gegenseitiger Ergänzung, die in den 1950er Jahren zwischen den Zielen der Sicherheit sowie denen des politischen und wirtschaftlichen Wiederaufbaus bestand — die auf Bonns Bereitschaft zur Wiederbewaffnung beruhte und die zur Grundlage der Integration der Bundesrepublik in die westliche Allianz wurde —, begann in den 1960er Jahren abzubröckeln. Es entwickelten sich Spannungen zwischen Bonns an Washington orientierter Sicherheitspolitik und seiner an Paris orientierten Europapolitik; die Verbindungen zwischen der deutschen Sicherheitspolitik und der Wirtschaftspolitik waren zwar noch ebenso eng wie im ersten Jahrzehnt, wurden aber politisch problematisch; die Wirtschafts-und Währungskontroversen innerhalb der atlantischen Allianz erforderten schwieriges und kostspieliges diplomatisches Manövrieren; und die Übereinstimmung zwischen der amerikanischen und der deutschen Währungspolitik begann zu schwinden. Diese Spannungen innerhalb des westlichen Bündnisses beeinflußten nicht nur Bonns Westpolitik, sondern auch seine Ostpolitik, da Washinton und Paris eine voneinander abweichende Politik gegenüber der Sowjetunion und Osteuropa verfolgten und Bonn Schwierigkeiten hatte, seine starre Ostpolitik an die mehr auf Verständigung ausgerichtete Haltung der Westmächte anzupassen. Weder Washington noch Paris verfolgten ein außenpolitisches Programm, das voll mit den deutschen Interessen übereinstimmte, wodurch Bonn gezwungen wurde, zwischen Alternativen zu wählen, die beide wesentliche Mängel aufwiesen. Vor der Wahl zwischen Washington und Paris Gewiß begannen die Differenzen zwischen Washington und Paris nicht mit General de Gaulles Rückkehr an die Macht im Jahr J 958; sie hatten Adenauer von Anfang an vor ernsthafte Probleme gestellt. Während Washington den Beitritt der Bundesrepublik zum westlichen Militärbündnis und ein integriertes Westeuropa rasch herbeizuführen suchte, verhielt sich Frankreich verständlicherweise reserviert und bemühte sich, den westdeutschen Einfluß in diesen internationalen Organisationen zu beschränken. Wenngleich diese Lage gelegentlich für Bonn mißlich war, ließ sie sich doch noch bewältigen, solange die westliche Allianz einigermaßen eng zusammenhielt, solange die Vereinigten Staaten Frankreich mit . schmerzlichen Überprüfungen* der amerikanischen Außenpolitik drohen konnte und solange Bonn seine Interessen im Namen eines integrierten westlichen Bündnisses zu fördern vermochte. Doch diese Probleme der frühen Jahre waren nur ein Vorgeschmack auf das viel ernstere Dilemma, vor das sich Bonn später gestellt sah, nachdem Charles de Gaulle 1958 wieder an die Macht gelangt war und als eine Parteinahme Bonns zugunsten der Vereinigten Staaten oder zugunsten Frankreichs die sich entwickelnden Spannungen innerhalb der atlantischen Allianz verschärfte. Wenngleich die Abhängigkeit der Bundesrepublik von den USA in Sicherheitsfragen in den 1960er Jahren ebenso unauflöslich blieb wie in den 1950ern, war sie doch zunehmenden Belastungen ausgesetzt. Während der 1960er Jahre fand, als die amerikanische nukleare Überlegenheit sich angesichts der Entwicklung des sowjetischen nuklearen strategischen Potentials zu verringern begann, innerhalb der NATO eine intensive Debatte über militärische Doktrinen statt, die sich im wesentlichen um die Frage drehte, wie sich die Glaubwürdigkeit der amerikanischen nuklearen Verpflichtung gegenüber Westeuropa aufrechterhalten ließ, wenn die Vereinigten Staaten allmählich selbst verwundbar würden.

Dieses Problem (das bis zum heutigen Tag besteht) besaß besondere Bedeutung für die Bundesrepublik wegen ihrer exponierten geographischen und politischen Position und weil Bonn in zunehmendem Maße von dem NATO-Abschreckungspotential abhängig wurde, das der Kontolle der Deutschen entzogen war. Außerdem strebte die Kennedy-Administration eine flexiblere amerikanische strategische Doktrin an, die dazu bestimmt war, die strategischen und taktischen Optionen Washingtons zu vermehren und die eine Verstärkung der konventionellen Streitkräfte seitens der europäischen NATO-Verbündeten erforderte. Diese Doktrin des »flexible response, die eine flexiblere und damit glaubwürdigere , abgestufte 4 Skala von westlichen Reaktionen schaffen sollte und 1967 zur offiziellen NATO-Doktrin wurde, verlangte höhere deutsche Verteidigungsausgaben, wenngleich die Betonung auf konventionelle Aufrüstung in Europa mit Zurückhaltung betrachtet wurde, weil dies die Glaubhaftigkeit der amerikanischen Bereitschaft, den nuklearen Schild vor die europäischen NATO-Mitglieder zu stellen, zu untergraben schien. Obwohl die Bundesrepublik — die nach dem französischen Austritt im Jahre 1966 zum Hauptpfeiler der NATO wurde — zu ihrer transatlantischen Sicherheitsbeziehung keine realistische Alternative besaß, wurde im Laufe der 1960er Jahre zunehmend klar, daß die Sicherheitsinteressen der Vereinigten Staaten und der Bundesrepublik nicht mehr so stark übereinstimmten, wie dies in den 1950er Jahren der Fall gewesen war.

Doch ein Optieren für Paris (das in Sicherheitsfragen nicht ernsthaft in Erwägung gezogen werden konnte) bedeutete ein Optieren für ein französisches außenpolitisches Programm, das in einer Reihe von Fragen größter Wichtigkeit, einschließlich der zukünftigen Gestalt der europäischen Ordnung, deutschen Zielen widersprach. Adenauer wie de Gaulle zogen eine »klein-europäische* Integrationsstruktur vor; doch de Gaulle stellte sich gegen eine echte politische Integration, weil dies die nationale Unabhängigkeit Frankreichs eingeschränkt hätte, und er erwartete von der Bundesrepublik, daß sie Frankreichs Bestreben, seine Stellung in der Weltpolitik wiederzugewinnen, wirtschaftlich und politisch unterstützen würde. De Gaulle wollte den wirtschaftlichen Nutzen des Gemeinsamen Marktes, ohne dafür einen politischen Preis zu zahlen; Adenauer war bereit, einen wirtschaftlichen Preis für politischen Nutzen zu zahlen. De Gaulle suchte eine europäische Basis für seine weltpolitischen Ambitionen; Adenauer suchte eine atlantische Basis für seine europäischen Ambitionen.

Die Konflikte, die sich während der späten 1950er und der frühen 1960er Jahre zwischen den angloamerikanischen Mächten und Frankreich entwikkelten, komplizierten die Verwirklichung von Adenauers Ziel der Integration der Bundesrepublik in eine eng verbundene westeuropäische Gemeinschaft ganz außerordentlich. Während die USA der unentbehrliche Partner der Sicherheitspolitik blieben, war de Gaulle, der unentbehrliche Partner für die Europapolitik der Bundesrepublik, zur Verdrängung des anglo-amerikanischen Einflusses auf dem Kontinent entschlossen. Dies bedeutete, daß sich in den 1960er Jahren Widersprüche zwischen der Sicherheitspolitik der Bundesrepublik und seiner Europapolitik entwickelten — anders als in den 1950er Jahren, als die gegenseitige Ergänzung der Bonner Atlantik-und seiner Europapolitik den Eckpfeiler von Adenauers außenpolitischem Programm bildete. Doch nun gab es praktisch nicht eine deutsche Außenpolitik, sondern zwei. Die erste war die Außenpolitik Adenauers, die zu dem deutsch-französischen Freundschaftsvertrag von 1963 führte und es de Gaulle ermöglichte, den Beitritt Großbritanniens zur Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft mit stillschweigender deutscher Einwilligung zu verhindern. Die zweite außenpolitische Richtung wurde von Wirtschaftsminister Ludwig Erhard und Außenminister Gerhard Schröder vertreten, die einen flexibleren Kurs befürworteten und eher die anglo-amerikanische Position unterstützten, nicht nur bezüglich der EWG und der atlantischen Allianz, sondern auch hinsichtlich einer phantasiereicheren Ostpolitik.

Als Ludwig Erhard im Herbst 1963 die Nachfolge Adenauers antrat, verschlechterten sich die politischen Beziehungen zwischen der Bundesrepublik, Frankreich und den Vereinigten Staaten deutlich. De Gaulles Programm stand im klaren Widerspruch zu Kernelementen der deutschen Außenpolitik, und dies zu einer Zeit, als der neue Bundeskanzler französischen Vorhaben viel weniger positiv gegenüber stand, als dies bei Adenauer der Fall gewesen war. Die Krise von 1965 über die politische Zukunft und die Vergrößerung der EWG fand Bonn in Frontstellung gegen Paris (wenngleich letztlich die Position der Bundesrepublik in der EWG dadurch gestärkt wurde), und der deutsch-französische Gegensatz in politischen Grundsatzfragen wurde weiter verschärft durch Zusammenstöße im handels-und währungspolitischen Bereich. Doch auch Erhards Beziehungen zu Washington waren gestört. Das glücklose Projekt der multilateralen Atomstreitmacht (MLF), die militärisch-strategisch wertlos und in erster Linier dazu bestimmt war, den europäischen NATO-Mitgliedern den Schein nuklearer Verfügungsgewalt zu geben, ohne sie in Wirklichkeit zu gewähren, führte zu ernsthaften Spannungen zwischen Bonn und Washington, als die Johnson-Administration das Projekt 1965 abblies.

Auch Wirtschafts-und Währungskontroversen innerhalb der atlantischen Allianz zwangen die Bonner Regierung, Entscheidungen zu treffen, die sie zu vermeiden wünschte. Zwischen den Europäern und Amerikanern stand ein breites Spektrum umstrittener Fragen: die Ausweitung des Gemeinsamen Marktes, der Plan der europäischen Gemeinschaft zur Errichtung eines gemeinsamen Währungsgebietes und die politisch-strategischen und wirtschaftlichen Beziehungen zwischen den Vereinigten Staaten und Europa insgesamt. Angesichts des Niedergangs der wirtschaftlichen Hegemonie Amerikas im Verhältnis zu Europa und Japan zeigten Amerikas Verbündete, besonders Frankreich, zunehmend Unzufriedenheit über die amerikanischen politischen und ökonomisch-monetären Privilegien und begannen, auf Strukturveränderungen (wie etwa das internationale Währungssystem von Bretton Woods) zu drängen, innerhalb deren diese politischen und ökonomischen Regelungen getroffen worden waren. Zahlreich waren auch Washingtons Beschwerden über Praktiken der EWG, doch sie konzentrierten sich weitgehend auf drei miteinander verbundene Bereiche: die Präferenzabkommen der Gemeinschaft mit einer zunehmenden Zahl von Staaten, die mehr oder weniger das Meistbegünstigungsprinzip verletzten; die protektionistische Agrarpolitik der Gemeinschaft; und die Tatsache, daß die großen landwirtschaftlichen Überschüsse der Gemeinschaft auf traditionelle Märkte der Vereinigten Staaten geworfen wurden, besonders im Femen Osten und in Nordafrika. Die Europäer waren demgegenüber der Auffassung, das zentrale wirtschaftliche Problem sei nicht die Handels-, sondern die Geldpolitik, zumal die USA gegenüber der Gemeinschaft ständig eine positive Handelsbilanz aufwiesen. Aus europäischer Sicht handelten die Vereinigten Staaten unverantwortlich und auch eigensüchtig, indem sie keine Maßnahmen trafen, um ihren chronischen Zahlungsbilanzproblemen abzuhelfen und einen wesentlichen Teil der sich daraus ergebenden Anpassungsbelastung auf ihre europäischen Partner abwälzten. All dies brachte die Deutschen in eine mißliche Lage. Frankreich forderte die Unterstützung der Bundesrepublik für die gemeinsame Agrarpolitik der Gemeinschaft, da dies der Eckpfeiler des beim Eintritt in das System der Gemeinschaft geschlossenen französisch-deutschen Wirtschaftspaktes war, der vorsah, daß Frankreich ein Arrangement des freien Zugangs für deutsche Industrieprodukte akzeptierte und dafür im Agrarsektor Vorteile erlangte. Die Vereinigten Staaten wiederum bestanden auf finanzieller Unterstützung durch die Bundesrepublik, was den Devisenausgleich für Militärausgaben, Rüstungskäufe in den USA und andere Vereinbarungen zur Lastenteilung innerhalb der NATO einschloß, um die Spannungen zu mindern, die sich zwischen den drei zentralen Grundsätzen des Bretton-Woods-Systems entwickelt hatten — der Dollar-Gold-Parität, der festen Wechselkurse und der freien Konvertierbarkeit der Währungen.

Die Fiktion, daß Bretton Woods nach wie vor funktioniere, ließ sich ohnehin nur deshalb aufrechterhalten, weil die Deutsche Bundesbank sich 1967 verpflichtete, Dollars nicht in Gold einzutauschen, und weil sie es im allgemeinen vermied, diese Ordnung, das Bretton-Woods-Monetärsystem, zu erschüttern, wie es Frankreich zu politischen Zwecken tat. Doch obwohl die Bundesrepublik in den 1960er und den frühen 1970er Jahren mehr unternahm als jeder andere Staat, die Vereinigten Staaten gegen dauernde Angriffe auf den Dollar abzuschirmen, waren die Differenzen zwischen Bonn und Washington über monetäre Fragen grundsätzlicher Natur, denn sie entsprangen gegensätzlichen Auffassungen davon, was verantwortliche Währungs-und Haushaltspraktiken sind. Es hatte sich eine Beziehung beiderseitiger Abhängigkeit entwickelt: Die USA lieferten der Bundesrepublik Sicherheitswerte (worin Washington eine der Hauptursachen seiner Zahlungsbilanz-Schwierigkeiten erblickte), und die Bundesrepublik revanchierte sich mit direkter und indirekter finanzieller Unterstützung, bis die formellen Ausgleichsregelungen 1976 ausliefen.

Kleine Schritte nach Osten Das zentrale Dilemma der bundesrepublikanischen Ostpolitik in den 1960er Jahren bestand darin, daß Bonn nicht in der Lage war, die politischen und die rechtlichen Aspekte dieser Politik in Einklang zu bringen. Den Deutschen war klar, daß die internationalen Entwicklungen (in Westebenso wie in Osteuropa, in Washington so gut wie in Moskau) eine Revision der sterilen Bonner Ostpolitik erforderten, doch die legalistischen Beschränkungen, die man dieser Politik in den 1950er Jahren auferlegt hatte, waren in zunehmendem Maße hinderlich geworden und standen einer angemessenen Reaktion auf die politischen Erfordernisse der 1960er Jahre im Wege — eine Behinderung, die auch erklärt, warum sich Bonns Ostpolitik nicht auf die seiner Hauptverbündeten einstellen konnte.

Aus deutscher Sicht war die amerikanische Diplomatie zu »konservativ*, die französische zu innovativ. Washingtons Europapolitik erschien als zu konservativ in dem Sinn, daß sowohl die Kennedy-als auch die Johnson-Administration eine Verständigung mit der Sowjetunion anstrebte, die einen betont bilateralen Charakter hatte und indirekt zur Stabilisierung des europäischen Status quo tendierte. Die amerikanische Koexistenz-Politik stützte sich auf die Annahme, daß das gemeinsame nukleare Risiko und die gemeinsame politische Verantwortung der beiden Supermächte eine Stabilisierung des nuklearen militärischen Kräfteverhältnisses verlangten und daß die beiderseits angestrebte Stabilität der europäischen Ordnung das Weiterbestehen der sowjetischen ebenso wie der amerikanischen Einflußsphäre auf dem Kontinent erforderlich machte. Für Washington war die allmähliche Auflockerung des Warschauer Paktes (ein Prozeß, der im August 1968 teilweise zum Stillstand kam) weniger ein Grund zur Befriedigung als ein Anlaß zur Sorge. Die Fragmentierung des sowjetischen Imperiums in Osteuropa könnte unter Umständen den Kalten Krieg eskalieren und bestenfalls zu einer Auflösung der relativ stabilen und erträglichen europäischen Nachkriegsordnung — kurz, zur Demontage der amerikanischen Doppel-Eindämmungs-Politik — führen.

Die Kennedy-Administration hatte ungeachtet deutscher Bedenken die NATO-Strategie verändert, legte hinsichtlich der Frage der deutschen Einheit wenig Entschlossenheit an den Tag und erstrebte offenbar eine Verständigung mit der Sowjetunion in Europa, notfalls auch auf Kosten deutscher Interessen. Die Politik der Johnson-Administration gab auch Anlaß zur Sorge. Der Präsident persönlich schien in europäischen Angelegenheiten verunsichert und generell uninteressiert; und Washington war in zunehmendem Maße mit Vietnam sowie mit der Ausarbeitung einer Rüstungskontrollregelung mit der Sowjetunion beschäftigt. Dies alles machte die Regierung Johnson für die Bundesrepublik zu einem politisch wie psychologisch fernen Verbündeten. Die Möglichkeit, daß die Vereinigten Staaten einer Legitimierung der Teilung Europas und Deutschlands — das zentrale außenpolitische Ziel der Sowjetunion in den 1960er Jahren — zustimmen würden, war für Adenauer ebenso wie für Erhard ein Alptraum und blieb eine ständige Sorge während der Amtszeit der Regierung Kiesinger/Brandt, wenngleich bei letzterer bereits Uneinigkeit in der deutschen Frage deutlich wurde.

Während die amerikanische Politik wegen ihrer impliziten Bereitschaft, den europäischen Status quo zu zementieren, für Bonn zu »konservativ* war, erschien die französische Politik als zu innovativ und dynamisch, da sie letztlich die Auflösung der amerikanischen und der sowjetischen Einflußsphäre in Europa zum Ziel hatte. Angesichts seines Mißtrauens Amerika gegenüber fühlte sich Adenauer gezwungen, Unterstützung für Bonns starre Ostpolitik in Paris zu suchen, obwohl de Gaulle die Oder-Neiße-Linie 1959 anerkannt hatte (eine Voraussetzung seiner Initiativen gegenüber Osteuropa) und obwohl der Bundeskanzler sicherlich gewußt haben muß, daß de Gaulle sich nur für eine solche Lösung der deutschen Frage einsetzen konnte, die hinter einer tatsächlichen Wiedervereinigung zurückblieb. Gewiß wünschte de Gaulle eine Entschärfung der deutschen Frage; er sah in ihr die Hauptsursache (und Rechtfertigung) der Präsenz der Supermächte in Europa, eine Ursache, die bei einer Lösung der deutschen Frage entfiele und zur Auflösung der beiden Militärbündnisse des Kalten Krieges führen sowie den Rückzug von Amerikanern und Sowjets aus Europa beschleunigen würde. . Europa vom Atlantik bis zum Ural* unter Führung Frankreichs sollte an die Stelle der Zweier-Hegemonie treten, die Amerika und Ruß-land der europäischen Nachkriegsordnung aufgezwungen hatten. Doch bei seiner Annäherung an Osteuropa und die Sowjetunion ging de Gaulle sehr viel weiter, als es der Bonner Regierung angemessen erschien, und die grundlegende Veränderung der französischen Politik gegenüber der Sowjetunion mit der implizierten französisch-sowjetischen Verständigung hatte tiefgreifende Auswirkungen auf die französisch-deutschen Beziehungen, die ohnehin schon in den Bereichen der transatlantischen und europäischen Politik angespannt waren.

Kurz, die Politik Washingtons untergrub die politischen Dimensionen der Ostpolitik Bonns, da sie die Zementierung der bestehenden Einflußsphären in Europa in sich schloß und deren zukünftige Legitimierung voraussehen ließ; die französische Politik untergrub die rechtliche Dimension der Bonner Ostpolitik, da Paris, anders als Bonn, die osteuropäischen Staaten als vollwertige diplomatische Partner behandelte und dazu die auf die NATO gestützte Sicherheitspolitik der Bundesrepublik mißbilligte. Während die deutsch-amerikanischen Beziehungen der Nachkriegszeit in den 1960er Jahren durch einen Reifungsprozeß gekennzeichnet waren, wiesen sie auch zunehmende Belastungen auf, die sich über ein breites Spektrum von militärisch-strategischen, ökonomisch-monetären und politischen Problemen erstreckten.

III. Reibungen im Wandel: Die siebziger Jahre

In den 1970er Jahren veränderte sich das globale wie das regionale Kräfteverhältnis, wodurch für die deutsch-amerikanischen Beziehungen neue Möglichkeiten ebenso wie neue Probleme entstanden. Die Ursprünge dieser Veränderungen lagen in den 1960er Jahren und (teilweise) in der unmittelbaren Nachkriegszeit, doch ihre Manifestationen wurden erst in den 1970er Jahren deutlich sichtbar und schufen ein erheblich unterschiedenes internationales Umfeld für die deutsch-amerikanische Diplomatie, was auch für die innenpolitischen Grundlagen der deutsch-amerikanischen Beziehungen Konsequenzen hatte.

Da war, vor allem anderen, der relative Niedergang der amerikanischen Macht. Am Ende des Zweiten Weltkriegs und zu Beginn des Kalten Kriegs besaßen die Vereinigten Staaten unanfechtbare wirtschaftliche Hegemonie; sie kontrollierten das internationale Währungssystem, das sie geschaffen hatten; sie standen auf dem Gipfel des internationalen Prestiges und politischen Einflusses; und sie besaßen eine unverwundbare nukleare Streitmacht, die die Sicherheit Amerikas und seiner Verbündeten garantierte. Drei Jahrzehnte später mußten die USA ihre wirtschaftliche und monetäre Vormachtstellung mit Westeuropa und Japan teilen, waren gezwungen, den sowjetischen Paritätsanspruch hinsichtlich des nuklearen Potentials anzuerkennen und hatten wegen Schwächen in ihrer Außen-und Innenpolitik einen Schwund an Prestige und Einfluß erlitten.

Mit diesen Entwicklungen sowie mit dem wachsenden Selbstbewußtsein Westeuropas verband sich die Erkenntnis auf beiden Seiten des Atlantiks, daß die amerikanischen und westeuropäischen Interessen nicht mehr so stark übereinstimmten, wie dies in der Nachkriegszeit der Fall gewesen zu sein schien — eine Erkenntnis, die sich in einer Anzahl von äußerst wichtigen Aspekten der deutsch-amerikanischen Beziehung widerspiegelte.

Ost-West-Entspannung, deutsche Ostpolitik und die politische Ordnung Europas Der Regierung Brandt/Scheel, die im Herbst 1969 die Macht übernahm, war klar, daß eine deutsche Annäherung an den Osten und die Koordination der deutschen Diplomatie mit den Entspannungsbemühungen der Westmächte die formelle Anerkennung des europäischen Status quo durch Bonn voraussetzte. Durch die Einstellung der westdeutschen Außenpolitik auf die Dynamik der Entspannungspolitik — daß herausragende außenpolitische Ziel des Warschauer Paktes ebenso wie des atlantischen Bündnisses — hoffte Bonn, eine konstruktivere Haltung gegenüber dem Osten aufzubauen, mit den internationalen Entwicklungen Schritt zu halten, die diplomatischen Einflußmöglichkeiten zu erweitern und damit die diplomatische Ost-West-Konstellation mitzubestimmen, in der politische, strategische und wirtschaftliche Fragen zusammengekoppelt waren. Aus historischen und geographischen Gründen sowie wegen der ständigen Frage der deutschen Einheit waren die Bestrebungen und Hoffnungen, die in einer westlichen Enstspannungspolitik Ausdruck fanden, für die Bundesrepublik besonders bedeutsam; die Regierung Brandt war bereit, den unentbehrlichen Beitrag zu ihrem Erfolg zu leisten — durch das Akzeptieren des europäischen Status quo.

Die Ostpolitik der Regierung Brandt/Scheel trug auch zur Ergänzung ihrer Sicherheitspolitik bei — nicht etwa, weil sie die strategische Abhängigkeit der Bundesrepublik von den USA oder ihr Engagement für die NATO verminderte, sondern weil die Bereitschaft Bonns, den territorialen Status quo zu akzeptieren, die deutschen Sicherheitsprobleme bei deren politischen Wurzeln packte. Im Gegensatz zu den 1950er und 1960er Jahren, als die Sicherheitspolitik Bonns den Ost-West-Konflikt widerspiegelte und eher verschärfte, überwand die neue Ostpolitik diese krassen Widersprüche. Indem sie die aus dem Zweiten Weltkrieg herrührenden territorialen und politischen Realitäten anerkannte, ließ die Bundesrepublik ihre Sicherheitspolitik und ihre Ostpolitik ineinander-greifen, entwickelte damit auch eine konstruktivere Haltung zur Rüstungskontrolle und paßte die westdeutsche Außenpolitik der Dynamik der Ost-West-Entspannung an.

Die Anpassung der deutschen Diplomatie an die Entspannungspolitik der Westmächte Anfang der 1970er Jahre war jedoch nicht leicht. Wenngleich die Bonner Ostpolitik anderen dynamischen westlichen Initiativen gegenüber dem Osten nachfolgte und nicht vorgriff, zeigte doch die anfängliche Reaktion ihrer Partner (besonders in Washington) den Deutschen, daß ihr eigenes Vorgehen ein prekäres Gleichgewicht von Initiative und Zurückhaltung verlangte. Eine zu geringe Bereitschaft, die Ost-West-Verständigung zu unterstützen, hatte ihnen in der Vergangenheit Vorwürfe der Obstruktion eingebracht (insbesondere, wenn Bonn sich in Fragen der Rüstungskontrolle unbeweglich zeigte); eine zu große Begeisterung für die Entspannung weckte Befürchtungen, daß Bonn seine Verbindungen zum Westen schwächen würde, um die Chancen für die deutsche Einheit zu verbessern. Der Verdacht, die Bundesrepublik sei eine tatsächliche oder potentielle revisionistische europäische Macht, die bereit wäre, den Status quo aus den Angeln zu heben, wenn sich eine Gelegenheit dazu böte, lag dicht unter der Oberfläche von vielen politischen, militärisch-strategischen und wirtschaftlichen Probleme, die zwischen Bonn und anderen Ländern umstritten waren.

Die Deutschen waren wohl die Hauptnutznießer der Entspannung, weil ihre Erwartungen hinsichtlich der Erleichterung menschlicher Kontakte zwischen den beiden deutschen Staaten zumindest teilweise erfüllt wurden und es der Bundesrepublik gleichfalls gelang, ihr internationales Prestige und ihren diplomatischen Einfluß zu erhöhen. Demzufolge blieb die Bundesrepublik während der 1970er Jahre der Entwicklung einer europäischen Ordnung verpflichtet, die diese Gewinne sichern und ausweiten würde, und sie neigte dazu, die Entspannung als einen teilbaren Prozeß zu betrachten, der gegenüber außereuropäischen Störungen abgeschirmt werden sollte. Andererseits waren sowohl die USA als auch die Sowjetunion, aus je unterschiedlichen Gründen, von den Resultaten der Entspannung enttäuscht; ihr Engagement für den Neuaufbau einer europäischen politischen Ordnung war, wiederum aus unterschiedlichen Gründen, fraglich; und die USA bemühten sich, die Bonner Regierung davon zu überzeugen, daß der Entspannungsprozeß unteilbar und mit der globalen Ost-West-Auseinandersetzung verbunden sei.

Wirtschafts-

und Währungsbeziehungen Die 1970er Jahre brachten nicht nur unterschiedliche Interpretationen von Bedeutung und Ergebnissen der Entspannung, sondern auch eine ganze Serie von Differenzen zwischen den Vereinigten Staaten und der Bundesrepublik in ökonomischen und monetären Fragen.

Die Weltwährungskrise vom Sommer 1973 bildete den Höhepunkt der ökonomisch-monetären Kontroversen zwischen den Vereinigten Staaten und den Ländern des Gemeinsamen Marktes, die sich in den 1960er Jahren entwickelt hatten. Die Krise kündigte eine seit langem überfällige Umstrukturierung des Weltwährungssystems an und betraf sowohl in starkem Maße die wirtschaftliche, strategische und politische Rolle der Vereinigten Staaten in der Weltpolitik als auch die Frage, welchen Teil dieser Rolle die Verbündeteten bereit waren, weiterhin zu finanzieren. Die Notwendigkeit, diesen Rahmen zu verändern, stellte sich um so dringlicher angesichts des wachsenden Vorrangs ökonomisch-monetärer über militärisch-strategische Angelegenheiten und angesichts zunehmender wirtschaftlicher Interdependenz sowie der besonderen politischen und ökonomischen Schwierigkeiten, die sich aus der Erweiterung der europäischen Gemeinschaft und ihrer begrenzten integrativen Dynamik ergaben.

Wenngleich diese Entwicklungen die deutsche diplomatische Position stärkten, weil sie Elemente der Macht in eine Richtung verschoben, in der die Hauptquelle des deutschen Potentials lag, waren ihre politischen, ökonomischen und psychologischen Auswirkungen besonders störend, nachdem Helmut Schmidt 1974 die Kanzlerschaft von Willy Brandt übernommen hatte — weniger wegen des Wechsels in der deutschen Führung, als deshalb, weil die deutsche Ostpolitik ihre dramatischen Höhepunkte überschritten hatte und die weltweite Rezession wirtschaftliche Fragen in den Vordergrund schob. Mitte und Ende der 1970er Jahre standen die Westeuropäer nicht mehr so stark im Bann der dramatischen „großen Politik“ der vorangegangenen Jahre; vielmehr waren sie mit den mehr technischen wirtschaftlichen und politischen Aufgaben beschäftigt, vor die sie sich gestellt sahen: Wirtschaftswachstum und Währungsstabilität, Sicherheit der Versorgung mit Energie und anderen Rohstoffen, eine konstruktive Politik gegenüber der Dritten Welt und die Umgestaltung von EG-Strukturen zwecks Durchführung dringend notwendiger Reformen und Eingliederung neuer Mitgliedstaaten. Bei all diesen Aufgaben, die koordinierte und somit sorgfältig abgemessene Schritte verlangten, wurde deutlich, daß die Wirtschaftspolitik eine stetige, grundlegende und vielleicht entscheidende Rolle spielte, wobei sich der Bundesrepublik große Möglichkeiten boten, Wirtschafts-und Währungspotential in politischen Einfluß umzumünzen. Die militärisch-strategische Dimension Ende der 1960er Jahre näherte sich die Sowjetunion der Parität im Potential an Langstreckenraketen mit den Vereinigten Staaten. Das zwang Washington dazu, den Automatismus seiner Kemwaffengarantie gegenüber Europa einzuschränken. Auf deutscher Seite bestand weniger Anlaß, die amerikanische Verpflichtung gegenüber Europa in Frage zu stellen — nicht nur wegen einer veränderten Einschätzung der Bedrohung durch die Sowjetunion, sondern auch, weil die (durch die NATO symbolisierte) transatlantische Sicherheitspartnerschaft in vieler Hinsicht zu einer bilateralen deutsch-amerikanischen Übereinkunft geworden war. Als die amerikanische Sicherheitspolitik und Bündnisdiplomatie in die weniger kompetente Regie der Carter-Administration überging, und als die deutsche Politik von dem bestimmteren und schärferen Stil Helmut Schmidts geprägt wurde, kamen politische Differenzen — in die Sprache der strategischen Doktrinen gekleidet — jedoch rasch wieder zutage.

In einem sehr erheblichen Ausmaß drehte sich die neu entstehende Debatte der späten 1970er Jahre über die transatlantische Sicherheit um die immerwährend störrische Frage der Vorneverteidigung und das damit verwandte Problem der „konventionellen Pause“. Gewiß erneuerte Präsident Carter die amerikanische Verpflichtung auf das Prinzip der Vorneverteidigung, und er schloß auch den Einsatz taktischer Kernwaffen nicht prinzipiell aus. Die zentrale Frage jedoch — der Zeitpunkt einer taktischen nuklearen Reaktion — blieb so unklar wie je zuvor. Da viele deutsche Militärs taktische Kernwaffen als ein essentielles Glied in der Eskalationskette von einer konventionellen Reaktion bis zu einem strategischen nuklearen Schlagabtausch zwischen der Sowjetunion und den Vereinigten Staaten betrachteten, sah man in der amerikanischen Ambivalenz hinsichtlich der Frage, wann (oder sogar ob) taktische Kernwaffen eingesetzt würden, eine massive Gefährdung für die Gesamtheit der NATO-Eskalations-Leiter, was zu einem Abkoppeln der amerikanischen Kemwaffengarantie für Europa führen würde.

Während die europäischen NATO-Mitglieder und vor allem die Bundesrepublik die Auffassung vertraten, ihre Sicherheitsinteressen seien am besten durch die Drohung gewahrt, Kernwaffen in einem frühen Stadium eines konventionellen Krieges einzusetzen, wünschten die USA, daß dieser Augenblick so lange wie möglich hinausgeschoben würde. Während europäische Strategen amerikanische taktische Kernwaffen als das essentielle Glied zwischen den strategischen Kernwaffen der Vereinigten Staaten und dem amerikanischen Potential auf einem europäischen Kriegsschauplatz betrachteten, die ein Symbol für Washingtons Entschlossenheit darstellten, für seine europäischen Verbündeten das Risiko der Eskalation einzugehen, galten taktische Kernwaffen in den Augen amerikanischer Strategen als eine Art Reserve für den Fall, daß die konventionelle Verteidigung der NATO versagte, sowie als ein Mittel zur Begrenzung des Konflikts auf den Kontinent und zur Verhinderung einer Eskalation. Während Amerikas NATO-Partner an der vordersten Verteidigungslinie keine Strategie akzeptieren konnten, die eine längere konventionelle Kriegführung auf Kosten ihrer Bevölkerung und ihres Territoriums bedeutete, mußten die USA die potentielle nukleare Vernichtung Amerikas in Rechnung stellen und waren deshalb bestrebt, den Einsatz von Kernwaffen hinauszuzögern.

Diese unterschiedlichen Perspektiven, die sich aus der Tatsache ergaben, daß die Sicherheitsinteressen der Vereinigten Staaten und Westeuropas nicht deckungsgleich waren, wurden besonders verdeutlicht durch die Aufregung innerhalb der NATO angesichts von Präsident Carters Schwanken bei der Entscheidung über die Entwicklung und Aufstellung von Neutronenwaffen, da einige europäische Strategen solche Sprengköpfe mit verstärkter Strahlung, die wirksam gegen Panzer und gepanzerte Fahrzeuge eingesetzt werden konnten, als einen Ausgleich für die Schwäche der NATO im Bereich der konventionellen Streitkräfte ansahen. Auch wirkte es keineswegs beruhigend auf die Deutschen, als amerikanische Journalisten Auszüge aus dem Presidential Review Memorandum 10 veröffentlichten, worin sich neben anderen Optionen ein Vorschlag an Präsident Carter fand, man sollte Westeuropa vielleicht nicht entlang der Grenze zwischen West-und Ostdeutschland, sondern entlang Weser und Lech verteidigen. Zwar hatten NATO-Planer schon seit langem die militärische Praktikabilität einer Verteidigung Europas an der Grenze der Bundesrepublik zur Deutschen Demokratischen Republik und zur Tschechoslowakei in Frage gestellt, jedoch war es politisch zwingend notwendig, den Deutschen zu versichern, daß ihre geographische Lage sie nicht dazu verurteilen würde, das erste (und vielleicht einzige) Opfer eines konventionellen Krieges zu werden.

Die Frage des eurostrategischen Gleichgewichts Ende der 1970er Jahre wurde die zwanzig Jahre alte Frage des Kernwaffengleichgewichts zwischen Ost und West in Europa, die ein Jahrzehnt lang geruht hatte, erneut mit den dreißig Jahre alten Fragen der Vomeverteidigung, des Zeitpunkts einer amerikanischen nuklearen Reaktion und des Charakters der amerikanischen Kemwaffenverpflichtung gegenüber Europa verbunden. Gegen Ende der Carter-und zu Beginn der Reagan-Administration wurde die Annahme, das Streben nach Entspannung und das nach Abschreckung ergänzten einander — sie bildete das Kernstück der Sicherheitspolitik der Bundesrepublik in den 1970er Jahren —, in Frage gestellt. Das Hauptproblem betraf das eurostrategische (Mittelstreckenkemwaffen) Gleichgewicht zwischen der NATO und dem Warschauer Pakt. Dieses Gleichgewicht wurde durch die Aufstellung einer großen Zahl von sowjetischen SS-20-Mittelstrekkenraketen verschoben, auf die seitens der NATO im Dezember 1979 mit dem sogenannten , Doppelbeschluß* geantwortet wurde, der die Aufstellung von 572 modernisierten amerikanischen Pershing-II-Raketen und Marschflugkörpern ab Ende 1983 vorsah, wenn nicht ein Rüstungskontrollabkommen mit der Sowjetunion diese Aufstellung unnötig machte.

Hier ist nicht der Ort, sich mit der technischen Komplexität und der politischen Kontroverse im Zusammenhang mit der Frage des eurostrategischen Gleichgewichts auseinanderzusetzen. Doch diese Kontroverse, so wichtig sie als solche bereits ist, gewinnt auf beiden Seiten des Atlantiks eine Bedeutung, die weit über ihr militärtechnisches Gewicht hinausgeht und sich auf grundsätzliche Fragen über die künftige Gestalt der transatlantischen Allianz und der europäischen politischen Ordnung erstreckt. Deutsche Haltungen zur Frage des eurostrategischen Gleichgewichts wurden in einer Art und Weise gebildet oder auch verfestigt, die sich auch auf benachbarte Bereiche der deutsch-amerikanischen Beziehungen erstreckten und diese auf Jahre hinaus beeinflussen werden. Die komplizierten technischen Diskussionen über Rüstungskontrollmaßnahmen sowie die äußerst emotionalen Reaktionen, die diese Diskussionen oft hervorrufen, stehen in enger Beziehung zu grundlegenden politischen Haltungen (in der Bundesrepublik ebenso wie in den Vereinigten Staaten) zum Charakter des Ost-West-Konflikts, zur Form einer erstrebenswerten regionalen und globalen politischen Ordnung und zu den Prämissen, die den deutsch-amerikanischen Beziehungen zugrunde liegen. Die Tatsache, daß Sicherheitsfragen in den achtziger Jahren erneut zu Hauptproblemen des atlantischen Bündnisses geworden sind, wird damit verständlich, daß diese Probleme, sogar noch mehr als in den 1960er Jahren, politische Ziele widerspiegeln und vorankündigen, die weitaus tiefer gehen als ein numerisches Abwägen des regionalen oder globalen militärischen Gleichgewichts.

Vor allem anderen zeigte vielleicht die Debatte über die eurostrategischen Raketen, daß es bei der Bevölkerung der westlichen Länder keinen breiten Konsens mehr gab hinsichtlich des Charakters und der Intensität der sowjetischen Bedrohung sowie der angemessenen westlichen Außenpolitik gegenüber der Sowjetunion und den politischen Herausforderungen, vor die sich der Westen in den 1980er Jahren gestellt sieht. Viele Westdeutsche waren zwar überzeugt, daß die deutschen Sicherheitsinteressen eine fortdauernde Unterstützung der NATO durch die Bundesrepublik erforderten, sie waren aber nicht daran interessiert, daß zusätzliche Kernwaffen auf ihrem Territorium in Stellung gebracht würden: Im Verhältnis zu ihrer Größe enthielt die Bundesrepublik bereits mehr Kernwaffen als jedes andere Land der Welt; die Sowjetunion erklärte wiederholt, sie betrachte die geplante Aufstellung neuer Mittelstrecken-kernwaffen als eine gefährliche Bedrohung, was zu einer Erhöhung der Ost-West-Spannungen führen würde; und es bestand der hartnäckige Verdacht, der durch Erklärungen aus Washington genährt wurde, daß die USA die nukleare Überlegenheit gegenüber der Sowjetunion anstrebten und daß die Aufstellung von Raketen, mit denen die Sowjetunion aus Westeuropa getroffen werden könnte, ein Mittel zur Verwirklichung dieser Absicht darstelle. Dies alles unterstrich das zentrale Paradoxon der Haltung der Westeuropäer zu ihrer transatlantischen nuklearen Schutzmacht: Sie scheinen gleichermaßen zu fürchten, daß die Vereinigten Staaten zum Einsatz von Kernwaffen greifen würden — und daß sie es nicht täten. Ebenso stark scheinen sie einen Mangel an Umsicht seitens der Vereinigten Staaten zu fürchten — wie auch einen Mangel an amerikanischer Entschlossenheit. Sie machen sich Sorgen über eine amerikanische Konfrontationspolitik gegenüber der Sowjetunion, doch befürchten sie auch die Möglichkeit des amerikanischen Unilateralismus und eines amerikanischen Rückzugs aus Europa. Bedenkt man die Beunruhigung der Deutschen durch die Frage der eurostrategischen Raketen und deren breitgefächerte politische Rückwirkungen, so kann es kaum überraschen, daß diese Beunruhigung sich nicht nur in maßvollen, sondern auch in schrillen Tönen äußerte. Die Amerikaner müssen unbedingt verstehen, daß die eher zurückhaltende Einstellung, die viele Europäer gegenüber ihrem transatlantischen Partner gewonnen haben, sie nicht schon deshalb enger an Moskau heranrücken oder sie zu unzuverlässigen Bündnispartnern werden läßt.

In der Bundesrepublik gibt es ein weites und tiefes Reservoir des guten Willens gegenüber den Vereinigten Staaten, das die unscharfen und durchlässigen Grenzen des Alters, des sozioökonomischen Status und des politischen Bewußtseins überspannt. Doch die Übertragung dieses guten Willens in die praktische Politik, die letztlich den Charakter der deutsch-amerikanischen Beziehungen bestimmt, erfolgt nicht automatisch. Sie verlangt Umsicht und Pflege auf beiden Seiten des Atlantiks, insbesondere bei Sicherheitsfragen, die für die jeweiligen nationalen Interessen als zentral gesehen werden. Die meisten Europäer sind nicht »neutralistisch* oder , antiamerikanisch 4, doch ihr Vertrauen in die amerikanische Diplomatie muß ständig in der alltäglichen Praxis der amerikanischen Außenpolitik neu verdient werden. Verdient werden muß es auch in der Praxis der amerikanischen Innenpolitik, denn viele Europäer verbinden ihre Beurteilung der Außenpolitik Washingtons mit ihrer Einschätzung des innenpolitischen Prozesses in den USA; ihre langfristigen Erwartungen hinsichtlich der politischen Verläßlichkeit und Umsicht ihres transatlantischen Partners entspringen ebenso sehr ihrer Auffassung von der zukünftigen innenpolitischen Ordnung Amerikas wie ihrer Auffassung von der gegenwärtigen amerikanischen Diplomatie.

Wenn die Bundesrepublik dazu beitragen möchte, eine europäische Ordnung zu schaffen, die deutschen Interessen entspricht, und dabei nicht die Unterstützung Amerikas verlieren will, dann muß die deutsche Diplomatie die Tatsache akzeptieren, daß die innenpolitischen Grundlagen für eine konsequente, langfristige Europapolitik in den Vereinigten Staaten nicht mehr so gesichert sind wie in den vorangegangenen Jahrzehnten, und daß Washington höchstwahrscheinlich daran festhalten wird, seine Außen-, militärisch-strategische und Wirtschaftspolitik nicht nur in der Auseinandersetzung mit Gegnern, sondern auch gegenüber seinen Verbündeten mittels einer verkoppelten , Linkage‘-Politik zu vertreten.

Wenn die USA die Entwicklung der europäischen Ordnung in konstruktiver Weise beeinflussen möchten, dann muß die amerikanische Diplomatie die Unvermeidlichkeit dieser Entwicklung ebenso akzeptieren wie die unumgänglichen Neuerungen, die sie begleiten werden. Was erforderlich ist, und was viele Europäer begrüßen würden, ist eine Umstrukturierung der politischen Landschaft Amerikas, in der ein aufgeklärter, verantwortlicher ökonomischer Konservatismus von Rüstungsbesessenheit abgekoppelt und mit einer Haltung in militärisch-strategischen Fragen zusammengefügt wird, die ihre zentrale Rolle für die amerikanische Sicherheit hinnimmt, aber sich ihrer geringfügigen Bedeutung im Alltagsgeschäft der amerikanischen Diplomatie bewußt ist. Ohne eine solche Umstrukturierung wird es schwierig sein, Verbündete in Europa davon zu überzeugen, daß die amerikanische Politik einer ausgereiften Inrechnungstellung gemeinsamer und widersprechender Interessen Ausdruck gibt. Der Boden, der in den 1980er Jahren überquert werden muß, ist steinig, aber es ist auch ein gemeinsamer Boden, der nicht völlig unabgesteckt bleiben muß, selbst wenn jede Seite eine etwas unterschiedliche Richtung einschlägt.

Fussnoten

Weitere Inhalte

Wolfram F. Hanrieder, Professor für politische Wissenschaft an der University of California in Santa Barbara. Veröffentlichungen u. a.: West German Foreign Policy 1949— 1963, 1967; The Stable Crisis. Two Decades of German Foreign Policy, 1970; Fragmente der Macht. Die Außenpolitik der Bundesrepublik, 1981; (Mithersg.) Economic Issues and the Atlantic Community.