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Adenauers Moskaureise 1955 | APuZ 22/1986 | bpb.de

Archiv Ausgaben ab 1953

APuZ 22/1986 Die Verfassungspolitik der westlichen Besatzungsmächte in den Ländern nach 1945. Oktroyierte Systemübertragung oder eigenständiger demokratischer Neubeginn? Die westlichen Besatzungsmächte und der Kampf gegen den Mangel 1945— 1949 Adenauers Moskaureise 1955

Adenauers Moskaureise 1955

Josef Foschepoth

/ 45 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Die Reise, die Konrad Adenauer im September 1955 nach Moskau unternahm, hat sich den Deutschen als ein großer politischer Erfolg des ersten Bundeskanzlers eingeprägt. Der Grund: die Heimführung der deutschen Kriegsgefangenen aus Rußland. Noch 1967 erklärten in einer Umfrage nicht weniger als 75 % der Befragten dies als die bedeutendste Tat des Kanzlers. Erst kürzlich freigegebene Akten der britischen Regierung aus dem Jahre 1955 werfen indes neues Licht auf diesen wohl zählebigsten und wirkungsvollsten Mythos, der sich um die Person Adenauers rankt. Adenauer unternahm die Reise, weil der Erwartungsdruck der Öffentlichkeit, durch Aufnahme direkter Kontakte mit dem Kreml einer Lösung der deutschen Kriegsgefangenenfrage und der Frage der Wiedervereinigung Deutschlands zumindest einen Schritt näher zu kommen, ihm keine andere Wahl ließ. Er tat dies jedoch nicht in der Absicht, den vielfältigen Erwartungen zu entsprechen, sondern sie auf ein erträgliches Maß zu reduzieren. Verhandeln — ja, aber nicht, um zu einem raschen Ergebnis zu kommen, sondern um der Öffentlichkeit zu beweisen, daß es den Deutschen nicht an gutem Willen fehle, bei einer ernsthaften Politik der Entspannung mitzuwirken. Am besten waren daher gemischte, sowjetisch-deutsche Kommissionen zu bilden, in denen unbegrenzt weiterverhandelt werden konnte und sollte: über die Aufnahme diplomatischer Beziehungen, das Kriegsgefangenenproblem, die Wiedervereinigungsfrage u. a. m. Daß alles anders kam als geplant, ist auf das geschickte taktische Vorgehen der Sowjets zurückzuführen. Nach vier Tagen war die Aufnahme diplomatischer Beziehungen zwischen der Sowjetunion und der Bundesrepublik Deutschland vereinbart, der Status quo in Deutschland und damit die Teilung dieses Landes auf Dauer — wenn auch nicht de jure, so doch de facto — anerkannt und besiegelt. Möglich wurde dies durch das überraschende Angebot der Sowjetunion, sofort mit der Freilassung der letzten 9626 Kriegsgefangenen zu beginnen. Die Sowjets bekamen, was sie wollten: Entspannung war künftig nur noch auf der Basis der Anerkennung des Status quo in Deutschland und Europa möglich. Adenauer sah das nicht anders, wie ein TOP-SECRET-Dokument des britischen Foreign Office zum ersten Mal sehr eindrucksvoll bestätigt. Zur Beibehaltung der Teilung Deutschlands gab es auch für ihn auf absehbare Zeit keine ernsthafte Alternative. Öffentlich sagen durfte er dies freilich nicht. 1955 waren es die Heimkehrer, die dem Kanzler noch einmal über den durch die Moskauer Vereinbarungen so eklatant zutage getretenen Widerspruch zwischen Ideologie und Praxis seiner Deutschlandpolitik hinweghalfen — mit Erfolg, wie die Wahlen des Jahres 1957 zeigen sollten.

I. Die Moskaureise — Urteile und offene Fragen

Anfang September 1955 begab sich eine westdeutsche Verhandlungsdelegation unter der Führung von Bundeskanzler Adenauer auf den Weg nach Moskau, um über die Aufnahme diplomatischer Beziehungen mit der Sowjetunion zu verhandeln. Die Initiative war vom Kreml ausgegangen. Bonn hatte zunächst zwar zögerlich, letztendlich aber positiv reagiert und die Einladung angenommen. Neben Außenminister von Brentano und den engsten Beratern des Kanzlers, Hallstein, Blanken-horn und Grewe, nahmen an den Verhandlungen mit der Kremlführung — an der Spitze Ministerpräsident Bulganin, Parteichef Chruschtschow und Außenminister Molotow — Kurt Georg Kiesinger, Karl Arnold und Carlo Schmid als Vertreter der Auswärtigen Ausschüsse von Bundestag und Bundesrat teil. Die Verhandlungen dauerten vom 9. bis 13. September 1955

Diese erste Reise eines deutschen Bundeskanzlers in die Hauptstadt des Sowjetimperiums genießt in der Erinnerung der Deutschen einen hohen und ausgesprochen positiven Stellenwert. Der Grund dafür ist nicht etwa in der Vereinbarung über die Aufnahme diplomatischer Beziehungen zwischen der Sowjetunion und der Bundesrepublik Deutschland zu sehen, sondern in der bei dieser Gelegenheit mündlich gegebenen Zusicherung der Sowjets, 9 626 in der Sowjetunion noch zurückgehaltene Kriegsgefangene so bald wie möglich in die Heimat zu entlassen. Seitdem haftet Adenauer der Mythos vom „Befreier der deutschen Kriegsgefangenen“ an — ein Mythos, den er selbst in seinen Erinnerungen sehr gepflegt hat. „Ich war in Moskau“, schrieb er, „um für die Heimkehr vieler tausend Menschen zu kämpfen. Von dem Ausgang der Verhandlungen hing ihr Schicksal ab. Das habe ich während der Moskauer Tage nicht einen Augenblick vergessen.“

Ging es tatsächlich in erster Linie um die „Befreiung“ der sich noch in sowjetischem Gewahrsam befindlichen Deutschen? Um der deutschen Soldaten willen, so kann man bei Schulze-Vorberg nachlesen, „wagte“ Adenauer die Moskaureise. „Ihre unverzügliche Heimkehr war die Bedingung, die Voraussetzung für jede weitere Abmachung mit der Sowjetunion.“ War der Kanzler tatsächlich der Agierende, der, der Bedingungen stellen und durch zähes Verhandeln die Freilassung der Gefangenen erzwingen konnte? Wäre es ohne die Lösung der Gefangenenfrage nicht zur Aufnahme diplomatischer Beziehungen mit der Sowjetunion gekommen? Und umgekehrt: Wären die Gefangenen ohne die Vereinbarung über die Aufnahme diplomatischer Beziehungen etwa nicht freigelassen worden?

Erst kürzlich hat Boris Meissner die Meinung vertreten, die Sowjets hätten, schon um einen innenpolitischen Prestigeverlust zu vermeiden, ein Scheitern der Verhandlungen gar nicht riskieren können Zehn Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges hätte demnach der Westen der geteilten Verlierernation bereits ein solches Ausmaß an Stärke und Bedeutung wiedererlangt, daß er ohne weiteres in der Lage gewesen wäre, den mächtigen Sieger Sowjetunion innenpolitisch in Schwierigkeiten zu bringen. Einer solchen Argumentation zufolge war es ausschließlich das Verhandlungsgeschick Adenauers, was den Erfolg ermöglichte. Anders als die Sowjetführer, die nach Meissner vor allem in der Kriegsgefangenenfrage „brutale Härte“ an den Tag legten, zeigte Adenauer sich „würdevoll und ruhig und ging völlig pragmatisch an die einzelnen Probleme heran“. Ein wichtiger Grund für den Erfolg sei die klare Erkenntnis gewesen, daß man mit „totalitären Großmächten“ anders verhandeln müsse als mit „demokratischen Großmächten“. Während in dem einen Fall „Vorleistungen“ möglich seien, müßten in dem anderen Fall „Leistung und Gegenleistung Zug um Zug erfolgen und ausgewogen sein“. Ein weiterer Grund für den Erfolg sei schließlich die Tatsache gewesen, daß sich der Kanzler keinerlei „Erfolgszwang“ ausgesetzt habe. Dies sei u. a. in der Bereitschaft zum Ausdruck gekommen, „bei Gefährdung unverzichtbarer eigener Positionen von außenpolitischer Bedeutung, einen Abbruch der Verhandlungen ohne Rücksicht auf die innenpolitischen Folgen in Aussicht zu nehmen“

War das alles wirklich so? War die Moskaureise tatsächlich, selbst deutschlandpolitisch, ein so großer politischer Erfolg? Die Mehrzahl der Deutschen hat dies nie bezweifelt. In einer Meinungsumfrage nach Abschluß der Reise erklärten sich mehr als zwei Drittel der Befragten mit dem Ergebnis der Verhandlungen in Moskau einverstanden. Fast zwölf Jahre später, im Mai 1967, kurz nach dem Tode Adenauers, waren es nicht weniger als 75%, die „die Heimführung der deutschen Kriegsgefangenen aus Rußland“ für die bedeutendste Tat des ersten Bundeskanzlers hielten 30 Jahre danach gibt es Anlaß, die angeblich große Leistung Adenauers auf der Basis neuer Quellenbefunde zu überprüfen. Die kürzlich der Öffentlichkeit freigegebenen Akten der britischen Regierung aus dem Jahre 1955 werfen neues Licht auf jene Vorgänge.

II. Die Kriegsgefangenen: Streitobjekt im Kalten Krieg

Zunächst einige Zahlen: Insgesamt waren es etwa zehn Millionen deutsche Soldaten, die während des Zweiten Weltkriegs in Gefangenschaft geraten waren. Knapp ein Drittel, 3 155 000 Mann, fielen in die Hände der Roten Armee. Davon kehrten 1 959 000 Gefangene nach und nach in die Heimat zurück, die meisten bis zum Jahre 1950, die letzten 1956 Im September 1955 waren es noch 9 626 Personen, die in der Sowjetunion zurückgehalten wurden: „Kriegsgefangene“, wie die Deutschen sie nannten, „Kriegsverbrecher“, wie sie von den Sowjets bezeichnet wurden, da sie wegen „besonders schwerer Verbrechen gegen das sowjetische Volk, gegen den Frieden und die Menschlichkeit“ von sowjetischen Gerichten verurteilt worden waren

Hinzu kam eine große Zahl von Deutschen, die beim Vormarsch der Roten Armee aus Ostdeutschland und den verschiedensten Gegenden Ost-und Südosteuropas in die Sowjetunion verschleppt worden waren. „Hunderttausende“ waren es nach Ansicht der Bundesregierung. Präzisere Angaben waren kaum möglich. Entsprechend schwankten die Schätzungen bei den sogenannten „Zivilverschleppten“ zwischen 750 000 und 120 000 Tatsächlich nach Deutschland zurückgekehrt sind letztlich neben der bereits erwähnten Zahl von Kriegsgefangenen lediglich 20 000 Zivil-personen

Im Frühjahr 1947 hatten sich die Außenminister der vier Siegermächte auf einer Konferenz in Moskau geeinigt, bis zum 31. Dezember 1948 alle ehemaligen Angehörigen der deutschen Wehrmacht zu entlassen. Der Alliierte Kontrollrat in Berlin wurde beauftragt, einen Plan für die Rückführung zu erstellen. Dazu ist es nie gekommen. Der beginnende Kalte Krieg machte auch in dieser Frage eine gemeinsame Regelung unmöglich. Die Sowjetunion wehrte sich dagegen, einerseits an die Einhaltung des Stichtages für die Rückführung der Kriegsgefangenen gemahnt zu werden, andererseits hinzunehmen, daß eine große Zahl deutscher Kriegsgefangener in den westlichen Ländern, insbesondere in Großbritannien und Frankreich, die inzwischen den Status eines zivilen Arbeiters angenommen hatten, von der Rückführung nach Deutschland ausgenommen werden sollten

Die Verschärfung der Spannungen zwischen Ost und West konnte somit nicht ohne Auswirkungen auf die weitere Behandlung der Kriegsgefangenenfrage bleiben. Der ernsthafte Wille insbesondere auf deutscher Seite zu einer raschen Lösung dieses Problems soll keineswegs bestritten werden. Doch war der humanitäre Aspekt nur eine Seite, der intendierte propagandistische Effekt einer anhaltend in der Öffentlichkeit geführten Diskussion eine andere. Auf die Stimmigkeit der Zahlen kam es dabei nicht in erster Linie an. „Unser Ziel muß es vielmehr sein, daß bestimmte Fragen einfach gestellt werden“, hieß es schon im November 1947 in einem Memorandum des britischen Außenministeriums. „Weigern sich die Russen, darauf konkrete Antworten zu geben, um so besser.“

Entscheidend war, daß die Frage immer wieder gestellt wurde, in einzelnen oder gemeinsamen Demarchen der Westmächte, in nationalen und internationalen Initiativen und Appellen und seit Ende 1950 auch vor den Vereinten Nationen Durch öffentlichen Druck sollte die Sowjetunion zum Einlenken gebracht werden. Diese verweigerte jedoch jede Kooperation, sparte nicht mit Gegenattacken und ließ am 4. Mai 1950 erklären, daß die Repatriierung der deutschen Kriegsgefangenen — bis auf 13 500 Kriegsverbrecher — nunmehr abgeschlossen sei. Ein Schrei der Entrüstung ging durch Deutschland. Die Westmächte protestierten. Doch änderte dies nichts an der Tatsache, daß der Heimkehrerstrom aus dem Osten mehr und mehr versiegte

In dem Maße, in dem sich seit dem Jahre 1953 eine gewisse Entspannung im politischen Klima zwischen Ost und West abzuzeichnen begann, nahm auf der internationalen Bühne das Interesse an der Kriegsgefangenenfrage ab. Die Forderung Bonns, das deutsche Kriegsgefangenenproblem auf der 8. Vollversammlung der Vereinten Nationen erneut zur Sprache zu bringen, nachdem die Arbeit der „Ad-hoc-Kommission" der UN aufgrund der Weigerung der Sowjetunion zur Mitarbeit zu keinem greifbaren Ergebnis geführt hatte, stieß im Westen auf taube Ohren. Die USA waren jetzt in erster Linie an einer Lösung des koreanischen Kriegsgefangenenproblems interessiert.

Großbritannien und Australien, die beiden anderen Initiatoren der UN-Resolution von 1950 zur Einsetzung einer Kriegsgefangenenkommission, waren ebenfalls an einer Fortsetzung der „Propagandaschlacht mit den Russen“ in dieser Frage nicht mehr interessiert

Auch in der Bundesrepublik wurden nachdenkliche Stimmen laut, die insbesondere davor warnten, das Propagandaspiel mit übertriebenen und damit falschen Zahlen fortzusetzen. Dr. Kurt Wagner, dem Chef des Suchdienstes des Deutschen Roten Kreuzes, zufolge standen im Oktober 1953 lediglich 000 deutsche Soldaten noch im brieflichen Kontakt mit ihrer Heimat — eine Zahl, die den sowjetischen Angaben über die zurückgehaltenen Kriegsverbrecher zumindest näher stand als denen der Bundesregierung, wonach sich 1953 noch 103 000 Kriegsgefangene 16) in der Sowjetunion befinden sollten. In der New York Times bezeichnete es Wagner geradezu als ein Verbrechen an den Angehörigen der Gefangenen und Vermißten, höhere Zahlen zu nennen, als der Wahrheit entsprächen. Dadurch würden nicht nur übertriebene Erwartungen geweckt, sondern auch die Freilassung der letzten Gefangenen eher gefährdet als gefördert

Verläßliche und vor allem vollständige Namenslisten gab es nicht, aus denen Genaueres über das Schicksal Einzelner zu erfahren gewesen wäre. Daher blieb die Ungewißheit und mit ihr auch die Hoffnung groß, daß der jeweils eigene Angehörige doch noch aus der Sowjetunion zurückkehren würde. In einer Umfrage vom September 1955 gaben 27% der Befragten an, einen oder mehrere Angehörige zu haben, die entweder in russischer Kriegsgefangenenschaft oder in Rußland vermißt seien, von denen man jedoch annehme, daß sie noch leben würden. Weitere 15% erklärten, mindestens einen persönlichen Bekannten gleichen Schicksals zu haben Die Frage der deutschen Kriegsgefangenen war somit zu Beginn des Jahres 1955 zwar kein internationales Problem mehr, aber weiterhin ein nationales. Wegen seiner starken emotionalen Dimension war es ein hochbrisantes und daher nicht zu unterschätzendes Thema der westdeutschen Innenpolitik.

III. Die sowjetische Offensive in der Gefangenenfrage

Jahrelang war die Sowjetunion in der Kriegsgefangenenfrage der Angegriffene gewesen, der sich der berechtigten oder auch unberechtigten Vorwürfe aus dem Westen zu erwehren hatte. Seit Beginn des Jahres 1955 wurde nunmehr deutlich, daß Moskau nicht länger gewillt war, in der Verteidigungsposition zu verharren, sondern selbst zur Offensive überzugehen. Deutschland sollte seine noch in Gefangenschaft gehaltenen Soldaten wiederbekommen, freilich nicht, ohne dafür einen beträchtlichen Preis zu zahlen. Die Frage war nur, mit wem das Geschäft zu machen war: mit der DDR oder der Bundesrepublik oder gar mit beiden — mit Grotewohl, der SPD oder gar mit Adenauer selbst?

Wenn die Gefangenenfrage als ein Aktivposten sowjetischer Deutschlandpolitik eingesetzt werden sollte, dann galt es, den Wert dieses Faustpfandes möglichst hoch zu halten. Dies geschah, indem die Sowjetunion jetzt den Eindruck erweckte, als stehe einer endgültigen Lösung dieses Problems nichts im Wege, sofern man auf deutscher Seite zu entsprechenden Verhandlungen bereit sei.

Der erste Vorstoß erfolgte im Januar 1955. In einem dreiseitigen Memorandum berichtete Adenauer der Alliierten Hohen Kommission in Mehlem, daß sich die Sowjetunion über Mittelsmänner, die im Ostgeschäft tätig seien, daran interessiert gezeigt habe, „mit Bundestagsabgeordneten der Sozialdemokratischen Partei über die baldige Rückführung von 50 000 deutschen Kriegsgefangenen ins Gespräch zu kommen ... Die Sowjets seien bereit, sofort mit der Entlassung kleinerer Gruppen von Gefangenen zu beginnen, wenn die SPD-Abgeordneten damit einverstanden seien, einer Einladung nach Wien oder der Schweiz Folge zu leisten.“ Wenige Tage später war aus derselben Quelle, von einem gewissen Edward Baumgarten aus Bad Homburg, zu erfahren gewesen, Moskau „wolle mit den deutschen Parlamentariern nicht nur über die Kriegsgefangenen, sondern auch über politische Fragen, insbesondere über die Wiedervereinigungsfrage ins Gespräch kommen. Auch sei ein vorbereitendes Treffen in Wien nicht mehr nötig; die Abgeordneten könnten direkt nach Moskau reisen, wo sie von dem Präsidenten des Obersten Sowjets, Woroschylow, und anderen führenden Politikern empfangen werden würden.“

Adenauer unterschätzte die Gefährlichkeit dieses Vorstoßes keineswegs. Deshalb bat er um Hilfe. Diese sollte darin bestehen, wie Kanzlerberater Blankenhorn auf eine Nachfrage der Hohen Kommissare betonte, „alles zu tun, um die FDP und SPD davon abzubringen, die Sache weiter zu verfolgen“ So geschah es. Unter Flanken-schutz der Alliierten gelang es, die SPD von der Unglaubwürdigkeit der Informanten zu überzeugen. Daraufhin machte Erich Mende Ende März 1955 die ganze Angelegenheit publik. Die SPD war nach seinen Worten aus dem eben genannten Grunde nicht bereit, die Sache weiterzuverfolgen — womit der Schwarze Peter, wenn es sich doch um eine ernstzunehmende Gelegenheit gehandelt haben sollte, bei der Opposition und nicht bei der Regierung lag.

Nicht nur hinter den Kulissen, sondern auch in der Öffentlichkeit wurde die Sowjetunion aktiv. Ende Januar wurden seit langem wieder Gefanger e freigelassen, 108 an der Zahl. Unter ihnen Feldmarschali Schörner, Hitler-Vertrauter, Ober-befehlshaber der Heeresgruppe Mitte und am 30. April 1945 vom Führer noch zum Oberbefehlshaber des Heeres ernannt. Berühmt-berüchtigt für seine Durchhaltebefehle in der Schlußphase des Krieges: „Jeder, der nach Westen flüchtet, wird erschossen!“, war er für die Massenexekution ei- ner großen Zahl Deutscher verantwortlich. Aus seinem Munde war nun zu erfahren, daß der Leiter der innerhalb der sowjetischen Regierung für die Kriegsgefangenen zuständigen Abteilung, Oberst Kusnezow, ihn beauftragt habe, der deutschen Öffentlichkeit mitzuteilen, „daß alle deutschen Kriegsgefangenen in Kürze freigelassen würden“

Die Gefangenenfrage blieb damit auf der Tagesordnung. Die Erwartungen und Hoffnungen, bald zu einer endgültigen Lösung dieses Problems zu kommen und nur ja nicht den richtigen Zeitpunkt zu verpassen, nahmen ständig zu. Die Sowjets taten ihrerseits alles, um den innenpolitischen Druck auf die Bundesregierung und nicht zuletzt auf Adenauer zu erhöhen. Ende März erhielt der Präsident des Deutschen Roten Kreuzes, Dr. Weitz, Gelegenheit, eine seit langem beabsichtigte Reise nach Moskau mit dem sowjetischen Hoch-kommissar in Ost-Berlin zu diskutieren. Für die Sowjets war diese Frage jedoch keine humanitäre, sondern eine hochpolitische Frage.

Ihren eigentlichen Höhepunkt erreichte die sowjetische Kampagne im Sommer 1955. Auf dem Rückflug von der Genfer Gipfelkonferenz der vier Großmächte machten Ministerpräsident Bulganin und Parteichef Chruschtschow in Ost-Berlin Station, um der dortigen Regierung ihre Aufwartung zu machen. In das abschließende Kommunique vom 28. Juli wurde ein Passus aufgenommen, wonach auf Initiative der DDR über die Kriegsgefangenenfrage gesprochen und beschlossen worden sei, „die Erörterung dieser Frage unter Berücksichtigung der Wünsche der Deutschen Demokratischen Republik fortzusetzen“ Schon am 8. Juli hatte „Neues Deutschland“ berichtet, daß entsprechende Verhandlungen zwischen der DDR und der Sowjetunion begonnen hätten

Schließlich tauchten Anfang August in der deutschen Presse Meldungen auf, wonach österreichische Kriegsgefangene, die kürzlich aus sowjetischen Lagern entlassen worden waren, zu berichten wußten, daß eine große Zahl deutscher Kriegsgefangener in Sonderlager gebracht worden seien, von wo aus sie in Kürze in die Heimat entlassen werden sollten.

IV. Moskaus Einladung an Adenauer

Vor diesem Hintergrund und angesichts einer deutlich auf Entspannung in Europa zielenden Wende der sowjetischen Außenpolitik muß nun die Einladung der sowjetischen Regierung vom 7. Juni 1955 an Konrad Adenauer gesehen werden, „in nächster Zeit“ persönlich nach Moskau zu kommen, „um die Frage der Herstellung der diplomatischen und Handelsbeziehungen zwischen der Sowjetunion und der Deutschen Bundesrepublik zu besprechen und die damit zusammenhängenden Fragen zu erörtern“

Der Zeitpunkt war geschickt gewählt. Die Pariser Verträge waren unterzeichnet, die Bundesrepublik in das westliche Bündnis integriert und seit dem 5. Mai 1955 ein nach innen und außen souveräner Staat. Die Einbindung der DDR in das östliche Lager erfolgte nur gut zwei Wochen später, als am 20. Mai der Warschauer Vertrag von der Volkskammer gebilligt und einen Tag später von Präsident Pieck ratifiziert wurde. Dennoch blieb die Hoffnung auf eine Wiedervereinigung Deutschlands weiterhin lebendig Der Abschluß des Staatsvertrages mit Österreich nährte die Erwartung, die Sowjetunion würde auch in der deutschen Frage einlenken, wenn die Deutschen es nur geschickt anstellten und ähnlich wie die Österreicher ihr eigenes Schicksal nicht mehr anderen Mächten überließen, sondern selbst mit Moskau verhandelten. Schließlich enthielt die sowjetische Einladung einen Passus, wonach die Sowjets einen direkten Zusammenhang zwischen einer Normalisierung des sowjetisch-deutschen Verhältnisses und Fortschritten in der Wiedervereinigungsfrage herzustellen schienen: Die Sowjetregierung gehe davon aus, so hieß es, „daß die Herstellung und Entwicklung normaler Beziehungen zwischen der Sowjetunion und der Deutschen Bundesrepublik zur Lösung der ungeregelten Fragen beitragen werden, die ganz Deutschland betreffen, und somit zur Lösung des gesamt-nationalen Hauptproblems des deutschen Volkes — die Wiederherstellung der Einheit des deutschen demokratischen Staates — beitragen sollen“

War die Sowjetunion zehn Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg an einer Wiedervereinigung Deutschlands interessiert? Strebte sie auch für Deutschland eine Art Österreich-Lösung an? War sie bereit, die DDR zu opfern? Weder in Kreisen der Bundesregierung noch der Westmächte fand sich jemand, der diese Fragen positiv beantwortet hätte. Der Gesamttenor der Note sprach vielmehr dafür, daß die Sowjetunion neben den „guten“ Beziehungen zur DDR auch an einer Normalisierung ihres Verhältnisses zur Bundesrepublik, mithin an der Stabilisierung des Status quo in Deutschland und nicht an dessen Veränderung interessiert war. Entspannung in Europa und nicht die Wiedervereinigung Deutschlands war das Ziel.

Gerade dieser Aspekt war es, der die Westmächte relativ gelassen einer möglichen Aufnahme diplomatischer Beziehungen zwischen der Bundesrepublik und der Sowjetunion entgegenblicken ließ. Sir Frederick Hoyer Millar, der britische Botschafter in Bonn, war geradezu dankbar dafür, daß die Sowjetunion dem Westen wieder einmal eine schwierige Aufgabe abnahm. Nach London kabelte er: „Ein positiver Aspekt der russischer. Note besteht von unserer Warte aus im übrigen darin, wie sie stillschweigend von der Möglichkeit der Existenz zweier deutscher Staaten ausgeht, die auf unbestimmte Zeit nebeneinander zu existieren und miteinander auszukommen haben. Dies mag die beste Lösung sein, wenn auf den bevorstehenden Konferenzen in der Wiedervereinigungsfrage kein Fortschritt mit den Russen erzielt werden kann. Angesichts der strikten Zurückweisung eines solchen Gedankens durch die Deutschen ist es nur gut, daß es die Russen waren und nicht wir, die die Initiative in dieser Sache ergreifen sollten.“

Auch Adenauer war trotz anderslautender Rhetorik an einer Veränderung des Status quo und damit einer Gefährdung der soeben erfolgreich abgeschlossenen Westintegration der Bundesrepublik nicht interessiert. Da eine Wiedervereinigung Deutschlands auf der Basis einer vollständigen Durchsetzung westlicher Vorstellungen ohnehin nicht möglich war, „sprach vieles“ — wie der Kanzler Anfang Januar 1955 dem französischen Ministerpräsidenten Mendes-France bei einem Treffen in Baden-Baden sagte — „für eine Beibehaltung des Status quo in dieser Frage“ So waren sich die Sowjets, die Westmächte und Adenauer im Grunde völlig einig: An der Beibehaltung des bestehenden Zustands durfte nicht gerüttelt werden. Der Unterschied bestand lediglich darin, daß die Sowjets dies nunmehr laut sagten, während Adenauer und die Westmächte, gerade um den Status quo erhalten zu können, diesen verbal immer wieder in Frage stellen mußten.

Seine auf Spannung mit dem Osten basierende Politik machte es folglich Adenauer nicht leicht, diese in eine Phase der Entspannung hinüberzuretten. Um die öffentliche Meinung jedoch nicht gegen sich aufzubringen, konnte Adenauer es sich nicht leisten, die Einladung Moskaus von vornherein auszuschlagen. Überhaupt enthielt die sowjetische Offerte durchaus etwas Schmeichelhaftes, indem sie auf den ersten Blick die Politik des Kanzlers eher zu bestätigen als in Frage zu stellen schien. Die soeben gewonnene Souveränität der Bundesrepublik wurde nach wenigen Wochen bereits von Moskau respektiert, die Westbindung nicht mehr attackiert, sondern akzeptiert. Die Ratifizierung der Pariser Verträge hatte demnach nicht, wie von der SPD immer wieder vorausgesagt, das Ende aller Verhandlungsmöglichkeiten mit der Sowjetunion bedeutet, sondern den Beginn von Verhandlungen erst ermöglicht

Auf den zweiten Blick jedoch warf das sowjetische Angebot zur Aufnahme diplomatischer Beziehungen mit der Bundesrepublik eine Reihe höchst komplizierter Fragen auf, die den Rechts-standpunkt der Bundesregierung in der Deutschlandfrage zu unterminieren drohte: Wie konnte man mit einem Land diplomatische Beziehungen aufnehmen — was nach allgemeiner völkerrechtlicher Gepflogenheit die gegenseitige Anerkennung des jeweiligen territorialen Besitzstandes implizierte —, gegenüber dem nicht unbeträchtliche Gebietsforderungen erhoben wurden? Wie konnte man mit einem Land diplomatische Beziehungen aufnehmen, das — zumindest offizieller Lesart zufolge — für die Teilung Deutschlands ganz allein verantwortlich war? Wie konnte man mit einem Land diplomatische Beziehungen aufnehmen, das die „Ostzone“ bereits als einen eigenständigen deutschen Staat anerkannte, dem jedoch nach westdeutscher Auffassung jede Legitimität abzusprechen war?

Die Bundesregierung spielte zunächst auf Zeit. In ihrer Antwortnote vom 30. Juni 1955 erklärte sie sich prinzipiell bereit, über „die Herstellung diplomatischer, kommerzieller und kultureller Beziehungen“ mit der Sowjetunion zu reden. Zur Vorklärung der zu behandelnden Themen schlug sie „informelle Besprechungen“ zwischen den Botschaftern der Bundesrepublik und der Sowjetunion in Paris vor Die Sowjetunion reagierte positiv, wenn auch erst nach einem Monat Die Bundesregierung stimmte ihrerseits der Aufnahme der gewünschten Verhandlungen in Moskau zu, forderte jedoch zugleich auch über die Frage der deutschen Einheit und die Freilassung der sich noch in sowjetischem Gewahrsam befindlichen Deutschen zu reden. Ohne einen direkten konditionalen Zusammenhang zwischen diesen Fragen und der Aufnahme diplomatischer Beziehungen herzustellen, betonte sie, „daß eine befriedigende Lösung der von der Sowjetregierung in den Vordergrund gestellten Fragen eine freimütige Aussprache und eine Verständigung der beiden Regierungen über die ebengenannten damit verbundenen Probleme“ erfordert

Die Sowjets reagierten prompt und betonten ihrerseits, daß sie auf jeden Fall den Kanzler persönlich in Moskau erwarteten, um über die Aufnahme diplomatischer Beziehungen zu verhandeln. Was die Frage der nationalen Einheit anbeträfe, so sei der Bundesregierung der Standpunkt der sowjetischen Regierung bekannt. Doch stehe natürlich einem Meinungsaustausch über diese und „die anderen internationalen Fragen, die für beide Seiten von Interesse sind“ nichts im Wege.

Irgendwelche Vorbedingungen wurden also nicht gestellt. Weder forderte Moskau von der Bundesregierung, der Bindung an den Westen wieder abzuschwören oder umgekehrt den Status quo, mithin die DDR anzuerkennen, noch bestand Bonn darauf, daß ohne die Freilassung der deutschen Kriegsgefangenen oder ohne konkrete Schritte in Richtung einer Wiedervereinigung Deutschlands die Aufnahme diplomatischer Beziehungen zwischen der Sowjetunion und der Bundesrepublik Deutschland nicht möglich sei. Beide Seiten waren also daran interessiert, wenn auch aus sehr unterschiedlichen Motiven, daß es zü einer Begegnung Adenauers mit der Kremlführung kam. Eine Absage der Reise, darüber war man sich in Bonn im klaren, hätte innenpolitisch dem Kanzler größeren Schaden zugefügt, als ein gescheiterter Versuch, den Dialog mit den Sowjets zu wagen.

V. Der „Geist von Genf": Entspannung auf der Basis des Status quo?

Schon Anfang Januar 1955 hatte der französische Ministerpräsident Mendes-France angeregt, die Einberufung einer Viermächtekonferenz vorzuschlagen, um einer vermuteten Deutschland-Initiative der Sowjetunion zuvorzukommen Washington, London und auch Bonn winkten jedoch ab. Zuerst müßten die Westverträge ratifiziert werden, ehe man sich auf das Risiko einer Konferenz mit der Sowjetunion einlassen könne.

Waren sie ratifiziert, konnte der Westen von einer vorteilhaften Position der Einheit und Stärke Verhandlungen mit Moskau gelassen entgegensehen. Freilich konnte es dabei nicht darum gehen, das Erreichte wieder zur Disposition zu stellen, etwa die Kündigung der Pariser Verträge anzubieten, um dadurch die Wiedervereinigung Deutschlands zu ermöglichen, wie es z. B. von der SPD gefordert wurde. Das Erreichte nicht in Frage zu stellen, ohne den Eindruck zu erwecken, an wirklichen Verhandlungen mit Moskau nicht interessiert zu sein, im Falle eines Scheiterns jedoch dieses ausschließlich der Sowjetunion anzulasten — das waren die Prämissen der westlichen Strategie für eine Wiederaufnahme der Verhandlungen mit dem Kreml

Am 10. Mai 1955 ergriffen die Westmächte die Initiative und luden die sowjetische Regierung zu einer „Viermächtekonferenz auf höchster Ebene“ ein. Diese sollte in zwei Phasen ablaufen: Bei einem Treffen der Regierungschefs ging es zunächst einmal darum, gemeinsam mit den Außenministern jene Fragen und Probleme zu formulieren, die in einer zweiten Phase und auf einer anderen Ebene weiter erörtert und gelöst werden sollten. Wichtig schien es dem Westen zu sein, „diese Arbeit schnell in Angriff zu nehmen und sie mit Geduld und Entschlossenheit fortzusetzen“ Die Öffentlichkeit erwartete den Dialog und vor allem, daß er nicht so schnell ergebnislos wieder abgebrochen wurde. Diesen Erwartungen suchte der Westen mit seiner öffentlichkeitswirksamen Initiative zur Einberufung einer Gipfelkonferenz bei gleichzeitiger Bereitschaft zu fortdauerndem Verhandeln gerecht zu werden. Nur so konnte die mögliche Enttäuschung über einen zu geringen Ertrag des Gipfeltreffens in Grenzen gehalten werden

Die Sowjetunion reagierte positiv. Über Ort und Zeit des ersten Gipfeltreffens seit der Postdamer Konferenz vom Juli 1945 wurde schnell Einigkeit erzielt: Am 18. Juli konnte es in Genf beginnen. Fünf Tage später gingen Eisenhower, Bulganin, Eden und Faure wieder auseinander, nicht ohne beschlossen zu haben, die Verhandlungen auf der Ebene der Außenminister fortzusetzen. Diese sollten im Oktober erneut in Genf zusammenkommen, um den Meinungsaustausch fortzusetzen und nach wirksamen Mitteln zur Lösung der besprochenen Probleme zu suchen, „wobei sie“, wie es in der Direktive der Regierungschefs für die Außenminister hieß, „die enge Verbindung zwischen der Wiedervereinigung Deutschlands und dem Problem der europäischen Sicherheit und die Tatsache berücksichtigen sollen, daß eine erfolgreiche Regelung eines jeden dieser Probleme dem

Interesse der Festigung des Friedens dienen würde“

Daß eine enge Verbindung zwischen der Wiedervereinigung Deutschlands und der europäischen Sicherheit bestand, war natürlich unbestritten. Die entscheidende Frage lautete vielmehr, ob zwischen beidem ein konditionaler Zusammenhang bestand. War die Anerkennung des Status quo, mithin der Teilung Deutschlands, die Voraussetzung für Sicherheit und Entspannung in Europa, wie die Sowjets immer wieder forderten? Oder war die Teilung Deutschlands Ursache aller Spannungen, mithin die Überwindung der Teilung durch eine Wiedervereinigung Deutschlands Voraussetzung jeder wirklichen Entspannung in Europa, wie die Bundesregierung nicht müde wurde zu betonen?

Adenauer fürchtete, den Sowjets könne es gelingen, die Wiedervereinigungsfrage in den Hintergrund zu drängen. Auf seiner Konsultationsreise in die westlichen Hauptstädte vor der Genfer Gipfelkonferenz forderte er die verbündeten Regierungen auf, hart zu bleiben und den Sowjets keine Konzessionen zu machen. Die deutsche Frage müsse im Mittelpunkt der Beratungen stehen. Nur so könnten die Sowjets gezwungen werden zu erklären, ob sie nun „für oder gegen den Gedanken der Wiedervereinigung Deutschlands“ seien. Waren sie dagegen — woran es keinen Zweifel gab — war der Beweis erbracht, daß sie gegen eine wirkliche Entspannung in Europa waren und alle anderslautenden Erklärungen nichts als leere Propaganda waren.

Zwar gelang es, die „Wiedervereinigung Deutschlands“ als Punkt 1 der Tagesordnung zu plazieren, mit dem allgemeinen Verlauf der Konferenz jedoch zeigte Adenauer sich keineswegs zufrieden: „Die Russen hatten durch ihr verbindliches Auftreten in Genf erreicht, daß sie wieder allgemein als verhandlungsfähig angesehen wurden und daß die Hoffnungen auf eine Verständigung mit ihnen bei den freien Völkern außerordentlich gestiegen waren. Sie hatten weiter erreicht, und das war meines Erachtens ihr größter Erfolg, daß die Wachsamkeit ihnen gegenüber nachließ. Wäh-rend man in der westlichen Welt sich durch den trügerischen , Geist von Genf in einer Euphorie befand und plötzlich viele gute Seiten an Sowjetrußland entdeckte, blieb Sowjetrußland sich nach wie vor gleich.“

Das, was Adenauer den Sowjets unterstellte, traf zumindest auf ihn selber zu. Weder er noch seine Politik hatten sich in irgendeiner Weise geändert. Nicht wie angesichts des politischen Klimawechsels zwischen Ost und West die Teilung Deutschlands überwunden oder wenigstens erleichtert werden könne, war sein eigentliches Problem, sondern wie die Politik der Westintegration der Bundesrepublik den neuen Gegebenheiten angepaßt werden könne, ohne innenpolitisch Schaden zu nehmen.

V Das Genfer Gipfeltreffen brachte den gewünschten Beweis: Die Sowjetunion war für die Beibehaltung des Status quo und damit gegen eine Wiedervereinigung Deutschlands. Nun konnte der Westen weiterhin erklären, ein entschiedener Verfechter der deutschen Einheit zu sein, ohne Gefahr zu laufen, dieses Vesprechen eines Tages auch einlösen zu müssen. Wohin jedoch die weitere Entwicklung gehen würde, zeichnete sich bereits in dem Vorschlag der britischen Regierung ab, beiderseits der innerdeutschen Grenze militärisch verdünnte Zonen zu schaffen. Sicherheit und

Entspannung waren künftig nur auf der Basis der Beibehaltung und nicht der Veränderung des Status quo zu erreichen. Das galt auch für den Westen. „Die grundlegende Frage sei“, wie der britische Außenminister Macmillan seinem sowjetischen Kollegen Molotow gegenüber äußerte, „ob zwei Systeme nebeneinander existieren könnten, ohne daß einer versuche oder auch nur wünsche, seinen Willen dem anderen aufzuerlegen“ Für die Lösung der deutschen Frage hatte das nur eine Konsequenz, wenn die Genfer Konferenz wiederum keine Annäherung der Standpunkte brachte, was zu erwarten war, nämlich die Deutschen möglichst bald davon zu überzeugen, wie der britische Botschafter in Bonn schon vor Beginn der Konferenz in einem Telegramm ans Foreign Office formulierte, „daß es in der vorhersehbaren Zukunft wirklich keine Aussicht auf eine Wiedervereinigung gebe und damit keine andere Wahl, als die Politik des Kanzlers eines Bündnisses mit dem Westen voll zu unterstützen“. Er verband damit die Hoffnung: „Dies möge die Deutschen zu der Einsicht bringen, daß es zu ihrem eigenen Vorteil sei, aber auch zum Abbau internationaler Spannung beitragen und dadurch vielleicht auch irgendwann zur Erreichung der Wiedervereinigung führen würde, wenn es zwischen der Bundesregierung und der DDR zu irgendeiner Form von Beziehung oder Anerkennung kommen könnte.“

VI. Adenauers Option: Westintegration statt Wiedervereinigung

Wie sah nun Konrad Adenauers wirkliche Haltung in der Deutschlandfrage aus? Es steht inzwischen außer Frage, daß zwischen seinen Worten und der tatsächlichen Politik, die er in der Wiedervereinigungsfrage betrieb, eine große Kluft bestand. Zum einen tat er alles, um den Status quo zu zementieren, zum andern unterließ er keine Gelegenheit, diesen immer wieder in Frage zu stellen und die Wunde der deutschen Teilung offenzuhalten. Zum einen mahnte er die Siegermächte des Zweiten Weltkriegs immer wieder an ihre Pflicht, die Einheit Deutschlands wiederherzustellen, zum andern tat er alles, um einen Kompromiß der Großmächte in der Deutschlandfrage zu verhindern. Zum einen wurde er nicht müde, das Schicksal der geteilten Nation zu beklagen, zum andern wehrte er sich dagegen, ein „small settlement“ zum Abbau bestehender Restriktionen und Barrieren in Deutschland anzustreben

War Adenauer also jemand, der „zwar immer von der Wiedervereinigung spricht, aber niemals daran denkt“ wie die französische Zeitung Le Monde am 13. Juni 1955 formulierte? In den briti-sehen Akten findet sich ein Dokument, das eine solche Einschätzung bestätigt.

Am 15. Dezember 1955 — der Kanzler war soeben von einer schweren Lungenentzündung genesen — ließ Adenauer den deutschen Botschafter in London, Hans Herwarth von Bittenfeld, im britischen Außenministerium vorsprechen, um Staatssekretär Kirkpatrick eine höchst vertrauliche Mitteilung zu machen. Selbst wenn im Zusammenhang mit dem Abschluß eines europäischen Sicherheitsvertrages mit der Sowjetunion eine Wiedervereinigung Deutschlands aufgrund freier Wahlen möglich und die völlige Handlungsfreiheit einer gesamtdeutschen Regierung nach innen und außen gesichert sei, mithin sämtliche Voraussetzungen erfüllt seien, die der Westen seit Jahren als Vorbedingung für eine Wiederherstellung der Einheit Deutschland gefordert hatte, sei er — Adenauer — dagegen. „Der entscheidende Grund sei, daß Dr. Adenauer kein Vertrauen in das deutsche Volk habe. Er sei äußerst besorgt, daß sich eine künftige deutsche Regierung, wenn er von der politischen Bühne abgetreten sei, zu Lasten Deutschlands mit Ruß-land verständigen könnte. Folglich sei er der Meinung, daß die Integration Westdeutschlands in den Westen wichtiger als die Wiedervereinigung Deutschland sei. Wir sollten wissen“, heißt es in der Notiz Kirkpatricks weiter, „daß er in der ihm noch verbleibenden Zeit alle Energien darauf verwenden werde, dieses zu ereichen. Er hoffe, daß wir alles in unserer Macht Stehende tun würden, um ihn bei dieser Aufgabe zu unterstützen.“ Verständlicherweise ließ Adenauer hinzufügen, daß es „natürlich katastrophale Folgen für seine politische Position haben würde, wenn seine Ansichten, die er mir (= Kirkpatrick, J. F.) in solcher Offenheit mitgeteilt habe, jemals in Deutschland bekannt würden”

Adenauer hatte also kein Vertrauen in das deutsche Volk. Die Deutschen hielt er offensichtlich selbst am wenigsten für fähig, mit einer Wiedervereinigung ihres Landes fertig zu werden, ohne nicht in alte Fehler zu verfallen oder neue zu begehen. Die Teilung Deutschlands bot somit gleichsam die Möglichkeit, die Deutschen vor sich selbst zu schützen. Der Nationalismus der politischen Rechten stellte solange keine ernsthafte Bedrohung dar, als er sich in seinen Forderungen ausschließlich gegen Osten richtete und diese in der offiziellen Politik angemessen berücksichtigt sah. Der linke, neutralistische Nationalismus der Sozialdemokraten war denn auch die eigentliche Gefahr. Drohte doch der innere Feind sich eines Tages mit dem äußeren auf Kosten Deutschlands zu verbinden. Freilich, ein öffentliches Eingeständnis dessen, was Adenauer den westlichen Verbündeten unter dem Siegel höchster Verschwiegenheit anvertraute, hätte zweifellos das Ende seiner Kanzlerschaft bedeutet.

In einer Meinungsumfrage vom September 1956 hielten immerhin 50% der Befragten die Teilung Deutschlands für einen „ganz unerträgliche(n) Zustand“. 63 % glaubten an eine „Wiedervereinigung mit der Ostzone“, wenn das auch „noch ein paar Jahre dauern“ dürfte. 65 % hielten es schließlich für zweckmäßig, die Wiedervereinigung Deutschlands immer wieder zu fordern Diese Haltung der Bevölkerung, zu deren Entstehen der Kanzler selber kräftig beigetragen hatte, hatte Adenauer zu berücksichtigen, wenn er das Weststaatskonzept nicht gefährden wollte.

VII. Die deutsche Direktive für die Moskauer Verhandlungen

In Bonn sah man den Verhandlungen in Moskau mit sehr gemischten Gefühlen entgegen. Der Erwartungsdruck der Öffentlichkeit, in der Kriegs-gefangenen-und der Wiedervereinigungsfrage einen wesentlichen Schritt nach vorne zu kommen, war indessen so stark, daß der Kanzler kaum eine andere Wahl hatte, als die Reise nach Moskau anzutreten. Darin lag das Neue der politischen Situation des Jahres 1955: Während der Westen im Grunde seit 1947 dem Osten, zumal in der Deutschlandfrage, immer einen Schritt voraus gewesen war, war nun die Initiative an die Sowjetunion übergegangen. Mit der Westintegration war für Bonn das entscheidende deutschlandpolitische Ziel erreicht, das es künftig nur noch zu verteidigen galt. Die Sowjetunion ging nunmehr von ihr aus, um neue Ziele abzustecken. Entsprechend unterschiedlich war die Ausgangsposition. Während der Kreml mit der Aufnahme diplomatischer Beziehungen zur Bundesrepublik ein konkretes Verhandlungsziel besaß, ging es dem Kanzler lediglich um eine „erste Kontaktaufnahme“, die irgendwelche konkreten Entscheidungen nicht erwarten ließ Obwohl sich Adenauer bereits seit 1952 mehrfach für die Aufnahme diplomatischer Beziehungen mit der Sowjetunion ausgesprochen hatte, wenn die Bundesrepublik die Souveränität erlangt habe hieß es in der Antwortnote der Bundesregierung vom 12. August 1955 lediglich, daß bei den Beratungen in Moskau auch Mittel und Wege erörtert werden sollten, um die Herstellung diplomatischer Beziehungen vorzubereiten

Selbst bei der Erörterung der Kriegsgefangenenfrage, geschweige denn der deutschen Frage, erwartete man keine sensationellen Fortschritte, zumal die Sowjets den Standpunkt vertraten, daß es keine deutschen Kriegsgefangenen in der Sowjetunion mehr gebe und hinsichtlich der deutschen Frage der Bundesregierung die Haltung der Sowjetunion ohnehin bekannt sein dürfte. Als Voraussetzung für den Austausch von Botschaftern hielt die Bundesregierung jedoch eine gewisse Normalisierung des deutsch-sowjetischen Verhältnisses für unerläßlich, was wiederum ohne Fortschritte in den genannten Fragen nicht möglich war. „Der Kanzler sei gegen die Aufnahme diplomatischer Beziehungen mit der Sowjetunion“, meinte Hallstein gegenüber dem britischen Botschafter in Bonn, „wenn die wirklich bedeutsamen offenen politischen Fragen nicht zufriedenstellend geklärt würden. Fortschritte müßten in dem gesamten Fragenkomplex erzielt werden und es wäre falsch, bereits im vorhinein eine Normalisierung der Beziehungen mit der Sowjetunion zu akzeptieren.“

Lange wollte man nicht verhandeln, allenfalls drei oder vier Tage. Danach sollten die Beratungen in gemischten Kommissionen fortgesetzt werden. Entsprechend lautete die deutsche Direktive: „Ziel der Verhandlungen ist die Bildung von vier gemischten deutsch-russischen Kommissionen: einer politischen, in welcher die Wiedervereinigung und die Aufnahme diplomatischer Beziehungen sowie die damit zusammenhängenden Probleme erörtert werden, einer wirtschaftlichen mit dem Ziel des Abschlusses eines Handelsvertrages, einer kulturellen mit dem Ziel des Abschlusses eines Kulturvertrages, einer Kommission für das Kriegsgefangenen-und Verschlepptenproblem. Im Fall, daß die Sowjets auf die Bildung einer solchen vierten Kommission nicht eingehen, Einbeziehung des Gefangenen-und Verschlepptenproblems in die politische Kommission. Für den Fall, daß die Sowjets auf die geplanten Kommissionen nicht eingehen oder aber auch für dem Fall, daß sie weder die Wiedervereinigungsfrage noch das Gefangenenproblem erörtern wollen, ist beabsichtigt, den Faden mit der sowjetischen Regierung nicht völlig abreißen zu lassen, sondern den Sowjets den Austausch von diplomatischen Agenten vorzuschlagen.

Die Erwartungen waren nicht hoch. Die Moskau-reise war allenfalls als Ausdruck eines allseits erwarteten Willens gedacht, bei der sich anbahnenden Entspannung des politischen Klimas zwischen Ost und West nicht abseits zu stehen. Im übrigen glaubte Hallstein jedoch, „daß die Deutschen eine Menge Gelegenheiten hätten, bei den Verhandlungen mit den Russen zu mauern, und sie aus solchen Gelegenheiten das Beste machen würden“

VIII. Die Verhandlungen in Moskau

Am 8. September 1955 traf die deutsche Delegation in Moskau ein. Auf dem Flughafen wurde sie mit dem Zeremoniell eines großen Staatsbesuches empfangen. Auch während der folgenden Tage ließen es die Gastgeber nicht an freundlichen, ja freundschaftlichen Gesten mangeln.

Für den Abend des zweiten Verhandlungstages war eine Galaaufführung im Bolschoi-Theater vorgesehen. „Als Bulganin, Chruschtschow und ich unsere Loge betraten“, schreibt Adenauer in seinen Erinnerungen, „erhob sich das gesamte Publikum und klatschte Beifall. Die Scheinwerfer richteten sich auf unsere Gruppe, und unter ständigem Beifall schüttelten wir uns die Hände“ Für den 12. September, dem Vorabend des letzten Verhandlungstages, hatte die sowjetische Führung zu einem Staatsempfang in den Kreml geladen, an dem „das gesamte diplomatische Corps und die Spitzen von Partei, Regierung und Roter Armee“ teilnahmen. Die Regie, so Grewe, zielte von Anfang an darauf ab, „uns so zu empfangen, als stünde die Aufnahme der diplomatischen Beziehungen schon fest; der Aufwand und die Herzlichkeit hätten es als Unhöflichkeit und schnöden Undank erscheinen lassen, wären wir ohne dieses Ergebnis abgereist“

In der Sache selbst kam man sich jedoch keinen Schritt näher. An Festigkeit ließen die Sowjets sich nicht übertreffen. Sie wollten die Aufnahme diplomatischer Beziehungen mit der Bundesrepublik und sie wollten sie jetzt. Mit der Ratifizierung der Pariser Verträge war für Moskau die Frage einer Wiedervereinigung Deutschlands vorerst erledigt. An der Realität zweier deutscher Staaten war nicht mehr zu rütteln; mit beiden wollte der Kreml diplomatische Beziehungen aufnehmen und sein Verhältnis normalisieren. Trotz der Verantwortung der vier Siegermächte für ganz Deutschland und des Interesses der Sowjetunion an der Wiederherstellung Deutschlands „als ein einheitlicher, friedliebender und demokratischer Staat“ sei die Sowjetunion jedoch stets davon ausgegangen, wie Bulganin betonte, „daß die Lösung des deutschen Problems einschließlich der Aufgabe der Wiedervereinigung Deutschlands vor allem eine Sache der Deutschen selbst, unter den gegebenen Verhältnissen also Sache der gemeinsamen Bemühungen der Deutschen Bundesrepublik und der Deutschen Demokratischen Republik“ sei.

Auch in der Gefangenenfrage blieb der Kreml hart. In der Sowjetunion, meinte der sowjetische Ministerpräsident, gebe es keine deutschen Kriegsgefangenen mehr, sondern lediglich noch 9 626 Kriegsverbrecher; Angehörige „der ehemaligen Hitlerarmee“, „die nach den Gesetzen und Regeln der Menschlichkeit als Verbrecher hinter Schloß und Riegel gehören. Das sind Menschen, die die Menschenwürde verloren haben. Es sind Gewalttäter, Brandstifter, Mörder von Frauen, Kindern und Greisen. Sie wurden von den sowjetischen Gerichten nach ihren Handlungen verurteilt und können nicht als Kriegsgefangene betrachtet werden.“

Schließlich stieß auch der deutsche Vorschlag, diese wie alle übrigen offenbar nicht zu lösenden Fragen in gemischten Kommissionen weiterzuberaten, auf taube Ohren. Selbst die Bereitschaft Brentanos zum deutsch-deutschen Sündenfall, nämlich sich gemeinsam mit der DDR und der Sowjetunion an einen Tisch zu setzen, um über die Freilassung der Gefangenen zu reden brachte die Verhandlungen nicht über den toten Punkt.

Die Möglichkeit, in der entspannten Atmosphäre des Gästehauses der sowjetischen Regierung auf dem Lande im engsten Kreise — neben Adenauer und von Brentano nahmen von sowjetischer Seite nur Bulganin, Chruschtschow und der stellvertretende Außenminister Semjonow daran teil — für Fortschritte in der deutschen Frage oder auch der Kriegsgefangenenfrage zu „kämpfen“, blieb von Adenauer ungenutzt. Der Kanzler wünschte nicht, wie er die Botschafter der drei Westmächte in Moskau wissen ließ, „das Problem der Gefangenen und der Wiedervereinigung erneut zur Sprache zu bringen, da er der Ansicht war, daß die jeweiligen Positionen zu weit auseinanderlägen, als daß sie miteinander in Einklang gebracht werden könnten“ Der Gedanke lag also nahe, die Verhandlungen abzubrechen und vorzeitig in die Bundesrepublik zurückzukehren

Die Wende kam nicht im zähen Ringen am Verhandlungstisch, sondern im Gespräch unter vier Augen zwischen Bulganin und Adenauer während des Empfangs im Kreml am Abend des 12. September. Die Sowjetunion bot an, die deutschen Kriegsgefangenen umgehend freizugeben, wenn hier und jetzt die Aufnahme diplomatischer Beziehungen zwischen der Bundesrepublik und der Sowjetunion vereinbart würde. „Die Tatsache, daß Chruschtschow gleichzeitig ähnliche Andeutungen im Gespräch mit Karl Arnold machte, bestätigt“, wie Grewe zu Recht betont, „daß es sich nicht um spontane Ergebnisse des Gesprächsverlaufes, sondern um eine genau kalkulierte Regie handelte.“

Bulganin und Chruschtschow bekamen, was sie wollten. Die Aufnahme diplomatischer Beziehungen wurde vereinbart. Von den Kriegsgefangenen war jedoch im gemeinsamen Kommunique nicht mit einem Wort die Rede. Der Passus über die Frage der Einheit Deutschlands entsprach wörtlich jener Formulierung, die die sowjetische Regierung schon in ihrer Note vom 7. Juni 1955, der Einladung an Adenauer, nach Moskau zu kommen, gebraucht hatte: Nunmehr gingen also beide Seiten davon aus, „daß die Herstellung und Entwicklung normaler Beziehungen zwischen der Bundesrepublik und der Sowjetunion zur Lösung der ungeklärten Fragen, die das ganze Deutschland betreffen, beitragen und damit auch zur Lösung des nationalen Hauptproblems des gesamten deutschen Volkes — der Wiederherstellung der Einheit eines demokratischen Staates — verhelfen wird“

In einem separaten Schreiben an Ministerpräsident Bulganin wies indes der Kanzler darauf hin, daß die Aufnahme diplomatischer Beziehungen zur Sowjetunion weder — wie gemeinhin üblich — eine Anerkennung des beiderseitigen territorialen Besitzstandes darstelle, noch den Verzicht der Bundesregierung auf den Alleinvertretungsanspruch für das ganze deutsche Volk bedeute Tags darauf ließ die sowjetische Regierung in einer Mitteilung der Nachrichtenagentur TASS erklären, was sie von derlei Vorbehalten der Bundesregierung hielt: „Die Sowjetregierung betrachtet die Deutsche Bundesrepublik als einen Teil Deutschlands. Ein anderer Teil Deutschlands ist die Deutsche Demokratische Republik. Im Zusammenhang mit der Herstellung diplomatischer Beziehungen zwischen der Sowjetunion und der Deutschen Bundesrepublik hält es die Regierung der UdSSR für erforderlich, zu erklären, daß die Frage der Grenzen Deutschlands durch das Potsdamer Abkommen gelöst worden ist und daß die Deutsche Bundesrepublik ihre Jurisdiktion auf dem Gebiet ausübt, das unter ihrer Hoheit steht.“

Nicht eine Bekräftigung des Wiedervereinigungswunsches der Deutschen, sondern eine klipp und klare Formulierung der sowjetischen Zweistaatentheorie wurde damit dem Kanzler auf den Weg zurück nach Bonn gegeben. Die Verhandlungsdelegation der Bundesrepublik hatte Moskau kaum verlassen, als der Kreml die Regierung der DDR einlud, ebenfalls nach Moskau zu kommen, um „weitere Schritte zur Entwicklung und Festigung der freundschaftlichen Beziehungen zwischen der DDR und der UdSSR“ zu erörtern. Bereits am 20. September 1955 wurde von Bulganin und Grotewohl ein Vertrag unterzeichnet, der die künftigen Beziehungen zwischen beiden Staaten regelte. Gleichzeitig wurde das sowjetische Besatzungsregime für beendet erklärt und der DDR die Kontrolle ihrer Grenzen und der Verbindungswege nach West-Berlin übertragen. Die Kriegsgefangenenfrage wurde im Schlußkommunique immerhin erwähnt, wo es hieß, daß die sowjetische Regierung „dieser Frage wohlwollend gegenübersteht und dem Präsidium des Obersten Sowjets der UdSSR ihre Vorschläge unterbreiten wird“

Der Preis, den der Kanzler für die Moskauer Vereinbarungen zu zahlen bereit war, war — gemessen an der bisherigen deutschlandpolitischen Doktrin — beträchtlich: Die Möglichkeit einer Lösung der deutschen Frage im Sinne einer Wiedervereinigung der beiden deutschen Staaten, geschweige denn auf der Basis der Grenzen von 1937 (also einschließlich jener Gebiete östlich von Oder und Neiße), war endgültig dahin. Realistische Hoffnungen auf eine Beseitigung des SED-Regimes, auf welche Weise auch immer, konnte man sich kaum noch machen; statt dessen würden zwei deutsche Botschafter künftig in Moskau residieren. Einer Anerkennung der DDR durch dritte Staaten war damit Tür und Tor geöffnet, die man allenfalls durch die Androhung von Sanktionen, wie die Formulierung der Hallstein-Doktrin bewies, noch in Grenzen halten zu können glaubte. Die These, wonach die Überwindung der Teilung Deutschlands Voraussetzung jeder Entspannung in Europa sei, hatte an Plausibilität verloren. Warum sollten die europäischen Staaten das Risiko einer Wiedervereinigung Deutschlands eingehen, wenn offensichtlich nur auf der Basis des Status quo die allseits gewünschte Entspannung im Verhältnis zwischen Ost und West möglich war?

Entsprechend deprimiert verließ die deutsche Delegation am 14. September 1955 Moskau. „Es war schon ein trauriges Bild auf dem Flughafen“, berichtete der britische Botschafter in Moskau, Sir William Hayter, nach London. „Die deutschen Beamten, alle wie sie dastanden, schienen an unterschiedlichen Graden von Trübsinn zu leiden.“ Auch in westlichen Regierungskreisen reagierte man verwundert bis betroffen über den unerwarteten Verhandlungsverlauf. Der amerikanische Botschafter in Moskau, Charles Bohlen, war geradezu außer sich und geißelte die „Appeasement-Politik“ des Kanzlers Sein britischer Kollege sah dies kaum anders. Tags zuvor habe der Kanzler sie noch zu belehren versucht, daß im Umgang mit den Russen nur Festigkeit zum Ziele führe. Offensichtlich gelte das genaue Gegenteil, wenn deutsche Interessen es erforderten In London erklärte Außenminister Macmillan vor dem Kabinett, das Moskauer Abkommen habe „in den Vereinigten Staaten und in Frankreich große Besorgnis ausgelöst. Es gebe kaum einen Zweifel, daß es einen bemerkenswerten Erfolg für die sowjetische Diplomatie darstelle und die Aussichten für die bevorstehende Konferenz der Außenminister nicht verbessert habe.“ Auch die Schlagzeilen der Auslandspresse verkündeten: „Großer Erfolg für die sowjetische Di-plomatie", „Demütigende Niederlage für Adenauer“, „Politik der Stärke gescheitert!“

Die Reaktion der deutschen Presse war dagegen überwiegend positiv. Sie feierte gleich eine doppelten Sieg des Kanzlers: weitere internationale Anerkennung durch die Aufnahme diplomatischer Beziehungen zur Sowjetunion und vor allem die Freilassung der deutschen Kriegsgefangenen aus sowjetischer Hand. Die Möglichkeit, daß Adenauer das Angebot Bulganins aus übergeordneten politischen Überlegungen heraus auch hätte ablehnen können, wurde ernsthaft gar nicht erst erörtert. Die Heimkehr der Gefangenen schien den gebotenen Preis in jedem Fall zu rechtfertigen. Was bedeuteten schon dem Durchschnitts-bürger mögliche deutschlandpolitische Komplikationen im Vergleich zu der bewegenden Freude über die endgültige Lösung des Kriegsgefangenenproblems?

Die deutsche Delegation war nicht mit großen Erwartungen nach Moskau aufgebrochen, jedoch in dem Gefühl, den Gang der Dinge selber entscheidend mitbeeinflussen zu können. Der tatsächliche Verlauf sollte sie dann allerdings eines Besseren belehren. Die Sowjets waren nicht bereit, auf irgendeine Forderung der deutschen Seite auch nur im Ansatz einzugehen. Enttäuschung machte sich breit, der Adenauer sich auf seine Weise Luft zu machen verstand. Die Unfähigkeit, von den eigenen Zielen auch nur etwas zu erreichen, wurde kurzerhand als Festigkeit und Stärke deklariert. „Es sei nutzlos“, so faßte der Kanzler seinen Eindruck nach den ersten beiden Verhandlungstagen gegenüber den Botschaftern der drei Westmächte in Moskau zusammen, „zu versuchen, auf freundschaftlicher Basis mit diesen Leuten umzugehen. Sie seien zu primitiv, um ein solches Verhalten zu erwidern. Festigkeit sei die einzige Sprache, die sie verstünden.“

Das plötzliche Angebot der Sowjets, ausgerechnet in der Frage, die den Deutschen am meisten am Herzen lag, Entgegenkommen zu zeigen, kam für den Kanzler unerwartet, jedoch wie ein Geschenk des Himmels. Politisch-taktische Überlegungen ließen ihn sehr schnell vergessen, was er Stunden zuvor noch über den richtigen Umgang mit den Sowjets gesagt hatte. Auch über grundsätzliche Bedenken seiner Berater — von Brentano über Hallstein bis zu Grewe — setzte er sich hinweg. Die Kriegsgefangenenfrage, die Adenauer seit Jahresbeginn politisch immer wieder unter Druck gesetzt hatte, weil sie an ihm vorbei und damit gegen ihn gelöst zu werden drohte, konnte nunmehr mit ihm gelöst werden. Nicht die DDR, wie immer wieder befürchtet worden war sondern die Bundesrepublik und vor allem deren Kanzler persönlich konnte nunmehr die Lösung dieser emotional so stark besetzten Frage für sich allein verbuchen.

Nicht zuletzt im Hinblick auf die nächsten Bundestagswahlen hatte Adenauer keine andere Wahl, als den von den Sowjets angebotenen Deal anzunehmen, wie er gegenüber den Vertretern der drei Westmächte in Bonn freimütig bekannte Wenn es 1957 wieder darum gehe, die Sozialdemokraten schon wegen ihrer Außenpolitik „draußen zu halten“, werde der Erfolg in der Gefangenenfrage ihm dabei gute Dienste leisten

„Die Befreiung der deutschen Kriegsgefangenen“, wie es jetzt gern hieß, obwohl es — gemessen an der Gesamtzahl der in Gefangenschaft geratenen deutschen Soldaten — weniger als 0, 1 % waren, die in der Sowjetunion noch zurückgehalten wurden, war ein innenpolitisches Ereignis ersten Ranges. Die „Heimkehrer“ beherrschten in den folgenden Wochen und Monaten die Schlagzeilen. Die Frage, um die es eigentlich in Moskau gegangen war, nämlich die Aufnahme diplomatischer Beziehungen mit der Sowjetunion und deren Auswirkungen auf die künftige Deutschland-politik, geriet dabei mehr und mehr in den Hintergrund. Je größer der Erfolg hinsichtlich der Freilassung der Gefangenen erschien, um so leichter konnte der Mißerfolg hinsichtlich der Durchsetzung der eigenen deutschlandpolitischen Doktrin kaschiert und verdrängt werden.

Der Kanzler selbst zeigte entsprechend wenig Interesse daran, über den eigentlichen politischen Inhalt seiner Reise zu debattieren. Sein Bericht vor dem Kabinett und gegenüber den Fraktionsvorsitzenden bestand überwiegend aus Anekdoten und Impressionen, die er in der kurzen Zeit seines Aufenthaltes in Moskau gewonnen hatte. Auch die Vertreter der verbündeten Mächte blieben nicht verschont, sich diese anzuhören: „niedergedrückte Stimmung der Leute“, „gähnende Leere in den Läden“, „Bedingungen wie in Deutschland nach dem Krieg“. Der Schluß, den die britische Botschaft aus all dem in ihrem Bericht an das Foreign Office zog, lautete: „Die Reise hat sie offensichtlich in ihrem Glauben bestärkt, daß die Russen Barbaren sind — klug, mächtig, unsympathisch, eine bedrohliche, gewißlich aber minderwertige Art der Kreatur.“

Aufmerksamen Beobachtern des Zeitgeschehens blieb indessen nicht verborgen, worin die eigentliche politische Bedeutung der Moskaureise Konrad Adenauers bestand. Die Freude über die Rückkehr der Kriegsgefangenen sei nicht ungetrübt, schrieb Marion Gräfin Dönhoff in der „ZEIT“. Denn die Gegenleistung, die Aufnahme diplomatischer Beziehungen zur Sowjetunion, bedeute „wenigstens im Augenblick die Hinnahme der Zweiteilung Deutschlands ... Der Vertrag: diplomatische Beziehungen gegen Rückgabe der Kriegsgefangenen, bedeutet also, wenn man sich der Methode bedient, lebende Menschen (nicht tote Seelen) zu bilanzieren, daß die Freiheit der Zehntausend die Knechtschaft der siebzehn Millionen besiegelt.“

IX. Die historische Bedeutung der Moskaureise Adenauers

1955 war ein erfolgreiches Jahr für die sowjetische Außenpolitik. Viele Probleme, die sie jahrelang vor sich hergeschoben hatte, konnten nun mit einem Male gelöst werden. Österreich wurde in die Neutralität entlassen, das Verhältnis zu Tito bereinigt. Die Ratifizierung der Pariser Verträge war nicht Anlaß, sich in den Schmollwinkel zurückzuziehen, sondern das Gesetz des Handelns an sich zu ziehen. Während der Westen mit seiner Forderung nach einer Wiedervereinigung Deutschlands gleichsam die „Frage von gestern“ weiterhin auf Platz 1 der Tagesordnung halten wollte, formulierte der Kreml bereits die Fragen von morgen: Entspannung, Abrüstung und Sicherheit auf der Basis des Status quo.

Wichtigste Voraussetzung für eine Entspannung in Europa war, daß die Verhältnisse — so wie sie nun einmal waren — vom Osten wie vom Westen anerkannt wurden. Diesem Ziel diente auch die Einladung an Konrad Adenauer, nach Moskau zu kommen, um die Aufnahme diplomatischer Beziehungen zu vereinbaren und damit die sowjetische Zweistaatentheorie zu bestätigen. Sollte der Kanzler die Einladung ablehnen, hatte er sich selbst als entspannungsfeindlich diskreditiert; sollte er kommen, aber nicht zur sofortigen Aufnahme diplomatischer Beziehungen bereit sein, bot sich die Gefangenenfrage als geeigneter Köder an, um den Kanzler dennoch für die Ziele Moskaus einzuspannen.

Die sowjetische Initiative war anders als für den Kreml selbst für die Bundesregierung mit allerlei Risiken verbunden. Adenauer nahm die Einladung an, weil sie dem obersten Ziel seiner Politik, der weiteren internationalen Anerkennung und Stabilisierung des westdeutschen Staates, sehr gelegen kam. Er nahm sie an, weil die Erwartungen der deutschen Öffentlichkeit, in dem sich abzeichnenden Entspannungsprozeß nicht abseits zu stehen und jede nur denkbare Gelegenheit zur Lösung der deutschen Frage und insbesondere des Kriegsgefangenenproblems zu nutzen, ihm keine andere Wahl ließen.

Des Kanzlers eigene Intention war hingegen, durch seine Reise nach Moskau die seiner Meinung nach völlig überspannten Erwartungen in all den genannten Fragen auf ein erträgliches Maß zurückzustutzen. Deshalb lautete die Direktive, nicht auf einen raschen Verhandlungserfolg zu setzen, notfalls zu mauern und auf die Einrichtung sowjetisch-deutscher Kommissionen zu drängen. Es sollte und mußte weiter verhandelt werden, um die Öffentlichkeit nicht zu enttäuschen, aber auch, um den öffentlich erzeugten Erwartungsdruck nach und nach wieder abzubauen und innenpolitisch zu entschärfen.

Die Verhandlungsstrategie der Sowjets war dementsprechend offensiv, die der Deutschen defensiv. Trotz des Wiedervereinigungsgebots des Grundgesetzes und des Auftrages an jede Bundesregierung, alles zu tun, um dieses Ziel zu verwirklichen, ist in Adenauers Erinnerungen zu lesen: „In der Frage der Wiedervereinigung hielten wir bewußt Maß.“ Der Grund dafür war, wie wir heute wissen, daß er ähnlich wie die Sowjets viel zu sehr an einer Beibehaltung der Teilung Deutschlands interessiert war, als daß er diese Frage zu einem wirklichen Verhandlungsgegenstand mit den Sowjets gemacht hätte. Der Hinweis auf die Gesamtverantwortung der Siegermächte zur Wiederherstellung eines geeinten Deutschlands diente dabei stets als willkommene Entschuldigung. Darüber hinaus erlaubte er ihm, öffentlich die Pflicht der vier Siegermächte immer wieder anzumahnen und vor allem die Sowjetunion als den eigentlichen Übeltäter hinzustellen, hinter den Kulissen jedoch, die Westmächte aufzufordern, nichts zu tun, was den Status quo in Deutschland ändern würde

Auch in der Kriegsgefangenenfrage war die Bundesregierung kaum in einer günstigeren Position. Klar war, daß die Sowjetunion auch diese Frage in absehbarer Zeit endgültig lösen wollte. Alles deutete darauf hin, daß die Gegner Adenauers — die SPD vielleicht, vor allem aber die DDR — die politischen Nutznießer sein würden. Deshalb lautete die Direktive, alles zu tun, um eine Lösung dieser emotional so aufgeladenen Frage an Adenauer vorbei zu verhindern. Der Vorschlag, auch in dieser Frage eine deutsch-sowjetische Kommission einzurichten, die Bereitschaft, mit der Sowjetunion und der DDR gemeinsam über diese Frage zu verhandeln sowie die bewußte Betonung des ausschließlich humanitären Charakters dieser Frage dienten stets dem gleichen Zweck: Die Bundesregierung mußte bei möglichen Verhandlungen über die Freilassung der Kriegsgefangenen wenigstens einen Fuß in derTür behalten. Alle Indizien sprechen indes dafür, daß auch ohne Adenauers Moskaureise die letzten deutschen Kriegs-gefangenen in die Heimat zurückgekehrt wären. Vermutlich wäre dies dann nur ein paar Monate später, im Vorfeld der nächsten Bundestagswahlen geschehen, dann allerdings als ein Geschenk an die DDR oder vielleicht sogar an die SPD. Die Moskaureise Adenauers diente somit ausschließlich innenpolitischen Zwecken. Daß es gelang, durch die Annahme des sowjetischen Angebots die politische Position des Kanzlers nach innen in einer Weise zu stärken, wie es niemand vorausgeahnt hätte, war denn auch das eigentlich überraschende Ergebnis dieser Reise. Dies wußte man im Westen, mindestens beim zweiten Hinsehen, sehr bald zu schätzen.

Die indirekten Folgen waren, wie man es in London sah, somit allesamt nur positiv zu bewerten. Mögliche Zweifel in die Verläßlichkeit des Kanzlers und der Deutschen würden künftig sicher durch das Bemühen ausgeräumt, ein besonders verläßlicher Partner des Westens zu sein. Auch dürfte Adenauer nunmehr seine Worte etwas sorgfältiger wählen, wenn er den Westmächten vorwerfen wolle, nicht hart genug im Umgang mit den Sowjets zu verfahren. Generell dürften den Deutschen manche Illusionen, nicht zuletzt im Hinblick auf die Wiedergewinnung ihrer staatlichen Einheit, genommen worden sein. Vor allem aber hatte die Bereitschaft Adenauers, diplomatische Beziehungen mit der Sowjetunion aufzunehmen und damit implizit den Status quo in Deutschland und Europa anzuerkennen, ihre Wirkung auf die Alliierten nicht verfehlt: „Wenn sich selbst der deutsche Kanzler entschließt, dies zu tun“, schrieb der britische Botschafter in Paris, Sir Gladwyn Jebb, am 15. September 1955 an Kirkpatrick, „dann ist es gewißlich nicht an uns, päpstlicher als der Papst zu sein.“

Fussnoten

Fußnoten

  1. Ausführlich werden die Moskauer Verhandlungen in den Erinnerungen deutscher Delegationsmitglieder behandelt. Vgl. z. B. Wilhelm G. Grewe, Rückblenden 1976— 1951, Berlin 1979, S. 229— 251; Carlo Schmid, Erinnerungen, Bern-München-Wien 1979, S. 564— 585, und natürlich Konrad Adenauer, Erinnerungen 1953 bis 1955, Stuttgart 1966, S. 487— 556.

  2. K. Adenauer (Anm. 1), S. 530.

  3. Max Schulze-Vorberg, Die Moskaureise 1955, in: Dieter Blumenwitz u. a. (Hrsg.), Konrad Adenauer und seine Zeit. Politik und Persönlichkeit des ersten Bundeskanzlers. Beiträge von Weg-und Zeitgenossen, Stuttgart 1976, S. 651— 664, hier S. 651.

  4. Boris Meissner, Die deutsch-sowjetischen Beziehungen seit dem Zweiten Weltkrieg, in: Osteuropa (1985), S. 631— 652 hier S. 637.

  5. Ebd., S. 638. ..

  6. Jahrbuch der Öffentlichen Meinung 1965— 1967, Allensbach und Bonn 1967, S. 187.

  7. Vgl. hierzu Kurt W. Böhme, Die deutschen Kriegsgefangenen in sowjetischer Hand. Eine Bilanz, München 1966, passim, bes. S. 151. Die Zahlenangaben beruhen auf einer vergleichenden Auswertung von sowjetischen Angaben und auf westlichen Ermittlungen basierenden eigenen Berechnungen des Autors. Bei Erich Maschke u. a., Die deutschen Kriegsgefangenen des Zweiten Weltkrieges — Eine Zusammenfassung, München 1947, S. 207, liegen die Zahlen noch um 1 Million höher. Danach gerieten insgesamt 11 Millionen Deutsche in Gefangenschaft: 7, 7 Millionen auf westlicher und 3, 3 Millionen auf östlicher Seite.

  8. So Ministerpräsident Bulganin während der Verhandlungen in Moskau, vgl. Europa Archiv, 10 (1955), S. 8267.

  9. Die erste Zahl findet sich in einer Vorlage der Bundesregierung für die Beratungen der Kriegsgefangenenkommission der Vereinten Nationen am 11. September 1953 in Genf. Vgl. Europa Archiv, 8 (1953), S. 6018. Zwei Jahre später ging Adenauer bei den Verhandlungen in Moskau von der zweiten Zahl aus. Diese wurde in den veröffentlichten Dokumenten jedoch nicht genannt. Vgl.den Bericht Blankenhorns in: PRO (= Public Record Office London), FO 371/118181/WG 10338/92 vom 11. September 1955.

  10. Vgl. Hans-Peter Schwarz, Die Ära Adenauer 1949 bis 1957, Wiesbaden 1981, S. 278.

  11. Ausführlicher hierzu Böhme, Die deutschen Kriegs-gefangenen (Anm. 7), S. 127 ff.

  12. PRO, FO 371/85116/C 3942.

  13. Vgl. Böhme, Die deutschen Kriegsgefangenen (Anm. 7), S. 134 ff.

  14. Sehr deutlich wird dies in der Grafik 11 des Anhangs bei Böhme, Die deutschen Kriegsgefangenen (Anm. 7).

  15. PRO, FO 371/107018/UP 105/15. An anderer Stelle hieß es: So sehr man auch den deutschen, italienischen und japanischen Wünschen — alle drei Länder hatten ein gemeinsames Interesse in dieser Frage — entgegenkommen wolle, um so wichtiger sei es doch, daß eine mögliche Debatte auf der Vollversammlung der Vereinten Nationen „should be a restrained affair and not a dog-fight with the Soviet bloc, for this would only serve to harden Russian hearts“ (UP 105/11). Nicht über die deutschen Kriegsgefangenen, sondern über die Behandlung der koreanischen Kriegsgefangenen verabschiedete die Vollversammlung schließlich eine Resolution. Vgl. Europa Archiv, 9 (1954), S. 6282.

  16. Vgl. Europa Archiv, 8 (1953), S. 6018.

  17. PRO, FO 371/107020/UP 105/50.

  18. Jahrbuch der Öffentlichen Meinung 1957, Allensbach 1957, S. 209.

  19. PRO, FO 371/118402/WG 1551/8. Das Memorandum datiert vom 3. Februar 1955.

  20. Ebd., Begleitschreiben Barnes an das Foreign Office, 8. Februar 1955.

  21. PRO, FO 371/118402/WG 1551/17.

  22. PRO, FO 371/118402/WG 1551/5.

  23. Europa Archiv, 10 (1955), S. 8143.

  24. Dies war keineswegs das erste Mal, daß die Sowjetunion Verhandlungen mit der DDR in dieser Frage aufnahm, um die innenpolitische Entwicklung in der Bundesrepublik zu beeinflussen. Am 25. August 1953, also mitten im bundesdeutschen Wahlkampf, wurde zwischen den Ministerpräsidenten Malenkow und Grotewohl ein Protokoll unterzeichnet, in dem die Freilassung einer beträchtlichen Zahl von Gefangenen vereinbart wurde (PRO, FO 371/107020/UP 105/50). Laut Otto Nuschke, dem stellvertretenden Ministerpräsidenten der DDR, waren es insgesamt 18000 Mann, die als Folge dieser Vereinbarung bis zum Sommer 1955 freigelassen wurden (PRO, FO 371/118404/WG 1553/4). An jenem 25. August erklärte Grotewohl nach Abschluß seiner Verhandlungen in Moskau während einer Sondersitzung der Volkskammer der DDR frank und frei, wenngleich ein wenig sibyllinisch, „auch die Bundesrepublik werde in den Genuß der großen Zugeständnisse der Sowjetunion kommen, wenn die westdeutsche Bevölkerung am 6. September gegen Adenauer stimme“ (Europa Archiv, 8 [1953], S. 5979 f.).

  25. Europa Archiv, 10 (1955), S. 7970.

  26. Vgl. z. B. das „Programm der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands zu den Viermächteverhandlungen über die deutsche Wiedervereinigung“, in: Europa Archiv, 10 (1955), S. 7932— 7936.

  27. Europa Archiv, 10 (1955), S. 7970.

  28. PRO, FO 371/118178/WG 10338/14, Brief ans Foreign Office vom 10. Juni 1955.

  29. PRO, FO 371/118196/WG 1071/50.

  30. Vgl. Adenauer, Erinnerungen 1953— 1955 (Anm. 1), S. 448.

  31. Europa Archiv, 10 (1955), S. 8020.

  32. Europa Archiv, 10 (1955), S. 8141.

  33. Europa Archiv, 10 (1955), S. 8142.

  34. Ebd.

  35. PRO, FO 371/118195/WG 1071/1.

  36. PRO, CAB 129, 74 (55) 83, „Talks with the Soviet Union“, Memorandum des Foreign Office für das Kabinett vom 26. März 1955. Wörtlich heißt es: „Nevertheless, serious talks ought so to be engaged in that, if they break down, Soviet Russia may be shown to be at fault“ (S. 2).

  37. Europa Archiv, 10 (1955), S. 7967.

  38. Recht aufschlußreich über die taktischen Überlegungen des Westens ist der Bericht der Arbeitsgruppe zur Vorbereitung der Viermächteverhandlungen, die vom 27. April bis zum 5. Mai in London tagte. An den Beratungen nahmen mit Blankenhorn, von Weick, Bräutigam, Krapf, Meissner und Sahm auch Vertreter der Bundesrepublik teil (PRO, FO 371/1 18211/WG 1071/516).

  39. Europa Archiv, 10 (1955), S. 8064.

  40. Am 16. Juli erklärte der Kanzler im Deutschen Bundestag, daß die Schaffung eines europäischen Sicherheitssystems auf der Basis der Teilung Deutschlands unannehmbar sei. Oppositionsführer Ollenhauer sah dies nicht anders. Der Unterschied war allerdings der, daß die SPD bereit war, für die Wiedererlangung der Einheit Deutschlands einen Preis zu zahlen, Adenauer jedoch nicht, vgl. Europa Archiv, 10 (1955), S. 8121.

  41. PRO, FO 371/118219/WG 1071/737.

  42. Adenauer, Erinnerungen 1953- 1955 (Anm. 1), S. 477.

  43. PRO, FO 371/118221/WG 1071/766.

  44. PRO, FO 371/118209/WG 1071/457.

  45. Am 21. Juli 1955 erinnerte der Ständige Unterstaatssekretär im Foreign Office, Sir Ivone Kirkpatrick, in einem Gespräch mit Herbert Blankenhorn an ein Angebot der Briten, in diesem Sinne auf der Genfer Konferenz initiativ zu werden. Jedoch: „The Chancellor’s ans-wer was „N 0‘. His reason was that the Russian promise in this field would not be executed. But the whole trans-action would tend to create the impression that we were envisaging and indeed settling down to the permanent division of Germany“ (PRO, FO 371/1 18236/WG 1071/1049).

  46. PRO, FO 371/118218/WG 1071/703.

  47. PRO, FO 371/II 8254/WG 1071/1374. Unter der Überschrift „German Unity“ lautet der vollständige Text der mit dem Stempel „Top secret“ versehenen Aktennotiz des Permanent Undersecretary of State im Foreign office, Sir Ivone Kirkpatrick, in der englischen Originalfassung wie folgt: „THE GERMAN AMBAS-SADOR told me yesterday that he wished to make a particularly confidential communication to me on this subject. I would recollect that I had told him on my return from Geneva that I had come to the conclusion that we might eventually have to be more elastic than the Americans were prepared to be and that we might have to move to a position in which we declared that provided Germany was unified by means of free elections and provided the unified German Government had freedom in domestic and foreign affairs, we should sign any reasonable security treaty with the Russians. 2. The Ambassador told me that he had discussed this possibility very confidentially with the Chancellor. Dr. Adenauer wished me to know that he would deprecate reaching this position. The bald reason was that Dr. Adenauer had no confidence in the German people. He was terrified that when he disappeared from the scene a future German Government might do a deal with Russia at the German expense. Consequently he feit that the Integration of Western Germany with the West was more important than the unification of Germany. He wished us to know that he would bend all his energies towards achieving this in the time which was left to him, and he hoped that we would do all in our power to sustain him in this task. 3. In making this communication to me the Ambassador naturally emphasised that the Chancellor wished me to know his mind, but that it would of course be quite disastrous to his political position if the views which he had expressed to me with such frankness ever became known in Germany.“ Das Dokument ist von I. Kirkpatrik unterzeichnet und mit den Daten vom 16. Dezember 1955 versehen. Nach der Lektüre fügte der damalige Außenminister Harold Macmillan am 19. 12. handschriftlich hinzu: „I think he (= Adenauer, J. F.) is right.“

  48. Jahrbuch der Öffentlichen Meinung 1957, S. 316f.

  49. Grewe, Rückblenden (Anm. 1), S. 248.

  50. Schwarz, Die Ära Adenauer 1949— 1957 (Anm. 10), S. 268.

  51. Europa Archiv, 10 (1955), S. 8141.

  52. PRO, FO 371/1 18180/WG 10338/61.

  53. Grewe, Rückblenden (Anm. 1), S. 248.

  54. PRO, FO 371/118180/WG 10338/61.

  55. Adenauer, Erinnerungen 1953- 1955 (Anm. 1), S. 529.

  56. Grewe, Rückblenden (Anm. 1), S. 234.

  57. Europa Archiv, 10 (1955), S. 8267 f.

  58. Ebda., S. 8267

  59. Die Bereitschaft, mit der DDR gemeinsam zu verhandeln, zeigt, wie weit man zu gehen bereit war, um der DDR in der Kriegsgefangenenfrage nicht allein das Feld zu überlassen und sie möglichst in dieser Frage in den Augen der Deutschen noch zu desavouieren. Von Weick: „The DDR representatives on a joint delegation would certainly be embarrassed if they found themselves obliged to argue against their colleagues from the Federal Republic in favour of the Soviet thesis“ (PRO, FO 371/118181/WG 10338/98).

  60. PRO, Fo 371/118181/WG 10338/93.

  61. Adenauer, Erinnerungen 1953— 1955 (Anm. 1), S. 542.

  62. Grewe, Rückblenden (Anm. 1), S. 244. Eine solche Deutung schließt natürlich aus, daß die Tatsache, daß Adenauer die Lufthansa-Maschine vorzeitig zurückbeorderte, irgendeinen Eindruck auf die Sowjets, wenn sie überhaupt davon gewußt haben, gemacht hat. Adenauer benutzte natürlich gerne dieses Argument, um zu unterstreichen, wie zäh und wie geschickt er in Moskau verhandelt habe, um den erfolgreichen Ausgang der Verhandlungen, zumindest in der Kriegsgefangenenfrage in erster Linie für sich selbst in Anspruch zu nehmen. Vgl. Adenauer, Erinnerungen 1953— 1955 (Anm. 1), S. 544.

  63. Europa Archiv, 10 (1955), S. 8219. Vgl. auch den Text der Note vom 7. Juni 1955, ebda., S. 7970.

  64. Europa Archiv, 10 (1955), S. 8278.

  65. Ebda. S. 8279.

  66. Europa Archiv, 10 (1955), S. 8313.

  67. Ebda., S: 8316.

  68. PRO, FO 371/118181/WG 10338/109.

  69. Dies schlägt sich auch noch in seinen Memoiren nieder. Vgl. Charles Bohlen, Witness to History 1929— 1969, New York 1973, bes. S. 387.

  70. PRO, FO 371/118183/WG 10338/160.

  71. PRO, PREM 11/906.

  72. PRO, FO 371/118181/WG 10338/127.

  73. PRO, FO 371/118181/WG 10338/93.

  74. Gerade deshalb schätzte man in Bonn die eigenen Erfolgsaussichten, bei den Verhandlungen in Moskau einen wesentlichen Schritt in der Gefangenenfrage voran zukommen, auch so gering ein — intern zumindest. In den im Sommer zwischen der DDR und der Sowjetunion wieder aufgenommenen Verhandlungen über diese Frage sah man ein böses Omen, wie Grewe am 5. August die britische Botschaft wissen ließ. „The implication that the Russians were reserving this important asset for the D. D. R. did not suggest that they wished the Adenauer visit to achieve anything except on the most limited scale" (PRO, FO 371/118179/WG 10338/38).

  75. PRO, FO 371/118181/WG 10338/119. In dem Bericht über das Gespräch, das Adenauer am 15. September mit den Botschaftern Conant, Franois-Poncet und Hoyer Millar führte, heißt es wörtlich:....... he feit that he had had no alternative but to accept the bargain when it was offered, in view of the strong emotional interest here in the fate of the German prisoners and the consequent political importance for himself of securing their release. (In this context he stressed more than once the importance of this release for the 1957 Bundestag elections)."

  76. PRO, FO 371/118183/WG 10338/153.

  77. PRO, FO 371/1 18183/WG 10338/152 und 154.

  78. Zitiert nach: Paul Noack, Die Außenpolitik der Bundesrepublik, Stuttgart 19812, S. 56.

  79. Adenauer, Erinnerungen 1953— 1955 (Anm. 1), S. 554.

  80. Auch für die frühere Zeit der Kanzlerschaft Adenauers gibt es dafür inzwischen eine Reihe von Belegen. Vgl. z. B. Rolf Steininger, Eine vertane Chance. Die Stalin-Note vom 10. März 1952 und die Wiedervereinigung. Eine Studie auf der Grundlage unveröffentlichter britischer und amerikanischer Akten, Berlin—Bonn 1985; Josef Foschepoth, Churchill, Adenauer und die Neutralisierung Deutschlands, in: Deutschland Archiv, 17 (1984), S. 1286— 1301.

  81. pro, Fo 371/118182/wg 10338/138.

Weitere Inhalte

Josef Foschepoth, Dr. phil., geb. 1947; bis 1980 Studienrat am Gymnasium, danach wissenschaftlicher Mitarbeiter und zuletzt Leiter des Forschungsbereichs „Nachkriegsgeschichte“ am Deutschen Historischen Institut London; seit dem 1. 4. 1986 Direktor der Ostakademie Königstein. Veröffentlichungen u. a.: Reformation und Bauernkrieg im Geschichtsbild der DDR, Berlin 1976; (Hrsg.) Kalter Krieg und Deutsche Frage, Göttingen 1986; (Hrsg, zusammen mit Rolf Steininger), Die britische Deutschland-und Besatzungspolitik 1945— 1949, Paderborn 1985.