Als Kurt Schumacher im Mai 1946 feststellte, daß die „Frage des Brotes und des Mehles und der Kartoffeln eine Frage von erster politischer Wichtigkeit in Deutschland“ geworden sei, kennzeichnete er ein Alltagsproblem, von dem die meisten Menschen betroffen waren, und er verwies zugleich auf die von vielen Zeitgenossen wahrgenommenen gesellschaftlichen und politischen Wirkungen dieses materiellen Mangels. Führende deutsche Politiker registrierten mit „tiefer Besorgnis .. . die sinkende Achtung vor Gesetz und Recht“; sie äußerten die Befürchtung, daß „ohne ausreichende Ernährung... weder an Wiederaufbau noch an politische Erneuerung noch an die Schaffung einer gesunden, echten Staatsautorität zu denken“ sei.
Tatsächlich war für einen großen Teil der westdeutschen Bevölkerung in den Jahren 1945— 1949 das Problem der Erhaltung ihrer materiellen Existenzgrundlage zum Fixpunkt allen Denkens und Handelns geworden, so daß ihnen die Fragen der „großen Politik“ weitgehend durch den „Schatten des Hungers“ verdeckt blieben. Gleichwohl erwies sich die Tatsache, daß „die große Masse des deutschen Volkes . . ., was Ernährung, Heizung und Wohnung anlangte, auf den niedrigsten Stand gekommen (war), den man seit hundert Jahren in der westlichen Zivilisation“ kannte bald als ein politisches Problem, das die Überlegungen und Entscheidungen alliierter wie deutscher Politiker nachhaltig beeinflußte. General Clay umriß im Frühjahr 1946 die Grundproblematik: „... without food we cannot produce coal: without coal we cannot Support transport and industry; without coal we cannot produce the fertili-zer necessary to improve future food supply. Only food can prime the pump. . . A continuation of such conditions over a long period of time will destroy any hopes of creating a democratic Germany which believes in the rights of the individual, and will develop. . . a sullen and passive resistance, which may make impossible a politically free Germany for many years .. ,“
Die Wahrnehmung des Hungers als zentrales Problem individueller Existenz und als ökonomisches Schlüsselproblem mit weitreichenden politischen Implikationen durch die Zeitgenossen steht in bemerkenswertem Widerspruch zu der Zurückhaltung der Forschung gegenüber diesem Zusammenhang. Obwohl in fast allen Darstellungen zur Vorgeschichte der Bundesrepublik darauf hingewiesen wird, daß zwischen 1945 und 1948 Politik in den Westzonen weitgehend Wirtschafts^>Q\\t\k. war und daß ein elementares Problem in der Versorgung und Ernährung der Bevölkerung bestand gibt es nur wenige Regionalstudien, die den Mangel quantitativ zu beschreiben versuchen Höchst selten ist bislang auch nach den innen-wie außenpolitischen Konsequenzen der Krise sowie nach ihren ökonomischen und sozialen Wirkungen gefragt worden Zu klären wäre doch aber, welche Einflüsse die Ernährungs-und Versorgungskrise auf Ziele und Praxis der alliierten Deutschland-und Besatzungspolitik gewann; zu fragen wäre nach ihrer Bedeutung für das britisch-amerikanische Verhältnis, ihrer Rolle in der Diskussion sozioökonomischer Strukturfragen und bei der Weichenstellung für die Wirtschaftsordnung der Westzonen zu untersuchen wäre auch die Realität des deutsch-alliierten Krisenmanagements, also die Bedeutung der Krise für den Aufbau und die Arbeit der bi-zonalen Verwaltung Ebenso wenig Beachtung gefunden hat die Frage nach den sozialpsychologischen Folgen der Hungerjahre sowie nach den Rückwirkungen auf die politischen Verhaltens-und Einstellungsmuster der Bevölkerung
Ein Grund für die Vernachlässigung dieser Aspekte in der Forschung könnte darin zu suchen sein, daß die Jahre vor der Gründung der Bundesrepublik von vielen Autoren noch immer als „Stationen einer Staatsgründung“ (W. Benz) interpretiert werden, so daß die tendenzielle Gefahr entsteht, die reale Krisenerfahrung der Zeitgenossen zu verdecken und demzufolge die Krise selbst stark zu relativieren, da sie nur als Folie für die folgenden Jahrzehnte von Stabilität und Prosperität begriffen wird. Um aber den Blick für die Eigenständigkeit der Nachkriegszeit zu bewahren, sie also gewissermaßen wieder zu „historisieren“, muß man auch die einzelnen Krisenfaktoren (Hunger, Konsumgütermangel, Wohnraumzerstörung, Beschädigung der Infrastruktur und des Produktionssektors usw.) möglichst genau zu quantifizieren versuchen, um konkreter als bisher nach der Interdependenz von Mangel, Mangelbekämpfung und Entwicklung der politischen und ökonomischen Strukturen, also nach den die Sozialmoral, das politische Bewußtsein wie das Handeln prägenden Aspekte fragen zu können. In einem derartigen Beschreibungskontext könnte die Bedeutung der Nachkriegsjahre für die die frühe Bundesrepublik tragenden sozioökonomischen und politischen Strukturen möglicherweise schärfer als bisher festgelegt werden.
I. „Deutschland gehört an das Ende der Schlange“ — Die alliierte Planung und die materielle Ausgangssituation im besetzten Deutschland
Als westalliierte Truppen im Frühjahr 1945 große Teile Deutschlands eroberten, stand zwar fest, daß sie die Deutschen als Feinde betrachten wür-den, zugleich aber war sicher, daß ihre Regierungen nicht nur im Interesse der Truppen, sondern auch aus ihrem Völkerrechtsverständnis heraus die Verpflichtung zur Versorgung der Bevölkerung übernahmen: Man wollte die Deutschen also nicht verhungern lassen, doch sollte ihnen unmißverständlich klargemacht werden, daß sie selber für die Zerstörungen, für das bestehende Chaos und die sich daraus unvermeidlich ergebenden Leiden verantwortlich seien. Ihr künftiger Lebensstandard sollte keinesfalls den der Nachbarländer übersteigen und zumindest kurzfristig — so die ersten westalliierten Planungsvorhaben — würde das Ernährungsniveau nicht mehr als 60% des Vorkriegsstandes betragen
Die schließlich im „Potsdamer Protokoll“ vereinbarten wirtschaftlichen Grundsätze, vor allem die Betonung der Entwicklung von Landwirtschaft und Friedensindustrie, ließen trotz aller Reparationsforderungen und Pröduktionslimitationenjedoch die Hoffnung zu, daß Deutschland nicht im ökonomischen Chaos zu versinken brauchte. Wie letztlich der Deutschland eingeräumte „mittlere Lebensstandard“ konkret definiert werden würde, blieb aber so lange ungewiß, wie weder die strittige Reparationsfrage geregelt, noch die wirtschaftliche Einheit aller vier Zonen hergestellt war. Die untere Grenze des künftigen materiellen Niveaus war lediglich dadurch festgelegt, daß sich Amerikaner und Briten darin einig waren, daß dafür gesorgt sein müsse, „to prevent starvation or widespread disease or such civil unrest as would endanger the occupying forces“
Schon Ende 1945 aber hatte sich die geringe Realitätsnähe dieser vagen Festlegungen erwiesen: Inmitten der erst jetzt in ihren Umrissen recht kenntlich werdenden „Zusammenbruchgesellschaft“ war noch immer kein Weg deutlich geworden, die von den Alliierten in Potsdam verabschiedeten Leitlinien für den wirtschaftlichen Aufbau in eine das Überleben der Bevölkerung sichernde Praxis umzusetzen. Während die Unlösbarkeit der Reparationsfrage und die immer dichter werdende Abschottung der Zonen voneinander zur Folge hatten, daß sich die Westzonen aus eigener Kraft ernähren mußten, so daß einem Großteil der Bevölkerung jetzt nur noch die Hälfte der Vorkriegskalorienmenge zur Verfügung stand, blieben fast alle Bereiche des gesellschaftlichen Lebens von Desorganisation und Zerfall gekennzeichnet: Der Flüchtlingsstrom aus dem Osten, die Rückführung der noch in Deutschland befindlichen „Displaced Persons“ und die Bevölkerungsverschiebungen zwischen Stadt und Land markierten einen „demographischen Umbruch, für den es in Deutschland kaum historische Parallelen“ gab Hinzu kam eine erhebliche, wenn auch regional sehr unterschiedliche Zerstörung von Wohnraum und Transport-wegen — bis 1948 eine wichtige wirtschaftliche Rekonstruktionsbarriere. Insbesondere das Ruhrgebiet, wo jede vierte Wohnung zerstört und jede zweite beschädigt worden war, wo 90% des Eisenbahnnetzes und fast alle Brücken unbenutzbar geworden waren war aus eigener Kraft nicht mehr lebensfähig; das „industrielle Herz Europas“ hatte praktisch zu schlagen aufgehört. Alles in allem war die Industrieproduktion in der britischen Zone auf 14, 6% (September 1945) und in der U. S. -Zone auf 10% der Vorkriegsproduktion abgesackt zudem waren von den Alliierten Demontagen erheblichen Ausmaßes angekündigt worden.
II. Der Hunger als ökonomisches Schlüsselproblem 1945— 1948
Obwohl der Hunger in den Jahren 1945 bis 1948 ein weltweites Problem darstellte, gewann er in Deutschland insofern ein besonderes Gewicht, als dieses ökonomische Schlüsselgebiet Westeuropas zum zentralen Schauplatz der Ost-West-Aus-einandersetzungen wurde („starvation — and not communism — is the danger!“) Gehörten die Deutschen vor dem Zweiten Weltkrieg ernährungsmäßig zur Spitzengruppe in Europa, so waren sie im Herbst 1945 zum Hungerleider Nr. 1 geworden. Die Bevölkerung, die zum Teil un-behaust und frierend inmitten einer Wirtschaft vegetierte, deren Pro-Kopf-Produktion Ende 1946 auf den Stand des Jahres 1865(!) zurückgefallen war mußte in dem Zeitraum 1945 bis 1948 von durchschnittlich 60 bis 70% des Vorkriegskaloriensatzes leben. Mindestens ein Drittel der Bevölkerung, der sogenannte „Normalverbraucher“, sollte sogar mit 1 000 bis 1 760 kcal., also nur 30 bis 60% des Vorkriegssatzes auskommen; und jeweils in den Frühjahren 1946 bis 1948 rutschte die Versorgung der städtischen Bevölke-rung auf rund 1 000 kcal., im Ruhrgebiet gar auf teilweise nur 800 kcal. ab. Zur quantitativen Reduzierung kam jedoch eine ebenso gravierende qualitative Verschlechterung: Infolge des geringen Fleisch-und Fettaufkommens sank der tägliche Eiweißgehalt der Nahrung von 85 g auf 35 g; die Zufuhr von Fetten betrug statt 120 g sogar teilweise nur noch 5, 5 g täglich (Frühjahr 1948)
Die typische Normalverbraucherzuteilung bestand im Frühjahr 1947 aus 335 g Brot, 40 g Nährmitteln, 270 g Kartoffeln, 10 g Fleisch, 8 g Fett, 17 g Fisch (falls zugeteilt), 2 g Käse, 100 ml Milch und 17 g Zucker. Das Ausmaß des individuellen Hungers wurde dabei jeweils durch regionale (Leben auf dem Lande, in einer Kleinstadt mit ländlicher Umgebung, in einer städtischen Region usw.) und soziale Faktoren bestimmt. Wer Selbstversorger (14%) war, kannte kaum eine nennenswerte Einschränkung des Vorkriegslebensstandards; ihnen standen die Normalverbraucher — auch „Maximalverzichter“ genannt — gegenüber (30%), also alte Menschen, Arbeitslose, Arbeitsunfähige und Angehörige jener Berufe, die keinerlei Zulagen bekamen. Dazwischen befand sich die andere Hälfte der Bevölkerung, die Zulagen (Schwer-und Schwerstarbeiter, Kinder und Jugendliche, Mütter usw.) erhielt. Darüber hinaus wurde der Ernährungsstandard dadurch weiter differenziert, daß ein Teil der Bevölkerung (Flüchtlinge, Ausgebombte, Arme, Kranke usw.) nur über geringe Möglichkeiten verfügte, sich illegal zusätzliche Nahrungsmittel zu verschaffen; die Nahrungsmittelversorgung wurde demzufolge auch durch die „Herrschaft des Geldbeutels“ mit bestimmt.
Die Gründe für die gravierende Einengung des Nahrungsmittelraumes in den Westzonen liegen auf der Hand: Erstens war durch die Abtrennung der agrarischen Überschußgebiete im Osten die landwirtschaftliche Nutzfläche um ein Viertel reduziert worden, dennoch mußte in den vier Zonen ungefähr die gleiche Bevölkerungszahl versorgt werden. Zweitens führte der Flüchtlingszustrom (7, 5 Millionen bis Herbst 1947 in das Bizonengebiet) zu einer Verdichtung der Bevölkerung von 233 auf 293 Einwohner/qkm landwirtschaftlicher Nutzfläche (+ 26%). Drittens bewirkten die nicht unerheblichen Zerstörungen im Agrarsektor (ca. 50000 bis 60000 zerstörte Höfe) einen entsprechenden Leistungsausfall. Viertens verschuldete eine restriktive und widersprüchliche Besatzungspolitik (Produktionsbeschränkungen, Demontagen) bis Mitte 1947 einen fast völligen Ausfall der Versorgung mit landwirtschaftlichen Betriebsmitteln (Saatgut, Düngemittel, Geräte, Maschinen usw.), so daß die Erträge um rund 20% und die Bodenleistung um rund 30% zurückgingen und die westdeutsche Landwirtschaft nur noch knapp 1 000 cal. pro Tag und Kopf der Bevölkerung zu produzieren vermochte. Fünftens verhinderte die durch das Scheitern der Potsdamer Politik bedingte Abschottung der einzelnen Zonen voneinander nicht nur den gewachsenen Warenaustausch, sondern vor allem die von den Westmächten erwartete Zufuhr von Getreide (und Saatgut) aus der SBZ. Sechstens schließlich schränkten der weltweite Mangel bis Mitte 1947 zusammen mit den in Großbritannien und den USA vorhandenen finanziellen und politischen Barrieren die Möglichkeiten einer durchgreifenden Importhilfe äußerst stark ein.
III. Das deutsch-alliierte Krisenmanagement und die Überwindung des Mangels
Wie konnte unter diesen Bedingungen das Überleben organisiert werden? Ausgangspunkt der alliierten Überlegungen war, daß die Deutschen das von ihnen verschuldete Chaos ohne äußere Hilfe auszuhalten hätten. Der Realisierung dieser Maxime waren jedoch von Anfang an relativ enge'Grenzen gezogen, galt es doch — zunächst nur aus Gründen der Sicherheit für die eigenen Besatzungstruppen — „disease and unrest“ zu verhindern. Und spätestens im Frühjahr 1946, als beide Besatzungsmächte dazu gezwungen waren, die Nahrungsmittelzuteilungen um rund ein Drittel zu reduzieren, wurde den Militärregierungen klar, daß ein noch so begrenzter ökonomischer wie politischer Aufbau bei Fortdauer des Hungers un-21 möglich bleiben würde. Man hatte inzwischen akzeptiert, daß der sich verschärfende Hunger nicht als eine Frage „of sentiment, but of hard economic facts“ zu betrachten sei, denn: Ohne zureichende Ernährung könne vor allem im Ruhrgebiet nicht die für den Aufbau Westeuropas notwendige Kohle gefördert werden; ohne ausreichende Kohleproduktion sei aber weder die Finanzierung zusätzlicher Nahrungsmittelimporte noch die Steigerung der deutschen Agrarproduktion möglich, so daß die Stagnation der Nahrungsmittelzuteilung unvermeidlich bleibe.
Darüber hinaus aber gewann diese wirtschaftliche Problematik mit dem sich verschärfenden Ost-West-Gegensatz eine politische Dimension: Nur ein wirtschaftlich stabiles Westdeutschland innerhalb eines wirtschaftlich gesunden Westeuropas könne ein wirksames Bollwerk gegenüber dem „Sowjetkommunismus“ bilden. Das Erkennen dieser Zusammenhänge hinderte Briten und Amerikaner daran, die auf Demokratisierung, Entmilitarisierung und Entindustrialisierung zielenden Grundsätze des Potsdamer Abkommens in ihren Zonen konsequent anzuwenden. Zwar übernahm man mit dem seit 1939 praktizierten Zwangsbewirtschaftungssystem und mit der Institution des Reichsnährstandes wichtige Elemente des nationalsozialistischen Wirtschafts-und Verwaltungssystems und verhinderte dadurch einen völligen Zusammenbruch von Produktion und Verteilung, doch blieben zugleich die Versuche einer Entnazifizierung des Personals und der Demokratisierung der Verwaltung in den Anfängen stecken, da sie stets an der Elle einer effizienten Mangelbekämpfung gemessen wurden.
Je länger jedoch als Folge des alliierten deutschlandpolitischen Dissens’ der Wechsel auf Schaffung der deutschen Wirtschaftseinheit uneingelöst blieb, desto stärker wurde für die Westmächte der Zwang, nach eigenen — zunächst für vorübergehend gehaltenen — Konzepten zur Krisenbekämpfung zu suchen. Zum einen mußten umgehend die politischen und vor allem wirtschaftlichen Rahmenbedingungen in Westdeutschland dahingehend geändert werden, daß die Deutschen in möglichst kurzer Zeit dazu befähigt würden, sich selber vor dem Verhungern zu bewahren; zum anderen galt es, die Zwischenzeit durch sofortige Importe immer größerer Nahrungsmittel-mengen zu überbrücken. Zum Vorreiter einer derartigen Politik, die nach mittelfristiger Minimierung der aus der Besatzung resultierenden Kosten strebte, wurden die Briten. In ihrer Zone lag mit dem Ruhrgebiet der Schlüssel zur wirtschaftlichen Erholung, ihre Zone besaß zugleich die ungünstigste Ernährungsstruktur; Großbritannien selbst war durch die Kriegsanstrengungen derart im Mark der eigenen wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit getroffen, daß es die Zone sehr bald als immer drückenderen „mill-stone round our necks“ empfand.
Die auf den Außenministerkonferenzen in Paris und Moskau von den Briten ausgehenden Initiativen zur Veränderung der wirtschaftlichen Rahmenbedingungen sollten zwar auf die Herstellung der wirtschaftlichen Einheit und damit auf die Realisierung der Potsdamer Grundsätze abzielen, sie erwiesen sich aber schließlich als entscheidende Schritte zur Abkehr von Potsdam. Diese ambivalente Politik hatte für das United Kingdom verheerende Konsequenzen: Da die Krisenbekämpfung 1946/47 auf der Grundlage eines infolge der britischen Finanzschwäche und wegen der über die Finanzierungsregelung andauernden britisch-amerikanischen Auseinandersetzungen zu spät geschlossenen und unzulänglich gebliebenen Kompromisses (Bevin-Byrnes-Abkommen, Dezember 1946) betrieben wurde, blieben die investierten Hilfen ohne erkennbaren Effekt und vermochten die Abwärtsentwicklung nicht einmal zu verlangsamen, so daß die derart noch verschärfte Krise schließlich ein Ausmaß erreichte, dem Finanzkraft und politischer Wille der Briten nicht mehr gewachsen waren.
Die spätestens Ende 1947 als bedrohlich für ganz Westeuropa empfundene deutsche Wirtschaftskrise konnte jetzt nur noch durch das rückhaltlose finanzielle und politische Engagement der USA bekämpft werden, für das seit Sommer 1947 infolge einer veränderten weltpolitischen Konstellation auch die notwendigen innenpolitischen Voraussetzungen gegeben waren. Die Konfrontation mit der Sowjetunion machte den Kongreß bereit, die Antworten zu akzeptieren, die von der Administration auf die sich in Europa und speziell in Westdeutschland stellenden ökonomischen Probleme formuliert worden waren. Von nun an war die US-Führung entschlossen, aus dem das Westeuropa-Problem konstituierenden Kernzusammenhang (Bekämpfung des westdeutschen Hungers zwecks ökonomischer Erholung der Bizone als Voraussetzung für eine wirtschaftliche Gesundung Westeuropas) die von der US-Militär-regierung seit dem Frühjahr 1946 geforderten Konsequenzen zu ziehen.
Es ging nun nicht mehr um eine punktuelle Wirtschaftshilfe für den ehemaligen Kriegsgegner, deren politische Verzinsung höchst ungewiß bleiben mußte. In dem vom Außenminister Marshall skizzierten Programm war das Ziel gesetzt, die scheinbar drohende-Expansion des Kommunismus in Europa durch umfassende materielle und politische Hilfe aufzuhalten. Diesem Ziel ließ sich bei wachsender Kalter-Kriegs-Angst in den USA alles andere zuordnen: die vorrangige wirtschaftliche Unterstützung der Bizone, weil der Hunger die Westdeutschen für kommunistische Infiltrationsversuche besonders anfällig zu machen schien, und die finanzielle Hilfe für Frankreich und Großbritannien, um sie als europäische Großmächte zu erhalten, deren man in der Auseinandersetzung mit der Sowjetunion und bei der Neuordnung Westeuropas bedurfte.
Die Bekämpfung des Hungers in Westdeutschland beschleunigte aber nicht nur den Wandel der westalliierten Deutschlandpolitik, sondern prägte auch in entscheidendem Maße die Praxis der Besatzungspolitik. Da das Ziel, das Verhungern der Deutschen zu verhindern, allmählich allen längerfristigen Zielsetzungen übergeordnet wurde, war ein sich stetig verschärfender Widerspruch zwischen dem vorrangig sicherheitspolitisch motivierten Anspruch auf strukturelle Veränderungen und den Erfordernissen eines effektiven Krisenmanagements unvermeidlich. Hunger-bekämpfung hätte konkret heißen müssen: sofor--tiger Aufbau einer straff zentralisierten Ernährungsverwaltung, die eine halbwegs gleichmäßige „Verteilung des Mangels“ garantierte, und eine möglichst rasche Steigerung der deutschen Agrarproduktion. So unumstritten beide Ziele waren, ihre Realisierung stieß zumindest bis Ende 1947 auf kaum zu überwindende Hemmnisse; einerseits verhinderte das amerikanische Dezentralisierungsgebot und die Rücksichtnahme auf die sich immer mehr als Fiktion entpuppende gesamtdeutsche Option die Schaffung einer bizonalen, mit wirksamen exekutiven Befugnissen ausgestatteten Verwaltung; andererseits erwies sich eine Reduzierung des Industrieniveaus, wie sie die Potsdamer Grundsätze forderten, und eine gleichzeitige Steigerung der Agrarproduktion als antinomische Zielsetzung, so daß die rund fünfzigprozentigen Produktionsreserven der deutschen Landwirtschaft erst nach Änderung der deutschlandpolitischen Rahmenbedingungen allmählich ausgeschöpft werden konnten.
Da diese Einengungen kurzfristig nicht zu beseitigen waren, sahen sich Briten und Amerikaner zu einer Interimspolitik gezwungen, deren vorprogrammierter Mißerfolg spätestens Ende 1947 evident wurde. So stieß die zwecks maximaler Nutzung der einheimischen Nahrungsmittelreserven vorübergehend verordnete, auf stärkste Vegetabilisierung der Nahrung abzielende Umstellung von Veredelungswirtschaft auf Getreide-und Hackfruchtanbau, verbunden mit einer drastischen Reduzierung des Viehbestandes, auf entschiedenen Widerstand der Bauern und von Teilen der Ernährungsverwaltung. Darüber hinaus mußten alle Bemühungen um eine Ankurbelung der Agrarproduktion solange folgenlos bleiben, als die restriktive alliierte Industriepolitik (Defizit an Dünge-und Betriebsmitteln) wie die Einengungen und Folgen der Zwangswirtschaft (Ablieferungsauflagen, Währungsverfall) die Schaffung entsprechender Voraussetzungen für eine Produktivitätssteigerung verhinderten.
Nur partiell erfolgreicher verlief der Aufbau der Ernährungsverwaltung: Während unterhalb der Länderebene sehr schnell wieder eine halbwegs funktionsfähige Verwaltung verfügbar war, da der ehemals nationalsozialistische Reichsnährstand in seiner Organisation weitgehend unverändert bestehen blieb und personell nur äußerst halbherzig entnazifiziert wurde (alles andere „would amount to gambling in human lives“ 22)), gelang es auf der oberen Verwaltungsebene bis 1949 nicht, eine für die Krisenbekämpfung geeignete Organisation aufzubauen. Die Hoffnungen, durch eine Verschmelzung des britischen und des amerikanischen Besatzungsgebietes nicht nur ein strukturell ausgewogeneres Wirtschaftsgebiet zu schaffen, sondern auch durch den Austausch von Industrie-und Agrarprodukten sowie die gleichmäßige Verteilung der importierten Nahrungsmittel eine gerechtere Versorgung der Bevölkerung mit Gütern aller Art herbeiführen zu können, zerstoben schon im Herbst 1947 („Kartoffelkrieg“).
Das Scheitern der bizonalen Verwaltungsexperimente war schon deshalb unvermeidlich, weil alle zwischen 1946 und 1948 installierten Verwaltungen Zwittergebilde blieben, die mit der Aufgabe einer effektiven Krisenbekämpfung hoffnungslos überfordert waren. Zwar war seit Januar 1947 den Deutschen die nominelle Verantwortung für die bizonale Wirtschafts-und Ernährungspolitik übertragen worden, doch reichten das zur Verfü-gung stehende Instrumentarium und die real wahrnehmbaren Kompetenzen in keiner Weise aus, ihre Ansprüche gegenüber den Ländern bzw.deren nachgeordneten Dienststellen auch wirklich durchsetzen zu können. Der Versorgungszusammenbruch des Frühjahrs 1947 im Ruhrgebiet führte wohl zu verstärkten Bemühungen um eine Verbesserung der Verwaltungsstruktur, doch blieben die im Frühsommer 1947 und im Frühjahr 1948 aus der Krisenerfahrung gezogenen verwaltungsmäßigen Konsequenzen aufgrund der deutschlandpolitischen Rücksichten jedesmal weit hinter den Erfordernissen der Krisenbekämpfung zurück, so daß sich das Mißverhältnis zwischen Verwaltungsanspruch und -praxis eher noch vergrößerte. Nur das Verkehrswesen bildete in dieser Hinsicht eine gewisse Ausnahme. Die von Herbst 1946 bis Frühjahr 1948 andauernden Verteilungskonflikte zwischen Agrar-und Industrieländern, insbesondere zwischen Bayern und Nordrhein-Westfalen („Kartoffel-“ bzw. „Fleischkrieg“), offenbarten die Handlungsunfähigkeit einer Verwaltung, der die notwendigen Exekutivorgane fehlten, der darüber hinaus eine demokratische Legitimation und damit Autorität gegenüber der Bizonenbevölkerung abging und die somit, zumal einem unbeschränkten Veto-und Weisungsrecht der Alliierten unterworfen, weitgehend ein Exekutionsorgan der Besatzungsmächte blieb.
Die Widersprüche der Besatzungspolitik blieben bis zur Gründung der Bundesrepublik unaufgelöst: Die Militärregierungen verlangten von den Deutschen die Durchführung einer bestimmten Politik nach alliierten Richtlinien, zugleich verweigerten sie ihnen das dafür notwendige Instrumentarium. Dennoch zogen die Amerikaner aus diesem intern sehr offen diskutierten Dilemma seit Ende 1947 entschiedene Konsequenzen. Als sich das Office of Military Government for Germany, United States (OMGUS) im Herbst 1947 eingestehen mußte, daß das „Versagen“ der deutschen Verwaltung unter den gegebenen Bedingungen zwangsläufig war, und daß insbesondere das Ernährungsproblem selbst bei noch so starkem Leistungswillen der Deutschen unlösbar bleiben würde, weil angesichts eines in voller Auflösung befindlichen Bewirtschaftüngssystems und des fortschreitenden Währungsverfalls auch bei Anwendung noch so rigider Polizeimethoden keine Hoffnung bestand, die Ablieferung und Verteilung der heimischen Nahrungsmittel in sozial gerechter und ökonomisch sinnvoller Weise zu garantieren, kam es zu einer Wende der alliierten Besatzungspolitik. Die Militärgouverneure erkannten, daß unter dem Diktat des Mangels überhaupt keine Verwaltungskonstruktion vorstellbar war, mit der die Überwindung der Krise zu bewerkstelligen sein konnte. Zwar hätte eine deutsche Zentralverwaltung mit Hilfe eigener oder alliierter Exekutionsorgane unter Anwendung härtester Methoden in der Lage sein können, die Bewirtschaftung des Mangelprodukts Nahrungsmittel noch etwas länger durchzuhalten, doch wäre eine derartige Politik früher oder später an dem ihr immanenten Widerspruch zwischen dem Anspruch auf eine sozial gerechte „Verteilung des Mangels“ in einer zu demokratisierenden Gesellschaft und den angewendeten autoritären, polizei-staatlichen Mitteln gescheitert.
Ein erfolgreiches Krisenmanagement als Voraussetzung für die seit Mitte 1947 von allen Seiten propagierte ökonomische Rekonstruktion und politische Stabilisierung Westdeutschlands war also nicht durch Reformen der Binnenstruktur, die immer nur flankierenden Charakter haben konnten, lösbar, sondern nur durch von außen kommende umfassende materielle Hilfe, verbunden mit wirtschaftspolitischen Eingriffen (Währungsreform, Ankurbelung der Warenproduktion durch Abbau der Zwangswirtschaft), die eine grundlegende Veränderung der Rahmenbedingungen schufen.
Die ernährungspolitischen Konsequenzen des besatzungspolitischen Kurswechsels waren einschneidend. So übernahmen die Militärregierungen von nun an praktisch wieder die totale Kontrolle über die deutsche Ernährungsverwaltung, um eine gerechtere Verteilung der Nahrungsmittel zu gewährleisten. Die einzelnen Länder erhielten feste Auflagen für die Ablieferung ihrer landwirtschaftlichen Produktion, von deren Einhaltung die Zuweisung der Importe abhing; im Falle des Zuwiderhandelns wurden Sanktionen nicht nur angedroht, sondern auch durchgesetzt (Rationskürzungen im Frühjahr 1948). Darüber hinaus hielten die Alliierten aber auch nach der Währungsreform an der Zwangsbewirtschaftung für Lebensmittel fest, um noch schärfere soziale Disparitäten bei der Verteilung zu verhindern. Sie taten dies in Zusammenarbeit mit der deutschen Ernährungsverwaltung unter Schlange-Schönin- gen (CDU) und unter Zustimmung der Sozialdemokratie und Gewerkschaften auch dann noch, als sich die marktwirtschaftlich orientierten bürgerlichen Parteien längst entschieden davon distanziert hatten (Herbst 1948).
Diese Politik lieferte dem amerikanischen Kongress den Beweis dafür, daß seine Hilfe nicht in ein Faß ohne Boden laufen würde, so daß die Zufuhren von Nahrungsmitteln, die 1946/47 erst 675 kcal, pro Kopf und Tag betragen hatten, von 1 095 kcal. (1947/48) auf 1 520 kcal. (1948/49) gesteigert werden konnten. So war es einzig der britisch-amerikanischen Importhilfe zu verdanken, die im Zeitraum 1945— 1949 rund die Hälfte der in den Westzonen verzehrten Nahrungsmittel ausmachte und die insgesamt 13 Millionen Tonnen mit einem Finanzaufwand von 2, 376 Mrd. Dollar (ergänzt durch humanitäre Leistungen in Höhe von ca. 350 0001 Lebensmittel) erreichte daß die westdeutsche Bevölkerung nicht verhungerte und daß es — nach dem Import von Dünge-und Futtermitteln — gelang, die Leistungsfähigkeit der deutschen Landwirtschaft seit Herbst 1948 planmäßig und spürbar zu steigern und in kürzester Zeit — erleichtert durch die Rekordernten von 1948 und 1949 — den Hunger zu besiegen. Damit war von den Besatzungsmächten eine wesentliche Voraussetzung für die Überwindung der wirtschaftlichen „Lähmungskrise“ und damit für den Aufbau einer stabilen politischen Ordnung in Westdeutschland geleistet worden. Eine zweite Voraussetzung schuf die von den Militärregierungen in Kooperation mit der deutschen Verwaltung im Juni 1948 durchgeführte Währungsreform.
Zwar bedeutete das aus ernährungs-und sozialpolitischen Rücksichten unumgängliche Festhalten an der agrarischen Zwangswirtschaft eine nicht unbedeutende Hypothek für die Entwicklung der deutschen Agrarproduktion, doch überwogen zweifellos die von den durch die Währungsreform möglich gewordenen Liberalisierungstendenzen ausgehenden positiven Folgen insbesondere für die Industrieproduktion. Zusammen mit der im Frühjahr 1948 greifbar werdenden grundlegenden Veränderung des politischen Klimas (Auftrag zur Weststaatsgründung, Verteidigung Berlins) trug die Währungsreform entscheidend zur Schaffung der psychologischen Voraussetzungen zur Überwindung der Produktionskrise bei.
Noch im Sommer 1947 hatten die führenden deutschen Politiker konstatiert: „Die industrielle Produktion reicht ... unter den gegebenen Verhältnissen gerade aus, um die Ernährungswirtschaft, die öffentlichen Versorgungsbetriebe und die Verkehrswirtschaft notdürftig am Leben zu erhalten. Wir sind darüber hinaus nicht... imstande, Investitionsgüter zu erzeugen, um die schlimmsten Kriegsschäden zu beheben oder auch nur um den laufenden Verschleiß zu ersetzen, und wir sind noch weniger imstande, Konsumgüter für die Versorgung unserer Bevölkerung in nennenswertem Umfang zu erzeugen ... Die deutsche Wirtschaft befindet sich offensichtlich in einer Lähmungskrise. Wenn ihre Lebensbedingungen nicht sehr rasch und sehr einschneidend geändert werden, ist eine fortschreitende Schrumpfung unaufhaltsam.“
Die von der deutschen Verwaltung — als Konsequenz aus dieser trostlosen Zustandsbeschreibung — bewußt in dieser Reihenfolge geforderten Maßnahmen: Sicherstellung einer ausreichenden Ernährung der arbeitenden Bevölkerung, Währungsreform, ausreichende Importe an Rohstoffen und Produktionshilfsmitteln, Sicherung einer ausreichenden Kohlenversorgung waren ein Jahr später erfüllt bzw. erfüllbar geworden. Auf der Grundlage des psychologischen Klimawechsels des Frühjahres 1948, der in Aussicht gestellten politischen Stabilisierung und der eingeleiteten Veränderung der ökonomischen Rahmenbedingungen war es in erster Linie die schnelle Anhebung des Ernährungsniveaus bis Mitte 1949 auf bereits wieder zwei Drittel des Vorkriegsstandes, die den fulminanten Anstieg der westdeutschen Industrieproduktion ermöglichte
IV. Relevanz der Krise
Angesichts der zentralen wirtschaftlichen Bedeutung der Mangelkrise und ihrer Bekämpfung liegt es nahe, nach möglichen Einflüssen auf die Entwicklung der politischen und sozioökonomischen Ordnung wie auf die individuelle und kollektive Sozialmoral zu fragen.
Politische Wirkungen sind wohl darin zu sehen, daß sich wichtige Zielvorgaben der alliierten Deutschland-und Besatzungspolitik sowie das Krisenmanagement an der Frage ihrer Auswirkung auf die Mangelsituation messen lassen mußten und demzufolge häufig modifiziert wurden. Die Folgen waren unter anderem die Beibehaltung der landwirtschaftlichen Besitzstruktur ein weitgehender Verzicht auf eine grundlegende Entnazifizierung (zumindest) der Ernährungsverwaltung und — mehr indirekt — die Fortführung einer agrarischen Marktordnung, in der Produktion, Ablieferung und Verteilung im Rahmen einer staatlichen Zwangswirtschaft primär an den Interessen der sie verwaltenden Produzenten orientiert und demokratischer Kontrolle fast völlig entzogen blieben.
Da sich spätestens seit Anfang 1946 die Besatzungspolitik und die daraus folgende zonale „Innenpolitik“ immer mehr auf die Frage der Krisenbekämpfung konzentrierte, dürfte auch das Verhältnis zwischen Alliierten und Deutschen zu einem beträchtlichen Maß durch ihren sichtbaren Beitrag zur Überwindung des Mangels bestimmt worden sein. Auch deshalb gestaltete sich das Verhältnis der Deutschen zu den Briten wesentlich spannungsreicher als zu den Amerikanern, die diese hochgesteckten Erwartungen hinsichtlich materieller Hilfe schließlich auch zu erfüllen vermochten, so daß die Anziehungskraft der von ihnen propagierten und initiierten politischen und wirtschaftlichen Prinzipien und Ordnungsvorstellungen auf das nachdrücklichste gestärkt wurde.
Die Kehrseite der sich hinsichtlich des Krisenmanagements rasch entwickelnden partiellen Interessenkonvergenz mit den Alliierten bestand jedoch darin, daß als Folge der ernährungspolitischen Abhängigkeit der Handlungsspielraum deutscher Politik im „Schatten des Hungers“ eingeengt wurde. Trotz der Massenproteste und trotz permanenter Boykottdrohungen von Parteien und Regierungen gab es letztlich keine Alternative zu einer Politik weitgehender Anpassung an jene alliierten Konzepte, die eine Überwindung der materiellen Krise verhießen. Ihr Erfolg schien zugleich aber der Mehrheit der Bevölkerung die Überlegenheit konservativer politischer und liberaler ökonomischer Ordnungsvorstellungen zu beweisen. Die deutsche „Innenpolitik“ dieser Jahre war gleichfalls in vielfältiger Weise durch die Mangel-erfahrung und die Hungerbekämpfung geprägt. So wurden die Beziehungen zwischen den Ländern und der Zentralverwaltung nachhaltig durch die Konflikte um den „übergebietlichen Nahrungsmittelausgleich“ bzw. die Belieferung mit Ruhrkohle bestimmt. Noch nachdrücklicher aber manifestierte sich die innenpolitische Relevanz des Hungerproblems darin, daß in den Frühjahren 1947 und 1948 Millionen von Arbeitern und Angestellten gegen den Hunger demonstrierten und streikten Diese spontane Massenbewegung schien die Gefahr zu signalisieren, daß ein Umschlagen der ökonomischen in eine politische Krise bevorstand. Obwohl diese Proteste nach Anlaß, Inhalt und Zielsetzung fast ausschließlich ernährungspolitischen Charakter zeigten und „nicht ein Korn mehr“ versprachen und obwohl sie sich ausdrücklich nicht gegen die Besatzungsmächte richteten, besaßen sie indirekt eine politische Dimension, da von nun an nicht mehr daran zu zweifeln war, daß ohne eine umfassende materielle Bekämpfung des Hungers der wirtschaftliche und politische Aufbau in Westdeutschland scheitern würde. Die Reaktion der Alliierten darauf zeigte darüber hinaus eine zunehmende Bereitschaft, der deutscherseits vorgetragenen, bald toposartig anmutenden Argumentation zu folgen: Die Fortdauer des materiellen Elends führe immer schneller und unausweichlich in die wirtschaftliche und soziale Verelendung und da-mit zu politischer Radikalisierung und Instabilität — sprich Kommunismus
Die ökonomischen Konsequenzen des Hungers waren zumindest ebenso evident wie seine politischen Auswirkungen. Die Tatsache, daß die Menschen insbesondere in den industriellen Ballungsgebieten mehr als drei Jahre lang von z. T. weniger als der Hälfte eines kalorienmäßigen Existenzminimums leben mußten, deutet den fundamentalen Zusammenhang zwischen Ernährungskrise und industrieller Produktionsleistung an. Spätestens seit den Rationskürzungen des Frühjahres 1946 setzte sich bei den verantwortlichen Politikern die Überzeugung durch, daß die unzulängliche Ernährung und ihre Folgen ein Hauptgrund für die wirtschaftliche Stagnation war und daß der lähmende circulus vitiosus — schlechte Ernährung, geringe Produktion, niedriger Export, fehlende Lebensmittel, niedrige Agrarproduktion usw. — nur von der Ernährungsseite und damit nur mit alliierter Hilfe durchbrochen werden konnte.
Daß die Ernährung die wichtigste Produktionsbarriere darstellte, ist leicht begründbar: Die durch die jahrelange Mangelernährung bedingte „Autokannibalisierung“ vieler Menschen führte zwar nicht zur Massensterblichkeit, wenngleich Todesraten und Hungerkrankheiten steil anstiegen, sie bewirkte aber eine physiologisch wie psychologisch bedingte Halbierung der normalen Leistungsfähigkeit. Dieser Wirkungszusammenhang spiegelte sich am deutlichsten in der Entwicklung der Kohleproduktion, deren Kurve weitgehend der Rationsentwicklung folgte Und obwohl die Bergleute eine weit überdurchschnittliche Versorgung erhielten, blieb die Produktivität im Kohlebergbau auf rund 50— 60% der Vorkriegsleistung reduziert was sowohl physiologisch bedingt war als auch durch die hohe Zahl von Feierschichten (25— 30%), die zur Beschaffung zusätzlicher Lebensmittel für die Familie benötigt wurden. Mit Hilfe besonderer „Anspornpläne“ ließ sich die Produktion im Bergbau zwar etwas stärker steigern als in anderen Wirtschaftszweigen, doch reichte das nicht aus, um den gesamtwirtschaftlichen Lähmungszusammenhang vor Ende 1948/Anfang 1949 aufzulösen.
Eine weitere wirtschaftliche Auswirkung des Hungers war der Zerfall des von den Nationalsozialisten entwickelten Systems der Warenbewirtschaftung (und Preislenkung), zu dessen Beibehaltung es angesichts der drastischen Verknappung aller Lebensmittel und Waren 1945 keine echte Alternative gegeben hatte, wollte man nicht ein allgemeines Wirtschaftschaos und eine Nicht-versorgung gerade der sozial und wirtschaftlich Schwächsten riskieren. Dieses System garantierte zwar kurze Zeit eine relative Verteilungsgerechtigkeit auf minimalem Niveau, löste sich aber trotz aller Stützungsbemühungen seitens der Verwaltung mit Fortdauer der Krise sehr bald auf, da wesentliche Funktionsvoraussetzungen fehlten oder allmählich zerfielen (mangelnde Zentral-autorität, wachsendes Nahrungsmitteldefizit, katastrophale landwirtschaftliche Produktionsbedingungen, Währungsverfall, Ausufern der grauen und schwarzen Märkte).
Die alles bestimmende „Moral der tausend Kalorien“ (Agartz) führte dazu, daß immer stärkere Zwangsmittel mit immer geringerem Erfolg eingesetzt werden mußten (u. a. Geldstrafen in Millionenhöhe, Haftstrafen, Betriebsschließungen). Die schließlich ganz auf die Landwirtschaft beschränkte Aufrechterhaltung des Zwangssystems sicherte zwar eine Ablieferung von ca. 80% eines allerdings niedrig angesetzten Solls und damit eine Minimalversorgung der Bevölkerung, führte aber auch dazu, daß sich die Landwirte unter Sonderrecht gestellt sahen, wodurch ihre Bereitschaft zur stärkeren Produktionsanstrengung wie zur ordnungsgemäßen Ablieferung immer mehr geschwächt wurde.
Das starre Festhalten am Bewirtschaftungssystem wurde — vor allem nach der Währungsreform — politisch immer widersinniger: Man konnte nicht „hinter jede Kuh und vor jeden Bauern einen Polizisten“, der noch dazu bestechlich war, stellen Fast einhellig bestand bei Alliierten und Deutschen die Überzeugung: „Die starre Zwangswirtschaft muß beendet werden ... Die politische Demokratie, verkuppelt mit einem wirtschaftlichen Polizeistaat, ist ein Widerspruch in sich selbst und wird dem Volk mehr und mehr zu einem verzerrten und unglaubhaften Götzenbild ..." Vor dem Hintergrund dieser Erfahrungen muß der ökonomische Erfolg der „Sozialen Marktwirtschaft“, aber auch die Chancenlosigkeit aller sozialistischen Planungsmodelle, die von den bürgerlichen Parteien im Wahlkampf 1949 in diskreditierender Absicht mit der „Bewirtschaftung des Mangels“ gleichgesetzt wurden, interpretiert werden.
Besonders tiefgreifende, zugleich aber kaum quantifizierbare Folgen der Hungerkrise sind im Bereich der individuellen wie kollektiven Sozialmoral zu vermuten. Da die meisten Menschen hungerten und somit gezwungen waren, durch den Verkauf von Waren und Dienstleistungen zusätzliche Subsistenzmittel herbeizuschaffen, wurde das Sattwerden bis 1949 Maßstab des individuellen wirtschaftlichen und sozialen Handelns. Die Fähigkeit, dieses Ziel zu erreichen, bestimmte deshalb — vorübergehend — die soziale Klassifizierung: Der Hunger schien die überkommene gesellschaftliche Schichtung einzuebnen und verdeckte traditionelle Klassengrenzen bis zur Unkenntlichkeit. Jenseits der Gruppen der maßlos beneideten Selbstversorger und der verhaßten „Schieber“ teilte sich die Bevölkerung einerseits in Sachwertbesitzer und in jene Gruppen, deren qualifizierte Arbeitskraft von Bauern und Lebensmittelhändlern gesucht wurde, und andererseits in den mit Fortdauer der Krise wachsenden Personenkreis derer, die immer weniger fähig waren, sich selbst zu versorgen (Alte, Kranke, Erwerbslose und Flüchtlinge, in zunehmendem Maße auch Lohn-und Gehaltsempfänger).
Die Hungerkrise scheint vor allem aber auch — zumindest vorübergehend — eine Nivellierung der kollektiven Wertmaßstäbe hin zu einer „klassenlosen Klaugesellschaft“ (Böll) bewirkt zu haben. Was immer man nämlich unternahm, um das Überleben zu organisieren — es war mit dem Zwang zur Illegalität verbunden, bei gleitendem und kaum merklichem Übergang in die Kriminalität. Plünderungen, Hamstern und Teilnahme am Schwarzmarkt waren zwar eindeutige Verstöße gegen geltendes Recht und schädigten die Allgemeinheit, doch wurden diese Delikte in der Öffentlichkeit keineswegs als „kriminell“ bewertet, da immer das vorrangige Motiv individueller Not erkennbar blieb. „Kohlen“ -bzw. „Lebensmittelklau“ wurde zur Massenbewegung: Hunderte von Menschen überfielen am hellen Tage Güterzüge und plünderten Lebensmittel und Kohlen, Tausende gruben in der Erntezeit nachts zentnerweise Kartoffeln und Zuckerrüben aus den Feldern aus oder schnitten Ähren ab; aber auch bis zu 10-15 % der laufenden Industrieproduktion wurde von den Betriebsangehörigen entwendet, um sich die notwendigen Tauschgegenstände zu verschaffen.
Ein weiterer Grundzug hungerbedingten Sozial-verhaltens kann in der demoralisierenden und desintegrierenden Wirkung des Mangels auf größere soziale Gruppen vermutet werden. Diese Entwicklung machte selbst vor der Arbeiterschaft nicht halt, schien doch sichtbar zu werden, daß der Streik nicht mehr als Waffe zur Durchsetzung politischer Forderungen oder als Instrument zur Verbesserung der materiellen Situation geeignet war, sondern offenbar nur noch zur ohnmächtigen Demonstration taugte. Denn die Sündenböcke, welche die Demonstrierenden zu kennen glaubten (Schieber, Bauern, Ernährungsverwaltung, Besatzungsmächte), blieben so unangreifbar oder mächtig, daß man sie nicht zu einer sichtbaren Verbesserung der materiellen Lage zwingen konnte. Die „Magenfrage“ war, so belegte die tägliche Erfahrung, nach Überzeugung der Mehrzahl der Arbeiter nicht durch solidarische Aktion gegenüber den politisch Verantwortlichen zu lösen. Der Mangel konnte nur jeden Tag aufs Neue von jedem einzelnen (oder in kleineren Gruppen) mit allen erlaubten und vielen unerlaubten Mitteln bekämpft werden.
Noch schwerer fallen Antworten auf die Frage, wie sich die Erfahrung des Mangels auf das politische Bewußtsein der Bevölkerung auswirkte. Der Eindruck, den der zeitgenössische Beobachter gewann, war der einer umfassenden Verweigerung von direktem, auf die Zukunft gerichteten politischem Engagement, durchsetzt von einer diffusen Bereitschaft zu spontanem Protest. Desinteresse an politischen Vorgängen, Perspektivund Hoffnungslosigkeit sowie ausgeprägtes Selbstmitleid kennzeichneten das „kollektive Bewußtsein“ der Nachkriegsgesellschaft, deren depressive Grundstimmung bis zur Währungsreform sehr stark durch die Erfahrung anhaltenden Hungers und materieller Not geprägt war. Kennzeichnend war ferner die sich mit Dauer der Hungerkrise verstärkende Tendenz zur Irrationalität. Dieser Grundzug zeigte sich nicht zuletzt in zahllosen, höchst unsinnigen Gerüchten (z. B. „Allgäuer Butter in die USA!“) über die Ursachen der Ernährungskrise und in sich verschärfender Kritik an den Besatzungsmächten, denen eine bewußte Hungerpolitik („Deutschland soll drei Jahre lang mit KZ-Rationen auskommen!“) vorgeworfen wurde. Erkennbar wurde diese Tendenz aber auch in verbreiteten negativen Urteilen über die politische und wirtschaftliche Ordnung, in der man durch alliiertes Diktat zu leben gezwungen war.
Alliierte und Deutsche aller politischen Richtungen waren sich daher einig in der Einschätzung, „daß man mit der Moral einer sterbenden Wirtschaft und der Moral hungernder Menschen ... keine Demokratie zur Entfaltung bringen“ könne vor allem aber darin, daß durch die zunehmende Gleichsetzung von Hunger und Demokratie die im Aufbau befindlichen politischen Parteien und jene Institutionen, in denen sie mitwirkten, diskreditiert würden. Die niedrige Wahlbeteiligung bei den Landtagswahlen 1946/47 war dafür ein unübersehbares Indiz.
Es wurde also nicht nur die Demokratiebereitschaft großer Teile der Bevölkerung gering eingeschätzt, es wurde sogar befürchtet, daß sich die antidemokratischen Einstellungen breiter Schichten nach der vorübergehenden Erschütterung durch die Niederlage rasch wieder verfestigen und zu einem wichtigen politischen Faktor werden könnten. OMGUS-Umfragen schienen das zu bestätigen: Ende 1946 äußerten 39% der Bevölkerung antisemitische Einstellungen und Ende 1947 hielten noch mehr als 50% den Nationalsozialismus für eine im Prinzip gute und nur schlecht durchgeführte Sache Die überall anzutreffende Meinung, daß Hunger und Demokratie identisch seien, wurde für viele durch die ebenso kurzgeschlossene Umkehrformel bestätigt, daß man im „Dritten Reich“ nicht habe hungern müssen. Eine beträchtliche Zahl Deutscher scheint sich der Einsicht verweigert zu haben, daß es gerade die nationalsozialistische Politik gewesen war, die den Mangelzustand herbeigeführt hatte. Die verbreitete Proteststimmung diente somit als stark gewichtetes Argument in der politischen Auseinandersetzung der Nachkriegszeit. Es muß aber gefragt werden, ob sie nicht zugleich ein nicht zu unterschätzendes Hindernis für die „Demokratisierung des kollektiven Bewußtseins“ dargestellt hat, da große Teile der westdeutschen Bevölkerung aufgrund ihrer Krisenerfahrung von Vorurteilen und antidemokratischen Einstellungsmustern wie von einer tief verwurzelten Irrationalität geprägt blieben. Es fehlte nicht zuletzt aufgrund der beschriebenen extremen Mangel-situation jener Wille zur Rationalität, mit dem die Gründe der durchlittenen Krise hätten aufgedeckt, aber auch Konsequenzen für die Gestaltung der künftigen politischen und gesellschaftlichen Ordnung hätten vorbereitet werden können.