I. Fragestellung
Seit 1973/74 und insbesondere seit 1979/80 sind die meisten westlichen Länder von Arbeitslosen-quoten geplagt, deren Niveau den Arbeitsmarkt-krisen der dreißiger Jahre ähnelt Die Beschäftigungskrise der siebziger und achtziger Jahre kam für die meisten unerwartet, und sie hat viele in Bedrängnis gebracht: Arbeitslose und mittelbar von der Beschäftigungskrise Betroffene, Praktiker und Analytiker der Wirtschaftspolitik, letztlich auch die Sozialwissenschaftler, die sich mit den politischen Auswirkungen ökonomischer Krisen beschäftigen. Die einen gerieten in Bedrängnis, weil sie die Krisenlasten direkt zu tragen hatten, die Analytiker und Praktiker, weil ihre Instrumente und Therapien, die als wirksam galten, sich als unzureichend erwiesen, die sozialwissenschaftlichen Krisenforscher, weil die politischen Verhältnisse sich anders entwickelten als erwartet. Der Zusammenhang von Arbeitslosigkeit und Politik, der sich in den siebziger und achtziger Jahren entwickelte, stand quer zu einer Reihe von Hypothesen, die bis 1973 als gesichert galten:
— Er stand quer zur Annahme, daß die Wirtschaftssysteme der westlichen Industrieländer dank einer intelligenten Wirtschaftspolitik dauerhaft erfolgreich gesteuert werden könnten.
— Die wirtschaftliche Entwicklung nach 1973 stellte insbesondere die weitverbreitete Sichtweise in Frage, derzufolge die Wirtschaftspolitiker eine Wahl zwischen Vollbeschäftigung und Inflation oder Preisstabilität und Massenarbeitslosigkeit hätten. Im Gegensatz dazu bewegten sich die Arbeitslosen-und Inflationsraten auf verschlungeneren Pfaden — im schlimmsten Falle in einer Stagflations-Schleife (wie z. B. längere Zeit in Großbritannien) und im günstigsten Fall in den Bahnen der Vollbeschäftigung und relativen Preisstabilität (wie z. B. in Österreich und in der Schweiz). Nur in wenigen Ländern (unter anderem in der Bundesrepublik) verhielten sich beide Kurven so, wie es sogenannte „Phillips-Kurven" -Konzepte vorhersagten: Die relative Preisstabilität ging mit Beschäftigungkrisen einher — Weiterhin rückte die Krise der siebziger und achtziger Jahre Vermutungen über die Parteien der westlichen Demokratien zurecht: Die These der parteienspezifischen Wirtschaftspolitik erwies sich als falsch. Dieser These zufolge sorgten bürgerliche Regierungsparteien für Preisstabilität — unter Inkaufnahme höherer Arbeitslosigkeit —, während sozialdemokratische Regierungsparteien Vollbeschäftigung favorisierten und sicherten — um den Preis höherer Inflation -Im Gegensatz dazu ließ das wirtschaftspolitische Leistungsprofil der westlichen Länder in den siebziger und achtziger Jahren ein anderes Muster erkennen: Massenarbeitslosigkeit und Inflation gab es sowohl unter sozialdemokratischen Regierungen als auch unter bürgerlichen Regierungsparteien. Vollbeschäftigung oder zumindest niedrige Arbeitslosenquoten wurden sowohl über einen „sozialdemokratischgewerkschaftlichen“ als auch über einen „konservativ-reformerischen“ Weg erreicht Japan und die Schweiz sind Repräsentanten des letzteren Weges, Norwegen, Österreich und Schweden Beispiele für den ersteren. Ebenso bunt gemischt sah die Zusammensetzung der Ländergruppen mit relativer Preisstabilität bzw. hoher Inflation aus: England unter der Labour-Regierung bis 1979 und Frankreich unter bürgerlicher Führung (bis 1981) zählen zur zweiten Gruppe, die Schweiz, von einer Allparteienregierung geführt, und die sozialdemokratisch regierten Länder Österreich und Bundesrepublik Deutschland (bis 1982) zur ersten. — Ferner standen die wirtschaftlichen und politischen Tendenzen der zwölf Jahre quer zu den Theorien über politische Krisen, die in den sechziger und siebziger Jahren entwickelt wurden: Die westlichen Demokratien blieben politisch stabil. Das widersprach der verbreiteten Annahme, daß die Loyalität der Massen von regelmäßigen, kündigungsfesten und steigenden Erwerbs-und Sozialeinkommen abhänge und daß eine ökonomische Krise akute Legitimationsdefizite — wenn nicht gar Legitimationskrisen — entstehen ließe. Die politischen Reaktionen auf die Arbeitslosigkeit fielen jedoch weit gedämpfter aus als allgemein erwartet. Große politische und soziale Krisen blieben aus, extremistische Bewegungen der Rechten und der Linken erhielten in den meisten Ländern wenig Zulauf. Die ökonomische Krise entwickelte sich nicht zur politischen Krise. Ein erheblicher Teil der Wählerschaft war offensichtlich bereit, in Notzeiten den Gürtel enger zu schnallen, ganz im Gegensatz zur Meinung, der-zufolge die „Revolution der steigenden Erwartungen“ die Wähler erfaßt habe Und selbst die Arbeitslosen neigten in der Regel nicht zum lautstarken Protest, so daß ein führender Experte der Arbeitsmarktpolitikforschung die Szenerie in der Bundesrepublik so charakterisieren konnte: Das eigentliche „Modell Deutschland“ — so ein Wahlkampf-Slogan der SPD aus den siebziger Jahren — bestünde aus Massenarbeitslosigkeit und politischem Quietismus
Wenn die Massenarbeitslosigkeit schon nicht eine politische Systemkrise zur Folge hatte, so wäre zumindest eine Reaktion der Wählerschaft in systemimmanenten Bahnen zu erwarten gewesen. Folgt man dem gesunden Menschenverstand und der Forschung über Zusammenhänge zwischen Wahlen und Wirtschaftslage dann müßte die Massenarbeitslosigkeit den regierenden Parteien spätestens bei der nächsten Bundestagswahl schaden und ihre Wiederwahlchancen schmälern. Nicht wenige Politiker befürchten, daß der gesunde Menschenverstand an diesem Punkt recht haben könne: „Den Kerlen mit der reinen Lehre“, so soll Bundeskanzler Helmut Kohl den Vertretern einer reinen wirtschaftsliberalen Lehre, von deren Anwendung er eine Vertiefung der Arbeitslosigkeit befürchtete, entgegengehalten haben, könne man manches zutrauen — ausgenommen ein Konzept, mit dem man Wahlen gewinnen kann
Inwieweit nun kann man diesen Thesen folgen? Inwieweit werden Regierungsparteien bei Wahlen, die unter den Vorzeichen von Massenarbeitslosigkeit abgehalten werden, von den Stimmberechtigten bestraft, und inwieweit erweist sich die Aufrechterhaltung oder Wiedergewinnung der Vollbeschäftigung als eine Trumpfkarte im Wahlkampf? Diese Fragen stehen im folgenden im Vordergrund. Sie werden anhand eines internationalen Vergleichs von nationalen Wahlen in den demokratischen Industrieländern der siebziger und achtziger Jahre beantwortet.
II. Arbeitslosigkeit und der Markt der Wählerstimmen
Politiker machen sich nicht zu Unrecht Sorgen um die Arbeitslosigkeit. In Deutschland spielt dabei die traumatische Erfahrung des Zusammenbruchs der Weimarer Republik eine große Rolle. In zahlreichen Analysen wird der Aufstieg der NSDAP direkt auf die Weltwirtschaftskrise, von der Deutschland stärker als andere Länder betroffen war, und insbesondere auf die Massenarbeitslosigkeit der letzten vier Jahre der Weimarer Demokratie zurückgeführt Ferner weisen Studien über westliche Demokratien nach dem Zweiten Weltkrieg einen Zusammenhang zwischen Wirtschaftslage, Popularität von Regierungschefs und Stimmenanteilen von Parteien nach. Insbesondere in angloamerikanischen Demokratien, in denen zwei große Parteien um die Gunst der Wähler kämpfen, werden Regierungsparteien häufig für Wirtschaftskrisen bestraft und für Konjunktur-aufschwünge belohnt Darüber hinaus zeigen Studien über Wahlabsichten der deutschen Bundesbürger, daß Massenarbeitslosigkeit auf dem Wählerstimmenmarkt für Turbulenzen sorgt. Neueren Analysen zufolge profitierten die „Grünen“ von den Stimmen der Arbeitslosen; die „Grünen“ verdankten der „kritischen Masse“ unter den Arbeitslosen ihren Einzug in den Bundestag Ferner nehme die Bindungsstärke der großen Parteien der Bundesrepublik gegenüber ihren Stammwählern ab. Insbesondere Wähler aus dem Arbeiterbereich legten in Reaktion auf die Arbeitslosigkeit ein ausgeprägtes „Anti-Regierungspartei“ -Verhalten an den Tag: Mittels Stimmenentzug bestraften sie die Regierungsparteien für die Arbeitslosigkeit, unabhängig davon, welche Partei an der Regierung war. Und schließlich deutet eine neuere Studie daraufhin, daß die Arbeitslosigkeit die Bindungen der christdemokratischen Stammwähler aus der Arbeiterschaft an die Unionsparteien schwäche
Freilich sind diese Studien über politische Folgen von Massenarbeitslosigkeit nicht unumstritten. Einige Analysen zur Bundestagswahl von 1980 beispielsweise kamen zu einem anderen Ergebnis: Die Arbeitslosen wählten überwiegend sozialdemokratisch; die Sozialdemokratische Partei schnitt in Regionen mit zunehmender Arbeitslosigkeit sogar noch günstiger als in anderen Regionen ab, während die Unionsparteien und die FDP weder aus der Apathie noch aus dem Protestwahlverhalten der Arbeitslosen Nutzen zogen Und selbst die verbreitete These, daß die Arbeitslosigkeit wesentlich verantwortlich für den Aufstieg der NSDAP gewesen ist, hält neueren Forschungsergebnissen nicht stand Die Arbeitslosen wählten die NSDAP in geringerem Maße als der Bevölkerungsdurchschnitt. Ihre Radikalisierung erfolgte nach links hin. Die Arbeitslosigkeit in der Weimarer Republik hat demnach nicht direkt, sondern höchstens auf indirekte Weise zum Aufstieg des Nationalsozialismus beigetragen.
Die Frage, ob Massenarbeitslosigkeit regierenden Parteien schadet, und welches Ausmaß der Schaden annimmt, wird demnach in der Forschung unterschiedlich beantwortet. Konsens besteht allenfalls darüber, daß einzelne Wählergruppen auf direkte oder mittelbare Betroffenheit von Arbeitslosigkeit heftig reagieren, zum Beispiel mit Protestwahl oder Wahlenthaltung, aber auch mittels der Sammlung um die Fahne der Partei, der man nahesteht. Unklar ist freilich, wie der Nettoeffekt für einzelne Parteien ausfällt, und unklar ist ferner, inwieweit die Bewegungen auf dem Wählerstimmenmarkt tatsächlich zu einem Wahlergebnis führen, das den regierenden Parteien eine Niederlage und oppositionellen Parteien den Wahlsieg beschert.
Die Unsicherheit ist groß; insoweit machen sich die großen Parteien zu Recht Sorgen um die Arbeitslosigkeit. Aus der Warte der Parteien gesehen, produziert Arbeitslosigkeit mehr Ungewißheit auf dem ohnehin turbulenten Wählerstimmenmarkt. Zunehmende Unübersichtlichkeit des Wählerstimmenmarktes bringt insbesondere regierende Parteien unter Druck, die sich auf eine breite, Klassen-und Milieugrenzen übergreifende Wählerschaft stützen und die zugleich in hartem Wettbewerb mit einer großen Oppositionspartei stehen, der von den Wählern Kompetenz in sozialpolitischen Fragen zugeschrieben wird Massenarbeitslosigkeit ist ferner ein Problem, das alle größeren Parteien, die der Tradition der sozialistischen Arbeiterbewegung oder der katholischen Arbeiterschaft und der katholischen Sozial-lehre verpflichtet sind, in moralischer Hinsicht in Zugzwang setzt: Arbeitslosigkeit steht dem Ziel des sozialen Ausgleichs entgegen, das von beiden Parteien in unterschiedlichen Varianten verfolgt wird.
Nimmt man diese Gesichtspunkte zusammen, so kann man den Beteuerungen der größeren Parteien der westlichen Demokratien (insbesondere der prinzipiell sozialreformerisch orientierten christdemokratischen und sozialdemokratischen Parteien), sie zögen Vollbeschäftigung der Massenarbeitslosigkeit vor, Glauben schenken. In dieser Präferenz spiegelt sich zwangsläufig auch das Eigeninteresse einer Partei der breiten Mitte. Einstellungen sind jedoch etwas anderes als Verhalten. Präferenzen sind nicht mit zielgerichtetem Handeln zu verwechseln, abstraktes Wollen ist nicht identisch mit bewußtem Tun, und für ein Ziel zu sein, heißt noch nicht, dieses Ziel vorrangig zu verfolgen. Auch wenn die meisten größeren Parteien glaubhaft versichern, gegen Arbeitslosigkeit und für Vollbeschäftigung zu sein, läßt sich daraus nicht folgern, daß sie unter den Bedingungen einer Arbeitslosigkeit nicht auch politisch gut überleben könnten. In unseren Breitengraden heißt „politisch gut überleben“ im Kern folgendes: im Rahmen legitimer und legaler Verfahren bei Wahlen einen Stimmenanteil zu gewinnen, der ausreicht, um Regierungsmacht zu halten oder zu gewinnen — als alleinregierende Partei oder in einer Koalitionsregierung. Auf den Machterhalt kommt es letztlich an und nicht auf ein paar Prozent Stimmen weniger oder mehr. Das haben die meisten Wissenschaftler übersehen, die der Frage nachgingen, in welchem Ausmaß die Popularität von Kanzlern oder Präsidenten und die Stimmen-anteile von Regierungs-und Oppositionsparteien von wirtschaftlichen Bedingungen abhängen.
III. Machterhalt und Machtverlust in demokratischen Industrieländern 1974— 1985
Legt man die Meßlatte des Machterhalts bzw.des Machtverlustes an die nationalen Wahlen an, die in den letzten zwölf Jahren in 20 westlichen Industrieländern abgehalten wurden, so erhält man ein verblüffendes Ergebnis Die Regierungsparteien der meisten westlichen Demokratien haben in den siebziger und achtziger Jahren günstige Aussichten gehabt, die politischen Turbulenzen zu überwintern, die infolge der Massenarbeitslosigkeit bei einzelnen Wählergruppen ausgelöst wurden. Zählt man die Zusammenhänge zwischen Höhe der Arbeitslosigkeit und Wahlergebnissen in den entwickelten westlichen Ländern aus, so erhält man folgende Ergebnisse:
Die meisten Regierungsparteien verlieren bei Wahlen Stimmenanteile. Im Durchschnitt belaufen sich die Einbußen auf — 2, 1 Prozentpunkte für alle Regierungsparteien und auf — 1, 6 Prozentpunkte für die jeweils stärkste regierende Partei. Jedoch ist dieses Ergebnis nicht spezifisch für Phasen, in denen wirtschaftlich widrige Bedingungen herrschen. In Prosperitätsphasen — beispielsweise zwischen 1960 und 1973 — sah die Bilanz nicht wesentlich anders aus.
Noch bemerkenswerter ist die Beobachtung, daß die Höhe der Stimmenverluste auf Seiten der Regierungsparteien weitgehend unabhängig von der Höhe der Arbeitslosenquote ist. Mit anderen Worten: Hohe und niedrige Stimmenverluste (und in seltenen Fällen auch Stimmengewinne) gibt es sowohl bei Wahlen, die unter Bedingungen einer Massenarbeitslosigkeit stattfanden, als auch bei Wahlen, die unter den Vorzeichen einer Vollbeschäftigung abgehalten wurden.
Noch wichtiger ist ein Drittes: Trotz der Stimmen-verluste sind die Chancen von Regierungsparteien, den Machterhalt auch bei Massenarbeitslosigkeit zu sichern, nicht schlecht: Sie sind so hoch wie die Chancen des Machterhalts bei Wahlen, die unter Vollbeschäftigungsbedingungen stattfinden. Die Wahrscheinlichkeit des Machterhalts beträgt in beiden Fällen — im statistischen Durchschnitt aller nationalen Wahlen gerechnet — 60 zu 40 Prozent.
Natürlich muß der statistische Durchschnitt der Machterhaltungschancen mit zahlreichen Einschränkungen interpretiert werden. Z. B. unterscheiden sich die Machterhaltungschancen von Wahl zu Wahl je nach Wahlkampfthemen, Kandidaten, Zusammensetzung der Wählerschaft, Wahlbeteiligung, der Größe der an Streitfragen orientierten Wählerschaft und anderem mehr. Weiterhin deuten die Daten auf länder-und regionenspezifische Unterschiede hin. Ganz pauschal läßt sich beispielsweise sagen, daß konjunkturabhängige Wahlsiege und -niederlagen am ehesten bei Wahlen in angloamerikanischen Ländern zum Tragen kommen Außerdem fällt die Höhe der Stimmenverluste bzw. Stimmengewinne von Land zu Land unterschiedlich aus. Stimmenverluste der Regierungsparteien gehören zu den normalen Begleiterscheinungen der Wahlen in Australien, Finnland, Frankreich, Großbritannien, Irland, Island, Italien, Kanada, Luxemburg, Neuseeland und Schweden. Demgegenüber sind Stimmengewinne der Regierungsparteien häufiger in Dänemark, in der Bundesrepublik Deutschland (Bundestagswahlen von 1980 und 1983) und in Österreich (Nationalratswahlen von 1975 und 1979).
Ferner muß man sich vor naheliegenden Fehlinterpretationen der Daten hüten: Man kann aus den Materialien nicht die These ableiten, daß Arbeitslosigkeit oder Vollbeschäftigung unerheblich für Wahlergebnisse wären. Jedoch ist dies wichtig: In der Beobachtung, daß Wahlsiege von Regierungsparteien (im Sinne des Machterhalts verstanden) statistisch weitgehend unabhängig von der Höhe der Arbeitslosenquote sind, und im übrigen auch weitgehend unabhängig von anderen „harten“ Indikatoren der Wirtschaftslage wie z. B. Wachstum und Inflation, liegt mehr begründet, als Statistik aussagen kann. Hier verbirgt sich ein folgenreicher Lernprozeß, den krisengeplagte Partei-und Regierungspolitiker in den siebziger und der ersten Hälfte der achtziger Jahre machen konnten: Zu ihrer großen Erleichterung lernten sie, daß man trotz Wirtschaftskrise und Massenarbeitslosigkeit konkrete Chancen hat, Wahlen zu gewinnen, sprich: die Regierungsmacht zu behalten. Man kann in diesem Lernprozeß eine Ursache dafür sehen, daß die Regierungen zahlreicher westlicher Länder in der Beschäftigungs-und Arbeitsmarktpolitik der siebziger und achtziger Jahre zunehmend zurückhaltender operierten, obwohl die Arbeitslosenquoten weiter stiegen. Die wahlpolitischen Kosten, die mit dieser Entscheidung verbunden waren, fielen vergleichsweise bescheiden aus. Der Stimmenverlust der Regierungsparteien hielt sich in Grenzen eines Sicherheitsrisikos, das offensichtlich als akzeptabel angesehen wurde.
IV. Wie man Wahlen trotz Massenarbeitslosigkeit gewinnen kann
In den letzten zwölf Jahren haben knapp zwei Drittel aller Regierungsparteien in den westlichen Demokratien nationale Wahlen trotz Massenarbeitslosigkeit gut überstanden. Warum? Wie läßt sich erklären, daß die Chance des Machterhalts beachtlich groß ist, obwohl die große Mehrheit der Wählerschaft die Arbeitslosigkeit als ein dringend lösungsbedürftiges Problem definiert? Zwei Wirkungszusammenhänge waren hier von Bedeutung: Der eine dämpfte die politischen Reaktionen auf die Arbeitslosigkeit (im Sinne des Protestes oder des Anti-Regierungspartei-Verhaltens), der andere bestand aus einer relativen Immunisierung von regierenden Parteien gegenüber den politischen Reaktionen auf die Arbeitslosigkeit. 1. Faktoren, welche die politischen Reaktionen auf Arbeitslosigkeit dämpfen Bei den Faktoren, die politische Reaktionen auf Arbeitslosigkeit im Ansatz dämpfen, spielten länderübergreifende und länderspezifische Eigenheiten eine Rolle. Da war zum einen der Klienteleffekt: In der Bundesrepublik scharten sich die Arbeitslosen in den siebziger Jahren zunächst um die Sozialdemokratische Partei. Ihr traute man am ehesten die Kompetenz zur Beschäftigungssicherung — oder zumindest zur sozialpolitischen Absicherung gegen die Erwerbslosigkeit — zu. Hierfür maßgebend waren traditionelle, sozialstrukturell bedingte SPD-Affinitäten von Arbeitnehmer-gruppen und Wählergruppen aus dem lohn-und gehaltsabhängigen Mittelstand, deren Wahlverhalten weniger auf traditionellen Bindungen als vielmehr auf dem individuellen Vergleich der Problemlösungskompetenz von Parteien beruhte.
Freilich muß hier hinzugefügt werden, daß diese Wähler und ein Teil der SPD-orientierten Arbeiterschaft mit zunehmender Dauer der Arbeitslosigkeit und mit abnehmender Problemlösungskompetenz der SPD/FDP-Koalition zur Oppositionspartei abwanderten, insbesondere Anfang der achtziger Jahre, jedoch nach 1982 zum Teil zur SPD zurückströmten
In einigen Ländern kam darüber hinaus kulturellen Faktoren und wirtschaftlichen Alternativrollen außerhalb der regulären Ökonomie eine große Bedeutung zu. Italien ist dafür das beste Beispiel: Hier gilt Arbeitslosigkeit im regulären Wirtschaftssektor nicht in dem Maße als ökonomische, kulturelle und psychische Katastrophe wie in den deutschsprachigen und nordeuropäischen Ländern; dies unter anderem deshalb, weil alternative ökonomische und soziale Rollen in der Schattenwirtschaft, in Familien-, Verwandtschafts-und Klientelbeziehungen weithin akzeptiert werden.
Alternatiyrollen außerhalb des regulären Arbeitsmarktes entlasteten jedoch auch die Arbeitsmarkt-politiker anderer Länder. Die Gründe liegen in der geringen Organisations-und Konfliktfähigkeit der sogenannten „Problemgruppen des Arbeitsmarktes“. Ihre Abwanderung in „Alternativrollen“ außerhalb des regulären Arbeitsmarktes wird in der Regel von der Mehrheit der Wählerschaft akzeptiert, wenn nicht sogar aktiv gefordert. Auch in wahlpolitischer Hinsicht sind diese „Problemgruppen“ keine entscheidende Größe. Ihr Wahlverhalten ist weder in Prosperitäts-noch in Krisenzeiten einheitlich, vielmehr sind die Parteipräferenzen und die Bereitschaft zum Protestwahlverhalten in der Regel über das gesamte politische Spektrum verteilt.
Hinzu kommen Sonderbedingungen bei den älteren und den ausländischen Arbeitslosen: Die älteren Arbeitnehmer werden in der Bundesrepublik, in Österreich und in einigen anderen Ländern durch Frühverrentungsangebote sozial und politisch integriert. Arbeitslose ausländische Arbeitnehmer hingegen haben nicht einmal die Chance eines wahlpolitischen Protestes, weil sie in den Gastländern nicht wahlberechtigt sind. Sie sind nicht nur Bestandteil einer Reservearmee auf Arbeitsmärkten, sie repräsentieren auch auf politischen Märkten eine Manövriermasse, deren Manipulation nahezu folgenlos bleibt — jedenfalls was die wahlpolitischen Kosten angeht. Es ist deshalb nicht weiter verwunderlich, daß in westlichen Ländern von der Ausländerpolitik zu arbeitsmarktpolitischen Zwecken ausgiebig Gebrauch gemacht wurde, besonders stark in der Schweiz, aber auch in der Bundesrepublik, in Österreich und in Frankreich
In Italien und in einigen anderen Ländern kommt eine spezifische Sozialgeschichte des Arbeitsmarktes hinzu. In der Nachkriegszeit war Vollbeschäftigung eine Episode. Das prägte das Akzeptanzniveau, die Mobilitätsbereitschaft und die lohnpolitische Flexibilität der Arbeitnehmer stark, ähnlich stark wie in den USA, über deren Arbeitnehmer ein Experte kopfschüttelnd schrieb, daß sie „der Arbeitslosigkeit eine Toleranz entgegenbringen, die an das Morbide grenzt“
Hiermit hängt ein weiterer Faktor zusammen: die Konzentration des Arbeitslosigkeitsrisikos In der Bundesrepublik geht die Arbeitslosigkeit an 75 bis 80 Prozent der Arbeitnehmer spurlos vorbei. Das Arbeitslosigkeitsrisiko trifft 20 bis 25 Prozent der abhängig Beschäftigten — vor allem Ausländer, ältere Arbeitnehmer, Frauen und Jugendliche. Für die große Mehrzahl der von Arbeitslosigkeit nicht betroffenen Wähler ist die Beschäftigungskrise keine wahlentscheidende Größe gewesen.
Dieser Mechanismus kommt vor allem in den Ländern zum Tragen, in denen soziale Solidarität und sozialer Ausgleich kleiner geschrieben werden. Er ist ferner in Ländern ausgeprägt, in denen die Stabilität traditioneller sozialstruktureller Bindungen der Wähler an Parteien die Entstehung einer größeren Gruppe von „Issue-Wählern" (d. h. Wählern, die ihre Wahlentscheidung an Problemen und Problemlösungskompetenzen ausrichten) verhinderten. In dieser Ländergruppe, zu der vor allem die kontinentaleuropäischen Länder zu rechnen sind, wird Arbeitslosigkeit häufig als individuell verschuldet angesehen, meist gekoppelt mit der Über-zeugung, daß vielen Arbeitslosen zumutbar sei, Alternativrollen außerhalb des Arbeitsmarktes anzunehmen. Beispiele sind: die Rückwanderung von Gastarbeitern in ihre Heimatländer, Hausarbeit für weibliche Erwerbslose und Wartezeiten für jugendliche Arbeitssuchende.
Einige Regierungsparteien profitieren von einem Einstellungswandel, den sie durch ideologische Wenden zu einer marktorientierten Wirtschaftsund Gesellschaftsphilosophie selber vorangetrieben haben. Ein Beispiel für andere bieten neuere Untersuchungen über Großbritannien in den achtziger Jahren. Hier wird die These vertreten, daß ein erheblicher Teil der Wähler die Regierung für die Arbeitslosigkeit nicht mehr verantwortlich macht Offenbar reicht unter diesen Bedingungen eine „Placebo-Politik“ aus, um die Streitfrage der Arbeitslosigkeit zu entschärfen Ähnliche Entlastungseffekte zugunsten von Regierungsparteien entstehen in den Ländern, in denen der Staat sich weitgehend aus den Arbeitsbeziehungen heraushält und die Verantwortung für die Beschäftigung vorwiegend der Lohn-und Investitionspolitik der Tarifparteien zugeschrieben wird.
Politische Reaktionen auf Arbeitslosigkeit werden schließlich durch zwei weitere Faktoren gedämpft: das hohe Wohlstandsniveau der westlichen Länder und den Sozialstaat. Mit der Arbeitslosigkeit verbundene soziale, ökonomische und politische Kosten werden zu einem erheblichen Teil durch soziale Sicherungssysteme aufgefangen: im ungünstigsten Fall durch familiäre, verwandtschaftliche, nachbarschaftliche oder wohlfahrtsverbandliche Sicherungsnetze, im günstigeren Fall durch institutionalisierte sozialstaatliche Programme. Das gilt in zweierlei Hinsicht: Zum einen ist die Einkommensersatzfunktion der Arbeitslosenversicherung und anderer sozialstaatlicher Programme wichtig. Bei den meisten Arbeitslosen lindern sie die ärgste Not, wenngleich der Schutz, den diese Programme bieten, auf Grund von Schnitten ins Netz der Arbeitslosenversicherung löchriger wurde Zweitens kommt der Effekt der Individualisierung hinzu. Der sozialstaatliche Schutz gegen Einkommensausfall infolge von Arbeitslosigkeit individualisiert dieSozialeinkommensempfänger. Der Sozialstaat wirkt zweifach als Sicherungsinstanz — als Instanz der kollektiven sozialen Sicherung und als Sicherung gegen politischen Protest der Betroffenen. Insofern dämpft ein ausgebauter Wohlfahrtsstaat die Schärfe der politischen Reaktionen auf Arbeitslosigkeit. Hier liegt ein erheblicher Unterschied zwischen dem Krisenmanagement der siebziger und achtziger Jahre und dem der dreißiger Jahre. Die Depression der dreißiger Jahre traf die Arbeitnehmerschaft der westeuropäischen und nordamerikanischen Länder mit voller Wucht, weil der öffentliche Sektor weniger stark ausgebaut und das Niveau der sozialen Sicherung weit niedriger war als in der Gegenwart. 2. Relative Immunisierung gegen politische Reaktionen auf Arbeitslosigkeit Die oben beschriebenen Filter dämpfen die Stärke der politischen Reaktionen auf Arbeitslosigkeit. Aber selbst gegen die verbleibenden manifesten Reaktionen können Regierungsparteien sich abschirmen. Der extremste Fall bestünde darin, daß die Arbeitslosigkeit nur die Wählerschaft der Oppositionsparteien betrifft und nur bei diesen Wählern zur Hauptstreitfrage des Wahlkampfes wird. In einem solchen Fall blieben die Regierungsparteien immun gegenüber den wahlpolitischen Folgen der Beschäftigungskrise. Aber selbst bei breiterer Streuung der Wähler, für die Arbeitslosigkeit zum wahlentscheidenden Thema wird, haben Regierungsparteien eine vergleichsweise gute Wiederwahlchance. Das gilt insbesondere für regierende Parteien mit einem Wähleranteil, der deutlich über 50 Prozent liegt oder deutlich größer als die Wählerschaft derjenigen Oppositionsparteien ist, die untereinander koalitionsfähig sind (zur Vereinfachung wird hier ein Verhältniswahlrecht vorausgesetzt). Rechnet man Koalitionsregierungen hinzu, so handelt es sich um einen Fall, der in westeuropäischen Ländern häufig vorkommt. Hier liegt ein Schlüssel zum Verständnis der Wahlerfolge (im Sinne des Machterhalts) von dominanten Regierungsparteien in Ländern wie Belgien, Dänemark, Finnland, den Niederlanden, Italien, aber auch der Bundesrepublik Deutschland. Die Regierungen dieser Länder bestehen in der Regel aus Koalitionen zwischen mehreren Parteien; sie verfügen deshalb über ein größeres Stimmenpolster als eine alleinregierende Partei und sind aus diesem Grund gegen turbulente Bewegungen auf politischen Märkten besser geschützt. Einigen alleinregierenden Parteien kam jedoch ein ähnlicher Mechanismus zugute. An erster Stelle ist ein Wahlsystem zu nennen, das kleinere Protestparteien — und unter bestimmten Bedingungen auch größere Oppositionsparteien — benachteiligt. Das Mehrheitswahlrecht in Großbritannien ist dafür eines der bekanntesten Beispiele. Von ihm profitierte beispielsweise die Conservative Party bei den Wahlen zum Unterhaus von 1983. Trotz Stimmenverlust nahm die Zahl ihrer Mandate zu. 42, 4 Prozent der abgegebenen Stimmen und 61, 1 Prozent der Sitze entfielen auf die Conservative Party. Die Labour Party kam vergleichsweise gut weg: 27, 6 Prozent der Stimmen zahlten sich in einem Sitzanteil von 32, 2 Prozent aus. Die Allianz aus der Liberal Party und der Social Democratic Party errang immerhin 25, 4 Prozent der Stimmen, aber nur 2, 6 Prozent der Sitze.
Für die Wählerschaft ist die Frage der Arbeitslosigkeit nicht das alleinige Motiv für die Wahlentscheidung. Wahlergebnisse setzen sich aus einer Vielzahl von Entscheidungen zusammen, die jeweils von einer Fülle unterschiedlicher Motive geprägt sind. Neben sozialstrukturell verankerten Parteibindungen kommen Wertschätzungen der Spitzenkandidaten der Parteien, die Bewertung anderer Streitpunkte und die den Parteien zugeschriebene Problemlösungskompetenz zum Tragen. Massenarbeitslosigkeit wird in der Regel über den Prozeß der rückblickenden Bewertung der Regierungspolitik, der allgemeinen Wirtschaftslage und der persönlichen Lebensverhältnisse für das Wählerverhalten wichtig Die Arbeitslosigkeit ist für die Wähler damit nicht die zentrale Streitfrage, sondern ein Thema unter anderen ökonomischen und nicht-ökonomischen Themen. Und selbst wenn die These richtig sein sollte, daß wirtschaftspolitische Themen in den westlichen Ländern mittlerweile Wahlentscheidungen ebenso stark prägen wie traditionelle sozialstrukturelle Bindungen so läßt sich nur ein — von Wahl zu Wahl veränderlicher — Teil dieses Effektes auf das Konto der Arbeitslosigkeit schreiben. Gleich-oder vorrangige Bedeutung kommt anderen ökonomischen Streitfragen zu (ganz abgesehen von Themen nicht-ökonomischer Art): das Niveau und die Veränderung der verfügbaren Einkommen, Erwartungen hinsichtlich zukünftiger Wirtschaftsentwicklung und —je nach Verbreitung der Angst vor Geldentwertung — die Inflationsraten.
Nicht selten werden wahlpolitische Wirkungen der Arbeitslosigkeit durch Effekte kompensiert, die von Inflationsraten ausgehen. In Ländern, in denen preisstabilitätsbewußte Wähler den Ton angeben (z. B. in der Schweiz und in der Bundesrepublik Deutschland), sind Regierungsparteien nicht schlecht beraten, wenn sie aus wahlpolitischen Gründen der Bekämpfung der Inflation Vorrang gegenüber der Wiedergewinnung von Vollbeschäftigung geben. Diese Lehre läßt sich jedenfalls statistischen Studien über den Zusammenhang von Wirtschaftslage einerseits und Popularität und Stimmenanteilen von Regierungsparteien andererseits entnehmen Folgt man den Statistiken, dann sind die in diesem Zusammenhang anfallenden Kosten geringer als die politischen Kosten, die eine vollbeschäftigungsorientierte Politik mit höherer Inflation in Kauf zu nehmen hätte.
Zu guter Letzt geht es beim Zusammenhang von Wirtschaftslage, Wählerverhalten und Wahlergebnissen nicht nur um „harte Fakten“ des politischen Leistungsprofils von Regierungen, sondern auch um die Art und Weise, in der Parteien ihre Politik den Wählern anbieten sowie um die Glaubwürdigkeit und Kompetenz des wirtschaftspolitischen Programms und der Kandidaten der Oppositionsparteien. Der günstigste Fall für eine Wiederwahl unter widrigen wirtschaftlichen Bedingungen läßt sich anhand der britischen Unterhauswahl von 1983 illustrieren Die Mehrheit der Wählerschaft sah in der Conservative Party ein wirtschaftspolitisch glaubwürdiges und kompetentes Team, von dem erwartet wurde, daß die Bewältigung der wirtschaftlichen Probleme auf mittlere Frist auch soziale und arbeitsmarktliche Probleme lösen würde. Hinzu kam ein ramponiertes Problemlösungsimage der früheren Regierungspartei: Der Labour Party wurden in sozial-und arbeitsmarktpolitischen Fragen (ganz zu schweigen von der Wirtschaftspolitik im allgemeinen) weniger Kompetenz als bei früheren Wahlen und weit weniger Kompetenz als der Regierungspartei zugeschrieben. Und schließlich wurde der Kompetenzvorsprung der Regierungsparteien nicht durch den Spitzenkandidaten der Oppositionsparteien geschmälert.
IV. Schlußfolgerungen
Die Moral von der Geschieht’? Im Gegensatz zu gutgemeinten normativen Demokratietheorien sind demokratische Wahlen keineswegs automa-tisch ein „absolut zuverlässiger und unbeeinflußbarer Gradmesser für den Problemdruck, dem eine Staatsorganisation ausgesetzt ist“ Demokratische Wahlen können durchaus paradoxe Ergebnisse zulassen: Regierungsparteien kommen durch Massenarbeitslosigkeit in Bedrängnis, und dennoch haben sie gute Chancen, Wahlen zu gewinnen und sich den Machterhalt zu sichern.
Diese Chancen steigen insbesondere in dem Maße, in dem folgende Bedingungen erfüllt sind: 1. klientelartige Beziehungen zwischen Arbeitslosen und Regierungsparteien; 2. Existenz von kulturell akzeptierten Alternativ-rollen außerhalb der regulären Arbeitsmärkte;
3. längere Tradition von Massenarbeitslosigkeit; 4. soziale Konzentration der Arbeitslosigkeit auf Gruppen mit geringer Organisations-und Konfliktfähigkeit; 5. geringes Maß an sozialer Solidarität bei Wählern, die nicht von Arbeitslosigkeit betroffen sind; 6. Dominanz einer „ökonomistischen Wirtschaftsphilosophie“ auf Seiten der Wählermehrheit, der zufolge die Arbeitslosigkeit nicht zum Verantwortungsbereich der Regierung gerechnet wird;
7. Existenz eines ausgebauten Wohlfahrtsstaates, der die Arbeitslosigkeit in sozialer und wirtschaftlicher Hinsicht erträglich macht;
8. ein großer Stimmenvorsprung der Regierungspartei oder der Regierungsparteien vor der Opposition bzw.den Teilen der Opposition, die untereinander handlungs-und koalitionsfähig sind (gemessen an Ergebnissen früherer Wahlen);
9. ein Wahlsystem, das kleinere Protestparteien und größere Oppositionsparteien benachteiligt; 10. die Existenz anderer ökonomischer Streitfragen (Inflation!) und/oder nicht-wirtschaftlicher Themen im Wahlkampf, deren politische Effekte die Reaktionen auf Arbeitslosigkeit neutralisieren oder überkompensieren;
11. ein Image-Vorsprungdes Spitzenkandidaten der Regierungsparteien vor dem Spitzenkandidaten der Opposition;
12. Kompetenz der Regierungsparteien zur Bewältigung wirtschaftlicher, arbeitsmarktlicher und sozialpolitischer Probleme und zugleich eine geringe Kompetenz der Opposition in wirtSchafts-, arbeitsmarkt-und sozialpolitischen Fragen (gemessen am Urteil, das die Mehrheit der Wähler über die Problemlösungskompetenz der Parteien fällt).
Man kann diesen Katalog auch gegen den Strich lesen. Die Gefahr daß Regierungsparteien Wahlen verlieren, die unter Bedingungen einer Massenarbeitslosigkeit abgehalten werden, wird größer, wenn folgende Bedingungen erfüllt sind (und entsprechend steigen die Siegeschancen der Oppositionspartei bzw. einer handlungsfähigen Koalition aus Oppositionsparteien):
1. Abwesenheit klientelartiger Beziehungen zwischen Arbeitslosen und Regierungsparteien; 2. Fehlen von akzeptierten Alternativrollen außerhalb des regulären Arbeitsmarktes;
3. längere Tradition einer Vollbeschäftigung;
4. breit gestreute Arbeitslosigkeitsrisiken;
5. ein hohes Maß an sozialer Solidarität in der Wählerschaft;
6. Existenz einer „staatszentrierten Wirtschafts-Philosophie“ auf Seiten der Wählerschaft;
7. lückenhaftes Netz der Sozialversicherungen;
8. knapper Stimmenvorsprung der Regierungsparteien vor einer handlungsfähigen Opposition (gemessen an Ergebnissen früherer Wahlen);
9. Verhältniswahlrecht;
10. geringes Gewicht von Streitfragen, die gegenläufig zum Thema Arbeitslosigkeit wirken;
11. Image-Vorsprung des Spitzenkandidaten der Opposition;
12. geringes Image der Regierungsparteien in Sachen Wirtschafts-, Arbeitsmarkt-und Sozialpolitik und zugleich ein hohes Maß an Kompetenz auf Seiten der Opposition in diesen Politikbereichen. Nur ein Teil der Determinanten, die für den Machterhalt bzw. Machtverlust maßgebend sind, lassen sich kurz-oder mittelfristig beeinflussen. Demnach steht nur ein kleinerer Teil der maßgeblichen Größen zur Disposition konkurrierender Parteien. Kurz-oder mittelfristig beeinflußbar sind folgende Bedingungen:
— klientelartige Beziehungen (beispielsweise mittels einer Arbeits-und Beschäftigungspolitik), — die Dichte des Netzes der sozialen Sicherung, — in Maßen beeinflußbar ist die Größe des Vorsprungs an Stimmenanteilen z. B. mittels Koalitionsbildung; — beeinflußbar sind ferner die Wahlkampfthemen und, in Grenzen, andere Themen der Wirtschaftspolitik, — das Image der Spitzenkandidaten (zum Bei-, spiel mittels Auswahl und innerparteilicher Unterstützung der Spitzenkandidaten) und — die Kompetenz zur Problemlösung (beispielsweise mittels Programmatik, Selbstdarstellung und Inhalten der Regierungspolitik). Naturgemäß konzentrieren sich Wahlkampfstrategen der Parteien auf diese Größen, während die übrigen sechs Determinanten des Wahlerfolgs kurz-und mittelfristig weitgehend außerhalb der Kontrolle der Wahlkämpfer liegen.