Am Ende seiner Beratungen verabschiedete der 27. Parteitag der KPdSU vom Februar/März 1986 eine Resolution, in der die Notwendigkeit unterstrichen wird, „die sowjetische Außenpolitik in allen Richtungen weiter zu aktivieren“ sowie „gutnachbarliche, gegenseitig vorteilhafte Beziehungen zu allen Staaten zu entwickeln“. Dabei werde sich Moskau im Rahmen seiner prinzipiellen Positionen „auf taktische Flexibilität, auf Bereitschaft zu gegenseitig annehmbaren Kompromissen sowie auf Dialog und gegenseitige Verständigung“ hin orientieren
Dies ist der Kern der Botschaft, die die Sowjetführung seit der Wahl Gorbatschows zum Generalsekretär der KPdSU im März 1985 der Welt vermittelt. Indem der Parteitag die beiden wichtigsten Dokumente — die Neufassung des Parteiprogramms von 1961 und den vom Generalsekretär vorgetragenen „Politischen Bericht“ des Zentralkomitees — einstimmig billigte, wurden die außenpolitischen Neuansätze Gorbatschows nunmehr auch vom höchsten Entscheidungsgremium der KPdSU sanktioniert.
Diese Texte machen deutlich, daß auch die neue Sowjetführung nicht darauf verzichtet, ihre Außen-und Sicherheitspolitik in den vom Marxismus-Leninismus vorgegebenen ideologischen Kategorien einer welthistorischen Auseinandersetzung zwischen Kapitalismus/Imperialismus und Sozialismus zu formulieren. Das revidierte Programm unterstreicht mit aller Klarheit, daß die sowjetische Außenpolitik auch weiterhin „Klassencharakter“ hat und sich von den Prinzipien des „proletarischen, sozialistischen Internationalismus“ leiten läßt. Aufgrund der inneren Widersprüche innerhalb der westlichen Gesellschaften und der wachsenden Konflikte zwischen den drei Hauptzentren des Imperialismus — den USA, Westeuropa und Japan — spitze sich die allgemeine Krise des Kapitalismus weiter zu, heißt es dort. Nach wie vor gelte, daß der Imperialismus „parasitärer, faulender und sterbender Kapitalismus“ sei — „der Vorabend der Revolution“. Allerdings wird ihm gleichzeitig attestiert, daß er noch über beträchtliche wirtschaftliche Wachstumsreserven verfüge und sogar den Versuch wagen könne, „den Gang der Geschichte aufzuhalten, die Positionen des Sozialismus zu erschüttern und soziale Revanche im Weltmaßstab zu nehmen“
Diese eher traditionalistische Analyse des „Imperialismus“ und dessen Charakterisierung als gewalttätig und aggressiv macht trotz des augenfälligen Widerspruchs zu den auf Kooperation mit dem Westen angelegten operativen Aussagen gerade in ihrer Ambivalenz durchaus einen Sinn. Auf der einen Seite soll damit nachdrücklich die Überlegenheit des eigenen Systems betont sowie die Notwendigkeit unterstrichen werden, daß die im Warschauer-Pakt/RGW-System vereinte Staatengemeinschaft gegen westliche Strategien einer Spaltung der sozialistischen Länder und einer globalen „sozialen Revanche“ gegenüber dem Sozialismus geschlossen und einheitlich zusammenstehen muß. Diese Notwendigkeit wird (in der Programm-Neufassung) nicht zuletzt damit begründet, daß die sozialistische Gemeinschaft „das Haupthindernis für die imperialistische Reaktion“ und „ein sicheres Bollwerk des Friedens auf der Erde“ bildet. Gleichzeitig dient der implizite Hinweis auf Vitalität und Innovationskraft des Westens der neuen Sowjetführung dazu, die Kurskorrektur gegenüber jener außen-und sicherheitspolitischen Linie zu motivieren, die Moskau in der späten Breschnew-Ära und in der Periode des Interregnums unter Andropow und Tschernenko verfolgt hatte. Kontinuität in der Außenpolitik habe nichts gemein mit der einfachen Wiederholung des Gehabten, heißt es bei Gorbatschow. Vielmehr bedürfe es „einer besonderen Genauigkeit bei der Einschätzung der eigenen Möglichkeiten“ sowie „der Zurückhaltung und des höchsten Verantwortungsbewußtseins bei Entscheidungen“.
Kennzeichen der bis dahin verfolgten außenpolitischen Linie Moskaus war in der Tat ein Denken und Handeln, das im Verhältnis zur konkurrierenden Supermacht USA zunehmend die militärische Komponente akzentuierte. Als die Reagan-Administration ihrerseits mit einer Politik der Stärke antwortete, schlug die Sowjetunion 1983/84 unter Federführung von Außenminister Gromyko bewußt einen Kurs umfassender Kommunikationsverweigerung — von dem nur die Wirtschaftsbeziehungen ausgenommen blieben — mit dem Westen ein Unterstützt wurde er dabei von Politbüromitglied und Verteidigungsminister Ustinow sowie von Politbürokandidat Ponomarjow, dem als ZK-Sekretär die Aufsicht über den ZK-Auslandsapparat oblag. Gedacht als Demonstration der Unbeugsamkeit und Härte gegenüber dem „Imperialismus“, drohte die Konzentration auf die Verteidigung der Festung Sowjetunion nach außen jetzt die bereits unter Andropow anvisierte innere Dynamisierung insbesondere im Hinblick auf eine Modernisierung der Wirtschaft in den Hintergrund zu drängen. Damit aber lief die UdSSR Gefahr, noch weiter hinter die vor allem in wirtschaftlich-militärischer Hinsicht als sehr dynamisch eingeschätzten westlichen Industriestaaten mit den USA an der Spitze zurückzufallen.
Gorbatschow hatte frühzeitig erkannt, daß die von Breschnew und Gromyko betriebene Militarisierung der Außenpolitik im Innern keine wirtschaftlichen Fundamente mehr hatte. Bereits vor seinem Amtsantritt hatte er unterstrichen, daß die UdSSR nur dann „in das neue Jahrtausend als eine große und gedeihende Macht eintreten“ könne, wenn sie im Innern eine radikale Wende vollziehe und sich dabei auf die Modernisierung der Wirtschaft konzentriere. Schließlich seien es die Erfolge in der Wirtschaft, durch die der Sozialismus seinen stärksten Einfluß auf die globalen Entwicklungen ausübe, betonte Gorbatschow damals in Anknüpfung an Andropow (der sich dabei seinerseits auf Lenin berief)
II. Anstöße für ein strategisches Umdenken
Der 27. Parteitag hat nicht nur diese Einschätzung über den engen Zusammenhang von Innen-, Wirtschafts-und Außenpolitik bestätigt, die den Anstoß zu einer umfassenden Kurskorrektur gegenüber dem Westen mit dem Ziel kooperativer Beziehungen gab. Als für die Zukunft noch einschneidender könnte sich die Tatsache erweisen, daß der Kongreß darüber hinaus Gorbatschows Forderung nach einem militär-strategischen Umdenken zustimmte und entsprechende Programmrevisionen sanktionierte. Angesichts des Charakters moderner Massenvernichtungswaffen müsse man ein für allemal mit überkommenen Denk-und Handlungsweisen brechen, die Kriege als zulässiges Mittel der Politik betrachteten und Sicherheit nur bei militärischer Überlegenheit der eigenen Seite garantiert sähen, betonte der Generalsekretär. Da Nuklearkriege nicht mehr gewinnbar seien, angesichts der Fehlerhaftigkeit der Militärtechnik und der Kürze der Entscheidungsfristen aber dennoch ausbrechen könnten, nehme die Gewährleistung der Sicherheit immer mehr den Charakter einer politischen Aufgabe an. Dabei bot Gorbatschow umfassende Kontrollen vor Ort an und bezeichnete sie sogar als das „wichtigste Element der Abrüstung“. Indem Gorbatschow darauf verwies, daß Sicherheit nur „gegenseitig“ (im Verhältnis zu den USA) und nur „allgemein“ sein könne (in den internationalen Beziehungen insgesamt), griff er sogar ein zentrales Element der westlichen Sicherheitsphilosophie auf.
Nun sind Worte noch nicht mit Taten gleichzusetzen, wie die Sprecher der Sowjetunion selbst häufig den Amerikanern vorhalten. Dennoch werden hier zum Teil neue Denkmuster erkennbar, die es Wert sind, vom Westen auf ihre Substanz hin geprüft zu werden. Das gilt auch für die Feststellung des Generalsekretärs, wonach sich in der Verknüpfung von Wettbewerb und Wettstreit der beiden Systeme „eine widersprüchliche, aber in wechselseitigen Abhängigkeiten zusammengehörige, in vielem ganzheitliche Welt“ herausbilde. Eine solche „wechselseitige Abhängigkeit“ oder Interdependenz (russisch: vsaimosavisimost")
ist im Grunde mehr als nur eine Variante der Leninschen „friedlichen Koexistenz“, die ihrerseits in der Programm-Neufassung als Wettbewerb der Systeme definiert wird und nicht mehr wie in der Ursprungsfassung von 1961 als „spezifische Form des Klassenkampfes“ Während die „friedliche Koexistenz“ die Beziehungen zwischen den einander gegenüberstehenden Systemen und Blöcken regelt und dabei nur auf den Einsatz physischer Gewaltmittel verzichtet, strebt die Interdependenz eine System-und b\ockübergreifende, umfassende und langfristig angelegte Zusammenarbeit zwischen Ost und West an. Obwohl sich Gorbatschow immer wieder auf Lenin beruft, um seine Linie als konsequente Weiterentwicklung der Leninschen Grundkonzeptionen darzustellen, bilden die Vorstellung vom Abschluß gegenseitig annehmbarer Kompromisse zwischen Ost und West und der Verweis auf die wechselseitigen Abhängigkeiten in einer ganzheitlichen Welt eigentlich einen Bruch mit den Ideen und Positionen des Gründungsvaters der Sowjetunion.
In der Sowjetführung selbst wurden die außenpolitischen Konzeptionsänderungen des neuen Generalsekretärs teilweise mit erheblicher Skepsis aufgenommen — insbesondere von Gromyko, der die Leitung des Außenministeriums nach 28jähriger Amtszeit im Juni 1985 an den Gorbatschow-Vertrauten Schewardnadse hatte abgeben müssen. In seiner Parteitagsrede malte Gromyko den „Imperialismus“ in den schwärzesten Farben und sprach ihm faktisch den Willen zum Interessenausgleich ab, indem er ihn beschuldigte, die Sowjetunion vor die Alternative Systemwandel oder Krieg zu stellen Politbüromitglied Schtscherbizkij wiederum, als alter Anhänger Breschnews überraschend in seinem Amt bestätigt, klagte die Amerikaner auf dem Parteitag an, die Genfer Abrüstungsverhandlungen durch zahlreiche Vorbehalte und Bedingungen zu „blockieren“ Auch er gab damit, wie schon zuvor auf der Tagung des Obersten Sowjet nach Genf seine Zurückhaltung gegenüber der Gipfeldiplomatie Gorbatschows zu erkennen.
Angesichts dieses hinhaltenden Widerstandes von Teilen der Führung gegen eine außenpolitische Wende vermied Gorbatschow — anders als bei der Innen-und Wirtschaftspolitik —jede direkte Kritik am bisherigen Kurs in den internationalen Beziehungen. Ohnehin dürfte jeder gewußt haben, wer gemeint war, als Gorbatschow bereits zuvor die Fähigkeit der Partei angemahnt hatte, in der Außenpolitik „rechtzeitig Veränderungen in der Lage zu berücksichtigen, der Wirklichkeit unvoreingenommen ins Auge zu blicken, das Geschehen objektiv zu bewerten und auf die Forderungen des Augenblicks flexibel zu reagieren“ Statt dessen ging es dem Generalsekretär vorrangig um zwei Dinge: um die Durchsetzung seiner politischen Linie im ZK-Auslandsapparat (der in den letzten Jahren zunehmend an Eigengewicht gewonnen hatte) sowie um die demonstrative Unterordnung des Militärs unter den Willen der Partei (was auch als Signal an den amerikanischen Gesprächspartner gedacht war).
In beiden Punkten konnte Gorbatschow Erfolge verbuchen. Möglicherweise schließt die geplante Neuordnung des ZK-Apparats auch eine radikale Umgliederung und Umorientierung seiner mit Außenbeziehungen befaßten Abteilungen ein. Die Ersetzung von ZK-Sekretär Ponomarjow durch den Karrierediplomaten Dobrynin in der Aufsicht über diese Abteilungen deutet darauf hin, daß der Auslandsapparat der KPdSU besser als zuvor auf die Bedürfnisse der sowjetischen Diplomatie zugeschnitten werden soll. In dieses Bild passen Gerüchte, wonach ursprünglich sogar Außenminister Schewardnadse die dann Dobrynin übertragene Position übernehmen sollte. Ein weiteres Indiz für diese Tendenz ist darin zu sehen, daß die Aufgaben der von dem Breschnew-Vertrauten Samjatin geleiteten und jetzt aufgelösten Abteilung für Auslandsinformation offenbar auf die Propagandaabteilung unter Jakowlew übergegangen sind. Dieser ist stark an der konzeptionellen Neuausrichtung der sowjetischen Außenpolitik unter Gorbatschow beteiligt. Beide, Dobrynin und Jakowlew, wurden von dem neuen Zentralkomitee zu ZK-Sekretären gewählt und gelangten damit in den inneren Führungskreis der KPdSU.
Was das Militär anbelangt, so wurde nicht Verteidigungsminister Sokolow in den Rang eines Politbüro-Vollmitglieds erhoben (er blieb Kandidat), sondern der für die Rüstungsindustrie zuständige ZK-Sekretär Saikow. Dies spricht eher für eine Stärkung des Parteieinflusses auf das Militär als umgekehrt. Sokolow selbst verwies in seiner Kongreßrede mehrfach auf die Führungsrolle der Partei Damit bekräftigte er freilich nur eine Aussage, die sich bereits in Chruschtschows Parteiprogramm von 1961 findet (und in die jetzt verabschiedete Neufassung übernommen wurde). In ihrer Zuspitzung neu dagegen ist die den Vorrang der politischen Instanzen zusätzlich präzisierende, sofort anschließende Feststellung der Programm-Neufassung: „Unter Führung der Partei werden die Verteidigungs-und Sicherheitspo-litik des Landes sowie die sowjetische Militärdoktrin, die ausgeprägten Verteidigungscharakter besitzt und auf den Schutz gegen einen Angriff von außen gerichtet ist, ausgearbeitet und durchgesetzt" (Hervorhebungen durch den Verfasser). Die Vermutung liegt nahe, daß die Militärs seit der späten Breschnew-Phase einen aus der Sicht der neuen Parteiführung zu starken Einfluß auf die Ausarbeitung der Militärdoktrin — und damit auf die Außen-und Sicherheitspolitik überhaupt — gewonnen hatten, denn sonst hätte es einer solchen Präzisierung kaum bedurft.
III. Vorrang für die Beziehungen zu den USA
Angesichts der in Genf wiederaufgenommenen Gipfeldiplomatie zwischen Moskau und Washington standen im Mittelpunkt der außen-und sicherheitspolitischen Diskussion des Parteitags eindeutig die Beziehungen zu den USA — ganz im Gegensatz zu früheren Mahnungen Gorbatschows, das Verhältnis zum Westen nicht allein durch das Prisma ebendieser Beziehungen zu sehen (wie es Gromyko getan hatte). Bereits in Genf hatte der Generalsekretär auf die „gewaltige Rolle“ beider Staaten in der Weltpolitik und die „riesige Verantwortung“ verwiesen, die ihnen däraus für die Sicherung des Friedens erwüchsen Um dem Entspannungsprozeß neue Impulse zu geben und darüber hinaus dem Parteitag die Richtung zu weisen, hatte er noch im Januar 1986 einen umfassenden Vorschlag zur nuklearen Abrüstung vorgelegt, der in einem dreistufigen Prozeß die völlige Beseitigung aller Nuklearwaffen bis zum Jahr 2000 vorsieht
Diese diplomatische Offensive gegenüber den USA ist einerseits — über den intendierten Vorrang für die Wirtschaftsmodernisierung hinaus — sicher das Ergebnis des von Gorbatschow geforderten „Umdenkens“ über den Charakter moderner Kriege. Andererseits wurzelt sie aber auch in der Erkenntnis, daß ohne ein Arrangement mit den Vereinigten Staaten als dem zugleich wichtigsten Gegner und begehrtesten Kooperationspartner die militär-strategische Parität im Verhältnis zu den USA nicht erhalten werden könnte. Gerade die Erringung dieser Parität aber wurde auf dem Parteitag als großer Erfolg gefeiert, und man dürfte es Gorbatschow kaum verzeihen, wenn er sie wieder verspielen würde.
Auf dem Parteitag wiederholte Gorbatschow daher die Angriffe gegen das amerikanische , „Sternenkriegs’-Programm“, bei dessen Realisierung das Wettrüsten weiter angeheizt werde. Zwar gibt man sich in Moskau überzeugt davon, daß sich das Gesamtprogramm so nicht realisieren lasse und daß die sowjetischen Gegenmaßnahmen „effektiv und weniger kostspielig“ sein würden und sich „in kürzesten Fristen verwirklichen“ ließen Gleichwohl scheint man die Möglichkeit einer Stationierung von Teilsystemen des SDI-Programms nicht auszuschließen und zu befürchten, daß auch dies in Verbindung mit dem Ausbau des nuklearstrategischen Potentials zu einem militärstrategischen Übergewicht der Amerikaner führen könnte.
Die Unnachgiebigkeit der US-Administration im Hinblick auf SDI und ihre massiven Vorbehalte gegenüber dem sowjetischen Drei-Stufen-Abrüstungsplan brachten Gorbatschow in eine — auf dem Parteitag spürbare — schwierige Lage. Sie wurde noch dadurch kompliziert, daß er selbst die USA als „Lokomotive des Militarismus“, als ein vom „Militär-Industrie-Komplex“ stark beeinflußtes System des „monopolistischen Totalitarismus“ charakterisierte — als ein System also, das den Akzent eher auf Wettrüsten und Überlegenheitsstreben legt als auf Abrüstung und Interessenausgleich. Mußte er damit nicht unter zusätzlichen Druck jener geraten, die seinen außen-politischen Neuorientierungen von vornherein skeptisch gegenübergestanden hatten und nun wenigstens erste konkrete Ergebnisse sehen wollten?
Gorbatschow kam diesen Stimmungen insofern entgegen, als er den von ihm selbst nach Genf genährten Optimismus dämpfte und betonte, daß sich die Zukunft der sowjetisch-amerikanischen Beziehungen „nur sehr schwer voraussagen“ ließe. Er erweckte sogar den Eindruck, als werde das für 1986 vorgesehene zweite Gipfeltreffen mit Reagan nur dann zustande kommen, wenn dabei konkrete Vereinbarungen über einen nuklearen Teststopp und die Beseitigung der jeweiligen Mittelstreckenraketen in Europa getroffen würden.
Gleichzeitig unterstrich der Generalsekretär jedoch, daß man für den Frieden „beharrlich und zielstrebig kämpfen“ und dabei „jede auch noch so geringe Chance suchen, finden und ergreifen“ müsse. Damit signalisiert er, daß es sich bei der außenpolitischen Neuausrichtung Moskaus um ein Langfristprogramm handelt. Offenbar hofft er, der US-Administration durch weitere detaillierte Darlegungen möglicher sowjetischer Gegenmaßnahmen SDI schließlich doch noch ausreden zu können. Auch scheint er dabei über Reagan hinauszudenken und darauf zu setzen, daß kommende Administrationen nicht zuletzt angesichts der riesigen Haushaltsdefizite das Programm als zu kostspielig stoppen werden. Jedenfalls fällt auf, daß sich sowjetische Wissenschaftler intensiv mit der Frage befassen, ob die Reagan tragende konservative Grundströmung in der amerikanischen Gesellschaft auch nach dessen Ausscheiden vorherrschend bleiben wird oder ob sich ein Umschwung zugunsten der in Moskau als flexibler und kompromißbereiter eingeschätzten Demokraten abzeichnet
Die Konzentration des Parteitags auf die Beziehungen zu den USA rückte die Aufmerksamkeit für Westeuropa und Japan, denen die Sowjetführung als aufkommenden „neuen Machtzentren“ im Westen wachsende Bedeutung beimißt, eher in den Hintergrund. In keinem Kongreßdokument wird die von Gorbatschow erstmals im Mai 1985 unterstrichene Bereitschaft wiederholt, die Europäische Gemeinschaft nicht nur als wirtschaftliche, sondern auch als politische Einheit zu akzeptieren und mit ihr „nach einer gemeinsamen Sprache auch in bezug auf konkrete internationale Probleme zu suchen“ In einem kurzen Absatz seines Berichts ließ es der Generalsekretär bei der allgemeinen Aufforderung bewenden, zu einer Phase der „reifen Entspannung“ und dann zur Schaffung einer „zuverlässigen Sicherheit“ auf der Grundlage einer „radikalen Reduzierung nuklearer und konventioneller Rüstungen“ überzugehen. Etwas deutlicher wurde Außenminister Schewardnadse, indem er die Westeuropäer dazu aufrief, „ihre Stimme zu erheben und ihr Profil zu zeigen“ Dieser Aufruf würde sicher mehr Resonanz finden, wenn die Sowjets ihren Stufenplan zur nuklearen Abrüstung mit einem überzeugenden Konzept für eine schrittweise Reduzierung konventioneller Waffen verbänden. Hierzu wurden jedoch auf dem Parteitag keine neuen Vorstellungen entwickelt.
Bemerkenswerterweise ging Gorbatschow in seinem Bericht mit keinem Wort auf die Beziehungen zürn dritten „Machtzentrum“ Japan ein, die nach einer zehnjährigen Phase sowjetischen Desinteresses mit dem Tokio-Besuch von Schewardnadse im Januar 1986 neue Impulse erhalten hatten. Immerhin betonte er, daß der asiatisch-pazifischenRegion für die UdSSR „immer größere Bedeutung“ zukomme. Neben außenpolitischen Überlegungen spielt dabei möglicherweise auch die anvisierte Intensivierung der Wirtschaftsentwicklung in den östlichen Regionen der Sowjetunion eine Rolle, wie sie der RSFSR-Ministerratsvorsitzende (und Politbüromitglied) Worotnikow in seiner Parteitagsrede ankündigte Wenn die KPdSU-Führung hofft, hierzu in breitem Umfang das wirtschaftliche und wissenschaftlich-technische Potential der Japaner heranziehen zu können, so müßte sie allerdings größere Flexibilität hinsichtlich der 1945 von den Sowjets besetzten südlichen Kurileninseln zeigen, als es Schewardnadse in Tokio tat.
Auch im Verhältnis zu China zeichnete sich trotz Gorbatschows Hinweis auf „gewisse Verbesserungen“ und „gewaltige Reserven“ in den gegenseitigen Beziehungen auf dem Parteitag kein Durchbruch ab. Dadurch, daß er weitere Verbesserungen an die Voraussetzung knüpfte, diese dürften nicht zu Lasten von Drittländern erfolgen, trug er sogar zu einer erneuten Verhärtung bei. Mit Drittländern sind die Mongolei, Afghanistan und Vietnam gemeint, so daß das Wieder-aufgreifen der „Drittstaatenklausel“ zugleich eine Absage an die chinesische Forderung nach Beseitigung der bekannten „drei Normalisierungshindernisse“ durch Moskau darstellt
IV. Probleme im Verhältnis zu Osteuropa
Wenn Gorbatschow auf die Beziehungen Moskaus zu den Ländern des Warschauer-Pakt/RGW-Systems sowohl im „Politischen Bericht“ als auch in seinem Schlußwort erst im Anschluß an seine Ausführungen zum Westen einging, so signalisiert dies keine prinzipiellen Änderungen im Prioritätensystem der sowjetischen Außen-und Sicherheitspolitik. Vielmehr ist dies eher Ausdruck der Bedeutung, die die neue Sowjetführung ihrer Entspannungsoffensive gegenüber dem Westen gegenwärtig beimißt. Tatsächlich ließ auch Gorbatschow auf dem Parteitag keinen Zweifel daran, daß für ihn ebenso wie für seine Vorgänger die Hegemonie im Warschauer-Pakt/RGW-System die Grundlage für die sowjetische Weltmachtposition bildet. Nicht zufällig steht daher im internationalen Teil der — langfristig angelegten — Programm-Neufassung der Abschnitt über die „Zusammenarbeit mit den sozialistischen Ländern“ an erster Stelle. Die Frage war nur, wie der Kongreß diese Zusammenarbeit definieren würde, hatte es doch hierzu seit der Interregnumsperiode bis in die Gegenwart hinein aus dem ZK-Auslandsapparat und der politischen Publizistik unterschiedliche Signale gegeben.
Die Antwort auf diese Frage ist auch auf dem KPdSU-Kongreß nicht eindeutig ausgefallen und konnte es im Grunde auch gar nicht. Moskau steht hier nämlich in einer objektiven Dilemmasituation, die von einem westlichen Experten kurz und präzise wie folgt umrissen wurde: „Eine Sowjetpolitik, die Orthodoxie und Kohäsion fördert, arbeitet jenen entgegen, die sich für Stabilität und gangbare Wege einsetzen.“ In dieser Situation suchte die Sowjetführung in ihrem Verhältnis zu den osteuropäischen Blockpartnern ein flexibles Konzept zu entwickeln, das ihr für die Zukunft alle Optionen auf bilateraler und multilateraler Ebene offenläßt:
— Einerseits plädiert sie für die Festigung der Einheit und Geschlossenheit der sozialistischen Gemeinschaft, für die Einhaltung der „allgemeinen Gesetzmäßigkeiten der Entwicklung des Sozialismus“, wobei als wichtigste „Triebkraft“ in diese Richtung jetzt erstmals auch im Programm die allseitige Zusammenarbeit zwischen den kommunistischen Parteien der Bruderländer herausgehoben wird. Über die seit Anfang der siebziger Jahre kontinuierlich ausgebauten Treffen der ZK-Sekretäre für Propaganda, Organisation, Internationales und (ab 1985) Wirtschaft hinaus kündigte Gorbatschow die Veranstaltung regelmäßiger „multilateraler Arbeitstreffen der führenden Repräsentanten der Bruderländer“ an, die er als „zentrale Einrichtung“ mit der Aufgabe beschrieb, die Probleme des sozialistischen Aufbaus in seinen „inneren und äußeren Aspekten operativ und kameradschaftlich zu beraten“. Andererseits verweist das Programm in seiner Neu-fassung aber auch auf die „Mannigfaltigkeit der Welt des Sozialismus“, tritt es ein für die „Berücksichtigung der Lage und der Interessen jedes Landes“. Sicher nicht zufällig verwiesen der Ungar Szürös und der Pole Jaruzelski in ihrer Einschätzung des Parteitags gerade auf diese Passagen
— Einerseits drängt die Sowjetführung mit Nachdruck auf eine Intensivierung der wirtschaftlichen Zusammenarbeit im Rahmen des RGW, insbesondere im Hinblick auf eine „abgestimmte wissenschaftlich-technische Politik“. Zu diesem Ziel schlug Gorbatschow sogar eine Veränderung in der Funktionsweise des RGW — weg von der Bürokratie der Kommissionen, hin zu Direktbeziehungen zwischen den Unternehmen einzelner Mitgliedsländer — vor, d. h., er möchte in der RGW-Kooperation stärker auf ökonomische Hebel setzen, allerdings unter verstärkter sowjetischer Federführung. Von alldem verspricht sich Moskau nicht nur wichtige Impulse für die Modernisierung der eigenen Wirtschaft, sondern bezweckt damit nach Aussagen von Ministerpräsident Ryschkow auch eine verstärkte „technisch-ökonomische Unverwundbarkeit gegen imperialistische Aktionen“ Die Strategie eines vorrangigen Vertrauens in die eigenen Kräfte soll jedoch verbunden werden mit der „Entwicklung umfassender, langfristiger und stabiler Beziehungen zwischen den Staaten (beider Systeme) auf den Gebieten von Wirtschaft, Wissenschaft und Technik“, heißt es in der Neu-fassung des KPdSU-Programms. Diese Position, die sich aus einem starken Eigeninteresse Moskaus an westlicher Technologiezufuhr ergibt, legitimiert zugleich die Konzepte jener Bruderländer, die wie die DDR und Ungarn ihren Westhandel eher noch weiter ausbauen möchten. — Einerseits drängte Gorbatschow seit dem Tage seines Amtsantritts nachdrücklich auf eine rasche Verlängerung des Warschauer Vertrags, der das wichtigste Instrument Moskaus zur Durchsetzung seines außen-und sicherheitspolitischen Kurses bei den Bündnispartnern bildet Tatsächlich wurde der Vertrag im April 1985 — zu sowjetischen Bedingungen — um weitere 20 Jahre verlängert und erlebte damit gleichsam seine „zweite Geburt“, wie der Generalsekretär auf dem Parteitag mit Genugtuung betonte. Andererseits ist es bemerkenswert, daß die führenden Repräsentanten der Mitgliedsländer des Warschauer Paktes seit Gorbatschows Amtsübernahme bis zum Parteitag insgesamt viermal zusammentrafen, darunter zweimal im Kontext des Genfer Gipfeltreffens.
Wollen die Sowjets mit dieser Inflationierung der Warschauer-Pakt-Spitzenbegegnungen lediglich den Druck auf die Verbündeten mit dem Ziel verstärken, deren Außen-und Sicherheitspolitik nach einer Phase latenter Fragmentierung des Pakts während des Interregnums wieder vorbehaltlos auf die Moskauer Linie auszurichten? Oder drückt sich darin eine sowjetische Bereitschaft aus, den kleineren Staaten bei der Ausarbeitung des gemeinsamen Kurses gewisse Konsultationschancen einzuräumen, wie es Schewardnadse in seinem Kongreßbeitrag mit dem Hinweis auf den „produktiven Meinungsaustausch“ unter den Bündnispartnern und die „gründlich durchdachte Koordinierung der gemeinsamen Aktionen“ suggerierte
Möglicherweise hat die neue Sowjetführung hier gewisse Konsequenzen aus der Tatsache gezogen, daß es gerade die harte Gromyko-Linie der Kommunikationsverweigerung und der Konfrontation mit dem Westen gewesen war, die — von Moskau diktiert und im Bündnis nicht abgesprochen — zur politischen Fragmentierung im strategischen Vorfeld der UdSSR beigetragen und einzelne Länder zur Betonung besonderer Eigeninteressen sogar auf dem Gebiet der Sicherheitspolitik veranlaßt hatte.
In allen drei Beispielen drückt sich die wachsende Erkenntnis der KPdSU-Führung aus, daß sich das Sowjetimperium mit den traditionellen Mitteln forcierter Angleichung der inneren Strukturen an das sowjetische Gesellschaftsmodell und mit der fugenlosen Einbindung der osteuropäischen Länder in die sowjetische Globalstrategie nicht länger erfolgreich kontrollieren und lenken läßt. Nicht zufällig sprach Gorbatschow daher von der Notwendigkeit, gegenüber den Erfahrungen der Bruderstaaten eine „rücksichtsvolle Haltung“ einzunehmen und zur Vermeidung von Interessenkollisionen „selbst für die schwierigsten Probleme Lösungen zu finden, die für alle Beteiligten akzeptabel sind“.
Als Ausweg aus der erwähnten Dilemmasituation gegenüber, dem Warschauer-Pakt/RGW-System schwebt der Sowjetführung offenbar ein Konzept vor, bei dem in Zukunft „organischere“, d. h. weniger krisenanfällige und besser koordinierte Wechselbeziehungen zwischen den Mitgliedern dieses Staatensystems hergestellt werden. Unter der Voraussetzung, daß die Führungen in Osteuropa die Grundkonzeptionen der sowjetischen Außen-und Sicherheitspolitik unterstützen, aktiv und vorrangig zur Erfüllung der wirtschaftlichen Modernisierungsprogramme beitragen, innere Stabilität gewährleisten und die von Moskau gezogenen Systemgrenzen nicht überschreiten — unter dieser Voraussetzung scheint die neue Sowjetführung bereit, ihren Bündnispartnern einen an den jeweiligen spezifischen Traditionen, Bedingungen und Interessen orientierten inneren und äußeren Handlungsspielraum einzuräumen. Ob ein solches Konzept in der politischen Praxis realisierbar ist, muß die Zukunft zeigen. Hierüber werden nicht zuletzt Art und Umfang des Einflusses Auskunft geben, den Moskau bei den nicht fernen Wachablösungen an der Spitze der Parteiführungen in Bulgarien, Ungarn, der Tschechoslowakei und der DDR ausübt.
V. Neugewichtung der „Kräfte des Fortschritts“
Mit 153 Gastdelegationen aus 123 Ländern konnte der 27. Parteitag den Umfang der auswärtigen Repräsentanz noch einmal erheblich steigern — zum 26. Parteitag der KPdSU (1981) hatten 123 Parteien und Organisationen Delegatio-nen entsandt. Von den kommunistischen Staats-parteien fehlten nur die (eingeladenen) Chinesen und die (nicht eingeladenen) Albaner, während die von Moskau anerkannten nichtregierenden Kommunistischen Parteien vollzählig erschienen waren. Darüber hinaus waren vertreten: 37 Parteien und Bewegungen sozialrevolutionären und national-demokratischen Typs, 21 sozialistische und sozialdemokratische Parteien (darunter 15 Mitgliedsparteien der Sozialistischen Internationale) und sogar zwei nichtsozialistische Formationen (die Kongreßpartei Indiens und die Zentrumspartei aus Finnland). Die Sowjets versäumten es nicht, auf diesen quantitativen Aspekt hinzuweisen, um damit Aufschwung und Attraktivität des Kommunismus als ideelle Kraft und politisch dynamische Bewegung zu dokumentieren. In der Einschätzung dieser Strömungen und ihrer Relevanz für die sowjetische Politik nahmen die Kongreßdokumente freilich teilweise bemerkenswerte Neuakzentuierungen vor.
Was das kommunistische Parteiensystem betrifft, so griff Gorbatschow die generelle Feststellung der Programm-Neufassung auf, wonach die KPdSU „Bestandteil der internationalen kommunistischen Bewegung“ ist. Damit trat er all jenen entgegen, die wie die Italienische KP, der Bund der Kommunisten Jugoslawiens und im Grunde auch die KP Chinas die Vorstellung von der Existenz einer solchen Bewegung heute für überholt halten und einen „neuen Internationalismus“ im Zeichen einer gleichberechtigten Zusammenarbeit aller Fortschrittskräfte propagieren Interessanterweise verzichtete er in seinem Bericht aber gleichzeitig auf eine Unterstreichung jener Programmpassage, derzufolge der sowjetische Führungsanspruch mit dem scharfen Schwert des Kampfes gegen „Dogmatismus und Revisionismus, gegen alle Einflüsse der bürgerlichen Ideologie auf die Arbeiterklasse“ verteidigt wird.
In kaum verhüllter Distanzierung von traditionalistischen Konzeptionen in den eigenen Reihen betonte Gorbatschow statt dessen, daß die kommunistische Bewegung nunmehr in eine „qualitativ andere Entwicklungsetappe eingetreten“ sei und daß der Kampf für die gemeinsamen Ziele nichts mit „Uniformität“, „Hierarchie“ oder dem „Anspruch einer Partei auf den Monopolbesitz der Wahrheit“ zu tun habe. Schon zuvor, anläßlich seiner Begründung der Programmrevision, hatte Gorbatschow in bemerkenswertem Anklang an Togliatti, den für mehr Autonomie der Einzel-parteien werbenden langjährigen Generalsekretär der IKP, von der „dialektischen Einheit in der Vielfalt“ in dem gesamten Organismus der für Frieden und Fortschritt kämpfenden Kräfte gesprochen Das seit 1981 ins Auge gefaßte Projekt einer vierten kommunistischen Weltkonferenz kam auf dem Parteitag überhaupt nicht mehr zur Sprache.
Die bereits erwähnte Ablösung des Komintern-Veteranen Ponomarjow durch den Karrierediplomaten Dobrynin in der Aufsicht über den ZK-Auslandsapparat bringt diesen pragmatischen Ansatz der neuen KPdSU-Führung im Verhältnis zu den Westkommunisten auch personell deutlich zum Ausdruck. Bei diesem Ansatz geht es Moskau offenbar weniger um die Wahrung der sowjetisch definierten ideologischen Orthodoxie im kommunistischen Parteiensystem (Stichwort „Weltrevolution“) als um eine möglichst breite Unterstützung der von der UdSSR eingeleiteten diplomatischen Offensive gegenüber dem Westen. Unter diesem Aspekt haben die nichtregierenden kommunistischen Parteien gegenüber anderen, daheim oft weit einflußreicheren Fortschrittskräften — den nationalrevolutionären Parteien in der Dritten Welt, der internationalen Sozialdemokratie und selbst den neuen sozialen Bewegungen im Westen — in den Augen der Sowjetführung offensichtlich überhaupt an Bedeutung verloren.
Darauf verweist nicht zuletzt die wachsende Aufmerksamkeit für die Sozialisten. Obwohl die Errungenschaften und die Erfahrungen zwischen Kommunisten und Sozialdemokraten „ungleichartig und ungleichwertig“ seien, heißt es bei Gorbatschow, sei das unvoreingenommene Kennenlernen der jeweiligen Positionen insbesondere im Hinblick auf „die Aktivierung des Kampfes für Frieden und internationale Sicherheit“ zweifellos nützlich. In der Programm-Neufassung wird die Sozialdemokratie sogar im Abschnitt „Internationale Arbeiter-und kommunistische Bewegung“ abgehandelt — anders als im ursprünglichen Programm von 1961. Damals galten die „Rechtssozialisten“ noch wie in den Zeiten der Komintern als „wichtigste ideologische und politische Stütze der Bourgeoisie in der Arbeiterbewegung“ und waren folgerichtig in den Abschnitt über den „Kampf gegen die bürgerliche und reformistische Ideologie“ eingeordnet worden Dieses Werben um die Parteien der Sozialistischen Internationale bedeutet keine Suche nach ideologischen Konvergenzen, wie die Forderung der Programm-Neufassung nach entschiedenem Kampf gegen „Revisionismus“ und „Reformismus“ unterstreicht. Vielmehr ist sie Teil der Bemühungen Moskaus, im Westen Verbündete für die sowjetische Entspannungsoffensive gegenüber den USA zu gewinnen.
In diesem Zusammenhang erfuhren auch die die neuen sozialen Bewegungen einschließenden „demokratischen Massenbewegungen“ des Westens eine interessante Aufwertung, indem sie in der Programm-Neufassung neben den drei traditionellen Hauptkomponenten des antiimperialistischen Kampfes — dem Weltsozialismus, der kommunistischen-und Arbeiterbewegung und den Völkern der befreiten Staaten — erstmals ausdrücklich als vierte Strömung der für Frieden und Fortschritt eintretenden Kräfte genannt werden. Dies unterstreicht die Absicht der neuen Sowjetführung, über die Beziehungen zu den Regierungen und zur parlamentarischen Opposition hinaus das Verhältnis auch zu den Alternativbewegungen zu pflegen und „den Völkern zu helfen, in den Fragen des Krieges und des Friedens einzugreifen“
Unerwähnt blieb dabei, daß die „Fortschrittskräfte“ heftige Kritik an der Militarisierung der sowjetischen Politik üben (z. B. im Hinblick auf den SS-20-Aufwuchs, auf die Intervention in Afghanistan sowie auf die von Moskau inspirierte Unterdrückung der Reformbewegung in Polen) und sich darüber hinaus mit den Zielen der Reformkommunisten und Bürgerrechtsbewegungen in Osteuropa solidarisieren. Wenn KGB-Chef Tschebrikow in seiner Parteitagsrede solche Personengruppen als politisch unreife und sozial entartete Elemente der Sowjetgesellschaft bezeichnete so dürfte sich dies auf Versuche der KPdSU-Führung zur Instrumentalisierung von Reformbewegungen im Westen für Moskauer Ziele allerdings eher kontraproduktiv auswirken.
VI. Ergebnis und Perspektiven
Damit ist klar, daß die Sowjetführung auch in Zukunft ihr außenpolitisches Verhalten nicht von Forderungen nach Auflockerung ihres politischen Systems konditionieren lassen wird. Die Mahnungen Tschebrikows, der ja die Außenpolitik Gorbatschows voll unterstützt nach verstärkter ideologischer Wachsamkeit und Unversöhnlichkeit gegenüber der sozialistischen Ordnung fremden Ansichten sind eine deutliche Warnung an die Sowjetbürger, das Bemühen um eine wirtschaftliche Wende nicht mit vermehrter Toleranz für Demokratisierungs-und Pluralisierungsneigungen zu verwechseln. Bei der neuen Führungsgeneration handelt es sich nicht um Reformer im westlichen Sinne, sondern überwiegend um effizienzorientierte Technokraten, die für systemkonforme Strukturänderungen und erweiterte Partizipationsrechte ausschließlich unter dem Gesichtswinkel einer Verbesserung des Wirtschaftsmechanismus plädieren und das Macht-monopol der Partei nicht in Frage stellen.
Gerade weil es sich bei der neuen Führungsgeneration eher um effizienzorientierte Technokraten mit einem dynamischen „Macher“ an der Spitze handelt, spricht aber auch vieles dafür, daß ihre Vertreter Möglichkeiten und Grenzen der Sowjetunion — und wahrscheinlich auch die bei einer Konfrontation mit den USA drohenden Gefahren — realistischer sehen als ihre Vorgänger um Breschnew, Suslow, Gromyko und Ustinow. Sie spüren, daß die UdSSR unter dem späten Breschnew ein politisch-militärisches Über-engagement eingegangen war, das ihre wirtschaftlichen Kapazitäten immer deutlicher überstieg. Daher wird die neue Führung zwar ihre globalen Positionen zu halten versuchen und vor allem die militärstrategische Parität mit der anderen Supermacht als einen „natürlichen Zustand“ verteidigen Im übrigen aber wird sie sich auf die von Gorbatschow und Ryschkow auf dem Parteitag anvisierte „radikale Reform“ in der Wirtschaft konzentrieren und einen möglichst großen Teil ihrer Ressourcen in diesen Bereich zu lenken versuchen.
Dies aber setzt einen stabilen Frieden voraus, der nur über eine Verständigung mit den USA erreicht werden kann. Angesichts der realistischen Einschätzung der eigenen Verwundbarkeiten im Innern und nach außen hat Gorbatschows Entspannungskonzept daher „einen defensiven Anstrich — in scharfem Gegensatz zu dem offensiven Anstrich der Entspannungskonzepte der siebziger Jahre“
Beispielsweise zeigt sich dies in einer deutlichen Reduzierung des Engagements Moskaus in der Dritten Welt. Den Ausführungen Gorbatschows und den Formulierungen der Neufassung des KPdSU-Programms nach zu urteilen kommt es der Sowjetführung im Hinblick auf die Entwicklungsländer vornehmlich darauf an, ihren Ein-fluß in den „Staaten sozialistischer Orientierung“ zu konservieren. Hierin drückt sich einerseits sicher ein gewachsenes Bewußtsein darüber aus, daß die sowjetischen Hilfsquellen insbesondere auf nichtmilitärischem Gebiet begrenzt sind. Andererseits scheint Gorbatschow aber auch ein deutlicheres Gespür als seine Vorgänger dafür zu besitzen, daß die Amerikaner die für einschneidende Maßnahmen zur Rüstungskontrolle und Abrüstung notwendige Vertrauensbildung nicht zuletzt von sowjetischer Zurückhaltung bei regionalen Konflikten abhängig machen. Gewisse Moskauer Signale für eine Bereitschaft zu einer Kompromißlösung in Afghanistan weisen in diese Richtung.
Insgesamt bildet der 27. Parteitag für Gorbatschow auch im Hinblick auf die Neuausrichtung der sowjetischen Außenpolitik wahrscheinlich eher eine — wichtige — Zwischenetappe als einen Fixpunkt. Nicht zuletzt mit Blick auf noch nicht überwundene Widerstände in den eigenen Reihen, aber auch auf Unsicherheiten über das Verhalten der Vereinigten Staaten beschränkte sich der Generalsekretär auf die Darlegung der von ihm ins Auge gefaßten strategischen Linie und hielt sich für deren Operationalisierung alle Optionen offen.
Angesichts der weiterbestehenden Unterschiede in den Werten und Interessen beider Supermächte wird ihr Verhältnis auch künftig von Wettbewerb und Rivalität geprägt sein, und es bleibt abzuwarten, ob die sich abzeichnenden Denkmuster in der sowjetischen Außenpolitik ihren Niederschlag auch in der politischen Praxis der internationalen Beziehungen Moskaus finden werden. Möglicherweise bieten die auf dem Parteitag gebündelt manifest gemachten Neuansätze Gorbatschows jedoch die Chance, zumindest in Überlebensfragen von der Konfrontation zu Konfliktmanagement und Interessenausgleich überzugehen. Dies sollte der Westen illusionslos, aber kompromißbereit testen.