Spätestens seit 1983, als sich der Beginn der nationalsozialistischen Herrschaft zum 50. Mal gejährt hatte, greift in der Bundesrepublik eine umfassendere Auseinandersetzung mit unserer totalitaristischen Vergangenheit Platz, die auch in jene gesellschaftlichen Bereiche hineinleuchtet, die sich bislang mehr oder weniger dagegen gesperrt haben. So fanden sich z. B. am 30. Januar 1983 Naturwissenschaftler der jungen und älteren Generation — meines Wissens erstmals nach Kriegsende — auf Einladung der Evangelischen Akademie Arnoldshain dazu bereit, öffentlich mit Historikern und Theologen über die „Verführbarkeit der Naturwissenschaft“ zur Zeit des Nationalsozialismus zu diskutieren Allerdings stellte sich bald heraus, daß den meisten anwesenden Naturwissenschaftsvertretern schon das vergleichsweise naive Bekenntnis des „Verführtwordenseins“ zu weit ging — von der Anerkennung politisch-moralischer Schuldvorwürfe oder der Unterstellung einer faktischen Unterstützung des nationalsozialistischen Systems ganz zu schweigen. Insbesondere die älteren, noch mit dem Dritten Reich in Berührung gekommenen Kollegen zählten sich nahezu durchweg zu den Nichtverführten des Regimes: Man hatte zwar nicht direkt Widerstand geleistet, sich aber auch nicht von großdeutschen Sirenengesängen, völkischen Tiraden und Herrenrassenwahn einfangen lassen.
In der Tat: Wenn es überhaupt eine Berufsgruppe in Deutschland gegeben hat, die in den infrage stehenden zwölf Jahren nicht dem faschistischen Ungeist verfallen war, dann ist es wohl die der exakten Naturwissenschaftler, also der Physiker und Chemiker (und vor allem um erstere soll es im folgenden gehen), gewesen. Schon in der ersten nach dem Kriege erscheinenden naturwissenschaftlichen Zeitschrift, den „Physikalischen Blättern“, verwiesen denn auch ihre führenden Vertreter „mit Befriedigung“ darauf, daß sie „keinen Schatten auf den Ehrenschild unserer Forschung“ hatten fallen lassen Man konnte vielmehr auf zahlreiche Beispiele individueller Unterstützung und Solidarität für die von den Maßnahmen des Regimes betroffenen Kollegen verweisen, und so wollte man es im übrigen auch nach dem Kriege, nunmehr mit umgekehrtem Vorzeichen, halten. Hierfür drei einschlägige Beispiele: • Das erste betrifft Max Planck und sein mutiges Eintreten für seinen jüdischen Kollegen Fritz Haber. In Heft 5/1947 der Physikalischen Blätter berichtete Planck folgendermaßen darüber:
„Nach der Machtergreifung durch Hitler hatte ich als Präsident der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft die Aufgabe, dem Führer meine Aufwartung zu machen. Ich glaubte diese Gelegenheit benutzen zu sollen, um ein Wort zu Gunsten meines jüdischen Kollegen Fritz Haber einzulegen, ohne dessen Verfahren zur Gewinnung des Ammoniaks aus dem Stickstoff der Luft der vorige Krieg von Anfang an verloren gewesen wäre. Hitler antwortete mir wörtlich: , Gegen Juden an sich habe ich gar nichts. Aber die Juden sind alle Kommunisten, und diese sind meine Feinde, gegen sie geht mein Kampf. Auf meine Bemerkung, daß es doch verschiedenartige Juden gäbe, für die Menschheit wertvolle und wertlose, unter ersteren alte Familien mit bester deutscher Kultur, und daß man doch Unterschiede machen müsse, erwiderte er: , Das ist nicht richtig. Jud ist Jud; alle Juden hängen wie Kletten zusammen ... ‘. Auf meine Bemerkung, daß es aber geradezu eine Selbstverstümmelung wäre, wenn man wertvolle Juden nötigen würde auszuwandern, weil wir ihre wissenschaftliche Arbeit nötig brauchen und diese sonst in erster Linie dem Ausland zugute komme, ließ er sich nicht weiter ein...“
Planck stand mit seinem Engagement für Fritz Haber nicht allein. Auch andere Physiker wagten es anläßlich von Habers Tod im Jahre 1934, den jüdischen Kollegen öffentlich zu würdigen, und man veranstaltete zu seinem einjährigen Todestag gegen den erklärten Willen von Staat und Partei sogar eine öffentliche Gedenkfeier Das zweite Beispiel wissenschaftlicher Solidarität betrifft den Nachkriegsumgang mit jenen wenigen Physikern, die sich offen auf die Seite des Nationalsozialismus gestellt und mit ihren ideologischen Ansprüchen und politischen Intrigen dem übrigen Wissenschaftlerstand schwer zugesetzt hatten. Zumindest gegenüber ihren Wortführern — den beiden Nobelpreisträgern Philipp Lenard und Johannes Stark — übten sich die „Physikalischen Blätter“ in gelassener Großzügigkeit. Lenard etwa erhielt nach seinem Tod einen respektablen Nachruf, der allein seine wissenschaftlichen Leistungen herausstrich und seine sonstigen Aktivitäten gänzlich überging An anderer Stelle hieß es hierzu entschuldigend:
Unter Physikern stünde nunmal „die Wissenschaft an erster Stelle“, weshalb man in Lenard vor allem „dem großen Forscher gerecht zu werden“ habe Johannes Stark kam in den „Physikalischen Blättern“ sogar selber zu Worte, wobei zwar seinem politischen Selbstreinwaschungsversuch widersprochen, seinen neueren fachwissenschaftlichen Arbeiten jedoch professionelle Aufmerksamkeit gewidmet wurde
Schließlich druckten die „Physikalischen Blätter“ — und dies als letztes Beispiel —jenen Brief der „Gesellschaft Deutscher Chemiker“ an den amerikanischen Militärgouverneur Lucius D. Clay ab, der im Dezember 1948 von der Hauptversammlung der Gesellschaft aus Anlaß der Urteile im Nürnberger IG-Farben-Prozeß verabschiedet worden war. Darin heißt es u. a.: „Wir kennen die Verurteilten durch jahrzehntelange Arbeit als ehrenwerte Männer... Wir stehen verständnislos der Höhe der verhängten Gefängnisstrafen gegenüber für Männer, die damit unserer Meinung nach zu Unrecht mit gemeinen Verbrechern gleichgestellt werden. Wir können aus unserer Kenntnis der Verurteilten nicht glauben, daß ihnen unehrenhafte Gesinnung oder Handlungen wirklich nachgewiesen worden sind.“
In einem Kommentar hierzu wurde darüber hinaus die Vermutung geäußert, daß die Urteile de jure zwar nur gegen Angestellte der IG-Farben, de facto aber „gegen eine überragende Repräsentantin deutscher Wissenschaft und Forschung auf dem Felde der Chemie und Pharmakologie“ gerichtet seien, „womit zugleich die deutsche Forschung auf den genannten, der Physik eng verwandten Wissensgebieten getroffen werden sollte ... Eine solchermaßen dokumentierende Manifestation verbrecherischer Schlechtigkeit müßte unweigerlich den Ruin des Rufes unserer chemischen Forschung und Industrie nach sich ziehen; sie würde den Ruf aller deutscher Naturforschung schädigen. Eine wachsame Konkurrenz würde ohne Zweifel immer erneut Anlaß suchen, das vergeßliche Gedächtnis der Weltöffentlichkeit zu stärken.“
Solidarität wurde also nicht nur gegenüber den Standesgenossen, sondern — und sei es nur aus Angst vor einer übergreifenden Rufschädigung — auch gegenüber den alten Freunden und Gönnern aus der nationalsozialistischen Zeit geübt. Spätestens dieses Beispiel läßt indes eine bemerkenswerte Naivität in der Auseinandersetzung mit der Vergangenheit erkennen. Das gilt bei genauerem Hinsehen auch für die anderen beiden Beispiele.
So mag man Planck bei seiner Unterscheidung von wertvollen und wertlosen Juden sowie zwischen solchen mit und ohne „bester deutscher Kultur“ noch rein taktische Absichten zugute halten. Daß es aber gerade Haber und nicht etwa Einstein war, für den sich die deutschen Physiker zu Beginn des Dritten Reiches so stark machten, gibt zu denken. Denn Haber war zweifellos der kriegerischste deutsche Naturwissenschaftler des Zweiten Reiches gewesen. Er hatte mit seiner Ammoniaksynthese seinerzeit nicht nur das Sprengstoffproblem der deutschen Reichswehr gelöst, sondern er war der eigentliche Erfinder des Gaskrieges, der heute so genannten C-Waffen also, deren kriegstechnische Vorzüge er den konservativen Reichswehrgenerälen erst mühsam klarmachen mußte. „Das von ihm geleitete Kaiser-Wilhelm-Institut für physikalische Chemie und Elektrochemie in Berlin war, in der Tat, das einzige Kaiser-Wilhelm-Institut, das sich völlig auf die Kriegserfordernisse einstellte.“
Haber war also gewissermaßen der Edward Teller des beginnenden Jahrhunderts, was die Wissenschaftlerzunft allerdings weit weniger zu stören schien als der offen artikulierte, politisch begründete Pazifismus eines Albert Einstein. Dessen Rücktrittsgesuch an die preußische Akade'mie der Wissenschaften, mit dem er entsprechenden Maßnahmen zuvorzukommen versuchte, war der Akademie — folgt man ihrer Presseerklärung vom 1. April 1933 — noch nicht einmal ein Bedauern wert Zwar erhoben sich gegen diese Abfuhr vereinzelte Bedenken Einsteins, doch selbst hierbei klangen politische Vorbehalte an, wie man sie in bezug auf Fritz Haber vergeblich sucht
Eine ähnlich einseitige Bewertung der Ereignisse ist auch für das zweite Beispiel kennzeichnend. Johannes Stark hatte seine rassistischen Vorurteile im Dritten Reich nicht nur ähnlich wie Philipp Lenard in zahlreichen Publikationen kundgetan, sondern auch an maßgeblicher Stelle politisch durchzusetzen versucht. Er wurde hierfür nach dem Krieg zu vier Jahren Zwangsarbeit verurteilt — einem ähnlichen Schicksal entging Lenard nur aufgrund seines hohen Alters Wenn führende naturwissenschaftliche Standesvertreter derart eingefleischte und nachweislich nicht nur verbal schuldig gewordene Rassisten nach dem Kriege allein wieder aus „rein wissenschaftlicher Sicht“ zu würdigen vermochten, so drängt sich zwangsläufig die Frage nach der politischen Urteils-bzw. Wahrnehmungsfähigkeit dieser Standesvertreter auf.
Und schließlich gar die Vertreter des IG-Farben-Konzerns: Hatten sie Hitler nicht massiv finanziell unterstützt, um im Gegenzug unbegrenzte Profite machen zu können? Hatten sie nicht die Ausbeutung des besetzten Osteuropas fest in ihre wirtschaftlichen Expansionsstrategien eingeplant? Hatten sie nicht in Auschwitz in Zusammenarbeit mit der SS eine Chemiewerk aufgebaut, indem sich Tausende von KZ-Insassen buchstäblich zu Tode schuften mußten? Waren sie schließlich deshalb nicht in Nürnberg für schuldig befunden worden, Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen zu haben, an der Versklavung der Zivilbevölkerung in besetzten Gebieten und deren Verschleppung, Ausbeutung, Mißhandlung, Folterung und Ermordung in Konzentrationslagern teilgenommen zu haben? Und das alles wollten die Mitglieder der „Gesellschaft Deutscher Chemiker“ nach dem Kriege nicht wahrhaben, nur weil sie die Beklagten als „ehrenwerte Männer“ in Erinnerung hatten?
Schon diese wenigen Beispiele zeigen, daß die Haltung der Naturwissenschaftler zum Dritten
Reich nicht nur durch ständische Solidarität, sondern zugleich auch durch eine noch bemerkenswertere Fähigkeit zur Verdrängung des Geschehenen gekennzeichnet ist. Dies legt den Verdacht nahe, daß es womöglich tatsächlich auch etwas zu Verdrängen gab. Verstärkt wird dieser Verdacht durch jene eigenartige Lehre, wie sie seither von den betroffenen Naturwissenschaftlern immer wieder aus dem Geschehen gezogen wurde: Aus der Behauptung, dem Nationalsozialismus völlig unpolitisch gegenübergestanden zu haben, wird nicht etwa der Schluß gezogen, es zwecks Verhinderung ähnlicher gesellschaftlicher Fehlentwicklungen in Zukunft anders zu machen. Vielmehr gibt man vor, jetzt erst recht die Finger von der Politik lassen zu wollen. Sollten sich die Naturwissenschaftler diese Finger vielleicht doch stärker verbrannt haben, als sie es nach außen und vielleicht auch vor sich selbst wahrhaben wollen? Gibt es womöglich eine heimliche, indirekte Komplizenschaft, der sie mit ihrem ständig wiederholten Bekenntnis zu noch mehr politischer Abstinenz unbewußt abzuschwören versuchen?
Angesichts solcher Fragen wird man sich bei der Beschäftigung mit dem Thema „Naturwissenschaft und Nationalsozialismus“ wohl kaum mit der bloßen Konstatierung des guten Gewissens der Naturwissenschaftlerzunft begnügen können. Vielmehr scheint mir gerade in einer Zeit, in der die Naturwissenschaftler durch die internationale wirtschaftliche und militärische Situation wie selten zuvor politisch gefordert sind, eine besondere politisch-moralische Sorgfalt, ja Hartnäckigkeit in der Auseinandersetzung mit den kritischen Phasen der Vergangenheit geboten, insbesondere wenn man (wie der Autor) der Naturwissenschaftlerzunft selber angehört.
Glücklicherweise kann der Nichthistoriker bei einem solchen Unterfangen mittlerweile auf einige profunde geschichtswissenschaftliche Untersuchungen zurückgreifen die es ihm gestatten, sich auf einige Kernfragen zu konzentrieren. Diesen Vorteil nutzend, möchte ich im folgenden primär der Frage nach einer möglichen heimlichen Komplizenschaft zwischen Naturwissenschaft und NS-Regime nachgehen. Daß es sich dabei keineswegs um eine abstrakte Frage handelt, mag zunächst eine kurze Skizze des konkreten Geschehens an einer ganz normalen, unauf-fälligen Technischen Hochschule jener Zeit verdeutlichen, einer Institution also, in der die Naturwissenschaftler und die ihr im akademischen Kanon nächststehenden technischen Wissenschaftler besonders konzentriert in Erscheinung treten
II. Zum Exempel: Eine Technische Hochschule im Dritten Reich
Aus der von dem Stuttgarter Historiker Johannes Voigt speziell für den Zeitraum des Dritten Reiches besonders sorgfältig recherchierten Geschichte der heutigen Universität Stuttgart erfährt man, daß es schon seit Mitte der zwanziger Jahre in der Studentenschaft der damaligen TH (ähnlich wie auch an den herkömmlichen Universitäten) starke völkische Tendenzen gab. Antidemokratisches, militaristisches und rassistisches Gedankengut griff, unbehindert von der Hochschulleitung, selbst unter den Naturwissenschaftsstudenten so weit um sich, daß schließlich die Abteilung Chemie der Hochschule nicht mehr von Ausländern besucht werden konnte. Bei den ASTÄ-Wahlen 1932 erhielten die völkischen und nationalsozialistischen Gruppierungen unter den angehenden Ingenieuren über 80% der Stimmen — ein Potential, das wenige Monate später einen „reibungslosen“ Ablauf der nationalsozialistischen „Gleichschaltung“ garantierte.
Mit „revolutionärem“ Elan wurden dementsprechend seit 1933 an der TH Stuttgart in kurzer Folge Lehrkörper und Studentenschaft „arisiert", das „Führerprinzip“ in die Universitätsverfassung eingeführt, ein altgedienter NSDAP-Professor zum allmächtigen Rektor ernannt alle nicht-nationalsozialistischen Studentenvereinigungen aufgelöst, die Studenten zu Arbeitsdienst und Wehrsport verpflichtet und „nationalpolitische Vorlesungen“ (u. a. über Rassenhygiene und Wehrwissenschaft) verbindlich gemacht. Als besondere nationalsozialistische Hochburg erwies sich in Stuttgart die renommierte Architekturabteilung der Hochschule mit Paul Schmitthenner, von Juli 1933 an Reichsfachleiter für Bildende Kunst im „Kampfbund für Deutsche Kultur“, an der Spitze. Ihr Engagement im Kampf „gegen das Internationale und Undeutsche“ in der seinerzeit modern-funktionalistischen Baukunst fand seinen peinlichen Höhepunkt schon am 1. Mai 1933, als man Hitler unter Hinweis auf seinen „sieghaften Kampf für deutsche Art“, auf der „allein deutsche Baukunst wachsen“ könne, die architektonische Ehrendoktorwürde antrug.
Dabei hatte man allerdings übersehen, daß viele nationalsozialistische Größen durchaus nicht so empfänglich für akademische Würden und Weihen waren, wie man das von bürgerlichen Parteiführern gewöhnt war. Speziell für Hitler gab es seinen eigenen Erklärungen zufolge keinen Titel, der dem Gewicht des eigenen Namens auch nur im entferntesten gleichkommen könne. So blieb denn den Stuttgarter Architekten die Peinlichkeit nicht erspart, nur wenige Tage später durch den „Völkischen Beobachter“ von Hitlers Ablehnung des Dr. Ing. e. h. zu erfahren.
Nicht ganz so hektisch ging es bei den Physikern zu. Erst nach der Emigration von Peter Paul Ewald, Ordinarius für theoretische Physik, schaltete sich die sogenannte „Deutsche Physik“ in das Gerangel um dessen Nachfolge ein. Philipp Lenard höchstpersönlich setzte den Reichsminister für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung mit dem Verdacht unter Druck, die Anhän-ger der Einsteinschen Physik hätten offenbar immer noch das Sagen im Ministerium: „Hat der Arierparagraph die Juden körperlich ausgeschaltet, so kommt es nun darauf an, ihren reichlich — besonders in der Physik — zurückgelassenen Geist durch deutschen Wissenschaftsgeist zu ersetzen.“
Tatsächlich wurde nach langem Hin und Her mit Ferdinand Schmidt ein Assistent von Lenard auf den vakanten Physiklehrstuhl berufen. Die betroffenen Studenten erwiesen der „Deutschen Physik“ auf besondere Art ihre Reverenz. Mit der Arbeit " Kampf um arische Naturforschung“ wurde eine Stuttgarter Studentengruppe Reichs-sieger in der Wettkampfsparte „Deutsche Natur-erkenntnis“ des Reichsberufswettbewerbs.
Die ideologischen Auseinandersetzungen traten indes mit der Entfesselung des Zweiten Weltkrieges und den immer massiveren Ansprüchen der großindustriellen Kriegsmaschinerie zunehmend in den Hintergrund. Die seit 1933 fast auf die Hälfte gesunkenen Studentenzahlen stiegen 1939 wieder deutlich an. Wie andere Wissenschaftsinstitutionen auch wurde die Stuttgarter TH mehr und mehr in die Kriegsforschung eingespannt. Im Forschungsinstitut für Kraftfahrwesen, Fahrzeug-und Flugmotoren etwa stieg die Zahl der Beschäftigten auf fast 700 Personen an, die vor allem Forschungsaufträge des Heereswaffenamtes und des Oberkommandos der Marine zu bearbeiten hatten. Der lang diskutierte Plan, Stuttgart ergänzend hierzu zu einem Schwerpunkt der „auslandstechnischen Forschung“ (u. a. mit Untersuchungen über die Belastbarkeit fremdrassiger Arbeiter in deutschen Auslandsunternehmen) auszubauen, erledigte sich indes mit dem Abnehmen des Bedarfs an technischer Kolonisationshilfe schließlich von selbst.
Auch wenn dieser kurze Abriß der Geschichte einer typischen deutschen TH die Situation von Naturwissenschaft und Technik im Dritten Reich mehr illustriert als analysiert, versetzt er uns doch in die Lage, unsere Ausgangsfragestellung ein wenig zu konkretisieren. Auf zwei Ebenen nämlich deuten sich engere Verbindungen zwischen der naturwissenschaftlich-technischen Intelligenz und dem Nationalsozialismus an: Im Bereich der Ideologie und im Bereich der Rüstung. Dementsprechend sind es zwei Fragen, denen im folgenden nachzugehen sein wird:
1. Gab es nennenswerte völkisch-rassistische Kräfte innerhalb der exakten Naturwissenschaften und welchen politisch-ideologischen Einfluß übten sie auf das Verhältnis von Naturwissenschaft und Nationalsozialismus aus?
2. In welchem Ausmaß waren Naturwissenschaft und Technik an der Effektivierung der nationalsozialistischen Kriegsmaschinerie beteiligt?
III. Die Naturwissenschaften im politischen Umbruch: Die „Deutsche Physik“
Die Frage nach dem politisch-ideologischen Verhältnis von Naturwissenschaft und Nationalsozialismus läßt sich nur vor dem Hintergrund des einmaligen Höhenfluges der deutschen Physik und Chemie in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts beantworten. Zunächst auf experimentellem, dann vor allem aber auf theoretischem Gebiet hagelte es in dieser Zeit geradezu Nobelpreise. Der noch Ende des Jahrhunderts um Anerkennung ringende Naturwissenschaftlerstand konnte sich nach seiner Aufwertung zum wirtschaftlichen Faktor innerhalb kurzer Zeit nunmehr auch zum Geistesadel des Reiches, ja mehr noch: zur internationalen Kulturelite rechnen 19). Politisch freilich kam der frisch aufgestiegene Stand trotz seines faktischen
Internationalismus nicht über die nationale Engstirnigkeit der konservativen Alteliten jener Zeit hinaus. Man dachte und fühlte nahezu durchgängig deutschnational und das Wohl der Wissenschaft erschien den Beteiligten nicht selten gleichbedeutend mit dem Wohl der Nation und umgekehrt -Der rasche Aufstieg der Naturwissenschaften hatte indes auch seine fachlichen Schattenseiten. Durch den mit ihm verbundenen Erkenntnis-boom nämlich wurde das naturwissenschaftliche Weltbild des 19. Jahrhunderts gründlich umgekrempelt. Nicht nur das Wissen, sondern auch die Art, mit dem Wissen umzugehen, hatte seine Qualität verändert. An die Stelle einer mehr oder weniger anschauungsverhafteten Wahrheitssuche trat mit den neuen Theorien ein funktionalistisches Modelldenken, verbunden mit einem immer undurchschaubareren mathematischen Kalkül, das zwar die Natur zunehmend beherrschen, aber keineswegs verstehen half
Ein derartiger wissenschaftlicher Paradigmenwechsel verläuft im allgemeinen nicht reibungslos. So war es denn auch kein Zufall, daß romantische Naturdeutungen, die einer ganzheitlichen Betrachtung und einem einfühlsamen Umgang mit der natürlichen Umwelt das Wort redeten, an Boden gewannen. Und ebensowenig war es Zufall, daß die zunftinterne Kritik an den neuen Theorien primär von den Experimentalphysikern ausging, die stärker dem überkommenen Wissenschaftsparadigma anhingen, an den Erfolgen der Theoretiker nur wenig Anteil nehmen konnten und sich fast wie die Techniker ins Abseits gedrängt fühlten.
Unter ihnen taten sich besonders die bereits erwähnten Nobelpreisträger Johannes Stark und Philipp Lenard hervor. Mit ihrer ausgeprägten Art, wissenschaftliche Kontroversen vom Fachlichen ins Persönliche zu wenden, waren zunächst Ausländer, dann Theoretiker und schließlich Juden, allen voran die Symbolfigur Einstein, ihre ausgemachten Feinde. Statt sich aber als die besseren Wissenschaftler zu präsentieren, unterlagen sie der Versuchung, sich lediglich als die besseren Deutschen auszugeben; sie entwarfen denn auch keine bessere oder gar neue, sondern eine aus vorhandenen Versatzstücken zusammengezimmerte „Deutsche“ bzw. „Arische“ Physik
Schon 1929 versuchte Lenard in seinem Buch „Große Naturforscher“ nachzuweisen, daß die genialen wissenschaftlichen Leistungen der Vergangenheit in erster Linie von arisch-germanisch geprägten Forscherpersönlichkeiten vollbracht worden seien In seinem sieben Jahre später erschienenen Lehrbuch „Deutsche Physik“ definierte Lenard einleitend den Fixpunkt seines alternativen Wissenschaftsverständnisses wie folgt:
„, Deutsche Physik? wird man fragen — Ich hätte auch arische Physik oder Physik des nordisch gearteten Menschen sagen können. Physik der Wirklichkeitsergründer, der Wahrheit-Suchenden, Physik derjenigen, die Naturforschung begründet haben.“
Schon dieser Definitionsversuch macht deutlich, daß der ideologische Kern der „Deutschen Physik“ rassistischer Natur war. Dabei beinhaltete das Bekenntnis zum „völkischen Grundcharakter“ der Wissenschaft nicht nur die Verpflichtung auf die „Erhaltung der Volksgemeinschaft“ bzw. die „Arterhaltung“, sondern schloß den kompromißlosen „Kampf gegen die internationalistisch-objektivistische „Standpunktlosigkeit“ der „jüdischen“ Naturwissenschaft ein Verbunden war mit dieser wissenschaftlichen Variante des Antisemitismus eine mehr oder weniger diffuse Aversion gegen das allzu Theoretisch-Mathematische, gegen die Unanschaulichkeit und das positivistische Funktionalitätsverständnis der modernen Naturwissenschaft. „Da, wo der Jude in der Naturwissenschaft das germanische Vorbild verläßt und gemäß seiner geistigen Eigenart wissenschaftlich sich betätigt, wendet er sich der Theorie zu; nicht die Beobachtung von Tatsachen und ihre wirklichkeitsgetreue Darstellung ist ihm dann mehr die Hauptsache, sondern die Ansicht, die er über sie bildet, und die formale Darstellung, die er ihnen auferlegt.“
Der Berliner Wissenschaftshistoriker Herbert Mehrtens deutet die Verbindung von wissenschaftlichem Konservativismus und antisemitischem Rassismus als Versuch der wissenschaftlich Deklassierten, das im Theorieboom des beginnenden Jahrhunderts verlorene wissenschaftliche Terrain auf politisch-ideologischem Wege zu-rückzuerobern Hierfür spricht nicht nur die pauschale Diskriminierung auch nichtjüdischer Theoretiker als „weiße Juden“, sondern auch die Tatsache, daß die Vertreter der „Deutschen Physik“ außer ihrer gemeinsamen Ablehnung moderner physikalischer Theoriesysteme (wie etwa der Quantenmechanik und der Relativitätstheorie) kaum über ein einheitliches konstruktives Konzept für eine alternative Betrachtung der Natur verfügten Selbst die Absicht, anstelle des „kalten Intellektualismus“ der Moderne wieder der Anschauung zu ihrem angestammten Platz zu verhelfen, konnte nicht verbindlich präzisiert werden. Zwar beanspruchte Lenard mit seinem Versuch, die klassische Naturwissenschaft auf experimenteller und mechanischer Grundlage mit einem ganzheitlichen, u. a. an klassische Gestalt-theorien und romantische Naturphilosophien anknüpfenden Naturverständnis zu vereinigen, eine gewisse konzeptionelle Allgemeingültigkeit. Aber schon in einer der wichtigsten Anwendungen dieses Konzepts — der bereits 1922 in Entgegnung auf die Einsteinsche Relativitätslehre von Lenard wiederbelebten Äthertheorie — mochte ihm sein engster Verbündeter Stark nicht folgen Tatsächlich erscheint es durchaus fraglich, inwieweit die von Lenard intendierte Vereinigung von letztlich doch professionellen Naturtheorien mit Elementen eines eher volkstümlich-anschaulichen Naturbildes überhaupt prinzipiell Konsistenz gewinnen konnte.
Ungeachtet derlei Widersprüchlichkeiten fanden Lenard und Stark schon vor 1933 unter naturwissenschaftlichen Studenten begeisterte Anhänger, während ihnen von kollegialer Seite bestenfalls ungläubiges Staunen vor allem darüber entgegengebracht wurde, daß sie Politik und Wissenschaft so ungeniert miteinander zu vermischen wagten. Eine derart einseitige Parteinahme für radikale völkische Strömungen, wie sie Stark und Lenard etwa in ihren frühen Freundschaften mit nationalsozialistischen Parteiführern offen dokumentierten konnte bei aller Konservativität von den sich traditionell unpolitisch gebenden Natur-wissenschaftlern nur mit herablassender Distanz bzw. aristokratischer Abscheu quittiert werden
Das änderte sich indes schlagartig mit Hitlers Machtübernahme. Auch wenn die exakten Naturwissenschaften im einschlägigen Ideologiegebäude des Nationalsozialismus keinerlei nennenswerte Rolle spielten und also außer einem gewissen Relevanzverlust keine direkten „revolutionären“ Eingriffe von Seiten der NSDAP zu befürchten hatten bestand doch die Gefahr, daß die ins professionelle Abseits gedrängten Vertreter der „Deutschen Physik“ ihre ideologische Nähe und guten Beziehungen zu den neuen Machthabern nutzen würden, um sich für die erlittene Diskriminierung nunmehr wissenschaftspolitisch schadlos zu halten.
In der Tat versuchte insbesondere Johannes Stark, in Physikerkreisen wegen seiner cholerischen Art auch „Robustus“ oder „Fortissime“ genannt, vom Tage der „Machtergreifung“ an die wissenschaftspolitischen Zügel in seine Hand zu bekommen, während sich Lenard (nicht zuletzt wegen seines hohen Alters) auf begleitende ideologische Attacken beschränkte. So gelang es Stark schon im Frühjahr 1933, die Leitung der Physikalisch-technischen Reichsanstalt an sich zu reißen. 1934 übernahm er dann auch noch die Präsidentschaft der „Notgemeinschaft der Deutschen Wissenschaft“, der späteren „Deutschen Forschungsgemeinschaft“. Von diesen Positionen aus konnte er im Verein mit Lenard nicht nur einigen nachwachsenden Gesinnungsgenossen zu unverdienten Ämtern und Würden verhelfen, sondern auch einen erheblichen politisch-ideologischen Druck auf den gesamten Naturwissenschaftlerstand ausüben Obwohl dennoch auch in besten Zeiten von kaum mehr als zwei Dutzend Fachkollegen mitgetragen, erschien die von einer derart institutionell gestützten Ideologen-fraktion ausgehende Gefahr für die innere Autonomie der Naturwissenschaft der übergroßen Mehrheit der Kollegen derart bedrohlich, daß heute noch in der Erinnerung der älteren Physiker an das Dritte Reich die damalige Auseinandersetzung mit der „Deutschen Physik“ eine dominierende Rolle spielt.
IV. Die Naturwissenschaften im politischen Umbruch: Anpassung und Widerstand
Auch im Selbstverständnisorgan der Physiker, den „Physikalischen Blättern“, kreisten die ohnehin nur sehr fragmentischen Nachkriegsversuche einer Aufarbeitung der NS-Zeit primär um den „Kampf* der Zunft gegen die „Parteiphysik“ der gelegentlich sogar zum „Widerstand der Physiker gegenüber dem Nationalsozialismus“ hoch-stilisiert wurde Demgegenüber blieb die Erinnerung an die viel gravierenderen, unmittelbaren Eingriffe der neuen Machthaber in die personelle Substanz der Wissenschaft und die Reaktion der Standesvertreter darauf auffällig blaß. Gemeint sind die administrativen Maßnahmen in der Folge des sogenannten „Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“ vom April 1933, der Nürnberger Gesetze vom September 1935 und schließlich des „Deutschen Beamtengesetzes“ vom Januar 1937
Die auf dieser Grundlage durchgeführten rassischen und politischen „Säuberungsaktionen“ führten zu einem Exodus prominenter und weniger prominenter Naturwissenschaftler. Bis 1938 hatten 20 Prozent aller Hochschulnaturwissenschaftler Deutschland verlassen. Besonders stark war die Physik vom Arierparagraphen betroffen. 25 Prozent der in Deutschland tätigen Physiker, darunter nicht weniger als elf Nobelpreisträger, mußten gehen oder gingen freiwillig. In Göttingen, der Hochburg der modernen theoretischen Physik, verblieb nur noch ein Drittel der Physiker und Mathematiker in ihren Stellen Immerhin blieb der großen Mehrheit der von den Ariergesetzen betroffenen Wissenschaftler das Schicksal ihrer weniger gut situierten Leidensgenossen — Deportation und Ermordung — erspart. Alan Beyerchen, der den Biographien zahlreicher deutscher Naturwissenschaftler nachgegangen ist, weiß in diesem Zusammenhang — mit Ausnahme der bereits erwähnten Haber-Ehrung — von keinen herausragenden Solidaritätsbekundungen zu berichten. Nur sehr vereinzelt wurden öffentliche Proteste laut, am deutlichsten vom Präsidenten der Deutschen Physikalischen Gesellschaft, Max von Laue, sowie vom Direktor des II. Physikalischen Instituts der Universität Göttingen, James Franck, der als Jude selber zu den Betroffenen zählte Ansonsten war man zwar durchaus irritiert, aber weniger, so scheint es, wegen der Rassendiskriminierung als solcher, sondern vor allem wohl, weil davon auch ebenso bedeutende Wissenschaftler wie aufrechte Deutsche betroffen waren. In diesen Fällen leistete man dann standesinterne Hilfe und versuchte, mit den Kollegen auch nach deren Emigration in Kontakt zu bleiben.
Nach außen hin aber paßte man sich den neuen Gepflogenheiten mehr oder weniger an, stellte sich auf die veränderten Sprachregelungen ein, begann seine Vorlesungen mit dem Hitlergruß und versuchte im übrigen, Betrieb und Ruf der deutschen Physik und Chemie so gut wie möglich aufrechtzuerhalten Dabei spielte eine nicht unwesentliche Rolle, daß viele Naturwissenschaftler den nationalsozialistischen „Spuk“ nur für eine Übergangserscheinung hielten, der sie — sei es aus politischer Naivität, sei es aus einer tief verwurzelten Antipathie gegen die Weimarer Republik — sogar positive Aspekte abgewinnen konnten. Wem diese Übergangsatmosphäre zu rauh erschien, dem wurde zu einem kleinen Ausländsaufenthalt geraten, bis sich die Dinge wieder beruhigt hätten
Vergleicht man die Umbruchsituation der dreißiger Jahre etwa mit der Stalinisierungsphase der DDR zu Beginn der fünfziger Jahre, so fällt auf, daß im Gegensatz zur damaligen Emigrationswelle aus der DDR so gut wie kein Naturwissenschaftler das Dritte Reich allein aus einem Unbehagen oder gar einer Gegnerschaft gegenüber dem politischen System heraus verlassen hat Dementsprechend ist denn auch die von Gerda Freise zusammengetragene Liste derjenigen, die über die standesinternen Auseinandersetzungen um die „Deutsche Physik“ hinaus aktiven politischen Widerstand geleistet oder auch nur öffentlich Zivilcourage gezeigt haben, bemerkenswert dünn Neben den bereits genannten James Franck und Max von Laue fällt unter ihnen vor allem der Direktor des Chemischen Instituts der Universität München und Nobelpreisträger für Chemie des Jahres 1927, Heinrich Wieland, auf.
Wieland klassifizierte sich selbst als „politisch links“ und war daher auch schon vor 1933 ein „Sonderfall" unter den deutschen Naturwissenschaftlern. Von Beginn des Dritten Reiches an hat er sich dann konsequent für rassisch und politisch Verfolgte eingesetzt, versorgte sie mit Rechtsanwälten und Gefängnispaketen, trat als Entlastungszeuge auf, verweigerte unbeirrt den „Deutschen Gruß“ , dachte nicht daran, die Büsten seiner jüdischen Vorgänger aus dem Foyer seines Instituts zu entfernen, bewahrte viele seiner Schüler vor Wehrmacht und Krieg und nahm eine ihm zugedachte Ehrung erst entgegen, als der obligatorische Hakenkreuzschmuck aus dem Saal entfernt worden war Indem er so seine persönliche Integrität wahrte, ohne dafür etwa mit der Übernahme von Kriegsforschungsaufträgen zu zahlen, widerlegte er alle Behauptungen von der schieren Unmöglichkeit der Aufrechterhaltung bürgerlicher Zivilcourage und wies die Überanpassung der meisten Kollegen als keineswegs zwangsläufig aus. Dabei wird man ihn — gemessen an den Maßstäben der im Untergrund agierenden Arbeiterbewegung, der „Weißen Rose“ oder des „ 20. Juli“ — noch nicht einmal dem eigentlichen politischen Widerstand zurechnen können.
‘E Der meines Wissens einzige Naturwissenschaftler mit Hochschulrang, auf den die Bezeichnung Widerstandskämpfer anwendbar ist, war Robert Havemann. Der später auch in der DDR durch sein mutiges politisches Einzelgängertum in Erscheinung getretene Chemiker war Mitglied verschiedener kommunistischer Widerstandsgruppen, bevor er 1943 von der Gestapo festgenommen und schließlich wegen „Hochverrats“ vom Volksgerichtshof zum Tode verurteilt wurde. Indem man ihn jedoch für „kriegswichtige“ Forschungen des Heereswaffenamtes reklamierte, gelang es, die Vollstreckung des Todesurteils von Monat zu Monat zu verschieben. Selbst in dieser existenziell extremen Situation gab Havemann seine politischen Aktivitäten keineswegs auf und beteiligte sich von seiner Todeszelle aus an der Widerstandsarbeit innerhalb des Zuchthauses
Von diesen wenigen Ausnahmen abgesehen, übte sich die übergroße Mehrheit der Naturwissenschaftler in politischer Passivität und faktischer Einpassung in das nationalsozialistische System. Dies wurde nachträglich u. a. mit dem Hinweis gerechtfertigt, „daß ein Widerstand aus unserem Kreis den sicheren Selbstmord bedeutete“; der Wissenschaftler aber sei nun einmal kein Märtyrertyp, vielmehr sehe er „in Deutschland wie anderswo sein Ziel in einem tätigen Leben und nicht in einem Opfertod“ Ein gewisses politisches Risiko war man nur bereit einzugehen, wenn die Nationalsozialisten über das bloße faktische Wohlverhalten hinaus dezidierte politische Bekenntnisse verlangten und damit gegen ein elementares Tabu des Naturwissenschaftlerstandes verstießen. Dann konnte es sogar passieren, daß ein Max Planck einer politischen Ergebenheitsadresse der Nobelpreisträger seine Unterschrift verweigerte, weil Wissenschaft nun einmal nichts mit Politik zu tun habe — was durchaus nicht taktisch, sondern ernst gemeint war.
Von dieser im ständischen Bewußtsein der Naturwissenschaftler tief verwurzelten Grundhaltung her war es auch klar, daß der Versuch der „Deutschen Physik“, die exakten Wissenschaften von Grund auf zu politisieren, auf massives Unverständnis und vehemente Abwehr stoßen mußte. Blieben die Deutschphysiker schon allein aus diesem Grunde in der eigenen Zunft ohne Rückhalt, so stand ihren Ambitionen nicht zuletzt auch die Person ihres politisch führenden Kopfes entgegen. Ohne eine echte politische Verankerung in der nationalsozialistischen „Bewegung“ war nämlich Johannes Stark dem verwirrenden Kräftespiel der konkurrierenden Apparate hilflos ausgeliefert. Überdies legte er sich infolge seines cholerischen Naturells ähnlich wie in der Wissenschaft auch in der Politik bald mit jedem an.
Als besonders folgenreich erwiesen sich dabei seine Querelen mit den Vertretern der Wehrmacht. Nicht zuletzt ihnen hatte er es zu verdanken, daß er sein Präsidentenamt bei der Notgemeinschaft bereits 1936 wieder verlor, in dem 1937 beim Reichserziehungsminister eingerichteten Forschungsrat keinen nennenswerten Einfluß mehr geltend machen konnte und schließlich auch seines Postens als Leiter der physikalisch-technischen Reichsanstalt verlustig ging Hinzu kam, daß ihm und seinen Anhängern auch die einschlägigen wissenschaftlichen Publikationsorgane zunehmend verschlossen waren, so daß sich die „völkischen“ Naturwissenschaftler sogar genötigt sahen, eine eigene naturwissenschaftliche Zeitschrift zu gründen
Zwar eröffneten die Deutschphysiker zu Beginn des Krieges noch einmal eine ideologische Offensive, doch trafen sie damit auf eine zunehmend abwehrbereite Physikermehrheit. Man forderte sogar öffentlich eine endgültige Klärung des Streits um die Gültigkeit der modernen Theorien, und tatsächlich kam es im November 1940 in München zu einer entsprechenden Disputation, die de facto mit der vollständigen Kapitulation der „Deutschen Physik“ endete. In einer gemeinsamen Vereinbarung mußten deren Vertreter u. a. zugestehen, daß die theoretische Physik und mit ihr insbesondere die Relativitätstheorie und die Quantenmechanik ein notwendiger Bestandteil der Gesamtphysik seien
Durch diesen Erfolg sahen sich die Spitzenfunktionäre der Deutschen Physikalischen Gesellschaft ermutigt, trotz zuvor eher negativer Erfahrungen in dieser Richtung abermals eine Eingabe an das für die akademischen Wissenschaften zuständige Reichserziehungsministerium zu richten, in der sie sich nicht nur noch einmal mit der Unsinnigkeit der gegen die theoretische Physik gerichteten Angriffe auseinandersetzten, sondern zugleich mit einer Fülle von Daten und Fakten den Niveauverlust der nationalen naturwissenschaftlichen Forschung insbesondere gegenüber den angelsächsischen Ländern dokumentierten Zwar erfolgte hierauf keine direkte Reaktion, aber in der Folge begann sich in der staatlichen Administration das Blatt deutlich zugunsten der „Fachphysiker“ zu wenden. Spätestens 1943, als man so prominente NS-Größen wie Göring und Goebbels auf seiner Seite wußte, war das Problem der „Deutschen Physik“ endgültig erledigt, und man konnte darangehen, Pläne für einen neuen Aufschwung der naturwissenschaftlichen Forschung in Deutschland zu entwerfen
V. Die Wissenschaft im „Schutz“ der Wirtschaft
Der Aufstieg und Fall der „Deutschen“ Naturwissenschaft erweckt (insbesondere in der Selbstdarstellung der Betroffenen fast den Eindruck, als hätte sich die professionelle Wissenschaftlermehrheit gegen ihre nationalsozialistische Minderheitsfraktion allein aufgrund ihrer wissenschaftlichen Standhaftigkeit durchsetzen können. Angesichts der Erfahrungen in anderen gesellschaftlichen Bereichen, in denen die Regimeopposition, selbst wenn sie bis zum bewußten Widerstand ging, auch nicht im entferntesten vergleichbare Erfolge verzeichnen konnte, wäre eine solche Deutung aber reichlich unwahrscheinlich Damit stellt sich die Frage, wie es den Naturwissenschaftlern gelingen konnte, sich so erfolgreich gegen den ideologischen Zugriff des Nationalsozialismus zur Wehr zu setzen und zum Schluß sogar noch einige der wichtigsten Repräsentanten der an sich eher wissenschaftsfeindlichen Machthaber auf ihre Seite zu ziehen.
Die Antwort auf diese Frage ist Herbert Mehrtens zufolge darin zu suchen, daß die eigentliche Bedeutung von Naturwissenschaft und Technik für das Dritte Reich nicht auf ideologischem, sondern auf wirtschaftlichem und militärischem Gebiet lag Vor allem die noch ungeschorener als die Physik davongekommene Chemie, der selbst Hitler eine entscheidende Rolle im Zusammenhang mit seinen Autarkie-und Kriegsplänen zumaß, wußte sich in dieser Beziehung immer wieder ins rechte Licht zu rücken Tatsächlich hatte sie in der hochkonzentrierten chemischen Industrie einen Partner, der eine Schlüsselrolle in der nationalsozialistischen Wirtschafts-und Kriegsplanung spielte und von daher eine ideale Transferinstanz für die Verbindung von Naturwissenschaft und NS-Regime darstellte
Dabei muß man sich vergegenwärtigen, daß die nationalsozialistische Herrschaft nach Abklingen der ersten Machteuphorie immer mehr in konkurrierende Machtblöcke zerfiel. Hierzu gehörten neben diversen Parteifraktionen u. a. auch die Großindustrie, die bei der Sicherung der wirtschaftlichen Grundlage des Systems durchaus ihre eigenen Wege ging, dabei nach Kräften unterstützt von technokratischen Gruppierungen innerhalb des Staatsapparates Die nationalsozialistische Wirtschaftssteuerung verwandelte sich dabei von einem politischen Machtinstrument der Partei immer mehr zu einem Selbstverwaltungsinstrument der Industrie
So stand bereits der erste Vierjahresplan für die Entwicklung der Wirtschaft aus dem Jahre 1936 weitgehend unter dem Einfluß der IG-Farben. Carl Krauch, Vorstandsmitglied der IG und ab 1940 ihr Generaldirektor, wurde direkt in die Planungsbürokratie und 1938 zum staatlichen „Generalbevollmächtigten für Sonderfragen der chemischen Erzeugung“ berufen. Das von ihm geleitete „Reichsamt für Wirtschaftsausbau“ hieß denn auch ironisch „Reichsamt für IG-Ausbau“ .
Als relativ unabhängiger Faktor neben der Partei und ihren Gliederungen, der Staatsbürokratie und dem Militär war die Industrie zwar auf die Unterstützung des Systems verpflichtet, konnte aber in diesem Rahmen weitgehend autonom schalten und walten. Zugeständnisse an die nationalsozialistische Ideologie blieben mehr verbaler Art, statt dessen fühlte man sich — ähnlich wie das Militär — in erster Linie dem „Volksganzen“ verpflichtet.
Damit bot sich die Großindustrie als idealer Bündnispartner einer von der nationalsozialistischen Ideologie bedrohten Wissenschaft an, zumal ja auch diese Wissenschaft von der Illusion lebte, allein dem Gemeinwohl verpflichtet zu sein. Überdies hatte sich das Bündnis von Wirtschaft und Wissenschaft spätestens seit Ende des 19. Jahrhunderts bewährt Jeder wußte von dem anderen, was er wollte: die Wirtschaft profitträchtige Innovationen, die Wissenschaft bei aller Anwendungsorientierung die Bewahrung ihrer professionellen Autonomie. „Freiheit der Wissenschaft gegen beliebige Verwertbarkeit — das scheint mir der Tauschhandel zwischen Wis-senschaft und Gesellschaft zu sein, der sich auch im Faschismus , bewährt'hat.“
So gingen denn fast zwangsläufig Wissenschaft und Wirtschaft nach 1933 in großen Schritten aufeinander zu. Auf der einen Seite machten sich die Wirtschaftsführer schon recht früh für die Rehabilitation der zunächst in ideologische Ungnade gefallenen Wissenschaft stark. So beklagte der bereits erwähnte Carl Krauch öffentlich den Nachwuchsmangel in Naturwissenschaft und Technik und forderte eine erhöhte allgemeine Wertschätzung für die Kämpfer an der deutschen Wissenschaftsfront. Nicht weniger deutlich wurde nach dem geistigen Aderlaß der „Arisierung“ von Seiten der Wirtschaft der unverantwortliche Niedergang der naturwissenschaftlichen Lehre und Forschung an den Hochschulen kritisiert Umgekehrt erwies die Wissenschaft der Industrie u. a. dadurch ihre Reverenz, daß der IG-Farben-Chef Carl Bosch 1937 an die Spitze der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft berufen wurde. Ihm folgte 1940 der Generaldirektor der Vereinigten Stahlwerke Albert Vogler, während die Deutsche Physikalische Gesellschaft etwa zur gleichen Zeit mit Carl Ramsauer den Direktor der Berliner AEG-Forschungslaboratorien zu ihrem Präsidenten wählte
Man begab sich also regelrecht in den „Schutz“ der Großindustrie, denn nur die Industrie und die Wehrmacht, so die gängige Meinung, konnten der Partei noch Paroli bieten Außerdem hatten die Wirtschaftsführer öffentlich gelobt, die Autonomie der Wissenschaft, insbesondere die heilige Kuh der Grundlagenforschung, nicht anzutasten Vielmehr stellten sie sogar große Geldmengen für ihre Förderung bereit. Die angewandte Forschung hatten sie ohnehin in der Hand: Die Forschungs-und Entwicklungsausgaben der Chemie-, Elektro-und Luftfahrtkonzerne übertrafen etwa den Etat der Deutschen Forschungsgemeinschaft um ein Vielfaches Vor diesem Hintergrund ist es kein Zufall, daß mit dem Sturz Starks als Präsident der Deutschen Forschungsgemeinschaft und seiner vergeblichen Bewerbung um die Präsidentschaft der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft das erste Signal eines Machtverfalls der „großdeutschen Physik“ aus genau jenem Jahr 1936 datiert, in dem der Industrie mit dem Vierjahresplan eine Schlüsselrolle im Zuge der nationalsozialistischen Kriegsvorbereitung zugewiesen wurde. Aus wirtschaftlicher Sicht war von nun an jede ideologische Behinderung wissenschaftlich-technischer Effektivität von Schaden, und mit dem Vorwurf der „Sabotage“ an kriegswirtschaftlichen Projekten konnten zunehmend alle politischen Ambitionen der Deutschphysiker blockiert werden
VI. Naturwissenschaft und Krieg
Das enge Bündnis von Naturwissenschaft und Wirtschaft bedeutete für die Wissenschaft indes nicht nur, gegenüber dem ideologischen Zugriff des Nationalsozialismus relativ geschützt zu sein. Mit der systematischen Ausrichtung der Industrie auf die nationalsozialistischen Kriegspläne beinhaltete es zugleich auch eine zunehmende Vereinnahmung der Wissenschaft für die Kriegsforschung. Das hat die betroffenen Naturwissenschaftler und Techniker allerdings offenbar nur wenig irritiert. Im Gegenteil: In der Kriegsforschung gab es immer noch die meisten Mittel und die größte Sicherheit vor politisch-administrativen Zugriffen. Hinzu kamen diverse persönliche Privilegien, die von (relativ!) angenehmen Arbeits-und Lebensbedingungen bis zur Freistellung vom Kriegsdienst bzw. Rückbeorderung von der Front reichten Schließlich vermittelte der „Kampf 1 an der „Heimatfront“ den Wissenschaftlern das ungewohnt-tragende Gefühl einer unmittelbaren gesellschaftlichen Bedeutsamkeit, von dem „großen Spaß“, den die militärtechnischen Tüfteleien und das damit verbundene „Erobern“ wissenschaftlichen Neulandes machten, ganz zu schweigen
Von daher wird verständlich, daß man die allmähliche Umfunktionierung der Natur-zur Kriegswissenschaft nicht etwa als notwendiges Übel, sondern als Chance für die Wissenschaft ansah, die es sogar rechtfertigte, alle wissenschaftliche Zurückhaltung fahren zu lassen und sich dem Militär regelrecht anzubiedern Schon kurz nach der „Machtergreifung“ knüpfte die Physik die ersten Beziehungen zu ihrem schon aus dem Ersten Weltkrieg vertrauten Waffenpartner, der Luftwaffe; in den Vorlesungen der Chemiker hatte von 1934 an die Kampfstoffchemie gebührende Berücksichtigung zu finden; an der TH Charlottenburg entstand eine Wehr-wissenschaftliche Fakultät mit naturwissenschaftlich-technischem Schwerpunkt; zwischen dem Heereswaffenamt und der Forschungsabteilung des Reichsministeriums für Erziehung, Wissenschaft und Volksbildung wurden personelle Verbindungen geknüpft, während zugleich die Hochschulabteilung desselben Ministeriums von einem Wehrphysiker übernommen wurde Äußerlich dokumentierte sich dieses zwar nicht neue, aber doch gründlich erneuerte Bündnis von Wissenschaft und Militär in der Berufung des Generals der Artillerie, Karl Becker, zum Präsi-denten des Reichsforschungsrates — derselbe Becker, der zuvor als ordentlicher Professor für Wehrtechnik und Mitglied der preußischen Akademie der Wissenschaften Dekan der Berliner Wehrwissenschaftlichen Fakultät und später Chef des Heereswaffenamtes war. Nachfolger des Deutschphysikers Johannes Stark in der Präsidentschaft der Forschungsgemeinschaft wurde der SS-Brigadeführer Rudolf Mentzel, der sich zuvor mit einer Arbeit über Wehrchemie habilitiert hatte.
Karl-Heinz Ludwig hat die zunehmende Verflechtung vor allem der technischen Wissenschaften, aber auch der Physik und Chemie mit dem rüstungswirtschaftlichen und militärischen Apparat bis ins Detail nachgezeichnet. So chaotisch dieser Prozeß im Widerstreit der bürokratischen und politischen Kräfte auch gelaufen sein mag, von wissenschaftlicher Seite aus gab es dabei jedenfalls keine nennenswerten Probleme und Widerstände, nicht selten war man sogar mit seinen Ideen und Plänen den technisch-organisatorischen Realisierungsmöglichkeiten weit voraus.
Das galt insbesondere auch für das in der Literatur wohl meistdiskutierte deutsche Rüstungsforschungsprojekt, den versuchten Bau einer deutschen Atombombe Hier war es das zweifelhafte Verdienst der Naturwissenschaftler, die der gerade erst entdeckten Kernspaltung innewohnenden Massenvernichtungsmöglichkeiten nicht nur sofort erkannt, sondern den eher konservativen Militärs in mehreren Anläufen auch geduldig auseinandergesetzt zu haben. Ähnlich wie in den USA mußten sich die Naturwissenschaftler die Möglichkeit, die Kern-als Kriegsphysik ausbauen zu dürfen, auch in Deutschland erst mühsam erkämpfen
Daß es dem deutschen Uranverein unter dem Deckmantel der Kriegswichtigkeit primär um die friedliche Verwendung der Kernenegie ging, wie das später gelegentlich behauptet worden ist läßt sich angesichts der vorliegenden Dokumente nur schwer halten. Auch daß man die Dinge bewußt in die Länge gezogen habe, um dem Nationalsozialismus nicht die Bombe in die Hand zu geben, dürfte eher eine nachträgliche Zweckbehauptung sein Die Situation war wohl vielmehr die: Nachdem der Theorieboom der zwanziger Jahre schon zu Beginn der dreißiger Jahre abgeflaut war und dann durch die massenhafte Emigration führender Theoretiker endgültig beendet schien, bot die Entdeckung der Kernspaltung durch Hahn und Meitner die unvermutete Chance eines neuen, kaum weniger rühm-und nobelpreisträchtigen Theorieschubs. Hier wollte jeder der erste sein, doch diesmal war die ausländische Konkurrenz den deutschen Physikern — nicht zuletzt infolge des wissenschaftlichen Kräftetransfers — durchaus gewachsen. In dieser Situation war jedes Mittel recht, um an Geld und Forschungseinrichtungen zu kommen. Da man mit der Kriegsforschung bislang noch kaum moralische Probleme gehabt hatte, mußte das Uran-projekt als einmalige Chance für die Mobilisierung der notwendigen Mittel und Kräfte erscheinen. Analoges dürfte im übrigen auch für das Atombombenprojekt der Amerikaner gelten, das indes ungleich besser als der deutsche Uranverein ausgestattet war. Wenn in'diesem Zusammenhang die Besorgnisse vor allem der emigrierten deutschen Atomwissenschaftler über die Möglichkeit einer nationalsozialistischen Atomwaffe als Auslöser für deren Einsatz für die US-Bombe angeführt werden, so dürfte das wohl für einen Albert Einstein, kaum aber für die treibende Physiker-mehrheit zutreffen, der es hüben wie drüben primär um die sich abzeichnende Chance der Etablierung eines historisch noch nicht dagewesenen „big Science“ ging. Und daß diese neue Art der organisierten Großforschung schließlich Erfolg hatte, war vielen Beteiligten selbst im Angesicht der Hiroshima-Katastrophe wichtiger als alles andere
Umgekehrt ist die Erfolglosigkeit der deutschen Mannschaft um Heisenberg wohl vor allem eine Folge ihrer wesentlich schlechteren Ausstattung und Arbeitsbedingungen und vielleicht auch, wie Alan Beyerchen vermutet, das Ergebnis unzureichender experimenteller und technisch-physikalischer Kompetenzen, deren Vernachlässigung durch die theoretisch orientierte deutsche Physik der zwanziger Jahre sich jetzt rächte. Unabhängig von Erfolg oder Mißerfolg macht das Uranprojekt indes besonders deutlich, was damit gemeint war, wenn unter deutschen Naturwissenschaftlern augenzwinkernd nicht mehr nur von der „Forschung im Dienst des Krieges“, sondern vom „Krieg im Dienst der Forschung“ die Rede war Mit einer spezifischen Mischung aus politischer Ignoranz und menschenverachtendem Ehrgeiz sah man in der nationalsozialistischen Hochrüstung vor allem „die goldene Gelegenheit ..selbst mitten im Krieg die Vorherrschaft auf dem Gebiet der reinen Wissenschaft wiederzugewinnen“
Dabei konnte die Kriegswichtigkeit der Forschung allerdings nicht nur Vorwand bleiben, wie es nachträglich von den Beteiligten gern suggeriert wird. Allein um immer wieder mit Erfolg die notwendigen finanziellen Mittel für die Forschungsarbeit locker zu machen, mußte man angesichts der knappen Kriegshaushalte schon auch sehr konkret verwertbare Ergebnisse vorzuweisen haben. Es habe sicherlich nicht an den deutschen Wissenschaftlern gelegen, wenn die deutsche der ausländischen Kriegstechnik letztendlich nicht gewachsen gewesen sein, resümierte denn auch Carl Ramsauer, Vorsitzender der Deutschen Physikalischen Gesellschaft, in verhaltenem Stolz die Erinnerung an den „restlosen Einsatz“ seiner Kollegen
Tatsächlich sahen sich die mit sinkenden Chancen auf den Endsieg immer wichtiger werdenden Wissenschaftler denn auch bald zu „Helden an der geistigen Front“ mystifiziert, von deren C-, U-, V-usw. Waffen man allein noch die Abwendung des drohenden Unterganges erwarten konnte. Nachdem Stalingrad die militärisch problematische Situation der deutschen Wehrmacht endgültig vor Augen geführt hatte, machte sich sogar Goebbels persönlich für die Wissenschaft stark.
„Erst als die hohen Führer erkannten, daß sie ohne die Wissenschaft den Krieg verlieren mußten, bemühte man sich, zwischen Partei und Wissenschaft Frieden zu schließen, und zwei Wochen vor dem berühmten Bittgebet des Propagandaministers in Heidelberg erschien in dem geheimen Anweisungsblatt seines Ministeriums die Verfügung , Die Wissenschaft ist bei jeder sich bietenden Gelegenheit zu loben*.“ Auch in einer Aktennotiz des Amtes Rosenberg war von der Gewährleistung der „Freiheit der Wissenschaft“ die Rede, während zugleich jenen „schwächeren Kräften“, die sich „mit der Autorität des Nationalsozialismus bekleidet“ und „wertvollere Kräfte“ beeinträchtigt hätten (hiermit waren die Deutschphysiker gemeint), eine offene Absage erteilt wurde
Diese späte Wende in der nationalsozialistischen Wissenschaftspolitik ist zweifellos kaum das Ergebnis höherer Einsicht, als vielmehr allein eine Folge der kriegerischen Potenzen von Naturwissenschaft und Technik. Daß sich angesichts der drohenden Niederlage allerdings gerade die propagandistischen und ideologischen Führungsspitzen des Regimes so vehement für die Wissenschaft stark machten, ist womöglich kein Zufall. Folgt man der in diesem Punkte besonders detaillierten Analyse Ludwigs, so gründeten die weit-verbreiteten Wunderwaffenhoffnungen der „Endsieg“ -Agonie lediglich auf einem geschickt geführten (und z. T. bis heute wirksamen) Mythos, dem die realen Möglichkeiten der naturwissenschaftlich-technischen Rüstungsforschung im Chaos der letzten Kriegsjahre auch nicht im entferntesten entsprachen. Ihre unvermittelte Rehabilitation dürften die Naturwissenschaftler daher nicht nur ihrem tatsächlichen Einsatz an der „Forschungsfront“, sondern auch ihren ideologisch-propagandistischen Untermauerungspotenzen für die Durchhalteparolen des NS-Regimes verdanken. Ludwig kommt in diesem Zusammenhang zu dem Schluß: „ 1944/45 verlängerten die politischen Machthaber ihre Überlebenszeit nicht zuletzt dadurch, daß sie der Bevölkerung (und vielleicht sogar sich selbst, R. B.) die Existenz einer Trumpfkarte der Technik vorgaukelten“; im Rahmen dieser „Täuschungsmaßnahmen erhielt auch die wissenschaftliche Forschung eine letzte regimestabilisierende Funktion“ -So war es denn auch der Propagandaminister der zu einer Zeit, als wegen Materialmangels die meisten wissenschaftlichen Zeitschriften (wie u. a. auch die Blätter der „Deutschen“ Naturwissenschaftler) eingestellt werden mußten, den Fach-physikern durch Abtretung der notwendigen Papierkontingente die Herausgabe eines neuen Selbstverständnisorgans, der „Physikalischen Blätter“, ermöglichte In offenkundiger Distanz zur nationalsozialistischen Ideologie bereiteten sich hier die Physiker von 1944 an auf die potentiellen Nachkriegsaufgaben ihrer Wissenschaft vor — so als könne man angesichts von zwölf Jahren Nationalsozialismus, sechs Jahren Krieg und Abermillionen, nicht zuletzt unter Zuhilfenahme wissenschaftlich-technischen Erfindungsreichtums, hingeschlachteter Opfer einfach wieder zur Tagesordnung übergehen. Gewiß, vordergründig hatten sich die Naturwissenschaftler nicht die Finger schmutzig gemacht, weder in der Ideologie, noch bei der „Endlösung“, noch auf dem Schlachtfeld; „aber was heißt es wirklich, wenn man mit dem deutschen Faschismus politisch nichts im Sinn hat, wirtschaftlich und militärisch aber keinen Dissens verspürt?“
VII. Resümee
Als dann schließlich das Scherbengericht über Deutschland hereinbrach und auch die Wissenschaft nicht verschonte, verstand man dort die Welt nicht mehr. Vor allem der von alliierter Seite erhobene Vorwurf, daß die deutschen Wissenschaftler mit ihrem kriegsforscherischen Engagement nicht einfach nur partiotisch gehandelt, sondern „in ihrer Gesamtheit für Himmler und Auschwitz gearbeitet“ hätten, wurde als „ungeheuerlich“ empfunden Doch der Stachel saß. Nachdem während zweier Weltkriege sich kaum jemand genötigt sah, auf die ethische oder gar politische Problematik der Kriegsforschung nennenswerte Gedanken zu verschwenden, war man auf einmal heftig bemüht, den zuvor so engagiert und erfolgreich geführten Nachweis der eigenen Kriegswichtigkeit — noch 1944 war eigens zu diesem Thema ein komplettes Themenheft der Physikalischen Blätter erschienen — nunmehr als bloßes taktisches bzw. erzwungenes Manöver herunterzuspielen. Dabei scheute man sich nicht, z. T. genau jene Argumentationsmuster (wie z. B.den Verweis auf die ausländische Konkurrenz, den Sabotagevorwurf oder das Eintreten für die Rückberufung junger Wissenschaftler von der Front) zu seinen eigenen Gunsten zu wenden, mit denen man noch kurz zuvor die Kriegswichtigkeit der naturwissenschaftlich-technischen Forschungsförderung herausgestrichen hatte
Auf der subjektiven Ebene wird man derlei zweifelhaften Entlastungsversuchen vielleicht noch nicht einmal eine gewisse Glaubhaftigkeit absprechen können. Aber wie sehr man sich in derlei Situationen auch immer auf die angebliche Wertfreiheit der Wissenschaften zu berufen pflegt — selbst die „exakten“ Wissenschaften stehen nun einmal nicht außerhalb von Geschichte und Gesellschaft. Und sollen die Wissenschaftler nicht zu jenem „Geschlecht dienstbarer Zwerge“ verkümmern, als welches Bertolt Brecht sie in seinem „Leben des Galilei“ — nicht zuletzt in Erfahrung der Weltkriege — apostrophiert hat, dann müssen sie sich der Frage nach dem „warum“ und „für wen“ und im Zweifelsfall auch nach dem „ob überhaupt“ in jeder historischen Situation neu stellen.
Für wen aber, wenn nicht für die tragenden Kräfte des nationalsozialistischen Regimes, waren die Naturwissenschaften des Dritten Reiches wichtig? Daß das vorgebliche „Wohl des Volks-ganzen“ vor allem das Wohl der Mächtigen im Dritten Reich war, daß der Nationalsozialismus ohne die Unterstützung von Militär, Wirtschaft und Wissenschaft von Anfang an nicht überlebensfähig gewesen wäre, daß man de facto als Waffenschmied einer Angriffsarmee tätig war, daß man mit seinen „Wunderwaffen“ nur die Verlängerung des Krieges gerechtfertigt und seine Opfer vermehrt hat und daß dieser Krieg nun absolut nichts mit dem Wohl des Volkes zu tun gehabt hat — das alles war selbst für einen politischen Laien schon damals zu erkennen. Man mußte schon alle Register der Verdrängung ziehen, um in einem von Anfang an auf den Krieg zusteuernden System die Kriegsforschung für einen gangbaren, ja ehrenhaften Ausweg aus der Gefahr der Verstrickung in den Nationalsozialismus zu begreifen.
Indem man das Gespenst der „Deutschen Physik“ mit der Formel von der Kriegswichtigkeit der Wissenschaft (erfolgreich) zu bannen versuchte, trieb man doch nur den Teufel mit dem Beelzebub aus. Denn ohne die faktische Kollaboration der Wissenschaft mit der faschistischen Rüstungs-und Kriegsmaschinerie, ohne ihr heimliches Komplizentum mit dem großdeutschen Expansionismus wäre die Katastrophe vielleicht früher und mit weniger Blutvergießen (nicht zuletzt auch des eigenen Volkes) zu Ende gegangen, ja vielleicht mangels Rohstoffautarkie gar nicht erst in ihr kriegerisches Stadium getreten. Das soll nun nicht heißen, daß die Naturwissenschaftler für alles Elend von Faschismus und Krieg verantwortlich gemacht werden können; doch sie haben faktisch (und zum Schluß auch ideologisch) zweifellos ein gerütteltes Maß dazu beigetragen. , Die Flucht hinter den Rücken zweifelhafter Bündnispartner mit dem Ziel, die materielle Existenz und ideologische Unschuld der Wissenschaft zu bewahren, entlastet keineswegs von politischer Verantwortung, sondern ist bestenfalls eine Flucht von einer Ideologie in eine andere. Dabei hat die Ideologie von der unpolitischen, wertfreien und allein dem Gemeinwohl verpflichteten Wissenschaft de facto die Funktion, sich stets mit denen verbünden zu können, die — egal in welcher Absicht — den Fortschritt und die Autonomie der Wissenschaft zu garantieren versprechen. Auf diese Weise sind Naturwissenschaft und Technik über Jahrhunderte hinweg auf der Seite der je Mächtigen immer größer und bedeutsamer geworden. Daß indes so manches Quentchen des so erkauften Fortschritts mit einem Scheffel Kollaboration bezahlt worden ist und sich die Wissenschaft vielleicht nicht zuletzt deshalb immer mehr von einem Segen zu einem Fluch verwandelt hat, sollte gerade zu einer Zeit zu denken geben, in der wieder einmal militärische Superprojekte den Naturwissenschaftlern goldene Berge versprechen.