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Zwischen oder auf den Tankern? | APuZ 11/1986 | bpb.de

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APuZ 11/1986 Zwischen oder auf den Tankern? Die Mandatsträger der GRÜNEN Wahlkampf in den achtziger Jahren

Zwischen oder auf den Tankern?

Thomas Schmid

/ 36 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Vor zwei Jahren noch überaus erfolgreich, laufen DIE GRÜNEN heute Gefahr, aus der politischen Landschaft der Bundesrepublik zu verschwinden. Dies liegt darin begründet, daß sie auf eine veränderte gesellschaftliche und politische Situation weiterhin mit traditionellen Antworten reagieren. Mit den GRÜNEN ist ein über dreißigjähriger Protest in der Bundesrepublik sozusagen „politikfähig' geworden: Er ist nicht mehr Bittsteller, sondern potentiell gleichberechtigter Teil des politischen Systems. Das aber würde den Übergang von der Anklage-und Protestpartei, die nicht unwesentlich von der drohenden Apokalypse lebt, zur Reformpartei erfordern. Bis heute tun sich DIE GRÜNEN schwer mit diesem Schritt. Noch immer sind sie in die Debatte um , Reform oder Revolution? 1 und mithin ins 19. Jahrhundert und ins sozialdemokratische Paradigma verstrickt. Die aktive Mitgliederschaft der GRÜNEN besteht zu einem beträchtlichen Teil aus . Abkömmlichen' (Max Weber): Damit bildet die Partei die Realität der Gesellschaft nur sehr verzerrt ab. Basisdemokratie funktioniert nicht selten ganz anders als ursprünglich geplant: Sie macht die Partei nicht nach unten, zur Gesellschaft hin durchlässig, sondern arbeitet als Gremiendemokratie, die nach außen hin abgeschottet ist. DIE GRÜNEN sind dennoch die Partei des Wertewandels, der ein widersprüchliches Ganzes darstellt: Alte Werte mischen sich mit neuen. Sie neigen in diesem Konflikt derzeit allerdings eher dazu, die alten Werte zu favorisieren. So finden sie sich in der Regel am linken Rand der SPD wieder — Reformpolitiker und Fundamentalisten. Einiges spricht indessen für die These, daß DIE GRÜNEN in Zukunft nur dann eine Chance haben, wenn sie vom Ende des sozialdemokratischen Jahrhunderts ausgehen und eine Politik der Entstaatlichung entwerfen: Es wäre dies das listige Manövrieren zwischen den Tankern.

Ein knappes Jahr vor der Bundestagswahl 1987 ist es trotz ihres erfolgreichen Abschneidens bei den Kommunalwahlen in Schleswig-Holstein fraglich, ob DIE GRÜNEN bei dieser die Fünf-Prozent-Hürde nehmen werden. Dabei schienen ihnen vor noch nicht zwei Jahren die Wählerstimmen nur so zuzufliegen; (fast) jede Landtags-oder Kommunalwahl brachte ihnen Zugewinne. Die programmatische Unschärfe der GRÜNEN, das Nebeneinander kaum miteinander vereinbarer Positionen, die damals schon in aller Härte und oft auch Unbarmherzigkeit ausgetragenen Flügelkämpfe sowie unkonventionelle, unprofessionelle und wenig auf Spielregeln bedachte Form von Politik — all das schien ihrem kometenhaften (und auch in den eigenen Reihen unerwarteten) Aufstieg keinen Abbruch zu tun. Im Gegenteil. Es schien — gerade weil es so ganz anders war als alles, was in dieser Republik bisher für Politik gegolten hatte — ein wesentlicher Quell grüner Erfolge zu sein. Überspitzt gesagt, DIE GRÜNEN konnten tun und lassen, was sie wollten — sie wurden von zunehmend mehr Wählern einfach deswegen gewählt, weil es sie gab. Es wäre damals schwer zu entscheiden gewesen, ob die Wähler dieser Partei vielfältige Verdrossenheit und vielfältigen Protest zum Ausdruck bringen wollten oder ob sie ein neues politisches Ziel, eine positive Vorstellung von einer veränderten Republik im Auge hatten.

DIE GRÜNEN haben sich — trotz der Koalition in Hessen — in der Zwischenzeit nur wenig geändert, sie haben weiterhin auf das alte Erfolgsrezept gesetzt und müssen nun zur Kenntnis nehmen, daß es nicht mehr so recht verfängt. Was also hat sich verändert? Die hier vertretene These lautet: Den GRÜNEN ist es bisher nicht gelungen, Antworten auf veränderte Wählererwartungen und auf eine veränderte politische und gesellschaftliche Situation zu finden; und sie lautet weiter: Das ist ihnen deswegen nicht gelungen, weil sie ihre unkonventionelle und neue politische Zielrichtung (so rudimentär sie auch nur sichtbar war) aufgegeben und sich statt dessen traditionellen politischen Frontstellungen zugeordnet haben. Wir befinden uns am Anfang eines tiefgreifenden gesellschaftlichen Umbruchprozesses: am Ende des sozialdemokratischen Jahrhunderts. Dieser Prozeß wird in absehbarer Zeit auch zu einer grundlegenden Veränderung der politischen Landschaft und der politischen Kräfte führen. Noch sieht es so aus, als würden sich DIE GRÜNEN gegen diese Entwicklung stemmen. Eine Chance werden sie aber nur dann haben, wenn sie in ihr operieren, wenn sie versuchen, die Kräfte und die Wünsche zu entschlüsseln, die in diesem Umbruchprozeß wirksam sind, und aus ihnen die Umrisse eines neuen gesellschaftspolitischen Wurfs entwickeln: keine Utopie, kein nebulöses Fernziel, sondern eine Vision von mittlerer Reichweite, ein Ensemble ebenso stimmiger wie revisionsfähiger politischer Vorschläge.

Abweichung und Normalität

Oft — und in der Regel von Vertretern der schon etablierten Parteien — ist es den GRÜNEN vorgeworfen worden, sie seien eigentlich gar keine Partei, da sie keine Gesamtkonzeption besäßen. Vielmehr seien sie eine klassische Ein-Punkt-Bewegung, die ihre — vorläufige — Stärke daraus ziehe, daß sie ein einfaches Weltbild anzubieten habe: die Umwelt-und Ökologiefrage als der Angelpunkt notwendiger gesellschaftlicher Veränderung. Zu Recht, so wird argumentiert, hätten DIE GRÜNEN auf die umweltpolitischen Versäumnisse der anderen Parteien hingewiesen. Darin aber erschöpften sich ihre Verdienste auch schon. Ein einziges Thema sei eben nicht ausreichend, um einer politischen Partei auf Dauer das Existenzrecht zu verleihen.

Es stimmt sicher, daß den GRÜNEN bis heute eine kohärente Programmatik fehlt. Dennoch ist die Einschätzung falsch, bei dieser Partei handle es sich um eine Ein-Punkt-Bewegung, die nur vorübergehend und gewissermaßen widerwillig die Form einer Partei angenommen habe. DIE GRÜNEN sind vielmehr das keineswegs zufällige Produkt der politischen und gesellschaftlichen Entwicklung dieser Republik — einer Ent3 Wicklung, in der die Sphäre der Politik weithin nach „unten“ hin hermetisch abgeriegelt war.

Die Demokratie in der Bundesrepublik ist bekanntlich nur zum kleinsten Teil eine erkämpfte, in erster Linie ist sie ein Geschenk der westlichen Siegermächte. Nach den furchtbaren Erfahrungen des Dritten Reichs — an dessen Anfang u. a. ja auch eine „Bewegung“ gestanden hatte — gab es wenig Grund für die Annahme, die deutsche Bevölkerung sei zu Demokratie und dem Wagnis der offenen Gesellschaft fähig. Verständlicherweise überwog das Mißtrauen gegenüber der Bevölkerung. Allen Werbeversuchen für die Idee der Demokratie zum Trotz ging dieses Mißtrauen konstitutiv in das politische System der Bundesrepublik ein. Demokratie kann grundsätzlich zum einen restriktiv, zum anderen emphatisch verstanden werden: Im einen Fall wird sie als ein für alle Mal feststehendes Regelsystem, im anderen als ein Experiment, als ein offener Prozeß begriffen, der nie zu einem Abschluß kommen kann.

Die Bundesrepublik entschied sich bekanntlich für den ersten Weg — teils aus berechtigter Furcht vor den antidemokratischen Potentialen, die in der Bevölkerung noch schlummern mußten, teils aber auch deswegen, weil die Siegermächte und Teile der Führungselite der entstehenden Bundesrepublik an einem demokratischen Prozeß im emphatischen Sinne wenig interessiert waren. So gab und gibt es zwar nach Beendigung des Zweiten Weltkrieges im westlichen Deutschland eine Demokratie; diese funktionierte aber zunächst gewissermaßen als Wagen-burg, sie igelte sich in der Gesellschaft ein. Und die politischen Parteien neigten schon bald dazu, im Begehren nach demokratischer Partizipation eher eine Gefahr denn eine Chance zu sehen.

Demokratie blieb weithin eine Sache der politischen Apparate und Parteien; es war eine formelle Demokratie, die nur wenig in die gesamte Gesellschaft ausstrahlte. Demokratie beinhaltet hingegen nicht nur freie Wahlen und demokratisch legitimierte Regierungen; Demokratie meint auch eine Vielfalt von Partizipationsformen der Bürger. Diese Formen aber, die den Unterbau jeder lebendigen Demokratie darstellen, wurden in der Geschichte der Bundesrepublik lange Zeit kaum gefördert.

Ein verbreitetes Vorurteil lautet nun, diesen Wunsch nach Partizipation habe es — zumindest anfangs — in der Bundesrepublik gar nicht gegeben. Als Erklärung wird auf ein weit verbreitetes Argumentationsmuster verwiesen, nach dem die Erfahrung des Dritten Reiches eine massenhafte Abkehr vom Politischen bewirkt habe; die Menschen hätten sich — auch um zu vergessen — in die Arbeit des Wiederaufbaus gestürzt. Das ist sicher nicht ganz falsch, aber nur ein Teil der Wahrheit. Wer so argumentiert, verkennt nämlich den insgeheimen politischen Gehalt der berühmten „Ohne-mich-Haltung", die nicht erst im Jahre 1945 zum Tragen kam Diese Haltung war von einer Indifferenz und Abneigung gegenüber der großen Politik geprägt und zielte um so mehr auf Eigenverantwortlichkeit und Eigenregie im Kleinen. Es ging ihr darum, politikfreie Räume zu erorbern und zu besetzen, großsprecherisch ausgedrückt: im Windschatten der großen Politik Autonomie zu gewinnen. Darin war auch der Wunsch enthalten, die eigenen Geschicke selbst in die Hand zu nehmen. So wenig dieser Impuls auch an den klassischen Vorstellungen vom demokratischen Gemeinwesen orientiert war, er enthielt doch — gewissermaßen auf unterster Ebene — ein genuin demokratisches Element, er war bürger-initiativ. Sein Wirken blieb beträchtliche Zeit verborgen, weil er mit den herkömmlichen Methoden nicht meßbar war.

Doch bereits in den fünfziger Jahren differenzierte sich dieser Impuls aus, nahm sich größerer Themen an und trat in offenkundig politischer Weise auf den Plan. Als Beispiele können etwa die Bewegungen gegen die Wiederaufrüstung der Bundesrepublik und gegen die atomare Bewaffnung der Bundeswehr dienen. Diese und andere Bewegungen sind zwar als im klassischen Sinne politische zu sehen, stellen sie doch Einmischungen in die große Politik dar. Auch hier aber lassen sich noch bedeutsame Reste der „Ohne-michHaltung“ ausmachen: eine neutralistische, gegen beide Blöcke gerichtete Haltung prägte sie. Ebenfalls ist hier wieder der Wunsch zu erkennen, aus den Schicksalen der Weltpolitik auszusteigen und Freiräume jenseits der Blockkonfrontation zu erobern. In der weiteren Entwicklung der Bundesrepublik ist dieses Protestpotential nie verschwunden, im Gegenteil, es ist — über Ostermarsch, Studenten-bewegung und die Blüte der Bürgerinitiativen in den siebziger Jahren — stets größer geworden. Und noch an den Bürgerinitiativen ist zu beobachten, daß die Präferenz für das Kleine, den überschaubaren Bereich, den man selber gestalten möchte, überlebt hat: Das „Sankt-FloriansPrinzip“, das den Bürgerinitiativen oft vorgehalten wurde, zeigt, daß es in der Bundesrepublik eine solide Basis für eine Politik der Partizipation und Selbsthilfe auf unterer Ebene, für eine neue Kirchturmspolitik gibt. Es soll nicht bestritten werden, daß die vielfältigen Protestbewegungen, die die Geschichte der Bundesrepublik begleitet haben, Beträchtliches bewirkt haben. Es ist aber sicher, daß ihnen nie der Sprung in die offizielle Politik gelungen ist (ein Sprung, wohlgemerkt, den sie lange Zeit auch nicht anstrebten!). Sie galten als Störenfriede, als Gefahr für die gerade erst einigermaßen konsolidierte parlamentarische Ordnung, und mußten vor der Tür bleiben. In der Tendenz wurde ihnen das Existenzrecht abgesprochen. Während hier — wie unklar auch immer — auf Partizipation gedrängt wurde, reagierte das politische System der Bundesrepublik mit Abschottung. Weiterhin wurde Demokratie eher als die Herrschaft gewählter Eliten begriffen, scheute man sich, das System der formellen, auf dem Prinzip der Delegation beruhenden, Demokratie in Richtung Teilhabe zu öffnen. Das Paradoxe ist nun, daß mit dieser Strategie das genaue Gegenteil des Gewünschten erreicht wurde: Der Protest wurde nicht schwächer, sondern stärker. Weil seine Anfragen an das politische System und die Parteien unbeantwortet blieben, beschritt er selber — und ohne recht zu wissen, was er da tat — den Weg der Parteibildung.

DIE GRÜNEN sind demzufolge das Produkt über dreißigjähriger Protestbewegungen in der Bundesrepublik. In gewisser Weise ist mit ihrem Auftreten die Frühgeschichte dieser Republik zu

Ende. Das Monopol abgeschotteter Parteien auf Politik ist gebrochen. Kurt Biedenkopf hat dies einmal sehr treffend formuliert und festgestellt, mit dem Einzug der GRÜNEN in die Parlamente habe nun auch die Bundesrepublik den Normalzustand demokratisch verfaßter Gesellschaften erreicht. Abweichung, Dissens und ein Bedürfnis nach grundlegender Veränderung haben also heute ihren exotischen und ungewöhnlichen Charakter verloren, sie sind zum — im Prinzip — gleichberechtigten Teil des politischen Systems geworden.

DIE GRÜNEN gerieten damit jedoch schon in der Stunde ihres Entstehens in einen tiefgreifenden Konflikt, den sie bis heute nicht selbstbewußt bewältigt haben und der der wahre Grund für ihre gegenwärtige Krise ist. Auf eine Formel gebracht heißt dies: Sie wollten unbedingt Partei werden und doch — zugleich — ebenso unbedingt lose Assoziation bleiben. Überspitzt gesagt waren DIE GRÜNEN nie auf der Höhe ihrer Gründungstat, sie haben ihre Gründungsmythen niemals aufgegeben. Gewissermaßen haben sie es also bis heute noch nicht verkraftet, daß es ihnen tatsächlich gelungen ist, die Aufnahme in die Familie der in Parlamenten vertretenen Parteien zu erzwingen. Nach wie vor stigmatisieren sie sich selber: Sie tun so, als wären sie noch immer ausgeschlossen. Am liebsten möchten sie drinnen und draußen zugleich sein.

Protest-oder Reformpartei?

DIE GRÜNEN haben, mit anderen Worten, den Schritt von der Protest-zur Reformpartei noch nicht getan; noch immer hat sich diese Partei nicht entschieden, ob sie das System verbessern oder bekämpfen möchte. Das hat vor allem zwei Gründe.

1. Das Wort „Reform“ hat im Umfeld der GRÜNEN einen außerordentlich schlechten Beiklang. Dies gründet darauf, daß es lange Zeit so aussah, als sei Reformpolitik gleichbedeutend mit sozialdemokratischer Politik. Hier wird eine nun schon hundertjährige gesellschaftspolitische Last deutlich: Nach wie vor gelten die kleinen Schritte als unerheblich, als an der Grenze des Verrats angesiedelt. In verbreiteter grüner Optik ist die Reform nichts anderes als der klägliche Ersatz für die eigentlich notwendige große Veränderung; Reform klingt nach Kapitulation vor den Verhältnissen, nach Anpassung und Aufgabe des Ziels. Unvergessen ist der Prozeß, den die Sozialdemokratie seit den achtziger Jahren des letzten Jahrhunderts durchlief: Lange noch hielt sie in Rhetorik und Sonntagsreden die revolutionäre, systemsprengende Geste aufrecht — und hatte sich doch schon längst für den Kampf um die Teilhabe am System entschieden.

Obgleich kaum jemand bei den GRÜNEN heute Reformen noch in Bausch und Bogen ablehnt, haftet diesen doch immer noch der Makel der zweiten Wahl an. Reformen sind bei den GRÜNEN nicht positiv besetzt; noch der entschiedenste Reformpolitiker bei ihnen neigt in der Regel dazu, sein Plädoyer mit Entschuldigungen und Einschränkungen zu schmücken. Hier wird sichtbar, wie wirksam auch heute noch das sozialdemokratisch-sozialistische Paradigma ist: Unter diesem Druck — der ja auch ganz real existiert — ist es den GRÜNEN bislang noch nicht gelungen, eine reformpolitische Debatte zu eröffnen, die Rosa Luxemburgs Alternative „Reform oder Revolution?“ hinter sich läßt. Obwohl vieles dafür spricht, daß sich das sozialdemokratische Jahrhundert seinem Ende zuneigt, fällt es selbst den GRÜNEN — die qua Existenz ein Indikator dieses nahenden Endes sind — ungeheuer schwer, sich vom Bann der sozialdemokratischen Logik zu befreien. Darauf wird weiter unten zurückzukommen sein.

Die Zusammensetzung der GRÜNEN erleichterte es dieser Partei nicht gerade, die nun gebotenen Chancen offensiv zu nutzen und von der Protest-und Anklagephase in die der programmatischen Konsolidierung zu treten. Die grüne Partei war von Beginn an eine Assoziation unterschiedlichster Interessen und Gruppen; gerade das machte ihre Stärke aus. Es war die Leistung der grünen Partei, derart Vielfältiges unter einem Dach zu versammeln. Andererseits gelang es ihr aber nicht, einen Entwicklungsprozeß zu organisieren, an dem alle Gruppen beteiligt sind und der das Gemeinsame dieser Grupen herausgearbeitet hätte. Grund dafür ist auch eine strukturelle politische Schwäche vieler dieser Gruppen:

Fest in der Tradition der politischen „Ohnemich-Haltung“ stehend, lag ihnen sehr wenig an dem großen Unternehmen einer bundesweiten Partei; sie begrüßten diese zwar, mischten sich aber kaum ein. So war es dann nicht weiter erstaunlich, daß es gewieften und im Metier erfahrenen Parteitaktikern nicht schwerfiel, die Partei organisatorisch und programmatisch vor allem nach ihren Vorstellungen zu prägen. Obwohl DIE GRÜNEN qua Existenz der Beweis dafür waren, daß demokratische Einflußnahme in dieser Gesellschaft möglich, daß sie partizipatorisch zu öffnen ist und andere ordnungspolitische Schwerpunkte — im Prinzip — durchsetzbar sind, ging ein Großteil des Führungspersonals der Partei von ganz anderen Einschätzungen aus: Man schätzte die bestehende Demokratie eher gering ein, hielt sie eher für eine Veranstaltung zur Verschleierung der wirklichen Machtverhältnisse und wollte damit lieber nichts zu tun haben.

Diese Haltung wurde im wesentlichen von zwei Gruppen vertreten, die ansonsten wenig miteinander gemein haben: den fundamentalistischen, eher aus dem traditionellen bürgerlichen Lager kommenden Radikalökologen und den nicht minder fundamentalistischen, ebenfalls aus dem Bürgertum kommenden Erben der kommunistischen Sekten aus den frühen siebziger Jahren. Die Radikalökologen hatten nicht selten ein gebrochenes Verhältnis zu der Idee von Demokratie und offener Gesellschaft; die Ökologie ist ihnen eine normative Leitwissenschaft, aus der die Regeln des richtigen Verhaltens zwingend ableitbar sind; mit ihrer Vorstellung von Naturalisierung der Politik neigen sie dazu, die Ökologie über die Demokratie zu stellen 2). Hier sei nur an einige Äußerungen von Herbert Gruhl, damals führendes Mitglied der GRÜNEN, erinnert, der die These vertrat, daß in bestimmten ökologischen Gefahren-oder Notstandssituationen die demokratische Verfassung temporär außer Kraft zu setzen sei. In diesen Kreisen mischte sich die sanfte Rede von der Rückkehr in die Kreisläufe der Natur mit dem Ruf nach der starken ökologischen Hand; Geduld war nicht sonderlich gefragt, die drohende ökologische Katastrophe erfordere vielmehr endzeitliches Handeln: Der Apokalypse komme man mit kleinen Schritten nicht bei.

Diese Gruppierung wurde zwar schon bald aus den Führungsgremien der Partei verdrängt, die Rhetorik der Apokalypse blieb aber fester Bestandteil im Repertoire der GRÜNEN. Noch Ende 1984 trafen sich beide Flügel zu einer brüchigen Zweckkoalition gegen den stärker werdenden reformpolitischen Flügel: Rudolf Bahro, damals noch Mitglied der Partei und Exponent des radikalökologischen Flügels, und Rainer Trampert, Sprecher des Bundesvorstands und Exponent des ökosozialistischen Flügels, formulierten einen gemeinsamen Antrag, der eine Absage der Partei an Reformpolitik enthielt

Von nachhaltigerem Einfluß war der ökosozialistische Flügel. Er rekrutierte sich nicht unwesentlich aus der Konkursmasse der Ende der siebziger Jahre in Auflösung begriffenen K-Sekten.

Das Paradoxe daran ist, daß ohne die unzweifelhaft großen organisatorischen und parteitaktischen Fähigkeiten dieses Flügels die grüne Partei wahrscheinlich niemals zu einem einigermaßen gefestigten Gebilde geworden wäre. Es geht hier nicht um Entlarvung — die GRÜNEN sind nicht unterwandert worden! Wohl aber ist es dem ökosozialistischen Flügel gelungen, in der Partei DIE GRÜNEN einen über seine reale Bedeutung weit hinausreichenden Einfluß zu gewinnen.

Sieht man von den Radikalökologen und den Ökosozialisten ab, dann haben sich in den GRÜNEN vor allem diejenigen gesammelt, die von den verschiedensten Protesterfahrungen geprägt und nun an einer neuartigen politischen Offensive interessiert waren. Sie hatten nicht nur erfahren müssen, daß die alten politischen Mittel (z. B. Demonstrationen) auf Dauer von nur begrenzter Wirkung sind — sie haben auch (und das ist weit wichtiger) erfahren müssen, daß die alten politischen Koordinaten zur Wahrnehmung der Welt, etwa das Rechts-links-Schema, an Gültigkeit verloren haben. Ein Großteil der grünen Wähler kommt ohne Zweifel aus der linken Tradition, ist aber auch von der nachhaltigen Erfahrung geprägt, daß das linke politische Instrumentarium für eine Politik wenig brauchbar ist, die sich qualitativ von sozialdemokratischer Politik unterscheiden soll. Diese Suche nach neuen Ufern fand nun in der grünen Partei nur verhältnismäßig geringen Ausdruck, sie wurde an den Rand gedrängt. Statt dessen beherrschen Strategien und Ideale von gestern das Feld.

Dies soll im folgenden an drei Punkten erläutert werden: an der Frage der Demokratie, an der der Reformpolitik und an der der Wirtschaftspolitik.

Demokratie In der radikalen sozialistischen Tradition war die Demokratie in der Regel ein Wert von zweitrangiger, abgeleiteter Bedeutung. Schematisch formuliert heißt dies: Die Avantgarde begriff sich als Vollzugsorgan einer unaufhaltsamen geschichtlichen Tendenz, sie war mit einer Art höheren Einsicht ausgestattet. Das erlaubte ihr ein taktisches Verhältnis zur Demokratie. Reste dieser Haltung sind in den GRÜNEN noch lebendig. So ist hier z. B. die Meinung weit verbreitet, eine emanzipatorische Politik sei in der Bundesrepublik nur gegen die große Mehrheit der Bevölkerung durchsetzbar. Und auch in der Minderheitenfrage ist nicht entschieden, ob der Schutz von Minderheiten ein generelles Postulat ist oder nur für die jeweils genehmen Minderheiten gilt. Unentschlossen schwanken DIE GRÜNEN zwischen demokratischem Weg und Vorbehalten gegen ihn. Das Parlament ist ihnen ohne Zweifel wichtig, ein wenig argwöhnen sie aber immer noch, es könne vielleicht doch nur eine „Schwatzbude“ sein.

Reformpolitik Die GRÜNEN sind, wie bereits erwähnt, noch immer in die alte Debatte um Reform und Revolution verstrickt. Sie neigen dazu, das „System“ als ein kohärentes Ganzes zu sehen, das im Detail sinnvoll nicht zu verändern ist. Unterhalb der Systemschwelle scheint ihnen Politik im Verdacht des Verrats zu stehen. Auch hier spielt gestriges Denken eine beträchtliche Rolle: der Glaube, die Gesellschaft sei von einem grundlegenden Antagonismus geprägt und sinnvolle Veränderung nur möglich, wenn die Fesseln der gesellschaftlichen Verfassung gesprengt werden. So gesehen bemißt sich der Erfolg von Reformpolitik gerade nicht an ihrem konkreten Gehalt, sondern daran, inwiefern sie zur Lockerung dieser Fesseln beiträgt. Reformpolitik ist im Grunde genommen von zweitrangiger Bedeutung und muß sich stets die argwöhnische Frage gefallen lassen, ob sie letztlich nicht doch zur Perfektionierung eines eigentlich bekämpfenswerten Systems beitrage. Von Verdächtigungen dieser Art eingekreist, wird die reformpolitische Energie innerhalb der GRÜNEN daran gehindert, sich selbstbewußt zu entfalten.

Wirtschaftspolitik In der Wirtschaftspolitik ist das traditionssozialistische Erbe wohl am deutlichsten sichtbar. Obgleich die Frage „Markt oder Plan?“ historisch längst zugunsten des Marktes entschieden, obwohl längst klar ist, daß eine planwirtschaftlich verfaßte Gesellschaft keine freiheitliche sein kann, neigen DIE GRÜNEN in dieser Frage dazu, sich um die Entscheidung zu drücken. Zwar gibt es kaum noch jemanden in dieser Partei, der rundweg für ein planwirtschaftliches Modell eintreten würde; aber man sucht nach einem Mittelweg, auf dem möglichst viel an alter Weisheit bewahrt werden kann. „Neue Formen gesellschaftlichen Eigentums“, „marktwirtschaftliche Planwirtschaft“ und andere Ungetüme werden erörtert: Der alte Klassenantagonismus zwischen Kapital und Arbeit soll möglichst unbeschädigt in den neuen politischen Wurf hinübergerettet werden.

Damit aber ordnet man sich untergegangenen historischen Frontstellungen zu, statt gegenwärtige Konflikte der Wirtschaftspolitik zukunftsweisend zu thematisieren. Daß die Ökonomie heute einen anderen ordnungspolitischen Rahmen bräuchte, ist offensichtlich. DIE GRÜNEN aber versäumen es derzeit, in diese Debatte — in der eine Position jenseits der wirtschaftspolitischen Optionen der alten Parteien in der Tat ihren Platz hätte — einzugreifen.

Der verlorene archimedische Punkt

DIE GRÜNEN laufen also Gefahr, zu traditionellen Strategien Zuflucht zu nehmen. Das ist nicht ohne Ironie: Die Partei, die das Unkonventionelle geradezu im Firmenzeichen führt, greift auf konventionelle politische Visionen zurück.

Das liegt freilich nur in zweiter Linie an den Flügeln innerhalb der Partei, die diese Traditionalisierung betreiben. Vor allem liegt es daran, daß DIE GRÜNEN durch ihre jähen Wahlerfolge vor sehr große Anpassungs-und Umstellungs7 Probleme gestellt wurden. Zweierlei machte ihnen dabei besonders zu schaffen: der , Themen-raub* der anderen Parteien und die eigene organisatorische und Mitgliederstruktur.

Der , Themenraub* traf DIE GRÜNEN einigermaßen unvorbereitet. Während sie lange davon ausgegangen waren, Themen (vor allem das ökologische) exklusiv besetzt zu haben, holten die alten Parteien auf, gingen daran, den ökologischen Imperativ in — wie auch immer halbherzige — reale Reformschritte zu übersetzen. DIE GRÜNEN — unentschieden, ob sie solche Schritte nun wollen oder nicht — mußten sich ins Grundsätzliche zurückziehen, mußten sich also auf ein Gebiet zurückziehen, wo sie einst große Erfolge erzielt hatten. Nun aber waren die Zeiten und mit ihr der , Zeitgeist* weiter fortgeschritten, niemand bestritt mehr, daß es die ökologische Frage gibt und der Industrialismus aus dem Tritt geraten ist: Die richtigen Fragen waren nun nicht mehr ausreichend, es ging nun um ganz konkrete Antworten. Damit jedoch betritt man ein schwieriges Terrain (siehe die ersten Erfahrungen des hessischen Umweltministers Joschka Fischer). Mit Rundumschlägen ist es hier nicht getan.

DIE GRÜNEN sind bislang zu verzagt gewesen, sich auf eine solche Politik einzulassen, sie zogen sich ins Gehäuse des Prinzipiellen zurück, blieben Partei der Anklage und vor allem der Entlarvung. Sie konnten immer nur zeigen, daß alles, was die anderen Parteien Vorschlägen, unzureichend ist, beteiligten sich aber noch kaum offensiv an dem Diskurs über Alternativen, die konsequent und zugleich machbar sind. So manövrierten sie sich an den Rand des politischen Geschehens; man erwartete von ihnen immer weniger politische Vorschläge. Sie wurden eher zu einem Mahnmal: düster warnend, aber ohne Folgen.

Heute wird deutlich, daß DIE GRÜNEN es versäumt haben, sich auf ein recht umfassend verändertes politisches Szenario einzustellen. Der Hang zum Apokalyptischen, zur Endzeit, gehörte bei ihnen von Beginn an zur rhetorischen Grundausrüstung — und die Unerbittlichkeit, mit der in dieser Form argumentiert wurde (man denke nur an die Reden von Petra Kelly), trug sicher zu ihrem Erfolg bei. Der aber hatte recht präzise historische Gründe: In der Gründungszeit der GRÜNEN Ende der siebziger und Anfang der achtziger Jahre zeichnete sich ab, daß die Tage der sozialdemokratischen Regierung in Bonn gezählt sein, daß hier ein sozialdemokratisches Jahrzehnt zu Ende gehen würde. Ein diffuses Gefühl, , so könne es nicht weitergehen*, verstärkte sich. Diese verbreitete Unsicherheit begünstigte das temporäre Erstarken von Heilslehren, die klare Auswege aus einer Misere weisen, also den archimedischen Punkt einer Wende zum Besseren bezeichnen konnten. Zwei Themen waren hier besonders bestimmend: die Umweltfrage und die Friedenssicherung (und damals erst in zweiter Linie das Problem der wachsenden Arbeitslosigkeit). Das waren die Gebiete, auf denen DIE GRÜNEN Punkte sammelten, weil sie als erste radikale Alternativen formulierten: Primat von Umwelt-und Ökologiepolitik und Ausstieg aus der das Überleben aller bedrohenden Block-konfrontation. Der politische Fehler der GRÜNEN bestand in der Folge dann jedoch darin, daß sie mehr oder minder bei einer Politik stehengeblieben sind, die auf Katastrophenszenarios setzt. Dabei sind ihnen zwei ganz wichtige Entwicklungen entgangen: Weder die ökologische Katastrophe noch der Weltkrieg sind bisher eingetreten. Die derzeitige Bundesregierung hat es — allen Pannen und Ungereimtheiten zum Trotz — nicht schlecht verstanden, beide Themen zu entschärfen. Darin nun ist eigentlich etwas ganz Einfaches sichtbar geworden: Eine auf apokalyptischer Drohung basierende Politik hat auf Dauer nie eine Chance; Menschen wollen im Zweifelsfall lieber überleben als sich mit Haut und Haaren einer heroischen Wendeanstrengung zu widmen. Eine radikale Politik im Sinne der GRÜNEN kann daher nur erfolgreich sein, wenn sie diesen Sachverhalt nicht denunziert, sondern in Rechnung stellt, wenn sie in dem Wunsch nach Arrangements etwas Positives sieht und nicht ohnmächtig dagegen anrennt. Sie muß dabei in der Lage sein, den radikalen Impuls den Fährnissen alltäglicher Politik auszusetzen, d. h. sie muß politische Schritte von begrenzter Reichweite entwerfen.

Ein weiterer Grund für den Hang der GRÜNEN zum Traditionalismus besteht in ihrer organisatorischen und Mitgliederstruktur und — freilich weniger entscheidend — in der Zusammensetzung ihrer Wählerschaft. Organisations-und Mitgliederstruktur hängen eng miteinander zusammen. Es ist bekannt, daß DIE GRÜNEN wenig Versuche unternehmen, ihre Mitgliederzahl zu erhöhen. Dies liegt auch daran, daß sie — bei den gegebenen organisatorischen Strukturen — wohl schon ein Maximum an Mitgliedern haben. DIE GRÜNEN wollten eine andere Partei als die herkömmlichen sein, sie wollten Berufspolitikertum, verkrustete Strukturen und die Abschottung der Partei nach unten verhindern. All das ist mit dem berühmten Wort, Basisdemokratie* gemeint.

Wie aber funktioniert diese? Was ist das: Basis? In der Regel ist die Basis die Gesamtheit derer, die gerade anwesend sind. Indem man diese zum innerparteilichen Souverän erklärt, privilegiert man eindeutig diejenigen, deren Lebenssituation durch , Abkömmlichkeit (Max Weber) geprägt ist Mit Basis war ursprünglich jedoch etwas anderes gemeint: Im Gegensatz zu den etablierten Parteien sollten DIE GRÜNEN offenere, transparentere und durchlässigere Strukturen haben, sollten vor allem gegenüber ihrer breiten gesellschaftlichen Basis offen sein. Mitgliedschaft sollte kein Kriterium politischer Partizipation darstellen; die Partei war als eine Art Serviceunternehmen gedacht, dessen sich vielfältige gesellschaftliche Gruppen und einzelne bedienen können. Es sollte bei den GRÜNEN möglich sein, politisch folgenreich Einfluß zu nehmen, ohne dafür zum Berufspolitiker werden zu müssen. DIE GRÜNEN sollten ein Beitrag zur Öffnung der Parteienlandschaft nach unten hin sein — nach der Devise: soviel Partei wie nötig, so wenig Partei wie möglich. Das wäre in der Tat ein originärer Beitrag zur demokratischen Kultur der Bundesrepublik geworden.

Vorerst setzte sich jedoch ziemlich genau die entgegengesetzte Tendenz durch: Die Abkömmlichen beherrschen heute eindeutig die Gremien der Partei. Das heißt: Studenten und solche, die in ihrer beruflichen Tätigkeit nur das lästige, aber notwendige Geldverdienen sehen, haben bei den GRÜNEN weit bessere Chancen als alle anderen. In der Konsequenz führt dies zu einem gewissen Realitätsverlust innerhalb der Partei: Ihre Mitgliederstruktur bildet den Alltag nicht ab, , normale 4 Menschen müssen eher draußen bleiben. Die Gremien der grünen Partei, die in aller Regel nur einen winzigen Ausschnitt der gesellschaftlichen Realität repräsentieren, neigen gegenwärtig dazu, dieses Manko nicht durch Öffnung, sondern durch weitere Abschottung zu beantworten: Sie begreifen sich — auch hier sind die Traditionslinien sichtbar — als eine Art Avantgarde, die auf jeglichem Gebiet kompetent und jederzeit und sofort zu Entscheidungen befähigt ist.

So kam es nicht selten zu dem Gegenteil von dem, was mit Basisdemokratie gemeint war: Etablierung einer quasi-berufspolitischen Schicht, Abschottung nach außen und ein Nachlassen der Versuche, soziale und fachliche Kompetenz und Intelligenz anzuziehen. Die Gremien der Partei igelten sich vielmehr ein und taten das, wozu alle geschlossenen Kleingruppen neigen: Sie richteten sich vor allem nach innen. Claus Offe und Helmut Wiesenthal haben das so beschrieben: „Da breitet sich eine sterile Binnenradikalität aus, und Gesinnungsgemeinschaften lieber Menschen mißbrauchen die grüne Partei dazu, bloß noch die eigene Identität zu streicheln. Radikalität wird zur Gemütsdroge umfunktioniert, bei deren Benutzern eine ernste Absicht kaum mehr zu unterstellen ist. Man beschäftigt sich vornehmlich mit den beiden Gesellschaftsspielen , Wer sieht schwärzer? 4 und , Wer denkt am radikalsten? 4, ohne dabei den wachsenden Abstand wahrzunehmen, in den man zu potentiellen Adressaten und Unterstützern grüner Politik gerät. Der Selbstgenuß der eigenen Scheinradikalität ... betäubt offenbar den Sinn dafür, daß der Abstand zwischen den intern kultivierten Untergangs-und Katastrophenszenarios und der Ärmlichkeit der politischen Abhilfen, die man vorzuschlagen hat, inzwischen schlicht unseriöse Ausmaße angenommen hat.“

Noch immer wird bei den GRÜNEN häufig Moral mit Politik verwechselt: Der moralische Rigorismus, der gar nicht entschieden genug sein kann, weigert sich, sich an der Realität messen zu lassen. Dies hängt auch damit zusammen, daß DIE GRÜNEN ihren Gründungsmythos nie aufgegeben haben, daß sie nämlich Bewegung und Partei zugleich seien. Eine Chance können sie aber nur haben, wenn sie sich gegenüber dem Auf und Ab sozialer Bewegungen eine selbständige und dauerhafte Struktur geben. Auch hier haben DIE GRÜNEN eher das Gegenteil des Gewünschten erzielt: Den sozialen Bewegungen, die sich ganz offensichtlich in einer Krise befinden, sind sie kein hilfreicher Bezugspunkt, sie wollen ja mit ihnen identisch sein; und indem die selbständige Konsolidierung der Partei unterlassen wurde, machte man es den Kommunal-, Landtags-und vor allem der Bundestagsfraktion leicht, das Bild der GRÜNEN in der Öffentlichkeit zu prägen. Auch das ist nicht ohne Ironie: Indem man die Partei als geschlossenen Zirkel der Abkömmlichen organisierte, leistete man der Parlamentarisierung der GRÜNEN Vorschub. Während die Mitglieder der GRÜNEN nicht selten auf der rückwärtsgewandten Seite des grünen Projekts sitzen, gilt das für ihre Wähler kaum. Alle Erhebungen zeigen, daß die große Mehrzahl der grünen Wähler für Reformpolitik optiert; die Systemfrage steht hier in der Regel schlicht nicht mehr zur Debatte. Dennoch gilt auch hier die grüne Partei mehrheitlich als Linkspartei, die programmatisch in einiger Nähe zur SPD angesiedelt sei Obwohl die grünen Wähler zu realistischeren Einschätzungen neigen als die Gremien der Partei, stellen sie doch nicht ein qualitativ anderes Potential dar. Das hängt mit einem Paradox aus der Gründungsgeschichte der GRÜNEN zusammen, das heute noch prägend ist: Mit der ökologischen Frage setzten DIE GRÜNEN ein Thema auf die politische Tagesordnung, das traditionelle Fronten unterläuft und hinter sich läßt: Es entzieht sich überkommenen Zuordnungen in , rechts und , links. Und in der Logik der ökologischen Frage läge es gewiß auch, das unselige koloniale Verhältnis zwischen Stadt und Land, zwischen Metropole und Provinz anzugehen. Die Provinz war seit Beginn der industriellen Entwicklung stets das Opfer der großen Zentren gewesen — und konservative wie fortschrittliche Parteien waren sich faktisch darin immer einig, daß dieser Prozeß kräftig zu fördern sei. Die Provinz hatte nie eine wirksame politische Stimme.

Es hätte daher außerordentlich nahe gelegen, daß DIE GRÜNEN auch versuchen, sich zum Sprachrohr der Provinz gegen die Anmaßungen der Metropolen zu machen: Es wäre zu erwarten gewesen, daß DIE GRÜNEN auch in der Provinz Hochburgen haben und dieser damit ein neues parlamentarisches Stimmrecht verleihen.

Dazu ist es aber — von wenigen Ausnahmen (z. B. bestimmten Gegenden Baden-Württembergs) abgesehen — nicht gekommen. Den GRÜNEN, deren Mitglieder vorwiegend aus dem metropolitanen Bürgertum kommen, ist es hier nicht gelungen, gewissermaßen über den eigenen Schatten zu springen. Sie haben, pathetisch gesprochen, der Provinz nicht die Hand gereicht, sie sind unter sich geblieben und haben bestenfalls über und für die Provinz gesprochen — und auch da meist nur über technische Folgeprobleme wie Massentierhaltung und Chemie in der Landwirtschaft. DIE GRÜNEN sind in einem beträchtlichen Maße eine städtische, eine Metropolenpartei. So ist es zu erklären, daß nicht unbedeutende Wählerschichten der GRÜNEN — vor allem die aus den großen Dienstleistungs-und Bildungszentren — die ökologische Frage nicht als Moment einer qualitativ neuen politischen Konzeption, sondern als einen Zusatz sehen, der den traditionellen systemüberwindenden Strategien hinzugefügt wird Auch die Wählerschaft der GRÜNEN schwankt zu einem beträchtlichen Teil zwischen traditioneller Linkspolitik und der Suche nach neuen Koordinaten.

Im Dickicht des Wertewandels

Heute wird nicht mehr bestritten, daß die tragenden Werte dieser Gesellschaft seit geraumer Zeit einem Wandlungs-und Erosionsprozeß unterliegen; die Suche nach Schuldigen an dieser , anomalen Entwicklung wird indessen nur noch von wenigen betrieben. Die Wissenschaftler, die diesen Prozeß untersuchen sind sich weithin, darin einig, daß es sich um einen graduellen, langsam und oft genug im Zick-Zack verlaufenden Prozeß handelt. Alte Werte werden nicht einfach durch neue ersetzt, sondern alte und neue Werte mischen sich zu einem höchst widersprüchlichen Ganzen. Die Werte der Arbeitsge-Seilschaft— Fleiß, Disziplin, das Zurückstellen von Bedürfnissen etc. — sind im Schwinden, dafür gewinnen Freizeit, Selbstbestätigung, Selbstverwirklichung und Wahlmöglichkeiten an Bedeutung. Widersprüchlich ist dieser Prozeß schon deswegen, weil er im Kern auf eine Gesellschaft zielt, in der Arbeit und Industrie nicht mehr die organisierende Achse des Ganzen sind, dennoch aber erst durch die relativ volle Entfaltung der Industrie-und Konsumgesellschaft überhaupt möglich wurde. Daher ist dieser Prozeß doppelt deutbar: zum einen als nur ein neues Stadium des Industrialismus, zum anderen als die beginnende Abkehr von ihm.

Die hier vertretene These lautet nun, daß DIE GRÜNEN derzeit am eindeutigsten die Partei des Wertewandels sind und daß sie dessen Widersprüchlichkeit in den eigenen Reihen abbilden. Teils wollen sie das industrialistische Kommando zurückdrängen, die Gesellschaft auf neue Optionen hin öffnen und die Dilemmata des , rechten wie , linken Industrialismus hinter sich lassen — teils halten sie diesen Weg, der ja gewiß unbekannt ist, für gefährlich, ziehen sich in das Gehäuse bekannter Politiken zurück und plädieren, oft wider Willen, für eine weitere Expansion des industriellen Modells. Wolfgang Roth hat das kürzlich auf die nur mäßig witzige Formel gebracht: „Dies kann dazu führen und hat auch dazu geführt, daß auf ein und demselben Parteitag (der GRÜNEN, Th. S.) die Beseitigung der Industriegesellschaft bei Erhaltung aller Stahlarbeitsplätze gefordert wird.“

Auch wenn es oft absurde Formen annimmt, dieses Dilemma ist ein reales; im voluntaristischen Kraftakt ist es nicht zu lösen. Klug wäre eine Strategie, die das Pendelschlagen zwischen beiden Polen gewissermaßen organisiert, die den realen Widerspruch zwischen Verhaftetsein im Industrialismus (und seinen Segnungen!) und dem Wunsch nach Auswegen thematisiert, zum Gegenstand des politischen Diskurses macht; die ihn also gerade nicht voreilig für versöhnt oder inexistent erklärt. Hier könnten DIE GRÜNEN strategisch neues Terrain besetzen, das ihnen schwerer streitig zu machen wäre als ihre Katastrophenszenarien und gestrigen Antworten. DIE GRÜNEN sind nicht zufällig in dem Moment entstanden, als das sozialdemokratische Jahrzehnt (und wohl auch das sozialdemokratische Jahrhundert) sich dem Ende zuzuneigen begann. Wenn sie dies realisieren und offensiv wenden, haben sie auch in Zukunft Chancen.

Es ginge dabei keineswegs um den Auszug aus der Industriegesellschaft, sondern um eine andere Entwicklungsrichtung derselben. Auch hier würde sich eine Politik als ohnmächtig erweisen, die als Anwalt der Opfer gegen die Täter auftritt, die Schuldige ausmacht und die Welt in Gut und Böse aufteilt. Im letzten Jahrhundert gab es Gründe für die Annahme, die entstehende Industriegesellschaft sei von dem Antagonismus zwischen Arbeit und Kapital geprägt und es gehe vor allem um den Kampf gegen das Kapital. Schuld-zuweisungen waren sinnvoll, denn es gab ein sozial rücksichtsloses Unternehmertum. Heute ist das so nicht mehr der Fall: Der Sozialstaat ist eine im wesentlichen nicht revidierbare Realität, Kapital und Arbeit profitieren von der industriellen Entwicklung. Der Versuch der GRÜNEN, den alten Klassenantagonismus entweder fort-schreiben oder ihn durch den zwischen Industrie und Natur ersetzen zu wollen, ist daher hilflos und untauglich. Alle sind Opfer und Nutznießer einer verselbständigten industriellen Rationalität. Es hat daher keinen Sinn, nach dem archimedischen Punkt zu suchen, von dem aus eine Umkehr zu bewerkstelligen sei. Alle sind in das industrielle System verwickelt; es gibt keine Reservate, in denen das Gute" und , Reine 1 und , ganz Andere'überlebt hätte. Daher scheidet eine Strategie aus, die — gewissermaßen gesellschaftlich exterritorial agierend — der Wirklichkeit ein ganz neues Entwicklungsmodell, das mit allem Bisherigen bricht, aufnötigen will; eine solche Strategie würde an der Realität vorbei operieren. Auch eine radikal andere Politik kann sich nur immanent aus den bestehenden Verhältnissen entwickeln; und je listiger sie mit deren Ungereimtheiten umgeht, desto größer sind ihre Chancen. Norbert Kostede, damals einziger reformpolitischer Vertreter im Bundesvorstand der GRÜNEN, formulierte das Ende 1985 so: „Ich vermute, wir sollten uns auf eine Spur begeben, auf der mit den Mitteln der Aufklärung und mit den Mitteln der Moderne gegen die Selbstzerstörung von Aufklärung und Moderne argumentiert und gekämpft wird.“

Entstaatlichung als Perspektive

Es ist auffällig, welch verhältnismäßig geringe Rolle im innerparteilichen Diskurs der GRÜNEN ein Begriff spielt, für den die Öffentlichkeit den GRÜNEN in der Regel immer noch Urheberschaft und Monopol zuschreibt: Dezentralisierung. Daß er in der grünen Partei häufig und pflichtbewußt in den Mund genommen wird, darf nicht darüber hinwegtäuschen, daß er real ein Schattendasein führt. Im Entscheidungsfalle steht er in aller Regel zur Disposition, er ist ein Gut zweiten Ranges.

So sind DIE GRÜNEN in sozial-, arbeitsmarkt-und tarifpolitischen Fragen meist Anwälte kollektiver, allgemeiner und für alle verbindlicher Regelungen. Das ist natürlich verständlich: Die Flexibilisierung von Arbeitszeitpolitik und generell von Tarifpolitik wirft in der Tat gravierende politische Fragen auf; sie ist ja auch vorstellbar als die Entmachtung der Beschäftigten, als der Weg in sozialpolitische Willkür. Andererseits zeigt der Wertewandel aber eindeutig, daß nicht 10 unbeträchtliche Wünsche der Beschäftigten in Richtung von Flexibilisierung und mehr Wahlmöglichkeiten gehen Eine emanzipatorische Arbeitsmarktpolitik ist daher nur auf der Basis dieser Wünsche möglich, nicht gegen sie. Das aber würde auch Dezentralisierung bedeuten.

DIE GRÜNEN haben sich in der Vergangenheit meist für den alten Weg entschieden: Sie stellten sich übereifrig an die Seite der beiden Großorganisationen SPD und Gewerkschaften. Genau besehen hätten sie auf diesem Gebiet gute Chancen: Während die Sozialdemokratie nicht von ihrem hundert Jahre alten Hang zu Zentralismus, Expansion, kollektiven Lösungen und Staatsbezogenheit loskommt und neue Konflikte gerne in das Gewand des 19. Jahrhunderts kleidet, neigen die gegenwärtigen Bonner Regierungsparteien zu einer sozial unaufmerksamen Auflösung verkrusteter Großstrukturen. DIE GRÜNEN hätten derzeit gewissermaßen die Chance, zwischen diesen beiden Tankern hindurch in Neuland vorzustoßen. Dazu aber müßten sie eine Strategie der Entstaatlichung entwerfen — eine Strategie, in der Planstellen, Besitzstände und expansive Sozialausgaben nicht mehr Werte an sich (umgekehrt aber auch nicht bekämpfenswert an sich) sind. Sie müßten eine Strategie zur Förderung all dessen entwickeln, was sich staatsfern bewegen möchte, eine Strategie zur Entmachtung der großen Politik und zur Verlagerung von möglichst viel Kompetenz von oben nach unten: von Bonn in die Kommunen, vom Großbetrieb zu flexibel spezialisierten Klein-und Mittelbetrieben, vom Management in die Werkhalle, von der Sozialarbeit zur Selbsthilfe, von der Gruppe und dem Kollektiv zum einzelnen.

Die Rückkehr der Industrie in die Gesellschaft: Das Ende des sozialdemokratischen Jahrhunderts

Wenn hier vom Ende des sozialdemokratischen Jahrhunderts gesprochen wird, dann ist damit nicht in erster Linie Parteipolitisches gemeint. Es geht vielmehr um eine große, über hundertjährige Auseinandersetzung, die die Gesellschaft weithin geprägt hat und deren Potential heute erschöpft zu sein scheint.

Der Prozeß der Industrialisierung verlief von Anfang an als ein gegenüber Menschen wie Natur gewalttätiger (hier soll nicht behauptet werden, daß dieser Prozeß nur so verlaufen konnte, daß es keine Alternativen — etwa einer angepaßteren technologischen Entwicklung — gegeben hätte; diese haben sich aber aus einer Vielzahl von Gründen nicht durchgesetzt. Es lohnt daher, die Vergangenheit der technologischen Entwicklung auf liegengebliebene, vergessene und zu wenig beachtete Alternativen hin zu untersuchen Sehr schnell war die Entscheidung für eine verselbständigte industrielle und technologische Entwicklung gefallen: Die Auflösung und Zersetzung traditioneller Strukturen und vor allem ihrer Kleinteiligkeit wurden aktiv betrieben; die Industrie setzte große, möglichst viele Menschen umfassende Produktionsstrukturen durch; und sehr bald wurde der verhängnisvolle Weg der Massenproduktion beschritten — möglichst massenhafter Produktion standardisierter Güter.

Dazu waren eine uniforme technologische Struktur und vor allem willige Arbeitskräfte nötig.

Die industrielle Entwicklung war seit Beginn von der Dequalifizierung der Arbeit,, von der Entwertung menschlichen Arbeitsvermögens und menschlicher Phantasie geprägt. Schon bald im 19. Jahrhundert hatte die industrielle Entwicklung jene megalomanen Züge angenommen, die uns heute bewußt sind. Die Ökonomie — ein Bereich menschlicher Tätigkeiten — schwang sich immer mehr zur Herrscherin über die Gesellschaft auf, die Gesellschaft wurde konsequent ökonomisiert und zur Arbeitsgesellschaft umgeformt — zu einer Gesellschaft, deren zentrale Veranstaltung die Arbeit ist.

Es gab von Beginn an einen beträchtlichen Widerstand gegen diese Entwicklung, der in der Geschichtsschreibung lange Zeit sehr einseitig dargestellt wurde: Man trennte voreilig zwischen , rückwärtsgewandtem 4 und , vorwärtsgewandtem 4 Protest. Hier die hoffnungslos unzeitgemäßen Maschinenstürmer und da jene Kräfte, deren Protest auf der Höhe der Zeit gewesen sei und sich daher gegen die barbarischen sozialen Formen wandte, in denen der Prozeß der industriellen Entwicklung verlief. Tatsächlich war dieser Widerstand sehr viel komplexer gewesen, es gab mehr als Maschinensturm und den Wunsch nach Teilhabe am industriellen Prozeß: Es gab Versuche, die Technologie für eine dezentralisierte und regionale handwerkliche Ökonomie zu nutzen, die Technologie in bestehende Lebens-und Arbeitszusammenhänge einzubetten und ihre Verselbständigung zu verhindern. Auch hier war es nicht — wie bürgerliche und marxistische Ökonomen meist annehmen — eine historische Notwendigkeit, die sich dagegen durchgesetzt hat; aufgrund einer Vielzahl vor allem politischer Entscheidungen wurde die handwerkliche Alternative an den Rand gedrängt und marginalisiert.

Nun zeichnete sich zum ersten Mal ein Bündnis ab, das ein ganzes Jahrhundert prägen sollte: das antagonistische" Bündnis zwischen Kapital und Arbeit, zwischen Industrie und Sozialismus. Schaut man sich die Rhetorik der Arbeiterbewegung an, die die offizielle geworden ist, dann könnte es so aussehen, als ginge es hier um einen Bruch mit der bisher herrschenden Entwicklungsrichtung und um ein grundlegend anderes Gesellschaftsmodell. Doch der Eindruck täuscht. Die Arbeiterbewegung des 19. Jahrhunderts hatte alles Recht auf ihrer Seite: Sie kämpfte gegen einen rücksichtslosen, sozial völlig gleichgültigen Kapitalismus. Die einfachsten Menschenrechte und Sicherheiten mußten diesem stets gegen erbitterten Widerstand abgerungen werden. So konnte der Eindruck entstehen, daß die kapitalistische Form der industriellen Entwicklung der Grund alles Übels sei: würde diese Fessel gesprengt, so könne die industrielle Entwicklung endlich in , reiner 4 Form verlaufen und ihre Segnungen allen zuteil werden lassen.

Es ist vielleicht eine historische Tragödie, daß es dem Sozialismus nicht gelungen ist, ein Entwicklungsmodell zu entwerfen, das sich von dem des Industrialismus unterschieden hätte. Der Sozialismus hat sich statt dessen als Anwalt und Pro-motor eines eigentlichen", vom bornierten kapitalistischen Eigennutz befreiten Industrialismus etabliert. Industrielle Megalomanie, Massenproduktion, Zerstörung überkommener Strukturen und Diktat der Ökonomie über die Gesellschaft: dagegen kämpfte er nicht — im Gegenteil, mit diesen Prozessen sah er seine Chancen wachsen. Sein Hauptthema war vielmehr die soziale Frage — eine Frage, die zu einem großen Teil ein Folgeproblem dieser spezifischen Form von industrieller Entwicklung ist. Auf diesem Gebiet erzielte der Sozialismus seine großen Erfolge, hier erwies er sich als die Kraft, die nötig war, um das Modell der expansiven Ökonomie durchzusetzen und auch , unten 4 zu verankern.

Kapital und Arbeit haben sich parallel zueinander organisiert, sie haben das gleiche Ziel verfolgt und sind gewissermaßen eine , antagonistisehe Kooperation 4 eingegangen. Die Ideologie des Produktivismus prägt beide Flügel dieses Unternehmens; beide sind sich einig, daß sie nur bei konsequenter Fortsetzung des bisherigen industriellen Weges beide profitieren können. Der Kollektivismus gewerkschaftlicher Organisationsformen und Forderungen bildet die Uniformität industrieller Betriebsstrukturen und Arbeitsbedingungen ab. Beide Parteien plädieren für die große Form, die allgemeine Regelung und das Diktat der Arbeit.

Der Industrialismus hätte als Manchesterkapitalismus auf Dauer keine Chance gehabt, er wäre am Widerstand der Ausgebeuteten und Marginalisierten zerbrochen. Nur indem er sich das Soziale einverleibte, konnte er sich durchsetzen. Diese Leistung ist gemeint, wenn hier vom sozialdemokratischen Jahrhundert gesprochen wird. Sicher waren dabei die SPD und die Gewerkschaften von ganz besonderer Bedeutung; die große Leistung bestand jedoch darin, daß die Sozialdemokratisierung nicht auf diese Organisationen beschränkt blieb, sondern daß sie die Gesellschaft insgesamt prägte. Die Säulen des Sozial-staats werden heute in der Bundesrepublik im Prinzip von keiner politischen Kraft in Frage gestellt — in diesem Sinne ist auch die CDU/CSU sozialdemokratisiert (und noch an den Äußerungen einiger profilierungssüchtiger Politiker der F. D. P. gegen sozialstaatliche Sicherungen wird ex negativo deutlich, wie tief das sozialdemokratische Modell im Bewußtsein verankert ist: Als Alternative fällt ihnen nur die völlig absurde Rückkehr ins 19. Jahrhundert, der Weg zurück zum Manchesterkapitalismus ein).

Heute wird allmählich sichtbar, daß die soziale Frage ihre gesellschaftspolitische Schubkraft verliert. Und hinter ihr nimmt man die großen Fragen wahr, die vom Beginn der industriellen Entwicklung an aktuell waren, die aber lange verborgen blieben:

— Wie kann die Gesellschaft auf umsichtige und verantwortliche Weise vom Automatismus der Expansion befreit werden?

— Wie kann die Ökonomie von ihrem usurpierten Thron geholt werden?

— Wie kann die Gesellschaft vom Diktat der Arbeit entbunden werden?

Das, so scheint mir, sind die zentralen politischen Fragen der Zukunft. Sicher, es sind reaktionäre Antworten auf sie vorstellbar: Sie liefen darauf hinaus, die Veranstaltung Sozialstaat ein-13 fach vom Programm abzusetzen, die Menschen gewissermaßen nach Hause zu schicken und ihnen zuzurufen: , Seht selber, wo ihr bleibt*. Daß diese Strategie irgendeine Chance hat, ist allerdings äußerst zweifelhaft; dafür war der Sieg des sozialdemokratischen Geistes zu vollkommen, das werden die Menschen sich nicht gefallen lassen.

Bessere Antworten auf die Fragen der Zukunft werden sich um das Problem des Sozialdemokratismus nicht herummogeln können. Sie geraten damit auf politisch schwieriges Terrain, weil ihnen lange noch zumindest der Verdacht entgegenschlagen wird, es ginge hier um soziale Demontage. So wenig aber der Industrialismus ein Wert an sich ist, ist es der Sozialstaat. Beide verhalten sich expansionistisch, beiden wäre diese Tendenz zu nehmen. Im Bereich der Industrie geht es darum, neue ordnungspolitische Schwerpunkte zu setzen. Das wird auch beim Sozialstaat nicht anders sein können: Seine — vor allem nicht finanziellen — Kosten wären zu untersuchen, seine Segnungen und die entmündigenden und enteignenden Schäden, die er anrichtet, wären gegeneinander abzuwägen.

Reparatur statt Utopie: Reformpolitik in fundamentaler Absicht

Der Wertewandel zeigt in rudimentärer Form, daß diese Fragen heute allmählich auf die Tagesordnung der Gesellschaft kommen. Noch aber werden sie als politische kaum gestellt: Zu sehr noch lastet der Druck des sozialdemokratischen Jahrhunderts auf uns allen. DIE GRÜNEN — ein Produkt der Erosionen, die den zukünftigen Umbruchprozeß ankündigen — hätten eine Chance, wenn sie sich offensiv und selbstbewußt dieser Fragen annehmen würden. Denn allen innerparteilichen Verkrustungen zum Trotz: Es könnte sein, daß DIE GRÜNEN der authentischste Ausdruck des begonnenen Wandels sind. Mit Authentizität kann man freilich so wenig Politik machen wie mit Moral. Es ginge also darum, in den Bereich der Antworten vorzudringen. Dort wären dann nicht utopische Gesamtentwürfe — die zu Recht diskreditiert sind — gefragt, sondern umsichtig experimentierende Reparaturpolitiken; es wäre das gefragt, was Karl R. Popper der Platonischen „Methode des Planens im großen Stil, der utopischen Sozialtechnik, der utopischen Technik des Umbaus der Gesellschaftsordnung, der Technik der Ganzheitsplanung“ entgegensetzt, nämlich „die von Fall zu Fall angewendete Sozialtechnik, die Sozial-technik der Einzelprobleme, die Technik des schrittweisen Umbaus der Gesellschaftsordnung oder die Ad-hoc-Technik“

Vorläufig werden DIE GRÜNEN vermutlich zu diesem Kurswechsel — der ja nur ein zentrales, ursprüngliches Postulat der Partei wieder in sein Recht einsetzen würde — nur schwer in der Lage sein, was darin begründet liegt, daß der funda13) mentalistische Flügel der Partei und ein großer Teil des realpolitischen Flügels zur Zeit noch fest „in der Falle“ der SPD-Bezogenheit gefangen sind. Dies hat mit den etatistisch-sozialen Traditionen zu tun, die in die grüne Partei eingeflossen sind, aber auch damit, daß der Wertewandel noch immer zwittergesichtig ist. Ihn als Motor von Politik zu nutzen, erfordert Mut, denn es könnte dabei durchaus vorkommen, daß DIE GRÜNEN Teile ihrer Programmatik eher in einigen Äußerungen von Kurt Biedenkopf wiederfinden als in einigen anderen von Peter Glotz.

Noch immer hindert die , Rechts-links-Schranke* DIE GRÜNEN daran, sich freizuschwimmen.

Das ist ernst zu nehmen, denn es hat ja (vor allem historisch) gut zu verstehende Gründe für das gesellschaftliche Umfeld der GRÜNEN gegeben, die Sozialdemokratie mit freundlicheren Augen zu sehen als die CDU/CSU. Auf Dauer dürfte die SPD-Bezogenheit den GRÜNEN jedoch eher schaden.

Dem ökosozialistischen Flügel innerhalb der GRÜNEN geht es nach wie vor wesentlich um die Entlarvung der SPD: von der SPD Unerfüllbares fordern, diese lehnt ab und kann darauf als Feind entlarvt werden — dieses Spiel, dessen Regeln im 19. Jahrhundert festgelegt wurden, kann noch lange gespielt werden; es wird aber schon bald niemanden mehr interessieren. Wichtiger ist dagegen die auch im reformpolitischen Lager der GRÜNEN verbreitete SPD-Bezogenheit. Auch hier wird grüne Politik nicht selten als „Mehr vom Gleichen* verstanden, gewissermaßen als eine radikalere und konsequentere sozialdemokratische Politik. Geht man aber davon aus, daß der gegenwärtig stattfindende gesellschaftliche Umbruchprozeß alle Parteien beträchtlich veränB dem wird, dann gibt es keinen Grund für die Annahme, die SPD sei auf Dauer nicht in der Lage, eine derart orientierte grüne Partei aufzusaugen. Nicht in der panisch betriebenen Abgrenzung gegenüber der SPD haben DIE GRÜNEN daher eine Chance, sondern nur in einer selbstbewußten Politik jenseits des sozialdemokratischen Entwicklungsmodells. Dazu wäre innerhalb der GRÜNEN vielleicht das nötig, was man früher »Kulturrevolution 4 genannt hat.

DIE GRÜNEN haben es bisher nicht geschafft, die Umrisse eines neuen gesellschaftlichen Entwicklungsmodells zu entwerfen. Sollten sie bei der kommenden Bundestagswahl das Wahlziel verfehlen, würde eine gerade erst geöffnete Tür wieder zuschlagen. Es wäre dann vorstellbar, daß die politischen Strukturen der Bundesrepublik noch lange eine Frontstellung ausdrücken, die es endlich zu überwinden gilt.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Dazu Ernst Köhler, Zaghafte Einwände gegen den linken Pessimismus, in: Freibeuter, (Herbst 1979) 1, S. 8 ff.; siehe auch die dort angegebene Literatur zu diesem Thema.

  2. Dazu ausführlich Jochen Reiche, Ökologie und Zivilisation. Der Mythos von den „natürlichen Kreisläufen", in: Lothar Baier u. a., Die Linke neu denken, Berlin 1984. S. 40 ff.

  3. Vgl. dazu die Rede, in der Rudolf Bahro u. a. dieses Zweckbündnis begründete: Rudolf Bahro, Hinein oder hinaus? Wozu steigen wir auf? Rede auf der Bundesdelegiertenkonferenz der GRÜNEN, in: Kommune, (Januar 1985) 1, S. 40 ff.

  4. Dazu Claus Offe/Helmut Wiesenthal, Die grüne Angst vorm „Reformismus“, in: Gabriel Falkenberg/Heiner Kersting (Hrsg.), Eingriffe ins Diesseits. Beiträge zu einer radikalen grünen Realpolitik, Essen 1985, S. 198 f.

  5. Claus Offe/Helmut Wiesenthal (Anm. 4), S. 200.

  6. Dazu Hans-Joachim Veen, Wer wählt grün? Zum Profil der neuen Linken in der Wohlstandsgesellschaft, 'in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 35— 36/84, S. 3 bis 17; siehe auch: Wilhelm P. Bürklin, Grüne Politik.ldeologische Zyklen, Wähler und Parteiensystem, Opladen 1984.

  7. Zu diesem Komplex (wenn auch mit anderen Schlußfolgerungen): Bodo Zeuner, Parlamentarisierung der Grünen, in: Prokla, (Dezember 1985) 61, S. 5 ff., insbs. S. 19; und Peter von Oertzen. Zur Sozialstruktur des Wählerpotentials der GRÜNEN, in: Frankfurter Rundschau vom 11. u. 13. 1. 1986.

  8. Siehe die zahlreichen Veröffentlichungen von Helmut Klages; vor allem aber: Michael von Klipstein/Burkhard Strümpei, Der Überdruß am Überfluß. Die Deutschen nach dem Wirtschaftswunder, München 1984; und neuerdings dies., Wertewandel und Wirtschaftsbild der Deutschen, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 42/85, S. 19— 38; dies. (Hrsg.), Gewandelte Werte — Erstarrte Strukturen. Wie die Bürger Wirtschaft und Arbeit erleben, Bonn 1985.

  9. Wolfgang Roth, Der Weg aus der Krise. Umrisse einer sozialökologischen Marktwirtschaft, München 1985, S. 37.

  10. Norbert Kostede, Opportunismus, Fundamentalismus, Vulgärmarxismus. Empfehlungen für einen raschen Untergang der Grünen, Beitrag zur Bundesversammlung der Grünen in Offenburg, C 2 der Delegiertenunterlagen, S. 3.

  11. Dazu z. B. Margarete Landenberger, Arbeitszeit-wünsche. Vergleichende Analyse vorliegender Befragungsergebnisse, Diskussionspapier des Wissenschaftszentrums Berlin, IIMV/Arbeitsmarktpolitik — UM/Labour Market Policy, August 1983.

  12. Dazu ausführlich Michael J. Piore/Charles F. Sabel, Das Ende der Massenproduktion. Studie über die Requalifizierung der Arbeit und die Rückkehr der Ökonomie in die Gesellschaft, Berlin 1985.

  13. Karl R. Popper, Die offene Gesellschaft und ihre Feinde, Bd. I, München 19806, S. 213 f.

Weitere Inhalte

Thomas Schmid, geb. 1945; freiberuflicher Lektor und Essayist. Veröffentlichungen u. a.: Reformpolitik in fundamentaler Absicht. Über den Wiederaufstieg der GRÜNEN, in: Kommune, (1985) 6, S. 40ff.; (Hrsg.) Befreiung von falscher Arbeit. Thesen zum garantierten Mindesteinkommen, Berlin 1984; (Hrsg.) Das Ende der starren Zeit, Berlin 1985; (Hrsg.) Das pfeifende Schwein. Über weitergehende Interessen der Linken, Berlin 1985.