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Zum Geschichtsunterricht über die Voraussetzungen des Nationalsozialismus | APuZ 10/1986 | bpb.de

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APuZ 10/1986 Konsens im Konflikt Zum Geschichtsunterricht über die Voraussetzungen des Nationalsozialismus

Zum Geschichtsunterricht über die Voraussetzungen des Nationalsozialismus

Christel Hopf/Knut Nevermann

/ 61 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

In dem Beitrag wird über eine empirische Untersuchung berichtet, die sich mit dem Unterricht über den Nationalsozialismus und seine politisch-sozialen Voraussetzungen befaßt. In dieser am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung durchgeführten Untersuchung wird gefragt, wie der Aufstieg des Nationalsozialismus im gymnasialen Geschichtsunterricht — auf der Ebene von Lehrplänen, in Schulbüchern und im Unterricht — dargestellt wird. Der Beitrag konzentriert sich auf die Auseinandersetzung mit den Ergebnissen der Befragung von Lehrern zu ihrem Unterricht über die Weimarer Republik und den Nationalsozialismus. Gezeigt wird, daß in den untersuchten Gymnasien der Nationalsozialismus durchweg ein wichtiges Thema ist und daß größere Aus-blendungen des Themas kaum eine Rolle spielen. Unterschiede gibt es jedoch in der Art und Weise, in der die Lehrer ihren Schülern erklären, warum in Deutschland die Nationalsozialisten an die Macht kamen. Insgesamt dominieren politikbezogene Deutungen der Machtübernahme, in denen die Beteiligung der gesellschaftlichen Oberschichten eher mit geringem Gewicht behandelt werden. Die Befragungsergebnisse zu einigen ausgewählten Themenbereichen (Totalitarismuskonzeption, Traditionen des Antisemitismus in Deutschland) verweisen darauf, daß eine kritische Auseinandersetzung mit tradierten Vorurteilen nach wie vor notwendig ist.

I. Einleitung Informationen darüber, wie an unseren Schulen über den Nationalsozialismus und seine politisch-sozialen Voraussetzungen unterrichtet wird, gibt es verhältnismäßig wenige. Es gibt eine Reihe von Schulbuchanalysen, die sich mit der Darstellung des Nationalsozialismus in Geschichts-und Sozialkundebüchern befassen, und auch einige Schülerbefragungen, die Rückschlüsse auf den Unterricht erlauben Diese Arbeiten können jedoch eine Auseinandersetzung mit den tatsächlichen Unterrichtsinhalten, die nicht allein durch Schulbuchinhalte bestimmt sind und die aus Schülerbefragungen nur in begrenztem Umfang zu erschließen sind, nicht ersetzen.

In der empirischen soziologischen Studie, über deren Ergebnisse in diesem Artikel zusammenfassend berichtet werden soll, wird demgegenüber versucht, näher an die Unterrichtswirklichkeit heranzukommen Dabei spielen unterschiedliche Methoden des Zugangs eine Rolle. Zentrale Grundlage sind offene (qualitative) Interviews, die 1981 in jeweils zwei Regionen zweier Bundesländer — Nordrhein-Westfalen und Schleswig-Holstein — durchgeführt wurden und in denen gymnasiale Geschichtslehrer ausführlich über ihren Unterricht zu den Themen „Weimarer Republik“ und „Nationalsozialismus“ berichten. Weitere Informationen, die der Untersuchung zugrunde liegen, wurden in Ge-sprächen mit Schulleitern und Schulaufsichtsbeamten erhoben, in einigen Unterrichtsbeobachtungen, in der Auseinandersetzung mit den Lehrplänen, die zum Zeitpunkt der Befragung in Nordrhein-Westfalen und Schleswig-Holstein formell in Kraft waren und in der Auseinandersetzung mit den Schulbüchern, die von den befragten Lehrern im Unterricht verwandt wurden

Wichtig war in den Interviews mit den Geschichtslehrern ebenso wie in der Analyse der Unterrichtsmaterialien und Lehrpläne vor allem die Frage danach, wie im Unterricht die Voraussetzungen des Nationalsozialismus dargestellt werden. Worauf legen Geschichtslehrer besonderen Wert, wenn sie ihren Schülern erklären, warum in Deutschland die Nationalsozialisten an die Macht kamen?

Für diese Schwerpunktsetzung sprechen verschiedene Argumente: Unter pädagogischen Gesichtspunkten ist die Auseinandersetzung mit den Voraussetzungen der nationalsozialistischen Machtübernahme deshalb besonders wichtig, weil die Erörterung von Handlungsmöglichkeiten und von versäumten Gelegenheiten in der Bekämpfung des Aufstiegs des Nationalsozialismus für die aktuelle politische Bildung von großer Bedeutung ist. Ein anderes Argument für die Konzentration auf die Phase des Übergangs zum Nationalsozialismus und den entsprechenden Geschichtsunterricht ergibt sich aus der durch unsere Untersuchungsergebnisse bestätigten Annahme, daß — anders als in den fünfziger und sechziger Jahren — über den Nationalsozialismus heute im gymnasialen Bereich im allgemeinen unterrichtet wird, und dies zum Teil mit großem Engagement. Wichtiger als die Frage, ob über-haupt über den Nationalsozialismus unterrichtet wird, ist deshalb heute die Frage, wie das geschieht und wie erklärt wird, warum in Deutschland die Nationalsozialisten an die Macht kamen. Ein drittes Argument für unsere Schwerpunktsetzung ergibt sich schließlich aus dem kontroversen Charakter der wissenschaftlichen und politischen Diskussion über die Ursachen des Nationalsozialismus.

So ist nach Karl Dietrich Bracher der Nationalsozialismus „weitgehend erforscht, und doch ist sein Bild bis heute umstritten“; dies treffe „ebenso für seine Ursprünge wie für die Voraussetzungen und Umstände seines politischen Aufstiegs in der Weimarer Republik zu“ Umstrittene Deutungen dieser Art spielen in den Diskussionen über den Totalitarismusbegriff eine Rolle, in Debatten über unterschiedliche Faschismus-theorien, in den Auseinandersetzungen über die Rolle der Kirchen um 1933, über die Relevanz der Weltwirtschaftskrise, über die Frage nach Kontinuität bzw. Diskontinuität in der deutschen Geschichte und in einer Reihe anderer Diskussionen. Sich mit solchen Diskussionen und kontroversen Deutungen auseinanderzusetzen und zu fragen, wie diese im Geschichtsunterricht behandelt werden, gehört zu den Aufgaben unserer Untersuchung.

In den Interviews mit den Geschichtslehrern und in den Lehrplan-und Schulbuchanalysen stehen dabei vor allem die folgenden Themenbereiche im Vordergrund: — Welche Bedeutung wird im Zusammenhang mit der Spätphase der Weimarer Republik der Totalitarismuskonzeption zugemessen, und in welcher Weise wird das Verhältnis von KPD und NSDAP in dieser Phase beschrieben? — Welche Rolle wird einer Reihe institutioneller Bereiche (Industrie, Militär und Kirchen) im Zusammenhang mit der Analyse des Aufstiegs des Nationalsozialismus zugeschrieben? — Wird die Auseinandersetzung mit Traditionen des Antisemitismus in die Analyse der Voraussetzungen nationalsozialistischer Herrschaft einbezogen, und wenn ja, wie?

In dem bereits vorliegenden, umfassenden Untersuchungsbericht ist die Analyse dieser Themenbereiche ausführlich dokumentiert, und zwar auf unterschiedlichen Ebenen: auf der Ebene der wissenschaftlichen Literatur, auf Lehrplan-und Schulbuchebene und auf der Ebene der Beschreibung von Unterrichtsinhalten durch Lehrer. In dem Untersuchungsbericht wird gleichzeitig nach den Beziehungen zwischen diesen unterschiedlichen Ebenen der Analyse gefragt, wobei zwei Fragen im Vordergrund stehen, nämlich: 1. Wird das Spektrum umstrittener Deutungen in der wissenschaftlichen Literatur in den administrativen Vorgaben des Unterrichts — den Lehrplänen und Schulbüchern, die in der Regel einem staatlichen Genehmigungsverfahren unterzogen werden und der staatlichen Genehmigung bedürfen — selektiv rezipiert, und wenn ja: Welches sind die Auswahlkriterien? 2. Wodurch werden Lehrer in ihren Unterrichtsinhalten beeinflußt? Werden sie durch die in Lehrplänen und Schulbüchern vorgegebenen Deutungen beeinflußt oder spielen andere Faktoren eine Rolle — Faktoren, die mit dem kulturellen und politischen Umfeld der Schulen zu tun haben, mit der Berufsrolle von Gymnasiallehrern, in der der Anspruch professioneller Autonomie und des direkten Wissenschaftsbezugs verankert ist, mit den Studienerfahrungen, dem Lebensalter oder anderen Faktoren?

In der hier vorliegenden Kurzfassung des Untersuchungsberichtes ist es nicht möglich, die Untersuchungsergebnisse zu den einzelnen Ebenen der Analyse und zu den Beziehungen zwischen diesen Ebenen umfassend darzustellen. Da wir davon ausgehen, daß für pädagogisch und politisch interessierte Leser vor allem die Ergebnisse der Lehrerbefragung von Interesse sind, wollen wir im folgenden die Ebene der Lehrerinterviews in den Vordergrund stellen und Kommentare zur wissenschaftlichen Literatur zum Thema Nationalsozialismus, zu Lehrplan-und Schulbuchinhalten sehr knapp halten.

II. Zum methodischen Vorgehen

Tabelle 1: Insgesamt Regionale Herkunft und Alters-zusammensetzung der Befragten Nordrhein-Westfalen großstädtische Region Nordrhein-Westfalen ländliche Region Schleswig-Holstein großstädtische Region Schleswig-Holstein ländliche Region 3 8 14 8 33 12 11 10 12 45 .. E 15 '19 24 20 78 ’ iii ... . ., ’ 13 • Altersgruppen Jahrgänge

1941 und bis 1940 später Insgesamt

In die Befragung wurden Lehrer aus möglichst unterschiedlichen Regionen einbezogen, und zwar unterschiedlich im Hinblick auf die politischen Mehrheitsverhältnisse im jeweiligen Bundesland, im Hinblick auf Stadt-Land-Unter-schiede und im Hinblick auf Unterschiede in der konfessionellen Prägung. Obgleich unsere Befragungsergebnisse keinen Anspruch auf Repräsentativität im statistischen Sinne beanspruchen können, ist durch die Variation politischer und kultureller Kontexte doch gewährleistet, daß ein breites Spektrum von Möglichkeiten, den Unterricht zu gestalten, berücksichtigt wird. Bei den Regionen handelt es sich um eine ländliche Region im Münsterland, eine Großstadt im Ruhrge17 biet, eine Großstadt an der Ostküste Schleswig-Holsteins und eine ländliche Region an der Westküste Schleswig-Holsteins. In jeder dieser Regionen wurden alle Geschichtslehrer jeweils dreier Gymnasien um Kooperation gebeten und befragt, sofern sie — nicht zu weit zurückliegende — Unterrichtserfahrungen mit den Themen „Weimarer Republik“ und „Nationalsozialismus“ hatten Dabei ergab sich eine Gesamtzahl von 78 Befragten (64 Lehrer, 14 Lehrerinnen). Tabelle 1 informiert über ihre regionale Zugehörigkeit und die Zusammensetzung nach Altersgruppen.

Im Durchschnitt waren die befragten Lehrer sehr kooperationsbereit, was angesichts des Untersuchungsthemas nicht selbstverständlich ist. Durchgeführt wurden die Interviews von den Autoren der Studie. Sie dauerten im allgemeinen eineinhalb bis zwei Stunden und wurden mit Hilfe eines Tonbandgerätes protokolliert. Bei der Auswertung der transkribierten Protokolle ging es sowohl um die Erarbeitung detaillierter Fallanalysen als auch um die Erarbeitung quantitativer Übersichten Letztere stehen in diesem Kurzbericht im Vordergrund. Wir möchten jedoch darauf hinweisen, daß im Gesamtverlauf der Untersuchung Quantifizierung und Häufigkeitsvergleiche weniger wichtig waren als der Versuch, komplexere historische Argumentationen zu beschreiben und zu verstehen.

III. Zentrale Ergebnisse der Lehrerbefragung

Tabelle 2: Schwerpunkte im Unterricht über die Weimarer Republik und den Aufstieg des Nationalsozialismus — Auswertung der offenen Interviewabschnitte Krisensituation Demokratien ohne Demokraten Versailles Verfassungsmängel Unvermögen der Mitteparteien Radikalisierung nach links und rechts Radikalisierung der Mittelschichten Inflation Kontinuität der Eliten Rolle der Industrie Rolle des Militärs Tradition des Antisemitismus Rolle der Kirche(n) 65 39 38 37 30 29 29 25 21 20 18 5 4 5 33 32 29 39 38 40 37 45 4߳

1. Gesamtinterpretationen der Machtübernahme und Fragen zum Anteil der gesellschaftlichen Oberschichten

In den Interviews mit den Geschichtslehrern wurde die Frage nach den Voraussetzungen des Nationalsozialismus in drei Durchgängen thematisiert. Im ersten Durchgang wurde die relativ offene Frage nach den zeitlichen und thematischen Schwerpunkten gestellt, die der Lehrer oder die Lehrerin im Themenbereich Weimar/Nationalsozialismus setzt. Diese Frage war mit spezielleren Fragen zu den im Unterricht verwandten Materialien verbunden. In einem zweiten thematischen Durchgang wurde die allgemeine Frage gestellt, worauf die Lehrer besonderen Wert legen, wenn sie versuchen, ihren Schülern zu erklären, wie und warum die Nationalsozialisten in Deutschland an die Macht kamen Erst in einem dritten Durchgang wurde gezielter auf die Themenbereiche eingegangen, zu denen auf jeden Fall Informationen zu erheben waren:

Fragen zum Stellenwert der Bereiche Industrie, Militär, Bürokratie und Kirchen, zur Bedeutung der Totalitarismuskonzeption im Unterricht und zu dem Unterricht über Traditionen des Antisemitismus. Tabelle 2 enthält eine Übersicht über die Themen, die von den befragten Lehrern im Rahmen der offenen Interviewabschnitte spontan, d. h. ohne thematische Vorgaben durch den Interviewer, als Bestandteile des eigenen Unterrichts zu den Voraussetzungen des Nationalsozialismus erwähnt wurden. Auffällig ist die hervorgehobene Stellung der Weltwirtschaftskrise, die allerdings in der Regel nicht als einziger Erklärungsfaktor, sondern zusammen mit anderen Faktoren erwähnt wird. Überhaupt wird von den befragten Lehrern wiederholt betont, daß viele und unterschiedliche Faktoren zur Erklärung des Aufstiegs des Nationalsozialismus herangezogen werden müssen.

In dieser Tabelle werden bereits Tendenzen der Deutung erkennbar, die sich aus einer genaueren Analyse der Lehrerstellungnahmen — die auch die Ergebnisse der gezielter nachfragenden Interviewabschnitte mitberücksichtigt — ergeben. Die Mehrheit der befragten Lehrer vertritt im Unterricht Deutungen, die als eher politikbezogen bezeichnet werden können. Solche politikbezogenen Interpretationen spielen vor allem in zwei Varianten eine Rolle: In einer Variante, die der Position des Historikers Erdmann nahe steht, wird der Gedanke der „Selbstpreisgabe“ und das Versagen der demokratischen Parteien in den Vordergrund gestellt. Diese Variante ist seltener als die zweite, die der Position Brachers näher steht, in deren Rahmen „Strukturfehler der Republik, Wirtschaftskrise, politische Radikalisierung und geschickte Demagogie, vor allem die Schwäche des freiheitlich-demokratischen Staatsbewußtseins in Deutschland“ hervorgehoben werden Etwa die Hälfte der von uns befragten Lehrer ist der zweiten politikbezogenen Interpretationsvariante zuzuordnen. Zum Teil wird von diesen Lehrern zwar die Rolle der industriellen oder militärischen Oberschichten kritisch kommentiert. Diese Kommentare haben im Vergleich zur dominanten politikbezogenen Interpretation jedoch ein geringeres Gewicht.

Sie haben ein stärkeres Gewicht in den zusammenfassenden Interpretationen, die man als sozialstrukturelle bezeichnen kann. Zu diesen gehören zum einen marxistische Interpretationen, in deren Rahmen die Bedeutung des Industrie-und Finanzkapitals besonders hervorgehoben wird und zum anderen sozialgeschichtlich orientierte Darstellungen, in denen vorkapitalistische Traditionen stärker berücksichtigt und in einen Zusammenhang mit der These vom „Bündnis der Eliten“ gebracht werden

Explizit marxistische Interpretationen des Aufstiegs des Nationalsozialismus werden von den befragten Lehrern äußerst selten vertreten; etwas häufiger sind sozialstrukturelle Interpretationen, die den Auffassungen Winklers, Mommsens oder Broszats nahekommen. Wie Tabelle 3 zeigt, sind beide sozialstrukturellen Varianten der Deutung im Vergleich zu den politikbezogenen in wesentlich geringerem Umfang vertreten.

Im Überblick betrachtet haben also Deutungen der nationalsozialistischen Machtübernahme, bei denen die Beteiligung der gesellschaftlichen Oberschichten und gesellschaftlich mächtigen Institutionen besonders hervorgehoben wird, kein großes Gewicht.

Das Bild wird komplexer und widersprüchlicher, wenn man auf die einzelnen von uns ausführlicher analysierten Themenbereiche eingeht und fragt, wie die Rolle unterschiedlicher Institutio-nen und Machtgruppen (Industrie, Militär und Kirchen) um 1933 dargestellt wird. Hier zeigt sich nämlich, daß die Rolle der Industrie im Durchschnitt kritischer betrachtet wird als die Rolle der Reichswehr und der evangelischen und katholischen Kirche. Militär und Kirchen spielen im Unterricht vor allem bei der Behandlung des Widerstands eine Rolle und treten als Gruppierungen, deren Handeln auch für die Erklärung der nationalsozialistischen Machtübernahme von Bedeutung sein könnte, nur selten in Erscheinung Dagegen wird die Industrie, vor allem die Schwerindustrie, als Faktor der nationalsozialistischen Machtübernahme häufiger erwähnt, und dies auch, wie bereits angedeutet, von einem

Teil der Lehrer, die grundsätzlich eher zu politik-bezogenen Deutungen der nationalsozialistischen Machtübernahme tendieren.

Tabelle 4 enthält einen Überblick über die DarStellung der Rolle der Industrie im Unterricht.

Anders als in Tabelle 3, in der regionale Unterschiede nur schwach ausgeprägt sind, treten regionale Unterschiede hier stärker hervor, wobei am größten die Differenz zwischen den beiden Großstädten ist. Von den im Ruhrgebiet befragten Lehrern sind es knapp drei Viertel, die auf die Rolle der Industrie im Zusammenhang mit dem Versuch, die nationalsozialistische MachtÜbernahme zu erklären, eingehen. Dagegen ist dies in der schleswig-holsteinischen Großstadt nur bei etwas mehr als einem Viertel der Befragten der Fall. Die Ergebnisse in den beiden Land-regionen liegen zwischen diesen Extremwerten. Unter den in dieser Untersuchung ausführlicher analysierten Themenbereichen ist das Thema „Industrie und Nationalsozialismus“ gleichzeitig auch dasjenige, bei dessen Behandlung die Altersunterschiede zwischen den befragten Lehrern am deutlichsten zum Tragen kommen. Weniger als ein Drittel der Lehrer, die zum Zeitpunkt der Befragung (1981) älter als 40 Jahre waren, bringen in ihrem Unterricht die direkte oder indirekte Unterstützung der Nationalsozialisten durch Teile der Industrie zur Sprache, während dies von den jüngeren Lehrern mehr als die Hälfte tun. Eine genauere regionale Aufschlüsselung der Altersunterschiede zeigt allerdings, daß bei der Interpretation dieser Zahlen Vorsicht geboten ist. Im Zusammenhang mit dem Thema „Industrie und Nationalsozialismus“ gibt es nennenswerte Altersunterschiede in erster Linie in Nordrhein-Westfalen, und zwar in der ländlichen Region, während in Schleswig-Holstein Altersunterschiede bei dieser Frage kaum auffallen. Dies bedeutet umgekehrt, daß die regionalen Unterschiede in der Behandlung des Themenbereichs Industrie und Nationalsozialismus in der Tendenz auch dann erhalten bleiben, wenn man das Lebensalter als Einflußfaktor zu kontrollieren sucht und nur die jüngeren, 1941 und später geborenen Lehrer der unterschiedlichen Regionen miteinander vergleicht. Daß bei diesem Thema in Schleswig-Holstein Altersunterschiede unter den befragten Lehrern weniger ausgeprägt sind als in Nordrhein-Westfalen, kann als Beleg für den Einfluß regional unterschiedlicher politischer und kultureller Gegebenheiten interpretiert werden, der im Zusammenhang mit der qualitativen Analyse der Interviewmaterialien noch stärker sichtbar wird als in den hier wiedergegebenen quantitativen Angaben 2. Zum Stellenwert der Totalitarismuskonzeption Wenn man sich vergegenwärtigt, daß Antikommunismus und Antisemitismus zu den zentralen Bestandteilen nationalsozialistischer Ideologie gehörten, dann könnte man die Auffassung vertreten, daß es zu den wichtigsten Aufgaben des Geschichtsunterrichts gehört, sich gerade mit diesen ideologischen und politischen Traditionen in Deutschland kritisch auseinanderzusetzen. Beide Themen werden jedoch faktisch in einer Weise behandelt, die eine selbstkritische Aufarbeitung behindert. Im nächsten Kapitel soll dies für die Auseinandersetzung mit dem deutschen Antisemitismus gezeigt werden, während in diesem Kapitel die Antikommunismusproblematik und ihre Beziehung zur Totalitarismuskonzeption im Vordergrund steht.

In der historischen Literatur wird die Totalitarismustheorie vor allem auf der Ebene des Vergleichs der Herrschaftssysteme des Nationalsozialismus und des Stalinismus diskutiert Auf die Totalitarismuskonzeption, die in ihrer tradierten Version von einer umfassenden Gleichsetzung beider Herrschaftssysteme ausgeht, wird jedoch auch Bezug genommen, wenn die Zerstörung der Weimarer Republik interpretiert wird Dies gilt insbesondere für solche Interpretationen, in denen die Rolle von KPD und NSDAP am Ende der Weimarer Republik im wesentlichen gleichgesetzt wird und der Radikalisierung von Links und Rechts ein zentraler Stellenwert beigemessen wird.

Auch in den Interviews mit den Geschichtslehrern wird die Totalitarismuskonzeption nicht allein auf den Vergleich der Herrschaftssysteme, sondern auch auf den Vergleich von KPD und NSDAP in der Spätphase der Weimarer Republik bezogen. Nur wenige Lehrer (insgesamt 9) lehnen dabei diesen Vergleich explizit ab. Eine größere Gruppe (26 Lehrer) verhält sich gegenüber der Gleichsetzung beider Parteien indifferent oder hält sich mit eigenen Stellungnahmen zurück. Bei der Mehrheit der Befragten (43 Lehrer) ist jedoch eine positive Bezugnahme auf die Totalitarismuskonzeption erkennbar. Dabei spielen zwei Varianten eine Rolle: In der ersten werden KPD und NSDAP weitgehend gleichgesetzt. Etwas mehr als ein Drittel der Befragten (in Schleswig-Holstein etwas mehr) neigt zu dieser Auffassung und argumentiert wie folgt: „Es ist einleuchtend für die Schüler und auch sehr rasch zu begreifen, daß sowohl die NSDAP als auch die KPD die Republik, die parlamentarisch-demokratische Republik, nicht wollen, daß sie sich also einig sind in der Negation. Diese Einigkeit in der Negation geht bis zur Bildung der befürchteten destruktiven Mehrheit. Das ist für mich ein ganz wesentlicher Schlüsselbegriff zum Verständnis der Zeit zwischen 1930 und 1933, etwas, was ich deshalb auch mit aller Macht versuche, den Schülern deutlich nahezu-bringen ...“ Der Lehrer, aus dessen Interview hier zitiert wird, verweist wenig später zwar auf die Forderung, bei dem Vergleich zwischen den Zielen und Methoden beider Parteien zu unterscheiden, hält diese Unterscheidung im Effekt jedoch für nicht so wichtig: „Aber wie die Dinge zwischen 1930 und 1933 ablaufen, kann man natürlich nicht ständig sagen, bitte Gemeinsamkeit der Methode, Gemeinsamkeit im Negativen, Zerstörung der Republik — aber Unterschiede in der Vorstellung vom künftigen Staat, obwohl dann ja dort auch vieles wieder auf das gleiche hinausläuft, was die Methode, die Herrschaftsmethode in dem neuen Staat angeht. (Die) ist ja in beiden Fällen wieder abgestellt im Grunde genommen auf... die abschreckende Wirkung des Terrors.“

Eine differenziertere Version der Totalitarismuskonzeption vertreten demgegenüber knapp 20 Prozent der Befragten. Von ihnen wird die Forderung, zwischen den Zielsetzungen und Methoden beider Parteien zu unterscheiden, stärker betont, wie dies zum Beispiel in dem folgenden Interviewausschnitt zum Ausdruck kommt: „Wir haben Vergleiche gemacht, soweit das die Wirkung der Parteien betraf, das heißt, daß die radikalen Parteien so weit im Übergewicht waren, daß die demokratischen Parteien sich nicht entwickeln konnten und auch der demokratische Staat nicht mehr funktionieren konnte. Aber von den Zielsetzungen her sind die Unterschiede dann herausgearbeitet worden.“

Gegen beide Varianten des Totalitarismuskonzepts wird von den — wenigen — Kritikern zum einen geltend gemacht, daß „das Ende der Weimarer Republik im wesentlichen von rechts kam“ und daß es zudem moralisch und politisch fragwürdig sei, mit der Gleichsetzung von NSDAP und KPD Verfolger und Verfolgte als gleichermaßen verbrecherisch darzustellen. Ein Beispiel für eine solche moralische Kritik enthält der folgende Interviewausschnitt: „Ich versuche (das) den Schülern sehr klarzumachen, daß, wenn einer das aufstellt, der macht nichts anderes, als daß er die Mörder und die Ermordeten ins gleiche Boot setzt und im nachhinein noch ... die Leute, die dort ihr Leben gelassen haben, verunglimpft.“

Die Bewertung der hier referierten Positionen wird je nach wissenschaftlichem und politischem Standpunkt unterschiedlich sein. Uns selbst scheint ein Problem der Totalitarismuskonzeption darin zu liegen, daß sie den Gedanken, sich auch mit den Traditionen des Antikommunismus in Deutschland kritisch auseinanderzusetzen, gar nicht aufkommen läßt. Die Aufmerksamkeit wird vielmehr auf den — problematischen — Vergleich von NSDAP und KPD gelenkt. 3. Unterricht über die Traditionen des Antisemitismus Bei der Beschäftigung mit dem Thema „Antisemitismus und deutsche Geschichte“ muß man sich sehr genau darüber im klaren sein, welches die Ziele der Beschreibung und Erklärung sind. Geht es um den Versuch, Auschwitz zu verstehen, oder geht es um den Versuch, die Bedingungen der nationalsozialistischen Machtübernahme zu verstehen? Auch wenn beide Ereignisse in einem Zusammenhang stehen, so sind doch die für die Erklärung jeweils relevanten Faktorenkonstellationen verschieden. Eva Reichmann hat hierauf bei einem Versuch, die Rolle des Antisemitismus in der deutschen Geschichte zu analysieren, hingewiesen und hervorgehoben, „daß nur ein verschwindend kleiner Kreis derer, die dem Nationalsozialismus zum Erfolg verhalfen, ihm damit ein Mandat zur Vollstreckung der Judenvernichtung zu geben“ beabsichtigte

So sehr dies bei einer Auseinandersetzung mit den Traditionen des Antisemitismus in Deutschland berücksichtigt werden muß, so wenig kann doch davon abgesehen werden, daß es im Deutschland der Weimarer Republik, vor allem im deutschnationalen Lager, antisemitische Traditionen gab, die ihre Bedeutung auch unabhängig von der Propaganda der Nationalsozialisten hatten und die zur Erklärung der nationalsozialistischen Machtübernahme mit herangezogen werden können Die Beschäftigung mit der historischen Literatur zum Weimarer Antisemitismus zeigt allerdings auch, daß es in den Geschichtswissenschaften keine Einigkeit darüber gibt, wie wichtig die vorhandenen Traditionen des Antisemitismus, im Vergleich zu anderen Bedingungen, für die Erklärung der nationalsozialistischen Wahlerfolge sind. Zu unterscheiden sind hier mindestens drei Positionen:

— die Einschätzung, daß der Antisemitismus zu den zentralen Wahlmotiven gehörte

— die Auffassung, daß eine Bereitschaft zur Inkaufnahme oder Tolerierung des nationalsoziali-stischen Antisemitismus bereits vorgegeben war und daß dies sich politisch auswirkte

— und schließlich eine Position, in deren Rahmen antisemitische Traditionen kaum erwähnt oder für unwichtig gehalten werden, wie dies in einer Reihe zusammenfassender Darstellungen der Weimarer Republik der Fall ist

Die Stellungnahmen der Lehrer zu der Frage nach den Traditionen des Antisemitismus entsprechen am ehesten der dritten Position. Dies heißt nicht, daß die befragten Lehrer ncht über die Judenverfolgung während der Herrschaft des Nationalsozialismus unterrichten. Vielmehr bedeutet es, daß im Unterricht über die Weimarer Republik und die unmittelbaren Voraussetzungen des Nationalsozialismus das Thema Antisemitismus nur eine sehr geringe Rolle spielt — und zwar ohne Unterschiede zwischen den in die Untersuchung einbezogenen Regionen. Dies ergibt sich sowohl aus der Auswertung der offenen Interviewabschnitte als auch aus den Reaktionen auf gezieltere Nachfragen. Sofern über die Geschichte des Antisemitismus unterrichtet wird, bezieht sich dies vor allem auf das Mittelalter und auf die Rassentheorien des 19. Jahrhunderts, kaum jedoch auf den Antisemitismus in der Weimarer Republik.

Ein längerer Interviewausschnitt, der stellvertretend für inhaltlich vergleichbare Stellungnahmen steht, mag zur Verdeutlichung beitragen.

Kontext: Frage nach den Traditionen des Antisemitismus, die der interviewte Lehrer im Sinne der verbreiteten dreistufigen Darstellungsweise beantwortet, die ausgehend vom Mittelalter über die rassistischen Theorien des 19. Jahrhunderts (an Chamberlain und Gobineau erläutert) bis hin zum Nationalsozialismus führt. Er geht sodann auf seinen Versuch ein, die Schüler an eine Auseinandersetzung mit dem Geschehen in den Vernichtungslagern heranzuführen. Der Interviewer versucht, die Frage nach den Traditionen des Antisemitismus wieder aufzugreifen.

Interviewer: „Zu der Tradition des Antisemitismus noch eine Frage. Kommt da über Weimar und Antisemitismus etwas vor?“

Befragter: „Nein — nein. Gar nicht.“

Interviewer: „Denn die Abfolge, wenn ich es richtig verstanden habe —“

Befragter: „Ja, das ist richtig. Es hört also 1918 im Grund genommen auf... Es ist vielleicht ein Fehler, sagen wir, diese Weimarer Republik unter diesem Aspekt überhaupt nicht zu betrachten. Mir liegen da auch keine Informationen vor, und ich könnte aus dem Stegreif auch nichts Gültiges, muß ich sagen, dazu sagen. Weil ich mich mit diesem Thema eigentlich gar nicht beschäftigt habe, vielleicht zu meiner Schande noch gar nicht auf die Idee gekommen bin. Das ist vielleicht — das ist bestimmt ein Fehler. Natürlich weiß ich das so aus Erzählungen — Probleme jüdischer Kaufleute und so —, daß da durchaus manchmal Probleme waren. Aber Näheres könnte ich dazu nicht sagen.“

Interviewer: „Die Abfolge ist mehr: Mittelalter —“

Befragter: „ 19. Jahrhundert, nicht wahr. Dort dieser Rassen-Antisemitismus . Und dann also wieder 1933 bis 45. So sieht das ungefähr aus.“

Das Ausmaß an Selbstkritik, mit der dieser Lehrer auf die Frage nach den Traditionen des Antisemitismus in der Weimarer Republik reagiert, ist im Vergleich zu vielen anderen Interviews sehr ausgeprägt. Es zeigt aber nur besonders ungeschminkt, was überwiegend auch für jene gilt: nämlich wie fernab von allen Überlegungen zur Unterrichtsgestaltung die Frage nach dem Antisemitismus in der Weimarer Republik liegt.

In dem ausführlichen Untersuchungsbericht wird dargestellt, daß die Tendenzen zur Ausblendung des Weimarer Antisemitismus auch in den analysierten Schulbüchern eine Rolle spielen. Dabei mitwirkende Tendenzen zur Abgrenzung und Selbstentlastung haben wir mit dem Begriff der „Distanzierung“ bezeichnet — Distanzierung zunächst im moralischen Sinn, dann aber auch in einem zeitlichen und sozialen Sinn. Das Phänomen des Antisemitismus wird sozusagen weiter weggeschoben und dadurch auf Distanz gehalten: Der deutschnationale Antisemitismus der Weimarer Zeit wird kaum behandelt, wohl aber — im Zusammenhang mit der Biographie Hitlers — der Wiener Antisemitismus der Jahrhundertwende. Der christliche Antisemitismus des 19. und 20. Jahrhunderts wird kaum behandelt, wohl aber der des Mittelalters. Der konservative Antisemitismus des späten Kaiserreichs wird selten behandelt. Behandelt werden jedoch die soge-nannten rassentheoretischen Autoren des 19. Jahrhunderts, insbesondere die beiden bekanntesten, von denen der eine Engländer und der andere Franzose ist.

IV. Überlegungen zur Interpretation und didaktische Fragen

Tabelle 3: Nordrhein-Westfalen großstädtische Region Nordrhein-Westfalen ländliche Region Schleswig-Holstein großstädtische Region Schleswig-Holstein ländliche Region Insgesamt Zusammenfassende Deutungen des Aufstiegs des Nationalsozialismus 8 7 16 13 44 5 3 3 1 12 2 9 5 6 22 15 19 24 20 78 Eher politik-bezogen Eher sozial-strukturell argumentierend Andere Deutungen: einschließlich unklar, k. A. Insgesamt

Gemessen an dem breiteren Spektrum miteinander konkurrierender Deutungen in der fachwissenschaftlichen Literatur überwiegen an den in unsere Erhebungen einbezogenen Gymnasien insgesamt eher konservative Deutungen. Dies gilt in geringerem Umfang für die Darstellung der Rolle der industriellen Oberschichten, aber in stärkerem Maße für die Art, wie die Rolle des Militärs und der Kirchen sowie die Politik der KPD dargestellt werden; und dies gilt auch für die Behandlung deutschnationaler Gruppierungen, deren aktiver Beitrag zur Verbreitung antidemokratischen und antisemitischen Denkens im Deutschland der Weimarer Zeit im Unterricht kaum zur Sprache kommt. Damit herrschen Deutungen vor, die eher dem Schutz etablierter Institutionen und dem Interesse an nationaler Selbst-entlastung dienen.

Nach unserer Interpretation spielen bei der Herausbildung und Bekräftigung dieser Deutungen Schulbücher eine sehr wichtige Rolle Ihre Wirkungsweise ist jedoch nicht so zu beschreiben, daß ein einzelnes Schulbuch oder eine einzelne Text-und Quellensammlung den Unterricht und die Deutung einzelner Lehrer prägt. Vielmehr ist der Schulbucheinfluß eher als ein kumulativer zu beschreiben: Wenn bestimmte Deutungen und Schwerpunktsetzungen in unterschiedlichen Schulbüchern und Text-und Quellensammlungen immer wieder auftreten, wird sich dies im Unterricht auswirken. Die Schulbücher, von denen den Lehrern in der Regel mehrere präsent sind, stehen in diesem Fall in einem Verhältnis wechselseitiger Bestätigung und Bekräftigung zueinander, das einzelne Interpretationen als gesicherter und selbstverständlicher erscheinen läßt, als sie tatsächlich sind. Die Behandlung des Themas „Antisemitismus“ im Unterricht ist ein Beispiel für solche kumulativen Schulbucheinflüsse. Bei diesem Thema gibt es trotz aller didaktischen, wissenschaftlichen oder politischen Unterschiede zwischen den einzelnen im Unterricht verwandten Texten übereinstimmende Akzentsetzungen und Deutungen, die sich, nach den Interviews mit den Lehrern zu urteilen, im Unterricht auch durchsetzen.

Die Bewertung der hier zusammengefaßten Untersuchungsergebnisse wird unterschiedlich ausfallen, je nach politischer und wissenschaftlicher Orientierung und je nachdem, welche Anforderungen an die historische und politische Bildung in der Schule gestellt werden. Denn die hier analysierten Themenbereiche sind überwiegend politisch kontrovers und werden es vorläufig wohl auch noch bleiben. Dies haben sehr deutlich wieder die Vorgänge und Diskussionen gezeigt, die mit dem 40. Jahrestag der deutschen Kapitulation verbunden waren.

Für uns selbst ist an den dargestellten Ergebnissen unserer Analyse besonders beunruhigend, daß im Unterricht über die Voraussetzungen des Nationalsozialismus die Chancen der Auseinandersetzung mit Vorurteilen im innergesellschaftlichen und im internationalen Rahmen offenbar sehr wenig wahrgenommen werden. Wie sollen Schüler lernen, sich nüchtern und vorurteilsfrei über den für unsere Zeit so zentralen Ost-West-Konflikt zu informieren, wenn die Information über Grauen und Barbarei der nationalsozialistischen Zeit nicht selten mit antikommunistischen Tendenzen verbunden wird? Und wie können Schüler etwas über die zerstörerische Kraft des alltäglichen und ganz gewöhnlichen Vorurteils lernen, wenn seine Wirkung noch nicht einmal im Unterricht über Antisemitismus und die unmittelbare Vorgeschichte der nationalsozialistischen Machtübernahme zur Sprache kommt? Beunruhigend sind die Ergebnisse auch unter dem Gesichtspunkt der Erziehung zur Kritikfähigkeit. Die in dieser Hinsicht bestehende Chance, sich mit dem politischen Handeln mächtiger Gruppierungen und Institutionen im Zusammenhang mit der Zerstörung der Weimarer Republik und dem Aufstieg des Nationalsozialismus kritisch im Unterricht auseinanderzusetzen, wird nach unseren Ergebnissen nicht ausreichend wahrgenommen. Anhang 1 Vorläufige Richtlinien und Lehrpläne für das Gymnasium — Sekundarstufe I in Nordrhein-Westfalen. Geschichte. 1978

Runderlaß des nordrhein-westfälischen Kultusministers vom 6. Juli 1978: Behandlung des Nationalsozialismus im Unterricht (GABI. NW. S. 271)

Lehrplan Gymnasium. Geschichte, Klasse 9 (Schleswig-Holstein, 1976)

Lehrplan Gymnasium. Gemeinschaftskunde, Gymnasiale Oberstufe (Schleswig-Holstein, 1976)

Erlaß des schleswig-holsteinischen Kultusministers vom 4. Dezember 1962: Richtlinien für die Behandlung des Totalitarismus im Unterricht (NB 1. S. 346)

Anhang 2 Übersicht über die genauer analysierten Schulbücher, Quellen-und Textsammlungen: Tenbrock, Robert Hermann/Kluxen, Kurt (Hrsg.), unter Mitarbeit und Mitwirkung von Rudolf Endres, Erich Goerlitz, Werner Grütter, Joachim Immisch, Erich Meier, Harald Popp, Hans Joachim Raab, Ursula Siems, Arnold Voelske, Zeiten und Menschen. Geschichtliches Unterrichtswerk, Ausgabe B, Band 4: Zeitgeschichte (1917 bis zur Gegenwart), Paderborn 1978 (Verlag Schöningh-Schroedel).

Tenbrock, R. H. /Kluxen, K. /Stier, H. E. (Hrsg.), unter Mitarbeit von B. Bendfeld, W. Fenske, E. Goerlitz, W. Grütter, J. Immisch, A. Voelske, Zeiten und Menschen. Geschichtliches Unterrichtswerk. Oberstufe, Ausgabe G, Band 2: Die geschichtlichen Grundlagen der Gegenwart, 1776 bis heute, Paderborn 1970 (Verlag Schöningh-Schroedel). Hug, Wolfgang (Hrsg.) /Hoffmann, Joachim/Kräuterkrämer, Elmar, unter Mitarbeit von Franz Bahl, Geschichtliche Weltkunde, Band 4: Von der Oktoberrevolution in Rußland bis zur Gegenwart, Frankfurt/Main 1982 (unter Berücksichtigung der drei-bändigen Ausgabe von 1979, 2. Aufl.) (Verlag Moritz Diesterweg).

Schmid, Heinz Dieter (Hrsg.), Fragen an die Geschichte. Geschichtliches Arbeitsbuch für Sekundarstufe 1, Band 4: Die Welt im 20. Jahrhundert. Zusammengetragen und bearbeitet von Heinz Grosche, Eckart Barth, Joachim Betz, Hermann de Buhr, Gertrud Bühler, Margarete Dörr, Janbernd Geuting, Horst Gies, Wolfgang Hügle, Gottfried R. Leuthold, Udo Margendant, Günter Peternek, Rudolf Renz, Eberhard Schanbacher, Heinz Dieter Schmid, Udo Schmidt, Eberhard Sieber und Eberhard Wilms, Frankfurt/Main 1979 (Hirschgraben-Verlag).

Hofer, Walter (Hrsg.), Der Nationalsozialismus. Dokumente 1933— 1945, Frankfurt/Main 1957 (Fischer Bücherei, unter Berücksichtigung der überarbeiteten Neuausgabe von 1982).

Ripper, Werner, in Verbindung mit Eugen Kaier, Weltgeschichte im Aufriß. Neubearbeitung für den historisch-gesellschaftlichen Lernbereich der Sekundarstufe II, Band 3, Teil 1, Vom Ersten Weltkrieg bis 1945, Frankfurt/Main—Berlin—München 1976 (Verlag Moritz Diesterweg).

Rohlfes, J. /Schwalm, E. (Hrsg.), Politische Weltkunde für das 11. — 13. Schuljahr. Hiervon:

Wagner, Gisela, Politische Weltkunde II, Themen zur Geschichte, Geographie und Politik, Die Weimarer Republik, Stuttgart 1972;

Hey, Bernd/Radkau, Joachim, Politische Weltkunde II, Themen zur Geschichte, Geographie und Politik, Nationalsozialismus und Faschismus, Stuttgart 1976 (Ernst Klett Verlag). Kommentare und Replik Die Didaktik der politischen Bildung Zum Beitrag von Hartwig Lödige: Die Didaktik der politischen Bildung: Eine Wissenschaft ohne Gegenstand?, in B 50/85, S. 3— 18

Kritik ohne Substanz!

Tabelle 4: Nordrhein-Westfalen großstädtische Region Nordrhein-Westfalen ländliche Region Schleswig-Holstein großstädtische Region Schleswig-Holstein ländliche Region Insgesamt 11 9 7 7 34 4 10 17 13 44 Rolle der Industrie im Unterricht über die Voraussetzungen des Nationalsozialismus 15 19 24 20 78 ) Die den Nationalsozialismus begünstigende Rolle wird hervorgehoben*) Andere Stellungnahmen einschließlich unklar, keine Antwort Insgesamt Nach den Kodierabsprachen, die der quantitativen Auswertung der Intervࠏ

1. Anmutungen über eine Zumutung Wer gerade gut aufgelegt ist und ein wenig Entspannung von der Anstrengung des Begriffs sucht, mag an den Ausführungen von Hartwig Lödige seinen Spaß haben. Immerhin befleißigt sich der Autor einer launig-munteren Darstellungsweise, die gelegentlich amüsiert und allenthalben unkonventionell sich gibt. Mit spitzer Feder werden einige Aspekte der Fachdidaktik oder Einlassungen ihrer Vertreter dazu in einer Weise aufgespießt, mit der sich, so sie bei noch näherem Hinsehen die zu erheischen versuchte Aufmerksamkeit durch zutreffend-bedeutsame Argumentation rechtfertigen sollte, an anderem Ort eine detaillierende Auseinandersetzung lohnte. Im folgenden soll und muß es sein Bewenden damit haben', in aller durch den gering verfügbaren Platz und die begrenzte Wichtigkeit der Lödigeschen Einlassungen gebotenen Knappheit auf das einzugehen, worum es dem Autor vorgeblich zu gehen scheint und was er selbst trotz einer gewichtig gemachten These gleich doppelt aus dem Auge verliert:

Lödige suggeriert dem Leser eine Beschäftigung mit der — ernsthaft oder rhetorisch gemeinten? — Frage, ob die Didaktik der politischen Bildung eine Wissenschaft ohne Gegenstand sei. Mit dem, was er als Kardinalproblem bezeichnet, setzt er ein Ausrufungszeichen: eben diese Didaktik sei eine Wissenschaft ohne Gegenstand.

Das aber ist eine Zumutung. Sie ist es nicht, weil mit der Bezeichnung des Kardinalproblems die Wissenschaft mit einer neuen Erkenntnis konfrontiert und zur Problemlösung aufgefordert wird, sondern weil das als Kardinalproblem Bezeichnete nur behauptet und nicht bewiesen bzw. mit unzulässigen Mitteln zu beurteilen versucht und überdies partiell widerspruchsvoll zurückgenommen wird. 2. Gegenstandsallerlei der Gegenstandsmangelanalyse Lödiges Erörterung, die eigentlich der Didaktik der politischen Bildung insgesamt gewidmet sein sollte, gipfelt in dem sonderbaren Resümee, daß bei den „Altmeistern’ der generell fehlende Gegenstand immerhin noch durch ein . Bemühen um inhaltliche Substanz’ charakterisiert sei, während der verlorengegan bei jungen Garde’ ein solches -gen sei und Didaktik zu einem . metatheoretischen Gefummel’ gerate. Daß solchen Defizitanzeigen und Bloßstellungen nicht als Alternative, wenigstens andeutungsweise, eine Aufarbeitung des Mangels zugunsten einer überzeugenden Gegenstandsbestimmung oder wenigstens das Aufzeigen von Möglichkeiten und Wegen dafür folgt, mag manchen Leser enttäuschen. Sie muß aber nicht unbedingt erwartet werden. Hätte der Entlarvung und der Negation — ihre Berechtigung durch intellektuell redlichen Nachweis vorausgesetzt — immer auf dem Fuße die Elaboration des Positiven zu folgen, ginge Wissenschaft ihrer kritisch-aufklärenden Funktion alsbald verlustig. Indes: Äußerst befremdlich ist, daß Lödige sich nicht darauf einläßt zu benennen, was denn wohl Kriterien für etwas sein müßten, das man als Gegenstand der Didaktik bezeichnen kann. Er legt nicht dar, wozu ein Gegenstand da sein sollte, was seine Merkmale, Funktionen und Umfänge ausmachen sollten. Unklar bleibt, welche Erwartungen an einen Gegenstand zu stellen sind. Mehr noch: Der Autor wird gleich eingangs unpräzise, wechselt den Betrachtungsschwerpunkt, weicht auf andere oder Nebenfragen aus und verliert sein Analysefeld aus dem Blickwinkel.

Als Sparte im zeitgenössischen Wissenschaftsbetrieb werden politische Bildung, politische Pädagogik, politische Didaktik und Didaktik der Sozialwissenschaften wie Synonyma in einen Topf geworfen. Um wessen Gegenstand aber geht es, wenn doch Didaktik als eine mit politischer Bildung befaßte Wissenschaft mit dieser Praxis nicht identisch ist? Da ist einmal vom Gegenstand der wissenschaftlichen Didaktik, ein andermal vom Gegenstand der praktischen politischen Bildung die Rede; ganz so, als seien diese Gegenstände tatsächlich oder programmatisch zweifelsfrei identisch. Wo liegt dann aber die Differenz zwiB sehen wissenschaftlicher Argumentation und alltagspädagogisch geforderter Besinnung, die nicht wahrzunehmen einem Didaktiker unterschoben wird? Plötzlich werden Ziele der politischen Bildung oder ihre Prämissen andiskutiert. Was soll das, wenn sie nicht für einen Gegenstand der wissenschaftlichen Didaktik gehalten werden? Von der Didaktik als ein Insgesamt soll gehandelt werden, aber einzelne Didaktiker werden singulär beäugt. Geht es an, daß die vermeintlichen Defizite einzelner den Mangel der Gesamtheit ausmachen, auch wenn zwischen den einzelnen nach erfolgter Ineinssetzung noch differenziert wird? 3. Methodisches als verräterischer Indikator der Absicht Falls der wissenschaftlichen Didaktik ihr Gegenstand fehlt, läßt sich das kaum an ihren Einlassungen dingfest machen. Es läßt sich höchstens bis zum Beweis des Gegenteils die Hypothese wagen, daß ein Gegenstand — in der Gesamtheit aller Texte — nicht vorhanden ist. Die Texte selbst können höchstens Aufschlüsse darüber liefern, weshalb ein Gegenstand ausgeblendet bleibt, oder Begründungen für Gegenstandsverzicht bereithalten, die dann jeweils Gegenstandsmangel plausibel erscheinen lassen. Demgegenüber verfährt Lödige folgendermaßen: Er wählt aus der Gesamtheit der Didaktiker ihm wichtig erscheinende Personen aus; aus deren umfangreichem Gesamt-werk zieht er ausgewählte voluminöse Schriften heran, die er in wenigen Sätzen — zutreffend, wie er meint — referiert oder deren Anliegen er durch — teilweise zusammenhanglos-fetzenhafte — Kurzzitate zu repräsentieren glaubt. Gezeigt wird damit — allerdings nur stellenweise — fehlende Gegenstandsthematisierung. Außerdem: Anstelle einer Konzentration auf die Fragestellung bedient sich der Autor eines eigentümlichen Assoziationsverfahrens, indem er — teilweise beliebig — Aspekte aus Zusammenhängen aufgreift und weiterverfolgt, die mit dem Gegenstand Genannten nichts oder nur mittelbar etwas zu tun haben — und deswegen als Beleg seiner Nicht-Existenz herhalten müssen.

Gekoppelt wird all das mit dem Gestus dessen, der als enzyklopädisch Kenntnisreicher kraft Wissen Glaubwürdigkeitskredite beanspruchen kann. Manch mokante Bemerkung, eilfertige Beurteilung und großmütig formulierte Einschätzung täuscht Souveränität vor. Das paßt zu einer aufgeblähten Typologie von Gegenwart, sechziger und siebziger Jahren sowie junger Garde — eine Typologie, die bei einfachster Prüfung sich schlicht als albern erweist. Vielen Außenstehenden aber erschließen sich die damit vermachten Peinlichkeiten nicht ohne weiteres. Nur an sie kann aber der Aufsatz adressiert sein, da er bei den Insidern, die sich nach des Autors Beschluß ja weitgehend auf die von ihm zitierten Gewährsleute beschränken, kaum auf Einverständnis stoßen wird und will. Verbirgt sich dahinter vielleicht als — eventuell unbewußte — Absicht eine Art Lächerlichmachung der Disziplin? Sie erklärte immerhin das Ausbleiben von Konstruktivität. Und zur augen-zwinkernd-despektierlichen Umgangsweise mit einigen Kategorien und Theoremen paßt es auch’ die sich des Zuspruchs der Gegner von Theoriebildung und politischer Aufklärung gewiß sein können. 4. Materiale Verdrängung als kontraproduktive Funktion Dialektik der Absicht und Ironie der Darstellungskompetenz führen dazu, daß der Autor sich selbst widerlegt und seine Schulmeisterei ad absurdum führt. Denn mehrmals nimmt er zu seinen Versuchen des Nachweises von Gegenstandsmangel ausgerechnet massive Erörterungen zum Gegenstand von Didaktik. Autoren wie Hilligen, Sutor, Fischer, Giesecke, Schmiederer, Gagel, Schörken, Kühr und Claußen, die materialiter etliches trennt, eint er durch den Vorwurf gemeinsamer Objektlosigkeit mit unterschiedlichen Ausprägungen. Dabei sind sie — über alle Kontroversen hinweg und ähnlich wie renommierte, ungenannt gebliebene Kolleg(inn) en — im mehr oder minder gelingenden Dialog um Fachdidaktik bemüht. Diese hat in deren Schriften all das zum Gegenstand, was nominell politische Bildung genannt wird und/oder als solche nach spezifischen Kriterien konstruierbar ist. Die Gezausten leisten — durch punktuelle Analysen und Eingriffe in laufende Diskussionen, empirische oder hermeneutische Forschung, Wirklichkeitsdeutung und Programmentwicklung — Aufklärung über (und Antizipation von) inhaltlich spezifische(r) pädagogischer) Praxis. Dabei geht es ihnen hauptsächlich — wenn auch mit gelegentlichen arbeitsteiligen Akzentsetzungen — um die Voraussetzungen, Bedingungen, Ziele, Inhalte, Methoden, Medien und Wirkungen faktischer oder für wünschenswert erachteter politischer Bildung. All das macht den Gegenstand der Didaktik als plurale, aber im Diskurs letztendlich auf Singularität durch Konsensfindung zielende Wissenschaftsdisziplin aus. Gegenwärtig ist dabei vieles strittig, unzulänglich — und allemal hypothetisch. Es ist dies auch und gerade dort, wo einige Fachvertreter durch Mitwirkung an Richtlinien bzw. Lehrplänen und/oder als Schulbuch-autoren die Gegenstände politischer Bildung materialiter, formaliter oder kategorial mit-prägen.

Lödige mag das nicht sehen oder nicht als Gegenstand werten. Blindheit kann dafür nicht die Ursache sein. Anders: Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, daß er die Gegenstandsmangelthese nur wagt, um damit sich des mit dem Gegenständlichen Ausgedrückten und Intendierten zu entledigen. So unvollkommen die Gegen-Standsbearbeitung ist, bleibt es sein gutes Recht, andere Prioritäten zu setzen und den Gegenstand anders zu dimensionieren. Hätte er dazu etwas zu sagen, würde er es wohl tun. Vielleicht wird aber auch nur eine Art Marktlücke künstlich zwecks Ausbeutung zu schaffen versucht, weil Substantielles zur Konturierung des längst ausgemachten Gegenstands nicht mehr zu erwarten ist. Die Art aber, mit der Lödige seine — gelegentlich zwischen den Zeilen aufscheinenden — Vorbehalte gegen Gegenstandsbehandlungen als Lamento über Gegenstandsmangel kaschiert, ist kontraproduktiv. Sie spielt in die Hände derer, denen Fach-didaktik der politischen Bildung und die politische Bildung selbst ein Dorn im Auge sind und die auf alle möglichen, auch fadenscheinigen Gründe nur warten, ihnen den Garaus machen zu können. Das stört unseren Autor sicher nicht, wo er doch unumwunden zu erkennen gibt, daß man auch ohne politische Bildung gut durchs Leben kommen könne und die Relevanz politischen Lernens für das Überleben der Individuen zu bezweifeln sei. Arroganz und Zynismus lagen schon immer nahe beieinander. Und ihren Gegenstand verfehlten sie stets. Bernhard Claußen

Eine Analyse ohne Instrumente

1. Themenstellung Gewiß ist dies ein interesseweckender Titel: „Didaktik der politischen Bildung: Eine Wissenschaft ohne Gegenstand?“ Wer wäre nicht versucht, sich aufzumachen auf die „Suche nach dem verlorenen Gegenstand" der politischen Didaktik? Freilich: Wenn der Autor stutzig wurde angesichts der zitierten Aussage, daß die Fachdidaktik des politischen Unterrichts „keinen speziellen Gegenstandsbereich wie die Politikwissenschaft“ habe, so wird der Didaktiker seinerseits über dieses Stutzigwerden stutzig, gehört es doch zu den Voraussetzungen seines Faches, daß sich Didaktik mit dem sogenannten didaktischen Dreieck Schüler — Sache — Lehrer beschäftigt und mithin sich auf eine Beziehung und nicht auf einen Gegenstand richtet. Das also ist mit „Tätigkeit“ gemeint:

das Nachdenken darüber, welcher Art diese Beziehung sein soll und wie sie hergestellt werden kann. Jedoch behauptet kein Mensch, wie der Autor meint, daß das Unterrichten ohne Gegenstand erfolgen könne; Didaktik aber thematisiert die Vermittlung zwischen Gegenstand und Lernenden. Soweit die erforderliche Klarstellung. Dessenungeachtet ist die Frage nach der Rolle des Gegenstandes in der politischen Didaktik eine legitime Fragestellung, die beim Leser Neugier auf mitteilenswerte Ergebnisse weckt. 2. Methode Interessiert wendet man sich der folgenden Darstellung von „Theorien“ der politischen Didaktik zu: Hilligen und Sutor, Fischer und Giesecke, Schmiederer und Schörken/Gagel als die „alte“, Kühr und Claußen als die „junge Garde“. Aber den Erwartungen, in den Einzeldarstellungen Antworten auf die Themenfrage zu finden, wird der Autor nicht gerecht. Sicherlich, er will nur „eher skizzenhaft“ darstellen, kann dies ja auch nicht anders angesichts des knappen Raumes. Aber Skizzen woraufhin?

Der Titel des Aufsatzes führt den Leser zu Fragen wie: Welchen Stellenwert haben die Inhalte — welcher Art sind sie in der jeweiligen „Theorie“? — oder ist mit „Gegenstand“ noch etwas anderes gemeint? Aber derartige Fragen findet man nicht und infolgedessen auch keine Antworten, sondern geboten wird eine Kurzcharakteristik der jeweiligen „Theorie“. Und hier sehe ich einen Bruch zwischen Themenstellung und Einlösung; die anfangs geweckten Erwartungen bleiben unerfüllt. Auch für sich genommen hinterlassen diese Skizzen einen zwiespältigen Eindruck. Kennzeichnende Zitate stehen zwischen unbegründeten Wertungen, Ungenauigkeiten finden sich, subjektive Meinungen und gedankliche Nachlässigkeiten. Ein Beispiel sei angeführt.

Hilligen, so berichtet der Autor, führe „Begründungen“ und „Argumente“ an, um seine Optionen zu untermauern. Das erregt Mißfallen. Denn wissenschaftlich sei es, so meint der Autor, „Beweise“ zu verwenden. Hilligen hingegen verwechsle Wissenschaft mit einem „Besinnungsaufsatz“, so suggeriert er in Frageform (S. 5). Nur weiß der Autor offenbar nicht, daß Begründungen und Argumente Teile von „Beweisen“ sind, wie man in Handbüchern über Wissenschaftstheorie nachlesen kann. Das vernichtend klingende Urteil löst sich in Luft auf.

Und dann das Zitieren: Hilligen habe gesagt, daß die Unverletzlichkeit der Person „mitunter“, und nun zitiert der Autor wörtlich: „gegenüber kollektiven Zielen hintangesetzt (wird)“, und er kommentiert, das sei Anlaß, über diesen Sachverhalt nachzudenken, was er bei Hilligen vermißt. Nun meint Hilligen keineswegs, daß der Sachverhalt „mitunter“ geschehe, sondern bezieht ihn in dem Zitat, wenn man es vollständig nachliest, auf faschistische und sozialistische Systeme, was aber bei dem Autor unter den Tisch fällt. Berücksichtigt man das Zitat vollständig, dann ist das darauffolgende Zitat von E. Bloch kein „eskamotieren“, wie der Autor moniert, sondern ein Beleg für die in-B nermarxistische Kritik. Nichts mehr und nichts weniger. Vielleicht ist das keine bewußte Verdrehung, dann sollte der Autor aber seinen Zettelkasten besser organisieren.

Das Beispiel veranschaulicht die Arbeitsweise. Der Autor hütet sich, zu argumentieren oder zu begründen, denn das wäre ja Besinnungsaufsatz und seiner nicht würdig. Folglich werden subjektive Meinungen an Zitate geknüpft, Behauptungen werden aufgestellt, Stimmung wird erzeugt. Wenn Sutor sagt, der Mensch „suche“ den Sinn des Daseins, so hat jeder das Recht, damit nicht einverstanden zu sein, indem er Gründe anführt; aber unterschwellig dadurch zu diskreditieren, daß der Autor bekennt, er werde dabei „stutzig“ (S. 6), ist nicht redlich. Rhetorische Fragen, die Zweifel ausdrücken, nennt der Autor „Interpretation“ (S. 6), ich nenne sie Stimmungsmache. Ein Zitat von Sutor, in dem dieser „die Frage nach den sozialen Strukturen und nach sozialstrukturellen Bedingungen gegenwärtiger Probleme und Konflikte“ stellt, kommentiert der Autor: „Und genau eine solche Analyse scheint mir bei Sutor“ zu fehlen (S. 7), eine unbelegte Behauptung. Widersprüchlich sei der Begriff des Naturrechts, weil es in der Natur kein Recht, sondern nur Gesetze gebe (S. 8) — eine Verwechslung von philosophischem mit biologischem Naturbegriff. Da fehlt es nach Meinung des Autors jemandem an Logik (S. 8), anderen wieder an Kenntnis der Kritischen Theorie (S. 9). „Möglichkeit“ und „Wirklichkeit“

seien „völlig disparate Bereiche“ und nicht „kompatibel“ — ein Indiz für Schmiederers Theorie-schwäche (S. 11): Woher weiß der Autor dieses so genau? Dabei handelt es sich bei diesen Wörtern um die in der Philosophie gebräuchlichen „Modalbegriffe“, die als solche logisch und ontologisch aufeinander bezogen sind. Mit wem der Autor nicht einverstanden ist, der hat keinen „Begriff von Politik“, sondern nur einen „Politik-Begriff“

(S. 14), was immer das bedeuten mag. Und ein kritischer Politikdidaktiker avanciert zum „Kybernetikus“, weil er das Wort „System“ verwendet (S. 15). 3. Ergebnis Mit der Validität der Einzelanalysen ist es angesichts des geschilderten methodischen Vorgehens nicht weit her. Antworten auf die Ausgangsfrage werden dort nicht gegeben. Etwas mehr steht in der Zusammenfassung (S. 15ff.), die Feststellungen enthält wie: Hilligen übergehe „mit seinen Argumenten die Frage nach den inhaltlichen Bestimmungen der Gesellschaft“ (S. 15), obwohl dessen Optionen als normative und die Kategorien als strukturelle Bestimmungen verstanden werden müssen. Sutor gehe „inhaltlichen Problemen dieser Gesellschaft“ nicht nach (S. 16): Dabei enthält fast die Hälfte des Bandes II seiner Didaktik eine inhaltliche Entfaltung von Themenkreisen. Schmiederer trete dem Subjekt mit „inhaltlichen Bestimmungen" nicht zu nahe (S. 16): Aber den Inhaltskatalog in Schmiederers Didaktik hat der Autor nicht berücksichtigt. Bei anderen hebt er deren Ziele hervor — kein Bezug auf die Themafrage.

Die „inhaltlichen Bestimmungen“: Sie scheinen dem Autor wichtig zu sein, denn sie kehren als eine Art Kriterium häufiger wieder. Aber was heißt das? Meint er „Determination“, „Prädestination“? Sind es „Bestimmtheiten“ von Gegenständen, also Eigenschaften, oder ist es die „Bestimmung des Unbestimmten“ durch die Form, also die Konstituierung von Gegenständen überhaupt, oder sind es gar „objektiv bestimmte Gegenstände“? Schön wäre es, wenn der Autor „Roß und Reiter“ genannt hätte, wie er es von anderen verlangt, also wie er sich die Explikation des Inhaltsproblems (oder ist es ein Gegenstandsproblem?) vorstellt. Eine Analyse von Texten setzt voraus, daß das die Interpretation leitende Vorverständnis offengelegt wird, sonst ist eine wissenschaftliche Kommunikation nicht möglich.

Am Schluß kommt dann die Überraschung: Nur der „jungen Garde“ sei der Gegenstand verloren gegangen; den älteren Didaktikern wird hingegen zugestanden, es sei ihnen „noch irgendwie um die inhaltliche Substanz ihres Gegenstandes“ gegangen (S. 16): Inhalt, Substanz, Gegenstand — zweimal sattelt der Autor zum Lobe der älteren drauf, deren Inhaltslosigkeit und Formalismus er vorher nachhaltig beklagt hatte. Für den Leser allerdings bleibt unerfindlich, wie der Autor jetzt zu diesem Urteil kommt.

Ein Ergebnis kann ich nicht feststellen, das den Aufwand dieser 16 Druckseiten rechtfertigen würde; erst muß das wissenschaftliche Kleingeld gezählt werden, ehe man es in große Scheine umwechselt. Der Vorwurf, die politische Didaktik sei eine „instrumentelle Wissenschaft“ geworden, ist der letzte Satz dieses Aufsatzes (S. 18). Für mich hat dies einen positiven Sinn. Didaktik liefert die Instrumente für ein kontrolliertes Nachdenken über Was und Wie des politischen Lernens an Gegenständen. Derartige Instrumente hätte man auch dem Autor gewünscht. Er hingegen versucht sich an einem Analysieren ohne Instrumente.

Walter Cage!

Kritik ohne Methode

Im wissenschaftlichen Diskurs gibt es durchaus die Möglichkeit, daß der Kritiker den Kritisierten besser versteht, als dieser sich selbst verstanden hat, daß unter kritischer Beleuchtung Leistungen und Defizite eines Werkes klarer hervortreten als in dessen Selbstdarstellung. Voraussetzung dieser Leistung von Kritik ist allerdings das eindringende Verstehen. Daran muß hier deshalb einleitend erinnert werden, weil Hartwig Lödige mit seinem Beitrag schon im Titel den Anspruch erhebt, die Didaktik der politischen Bildung besser verstanden zu haben als diese sich selbst. Gespannt gibt man sich an die Lektüre und hofft, einen neuen Aspekt zur Weiterführung der Fachdiskussion zu entdecken. Statt dessen wird man Zeuge eines Rundumschlages, der nichts geringeres beansprucht, als das Fach zu erledigen: Die politische Didaktik ist eine „instrumentelle Wissenschaft“ geworden, weil sie das „Zentrum der Wissenschaft“, nämlich die Regeln der Logik und die Konzentration auf den Gegenstand, durch den politischen Standpunkt des Denkers ersetzt (S. 18). Beweis: Der Pluralismus der Positionen in politischer Pädagogik, der aus dem Pluralismus der Bezugswissenschaften resultiere — wobei hier auf einmal Pluralismus nur Mehrzahl heißt! — und aus dem Pluralismus der Staatsbürgerideale.

Ein Phänomen, das kompetenten Teilnehmern der Diskussion seit 30 Jahren geläufig ist — das die Didaktik politischer Bildung übrigens mit ihren Nachbardisziplinen gemeinsam hat, nämlich der Pluralismus von Positionen —, wird hier zum Totenschein der Disziplin erklärt. Der Beweis könnte, zwar nicht für eine theoretisch denkbare, aber immerhin für die faktisch bei uns betriebene politische Didaktik versuchsweise geführt werden, wenn man nachweisen würde, daß „der politische Standpunkt des Denkers“ oder der Pluralismus der Positionen Didaktik daran hindere, methodisch transparente und konsistente Aussagen zu machen über Ziele, Inhalte und Methoden politischer Bildung. Aber gerade diese Frage blendet Lödige aus, sie scheint ihn gar nicht zu interessieren. Was er „beweisen“ möchte, steht vorher fest.

Ich habe nicht die Absicht, mich im inhaltlichen Detail mit Lödige auseinanderzusetzen. Es lohnt nicht. Worauf es mir hier ankommt, ist die Machart seines Aufsatzes. Er stellt eine Kritik dar, die den Standards wissenschaftlicher Methode nicht genügt. Diese Behauptung möchte ich an drei Punkten exemplarisch beweisen. 1. Was heißt „Gegenstand“: Material-oder Formalobjekt?

Es ist schon erstaunlich, in einem Aufsatz dieses Titels und dieser Absicht nirgends den Versuch einer Definition von „Gegenstand“ zu finden. Was soll es denn heißen zu sagen, Wissenschaft konzentriere sich auf Gegenstände? Und wieso soll die politische Didaktik, sofern sie sich mit Fragen der politischen Bildung befaßt, eines Gegenstandsbereichs entbehren? Der Leser wird dazu mit einem mißverständlichen Zitat von Walter Gagel abgespeist (S. 3); später heißt es dann noch, die vielen Bezugswissenschaften der Didaktik hätten auch den Gegenstand des politischen Unterrichts, nämlich Politik und Gesellschaft, zum Gegenstand (S. 17). Viele Nachbar-oder Bezugswissenschaften zu haben, ist allerdings eine Eigenart nicht nur der politischen Didaktik, sondern aller Sozialwissenschaften.

Es gehört zum kleinen Einmaleins wissenschaftstheoretischer Reflexion, zwischen Material-und Formalobjekt zu unterscheiden. Ich habe den Eindruck, Lödige meint, wenn er von Gegenstand redet, immer nur das Materialobjekt, die Sache in ihrer Inhaltlichkeit, der sich Wissenschaften in je eigener Weise zuwenden. Aber auf eben diese je eigene Weise kommt es an, wenn man Wissenschaften sinnvoll unterscheiden und einander zuordnen will. Eine Wissenschaft unterscheidet sich von ihren Nachbardisziplinen nicht dadurch, daß sie inhaltlich einen anderen, einen spezifischen Gegenstand hätte, vielmehr dadurch, daß sie Gegenstände unter einem bestimmten Hinblick, unter einem spezifischen Aspekt betrachtet. Das Formalobjekt konstituiert eine Wissenschaft als eine bestimmte und unterscheidbar von anderen.

Bekanntlich kann eine Wissenschaft materialiter sehr unterschiedliche Gegenstände untersuchen. Die Geschichtswissenschaft kann alles Vergangene, zu dem sie einen methodisch gesicherten Zugang findet, zum Gegenstand ihrer Untersuchung machen, von technischen Geräten über Haus-und Siedlungsformen, über soziale Strukturen und politische Ordnungen bis hin zu Sinndeutungen in Kunst, Religion und Philosophie. Andererseits kann der materialiter gleiche Gegenstand zum Objekt unterschiedlicher Wissenschaften werden, insofern ihn jede dieser Wissenschaften unter ihrem spezifischen Aspekt betrachtet. Der Mensch ist u. a. Gegenstand der Biologie und der Medizin, der Soziologie und der Psychologie, der Geschichte und der Politikwissenschaft, aber jeweils in diesen Wissenschaften unter einem spezifischen Fragehorizont, der die jeweilige Wissenschaft konstituiert und von den anderen abgrenzt. Für das Begreifen und Betreiben politischer Didaktik als einer eigenständigen Wissenschaft macht es also gar keine Schwierigkeit, wenn sie ihre Gegenstände materialiter mit anderen Wissenschaften gemeinsam hat, mit der Soziologie, mit der Politikwissenschaft usw. Daß sich daraus praktische Schwierigkeiten sowohl für den Didaktiker als auch besonders für den Lehrer ergeben, liegt auf einer anderen Ebene. Aber auch die Notwendigkeit der Reduktion von Komplexität, die Lödige in diesem Zusammenhang nennt, gibt es nicht nur in der Didaktik.

Das Formalobjekt politischer Didaktik, der die Einheit ihrer heterogenen Gegenstände konstituierende Aspekt, ist die Frage nach der Bedeutsamkeit für politische Bildung. Hier freilich liegt ein wissenschaftstheoretisches Grundproblem, dem sich Lödige mit Scharfsinn hätte zuwenden können, statt der politischen Didaktik daraus einen Strick zu drehen. Denn auch dieses Problem hat sie mit ihren Nachbarwissenschaften gemeinsam: Wenn ich etwas über die Bedeutung zum Beispiel von Ergebnissen der Sozialisationsforschung oder der Entwicklungspsychologie, der Ökonomie, der Soziologie oder der Politikwissenschaft für politische Bildung sagen will, wenn ich mit Hilfe solcher Überlegungen die vorfindbare Praxis politischer Bildung verbessern, ihre Ziele besser begründen, ihre Inhalte präzisieren, ihre Methoden plausibler machen will, dann muß ich einen Vorbegriff von politischer Bildung haben, und dies heißt, einen Vorbegriff zu haben sowohl von Politik als auch von Bildung.

Wir bewegen uns hier in einem unvermeidbaren Zirkel, in welchem auch die von Lödige strapazierten positionsbedingten Vorentscheidungen und Werturteile eine Rolle spielen. Aber ebenso wie die Wissenschaft von politischer Bildung einen Vorbegriff eben von politischer Bildung braucht, so braucht Politikwissenschaft einen Vorbegriff von Politik, Soziologie einen solchen von Gesellschaft, Geschichtswissenschaft einen solchen von Geschichte. Ich vermag nicht zu sehen, wie dieser wissenschaftstheoretische Zirkel die einzelne Wissenschaft selbst unmöglich machen soll. Es sei denn, man ersetzt die Beobachtung und Erörterung der Sache durch ein endloses Kreisen in diesem Zirkel. Dafür gibt es gewiß abschreckende Beispiele wiederum nicht nur in der politischen Didaktik, sondern auch in Soziologie, Politik-und Geschichtswissenschaft.

Die Detailkritik an Konzepten politischer Bildung könnte viel Theorielastigkeit und Mangel an Praxisbezug anprangern, aber darum scheint es Lödige gar nicht zu gehen. Vielmehr blendet er die Frage nach Praxisbezug und praktischer Bedeutung einzelner Konzepte politischer Bildung, die übrigens auch an zahlreich vorliegenden Lehrbüchern der Autoren zu untersuchen wäre, geradezu aus. Damit bin ich beim zweiten Punkt meiner Kritik.

2. Interpretation oder Zitatencollage?

Jedes Zitat wird aus seinem Zusammenhang her-ausgelöst und vom Zitierenden in einen neuen Zusammenhang eingefügt. Das ist unvermeidlich, und deshalb kann man daraus niemandem einen Vorwurf machen. Was man aber verlangen kann, verlangen muß, ist das Bemühen des Zitierenden, das Zitat aus dem Kontext heraus zu verstehen und zu interpretieren, dem es entnommen ist. Dies ist jedoch bei Lödige schon aus Gründen des Raumes und der Quantität nicht möglich. Sein Aufsatz enthält ca. 100 Zitate, was ans Absurde grenzt. Auf diese Weise kann nur eine Zitatencollage entstehen. Wozu das führt, will ich nur an zwei Zitaten zeigen, die Lödige meinen Veröffentlichungen entnimmt.

Lödige schreibt in seiner Einleitung: „Das Spektrum der Ideale vom Staatsbürger reicht von Positionen, die sich am sogenannten realen Sozialismus delektieren, bis hin zu Positionen, die der Auffassung sind, politische Bildung solle , zu sinn-vernehmendem Denken führen’." Zu diesem Satz gehören zwei Anmerkungen, von denen die erste auf Veröffentlichungen von Wolfgang Christian und von Jürgen Belgrad hinweist, während die zweite den Fundort des aus meiner Didaktik zitierten Halbsatzes nennt und daran anschließt: „Sutor hat seine Position inzwischen gründlich revidiert: vgl.ders., Neue Grundlegung politischer Bildung, 2 Bde., Paderborn 1984, hier insbesondere ebd., Bd. l, S. 67, 129 ff., 136 ff."

Zunächst einmal erweckt Lödige beim Leser mit seiner zweiten Anmerkung den Eindruck, in der Neubearbeitung meiner Didaktik von 1984 stehe etwas ganz anderes, als was der von ihm zitierte Halbsatz aus meiner früheren Veröffentlichung meint. Was in diesem Zusammenhang der Hinweis auf drei Stellen in meiner Neubearbeitung soll, bleibt sein Geheimnis.

Ferner scheint Lödige, da er von einem Spektrum der Ideale vom Staatsbürger spricht, bei mir eine äußerste Gegenposition vertreten zu sehen gegenüber Autoren, die „sozialistische“ Positionen einnehmen. Darüber wäre differenzierter zu reden, wobei vor allem beachtet werden müßte, daß wer etwas gegen Sozialismus hat, damit noch nicht in einer anderen Ecke steht. Aber der von Lödige aus meiner früheren Didaktik zitierte Halb-satz hat mit dieser Frage gar nichts zu tun; er bleibt jedoch, aus seinem Kontext herausgelöst, völlig unverständlich. Es geht in dem Abschnitt, in dem er steht, um das Verhältnis von Einsicht und Gewissen, also von Erkenntnisgewinnung und Werturteil. Die Passage am Schluß des Abschnittes lautet bei mir:

„Politische Bildung ist mehr als Kunde, Wissens-und Kenntniserwerb, mehr als die Betätigung der intellektuellen Funktion des Denkens am Gegen-_ stand Politik: sie soll zu sinnvernehmendem Denken führen, zu Einsichten in den Anspruchs-und Aufgabencharakter des Politischen, sie soll aber gegen alle Formen der Gesinnungs-und Willens-pädagogik die Grundhaltung der Sachlichkeit, den Vorrang des Denkens bewahren“ (Didaktik des politischen Unterrichts, Paderborn 19732, S. 264).

Daß ich diese Position inzwischen keineswegs „gründlich revidiert" habe, wie Lödige behauptet, möge ein einziges Zitat aus der Neubearbeitung zeigen, wo Rationalität als „praktischer Begriff“ erläutert wird: „Es geht also um einen Begriff von Rationalität, der die mit den Methoden einzelner Wissenschaften gesicherten Verstandeserkenntnisse, perspektivischen Erklärungsmodelle und Theorien nicht verwirft, aber sie auf die Leitideen politischen Handelns hin (Freiheit, Gerechtigkeit, Frieden) transzendiert. Vernunft bezieht die Einzelerkenntnisse des Verstandes und die modellhaften Erklärungsversuche einzelner Wissenschaften auf allgemeine und wertorientierte Grundeinsichten: sie stellt also die Frage nach Sinn und Sollen, und zwar in konkreten Situationen. Praktische Philosophie verbindet wissenschaftliche Rationalität mit sittlichem Engagement“ (Neue Grundlegung politischer Bildung, Bd. II, Paderborn 1984, S. 51).

An einer weiteren Passage aus Lödiges Aufsatz sei gezeigt, wie sehr er kontrollierte Interpretation durch willkürliche Behauptungen ersetzt. So schreibt er: „An der seines Erachtens unaufhebbaren Dialektik von Utopie und Realität macht Sutor deutlich, daß die belastende Spannung von Individualität und Sozialität unaufhebbar ist. Der Gedanke, ob solche Belastungen nicht abgeschafft werden sollten, ist Sutor einigermaßen fremd. Inhaltlichen Problemen dieser Gesellschaft, die ihm durchaus geläufig sind, geht er nicht weiter nach: dialektische Anthropologie“ (S. 16).

Diese „Interpretation“ enthält zwei widerlegbare Behauptungen. Der Gedanke, ob die aus der Spannung von Individualität und Sozialität stammenden Belastungen nicht abgeschafft werden sollten, ist mir durchaus nicht fremd. Geht es doch im ganzen ersten Band meiner Neubearbeitung, in der die „Dialektik“ politischer Anthropologie entfaltet wird, um die Begründung der Aussage, daß bei allem notwendigen und wünschenswerten Bemühen um Milderung dieser Spannung, um Verbesserung von Verhältnissen eine anthropologisch-strukturell vorgegebene Grenze bleibe. Das Bemühen um freiere, gerechtere, friedlichere Verhältnisse wird nie an ein Ende gelangen und gerade deshalb immer nötig bleiben. Über diese These und Grundposition kann man ja durchaus streiten, und ich hätte gar nichts dagegen, wenn Lödige dies täte. Statt dessen jedoch mir zu unterstellen, ich sähe die Frage nicht, ist nicht seriös.

Noch erstaunlicher finde ich die Behauptung Lödiges, ich ginge den Problemen unserer Gesellschaft nicht weiter nach, interessierte mich also gleichsam nur für die politisch-anthropologischen Grundfragen. Ich frage mich, wie weit Lödige bei mir gelesen hat. Ich erspare mir Einzelhinweise darauf, was alles an Problemen unserer heutigen Gesellschaft bereits in meiner Entfaltung der „Dialektik“ philosophisch-politischer Anthropologie in Band I enthalten ist, z. B. über Pluralismus-und Konsens-Problematik, über das Verständnis von Demokratie und Verfassungsstaat, über Partizipation, über Freiheit und Gleichheit sowie Grundrechtsverständnis. Den Band II scheint Lödige gar nicht in die Hand genommen zu haben. Dort sind im ersten Hauptteil im Zusammenhang mit der Zieldiskussion die Fragen der Sozialisationsforschung und der Curriculum-Diskussion verarbeitet, während der zweite Hauptteil die Aufgabenfelder politischer Bildung inhaltlich in relativer Breite entfaltet, vom sozialen Umfeld des Schülers über die Probleme der Massenmedien und der politischen Meinungs-und Willensbildung, über die Fragen des Regierungssystems, der Wirtschafts-und Gesellschaftspolitik bis hin zu den Hauptproblemen internationaler Beziehungen.

Meine Didaktik ist, soweit ich sehe, die einzige, die sich die Mühe macht, das theoretisch Entwikkelte systematisch mit unseren heutigen Problemen in Beziehung zu setzen und damit für politische Bildung praktikabel zu machen. Wenn Lödige nicht überzeugt, was ich dort entwickele, dann möge er das sagen und Gründe dafür beibringen. Diesen Versuch durch diffamierende Behauptungen zu ersetzen, hat mit wissenschaftlicher Diskussion nichts zu tun. 3. Verstehen oder Verdrehen?

Die Höchstleistung seiner Verdrehungskünste erreicht Lödige im Schlußteil seines Aufsatzes, wo er mir unterstellt, ich hätte ein Verbot gegen die kritische Theorie ausgesprochen. Lödiges Text legt die Vermutung nahe, daß er weiß was er tut. Er sieht durchaus, daß es an dieser Stelle, die er aus meiner „Neuen Grundlegung“ zitiert, um die Frage geht, ob und unter welchen Bedingungen die unterschiedlichen wissenschaftstheoretischen Positionen heutiger Sozialwissenschaften für die Praxis politischer Bildung miteinander vereinbar sind. Aber er dekretiert schlichtweg, „in Wahrheit“ gehe es „wohl kaum“ um diese Komplementarität (S. 17). Dann zitiert er aus meinen Darlegungen folgenden Satz: „Der historisch-dialektische Ansatz darf nicht beanspruchen, die Totalität der Gesellschaft in ihrer geschichtlichen Entwicklung erklären zu können, so daß Geschichtsphilosophie an die Stelle situationsbezogener verantwortlicher Reflexion politischer Praxis treten würde.“ Was dann folgt, verstehe, wer will: „An diesem Satz des Systematikers Bernhard Sutor läßt sich die Logik der politischen Pädagogik komplett entschlüsseln“ (a. a. 0.). Meine Fachkollegen werden sich bedanken, mit Hilfe eines aus seinem Kontext herausgelösten Satzes eines ihrer Kolle-B gen die Logik ihrer politischen Pädagogik entschlüsselt zu bekommen.

Den „Schlüssel“ liefert für Lödige das Wörtchen „darf“. Mit großem Scharfsinn und unter Beiziehung einer linguistischen Autorität „beweist“ Lödige, hier werde ein Verbot darüber formuliert, was eine wissenschaftliche Theorie dürfe und was nicht; dieses Verbot gründe zudem auf einer falschen Behauptung, denn seines Wissens habe kein kritischer Theoretiker je behauptet, die Geschichte in ihrer Totalität erklären zu können. Nebenbei bemerkt: daß bei mir von der Totalität der Gesellschaft, nicht der Geschichte, die Rede ist, hat Lödige inzwischen trotz allen Scharfsinns übersehen.

Ich zitiere im folgenden der Einfachheit halber die gesamte Passage, aus der Lödige den einen Satz über kritische Theorie herausgelöst hat. Der Leser mag sich dann selbst ein Urteil darüber bilden, ob hier Bedingungen für die komplementäre Berücksichtigung unterschiedlicher Theorieansätze in der Praxis politischer Bildung formuliert werden oder ob Verbote ausgesprochen werden, die ja dann, wohlgemerkt, nicht nur für die kritische Theorie, sondern für alle vier genannten Ansätze gelten würden. Der letzte Absatz des folgenden Zitates weist übrigens nachdrücklich darauf hin, daß auch für die Praxis politikwissenschaftlicher Forschung die theoretischen Positionen heute eine sehr eingeschränkte Bedeutung haben. Ich bin deshalb weit davon entfernt, sie so wichtig zu nehmen, wie Lödige mir unterstellt. Der gesamte Abschnitt lautet bei mir (Neue Grundlegung politischer Bildung, Bd. I, Paderborn 1984, S. 54): „Fachdidaktik kommt nicht aus ohne theoretische Fundierung und Orientierung. Will sie aber Hilfe sein für die Praxis politischer Bildung an öffentlichen Schulen, die auf Pluralität verpflichtet sind, dann muß sie zugleich eine zu enge und insbesondere eine einseitige theoretische Festlegung vermeiden. Meine aus der bisherigen Erörterung zu folgernde These lautet nun: Die Orientierung an der Tradition und dem Konzept Praktischer Philosophie ermöglicht der Didaktik des Politikunterrichts bei einer gewissen Nähe zur praktisch-normativen Theorie der Politikwissenschaft zugleich die komplementäre Berücksichtigung der Ansätze, Methoden und Ergebnisse anderer Theoriekonzepte, sofern diese ihren Ansatz nicht verabsolutieren. Für die vier dargestellen Theoriekonzepte sei das noch einmal kurz umrissen, damit deutlich wird, daß es nicht um falsche Harmonisierung geht, sondern um Komplementarität in einem weiten philosophischen Horizont.

Der empirisch-analytische Ansatz darf nicht positivistisch eingeengt werden unter dem Anspruch, mit seiner Methode werde die soziale Wirklichkeit schlechthin erfaßt, die Wert-und Entscheidungsfragen könnten auf diese Weise eliminiert werden, so daß Politik sich auf Sozialtechnik reduziert. Die führenden Theoretiker des Kritischen Rationalismus sind, wie wir gesehen haben, von diesem überzogenen Anspruch weit entfernt.

Die Systemtheoretiker dürfen ihre Bilder und Modelle vom Ganzen der Gesellschaft und von deren Subsystemen nicht mit dem Ganzen der Realität gleichsetzen. Sie müssen sich offenhalten für die aus dem Interesse an der Würde des Menschen entspringenden systemkritischen Fragen. Bei aller Rede von funktional-strukturellen Prozessen und ähnlichem sollte Raum bleiben für die Frage nach dem intentionalen Sinn, der sich in sozialen Strukturen und Institutionen verobjektiviert hat.

Der historisch-dialektische Ansatz darf nicht beanspruchen, die Totalität der Gesellschaft in ihrer geschichtlichen Entwicklung erklären zu können, so daß Geschichtsphilosophie an die Stelle situationsbezogener verantwortlicher Reflexion politischer Praxis treten würde. Dabei ist nicht zu bestreiten, daß die Vorstellung von einer Ganzheit der Gesellschaft und der Geschichte als Denkhorizont notwendig ist. Aber die Anhänger der Kritischen Theorie sollten einräumen, daß es mehr als eine kritische Theorie der Gesellschaft geben kann; und sie sollten ihr Emanzipationspostulat der Kontrolle durch andere Theorieansätze unterwerfen. Der praktisch-normative Ansatz darf nicht vergröbert werden zur Identifizierung von Norm und Realität. Er muß sein kritisches Potential dadurch entfalten, daß er die soziale und politische Wirklichkeit am Anspruch ihrer eigenen Sinn-Normen mißt und so Defizite aufdeckt. Dazu kann ihm die ergänzende Einbeziehung der anderen Theorie-konzepte, insbesondere der Kritischen Theorie helfen.

Politische Bildung sollte sich also nicht auf eine spezialistische Richtung von Sozialwissenschaft und auf einen einzigen Theorieansatz gründen. Sie muß Gesellschaft und Politik vielmehr so zu fassen versuchen, daß im Unterricht sowohl die empirisch orientierte Analyse sozialer Wirklichkeit und die kausale Erklärung sozialen Verhaltens der Menschen als auch die argumentative Erörterung politischer Möglichkeiten und die kommunikative Begründung von ethischen Normen politischen Entscheidens möglich bleibt. Im Blick auf die heute sehr stark differenzierte und spezialisierte sozial-und politikwissenschaftliche Forschung ergibt sich im übrigen der Gesamteindruck, daß die Theoriekonzepte ohnedies meist gleichsam quer zur Realität der Forschung stehen. Die selbstkritischen Wissenschaftler bedienen sich unterschiedlicher Methoden in Kenntnis ihrer Relativität und der Notwendigkeit ihrer gegenseitigen Ergänzung.“ Ob im übrigen meine Interpretation kritischer Theorie in meiner „Neuen Grundlegung politi33 scher Bildung“ zutreffend ist oder nicht, überlasse ich gern dem Urteil von Fachleuten. Ganz unbezweifelbar jedenfalls scheint mir die Aussage, daß kritische Theorie der Gesellschaft, wie sie etwa von Adorno und Horkheimer begründet, von anderen weitergeführt wurde, ohne die Kategorien gesellschaftlicher Totalität und Dialektik von Einzelnem und Ganzem nicht vorstellbar ist. Dabei ist Totalität der Gesellschaft für die Praxis der von kritischer Theorie intendierten Sozialforschung mehr als ein notwendiger Denkhorizont, nämlich Erklärungsgrund für das Soziale im einzelnen und in seiner geschichtlichen Entwicklung (vgl. etwa Th. W. Adorno in: Positivismusstreit in der deutschen Soziologie, Darmstadt 19722, S. 85 und S. 127).

Lödige wird wohl aus seiner Kenntnis der politik-didaktischen Literatur nicht bestreiten wollen, daß es dort in manchen Varianten die kurzschlüssige Auslegung des Gedankens der Totalität der Gesellschaft gegeben hat und gibt, so als wüßten wir soziologisch über die antagonistische Klassenstruktur dieser Gesellschaft ebenso Bescheid wie über die damit begründbare Notwendigkeit eines emanzipatorischen Prozesses hin zu der dann erst wahr werdenden Demokratie. Deshalb ist es wohl auch erlaubt, ja notwendig, vor solcher Verabsolutierung eines sozialphilosophischen Gedankens, vor seiner Umwandlung in eine wissenschaftliche Aussage zu warnen.

Wie wenig jedoch Lödige meine Intentionen gegenüber der kritischen Theorie und meine Einschätzung ihrer Bedeutung begriffen hat, mag ein letztes Zitat aus meiner „Neuen Grundlegung“ belegen, in welchem ausdrücklich vom Korrelationsverhältnis von normativ-praktischer und kritischer Gesellschaftstheorie und von der Bedeutung dieses Verhältnisses für politische Bildung die Rede ist (Neue Grundlegung politischer Bildung, Bd. I, Paderborn 1984, S. 38 f.): „Praktische Philosophie und kritische Gesellschaftstheorie können sich beide nur unter Prämissen entfalten, die Gegenstand der Reflexion in philosophischer Anthropologie werden. Diese versucht, die Strukturmomente zu erfassen, die konstitutiv sind für Praxis: menschliches Handeln als intentionales Handeln mit Entwurfs-und Aufgabencharakter, eingebunden in eine geschichtlich-soziale Lebenswelt, die ihrerseits als Ergebnis vorausgegangener Praxis sinnbestimmte Welt ist, Verobjektivierungen gemeinten Sinnes enthält; menschliches Handeln in seiner Bezogenheit auf einen Sinnentwurf vom Menschen, wie immer dieser unterschiedlich im Laufe unserer Geschichte gedacht, formuliert, sozial ausgeprägt, verletzt und mißachtet wurde...

Es geht nicht darum, politische und politikdidaktische Fragen präskriptiv vorzuentscheiden, sondern gerade umgekehrt darum, begrifflich den weitesten Horizont zu gewinnen, innerhalb dessen sich die beiden spezifischen Weisen menschlicher Praxis, die wir als Politik und als Bildung/Erziehung unterscheiden und hier einander zuzuordnen haben, bewegen und verstehbar gemacht werden können. Es geht nicht um die Alternative affirmativer oder kritischer politischer Bildung, sondern darum, einen Ansatz zu gewinnen, von dem aus das Verhältnis von Zustimmung und Kritik für die Prüfung jeweils konkreter Verhältnisse und Fragen offengehalten werden kann. Es geht nicht um die Alternative von Pluralismus und Monismus im wissenschaftstheoretischen und politischen Verständnis, sondern darum, unseren Pluralismus praktisch-normativ aus der Tradition europäischen Denkens zugleich mit seinen unentbehrlichen Konsenselementen zu begründen. Es geht schließlich nicht darum, Letztbegründungen gegen die Idee der kritischen gegenseitigen Prüfung kontroverser Aussagen auszuspielen, sondern darum, die in jeder kritischen Prüfung notwendige Suche nach Gründen, ohne die pures Behaupten an die Stelle des Prüfens tritt, als die mit dem menschlichen Zusammenleben gestellte und unabschließbare Aufgabe darzustellen. Kritiker, die diesen Versuch für sachlich oder begrifflich mißlungen halten, sollten mir dennoch diese Intention abnehmen, statt mir eine ganz andere zu unterstellen.“ Bernhard Sutor

Kritik ohne Methode?

Worum geht es? Bernhard Claußen, Walter Gagel und Bernhard Sutor wehren sich nicht ohne Vehemenz gegen Inhalt und Form meines Aufsatzes „Die Didaktik der politischen Bildung: Eine Wissenschaft ohne Gegenstand?“ Zu einer Replik aufgefordert, darf ich hiermit Stellung beziehen, ohne einen Stellungskrieg provozieren zu wollen, im Gegenteil: Ziel dieser Replik ist es, diskursive Möglichkeiten zu eröffnen.

Bernhard Claußen meint, ich spiele „in die Hände derer, denen die Fachdidaktik der politischen Bildung und die politische Bildung selbst ein Dorn im Auge sind .. ,“ Walter Gagel sagt, mir gehe es lediglich um „Stimmungsmache" Bernhard Sutor schließlich erlebt sich als „Zeugen eines Rundumschlages, der nichts Geringeres beansprucht, als das Fach zu erledigen .. .“ Gewiß werden in diesen Zitaten Lektüreergebnisse formuliert, die sich unter bestimmten Aspekten mit den Ergebnissen meiner Analyse decken. Aber worum ging es mir überhaupt? Ich wollte eine Art Standortbestimmung der politischen Pädagogik schreiben, die damit zugleich eine Vorstellung einiger gängiger Konzepte zur politischen Bildung leisten sollte. Ich wollte — daher einige Mammutfußnoten — gleichzeitig Hinweise geben auf weiterführende Literatur. Daß meine Analyse offenbar provokant geraten ist, war nicht Ziel meines Schreibens, sondern Resultat. Ob es mir in jenem Aufsatz gelungen ist, meine Ziele umzusetzen, darüber läßt sich diskutieren.

Walter Gagel wirft mir folgendes vor: „Eine Analyse von Texten setzt voraus, daß das die Interpretation leitende Vorverständnis offengelegt wird, sonst ist eine wissenschaftliche Kommunikation nicht möglich.“ Diese in der politischen Didaktik weitverbreitete Auffassung teile ich nicht. Logisch zwingend ist, daß, wenn jede Interpretation von einem Vorverständnis geleitet ist, sich dieses auch in jener manifest niederschlagen muß. Warum sollte es neben der durchgeführten Interpretation noch eigens offengelegt werden? Ist Gagels Forderung nicht vielmehr ein Hinweis darauf, daß mein Verdacht, der Standpunkt des politischen Pädagogen sei „Dreh-und Angelpunkt politischer Pädagogik“ so unwahr nicht ist?

Bernhard Claußen entdeckt bei meiner Einlassung „Methodisches als verräterischer Indikator der Absicht" Walter Gagel überschreibt seine Entgegnung mit dem Titel „Eine Analyse ohne Instrumente“, Bernhard Sutor schließlich nennt seinen Kommentar „Kritik ohne Methode“. Kurzum: alle drei meinen, meine Analyse entbehre einer seriösen Methodik. Was heißt das?

Gagel kommt nach Durchsicht meiner Notizen zu folgendem Ergebnis: „Mit der Validität der Einzel-analysen ist es angesichts des geschilderten methodischen Vorgehens nicht weit her.“ Eingangs bemerkt er zu meinen „Skizzen“: „Kennzeichnende Zitate stehen zwischen unbegründeten Wertungen, Ungenauigkeiten finden sich, subjektive Meinungen und gedankliche Nachlässigkeiten.“ Am Beispiel meines Umgangs mit Hilligen versucht er dies zu beweisen.

Wenn ich Hilligen vorwerfe, er verwechsle Wissenschaft mit einem dialektischen Besinnungsaufsatz, so läuft dieser Vorwurf wesentlich darauf hinaus, daß Hilligens Optionen einer bündigen Fundierung entbehren und daß Hilligen statt dessen sehr anführt, „Sammelsurium heterogene Gründe ein von Begründungen unterschiedlicher Herkunft“ Hilligen selbst notiert dazu: „Alle Begründungen (für die Optionen, H. L.) heben ab auf die Möglichkeit einer intersubjektiven Rechtfertigung im Dialog.“ Wer wollte es mir da verwehren, jenes Angebot anzunehmen?

Ich darf hier noch einmal kurz wiederholen, was es mit jenen Optionen auf sich hat: „Die Optionen beschreiben nicht einen Zustand der Gesellschaft, sondern Grundentscheidungen, die ein erwünschtes (optare heißt wünschen) und begründbares Verhalten zur Folge haben. Sie definieren also nicht eine schon vorhandene Übereinstimmung. Vielmehr legen sie offen, welche Entscheidungen und welches Verhalten konsensfähig werden und den Schülern nahegelegt werden kann. Weil sich politische Vorentscheidungen auf Auswahl der Informationen auswirken, sind die Optionen zugleich Kriterien für Auswahl und Gewichtung der Inhalte (Themen) des Unterrichts.“

Untersuchen wir noch einmal die von mir inkriminierte Begründung von Hilligens Option Menschenwürde: „Die Unverletzlichkeit der Person wird heute von keinem Regierungssystem bzw. gesellschaftlichen System grundsätzlich in Frage gestellt. In faschistischen Systemen freilich und auch noch in manchen sozialistischen ... wird sie gegenüber kollektiven Zielen hintangesetzt. Bei letzteren steht das im Widerspruch zur Marxschen Theorie, wie es Marxisten immer wieder betonen .. ,“ Es folgt im Text bei Hilligen ein Zitat von Ernst Bloch. Gagel interpretiert dieses Zitat als „Beleg für die innermarxistische Kritik“ als sei das das Problem. Die Exekutoren der „Säuberungen in Kambodscha“ haben sich wohl kaum gefragt, ob sie sich im Widerspruch zur Marxschen Theorie befinden; und dies hat wohl auch wenig mit innermarxistischer Diskussion zu tun, als hätten Pol Pot und Bloch auch nur irgendeine Gemeinsamkeit.

All dies hat auch wenig zu tun mit der schlechten Organisation meines „Zettelkastens“ wie Ga gel meint; entsprechend mißversteht Gagel auch meinen Vorwurf an Hilligen, der so gemeint ist, wie er formuliert wurde: Tatsache ist, daß — mindestens rhetorisch — kaum jemand die Unverletzlichkeit der Person in Frage stellt; Tatsache ist aber auch, daß hüben wie drüben in praxi die Ver-letzung der Menschenwürde die Regel und nicht die Ausnahme ist. Interpretiert man diese Tatsache genauer, so darf man vermuten, daß es sich hierbei nicht um einen Widerspruch zwischen Anspruch und Wirklichkeit handelt, sondern man darf vermuten, daß der Anspruch letztlich die Begleitmusik der Wirklichkeit ist: Verbrechen werden nicht nur, aber auch und gerade im Namen der Würde des Menschen begangen. Solchen Tatsachen wäre nachzugehen, statt sie mit einem Zitat von Ernst Bloch zu eskamotieren. Dies ist meine Kritik an Hilligen.

Ziele von Unterricht müssen rational und damit begründbar resp. begründet sein. Diesem Ziel genügt die Option für Menschenwürde erst dann, wenn nicht nur diese Option begründet, sondern wenn erklärt wird, warum nicht erst seit heute Gesellschaftsordnungen auf dieser Welt alles andere zum Zweck haben denn das Wohl des Menschen, die Würde des Menschen. Nur so läßt sich meines Erachtens Didaktik wissenschaftlich begründen.

In diese Richtung zielt auch meine Kritik an Bernhard Claußen, der sich allerdings mit keinem Satz seiner Entgegnung mit meinem Vorwurf auseinandersetzt, er unterscheide zwischen vernünftigen und unvernünftigen Systemelementen, ohne Roß und Reiter zu nennen Da, wo es auch und gerade hinsichtlich der Praktikabilität von Politik-didaktik interessant wird, bricht Claußen seine Reflexionen ab; damit entbehrt seine Didaktik aber auch der inhaltlichen und so der wissenschaftlichen Fundierung. Daß Claußen auf diesen Vorwurf nicht eingeht, macht seine glänzend geschriebene Polemik redundant.

Ich komme nun zu Bernhard Sutors recht ausführlicher Analyse. Angesichts des zur Verfügung stehenden Raumes muß ich mich auf einige Punkte beschränken.

Warum sich Sutor gegen meine These verwahrt, er haben seine Didaktik von 1972/73 in der Neu-bearbeitung von 1984 gründlich revidiert, und sich dabei über meine Stellenverweise mokiert, vermag ich nicht recht einzusehen. Ich denke, es ließe sich hier eine erdrückende Fülle von Belegen anführen dafür, daß Sutors ältere Didaktik weit weniger partizipativ orientiert ist als die neue — daher meine entsprechenden Stellenverweise —, daß also das „Interesse an freien Zuständen“ (Sutor) in seiner älteren Didaktik weit weniger eine Rolle spielt als in der neuen. Darüber mag sich der Leser selbst ein Urteil bilden.

Ich komme zum nächsten Punkt: Sutor wirft mir vor, „kontrollierte Interpretation durch willkürli-ehe Behauptungen“ zu ersetzen, und zitiert meine folgende Passage: „An der seines Erachtens unaufhebbaren Dialektik von Utopie und Realität macht Sutor deutlich, daß die belastende Spannung von Individualität und Sozialität unaufhebbar ist. Der Gedanke, ob solche Belastungen nicht abgeschafft werden sollten, ist Sutor einigermaßen fremd. Inhaltlichen Problemen dieser Gesellschaft, die ihm durchaus geläufig sind, geht er nicht nach: dialektische Anthropologie.“

Dazu bemerkt Sutor: „Der Gedanke, ob die aus der Spannung von Individualität und Sozialität stammenden Belastungen nicht abgeschafft werden sollten, ist mir durchaus nicht fremd. Geht es doch im ganzen ersten Band meiner Neubearbeitung, in der die . Dialektik* politischer Anthropologie entfaltet wird, um die Begründung der Aussage, daß bei allem notwendigen und wünschenswerten Bemühen um Milderung dieser Spannung, um Verbesserung von Verhältnissen eine anthropologisch-strukturell vorgesehene Grenze bleibt. Das Bemühen um freiere, gerechtere, friedlichere Verhältnisse wird nie an ein Ende gelangen und gerade deshalb immer nötig bleiben. Über diese These und Grundposition kann man ja durchaus streiten, und ich hätte nichts dagegen, wenn Lödige dies täte. Statt dessen jedoch mir zu unterstellen, ich sähe die Frage nicht, ist unseriös. Noch erstaunlicher finde ich die Behauptung Lödiges, ich ginge den Problemen unserer Gesellschaft nicht weiter nach, interessierte mich also gleichsam nur für die politisch-anthropologischen Grundfragen.“

Sinnigerweise zitiert Sutor hier aus meinem Aufsatz nicht meine kurze Analyse seiner Theorie, sondern die Kurz-Zusammenfassung meiner Kurz-Analyse! Dessenungeachtet läßt sich auch hier das Problem, um das es mir geht, erläutern.

Ich darf en passant Walter Gagel zitieren: „Woher weiß der Autor dies so genau?“ Abgesehen davon, daß Gagel hier über Gründe („woher“) spekuliert, statt meinen Argumenten nachzugehen, möchte ich diese Frage auf Sutor applizieren: Woher eigentlich weiß Sutor, daß das „Bemühen um freiere, gerechtere und friedlichere Verhältnisse... nie an ein Ende gelangen und gerade deshalb immer nötig bleiben“ wird? Den stringenten Beweis für diese Behauptung habe ich in Sutors Didaktik nicht gefunden. Im übrigen stellt Sutor hier eigentlich keine Frage, er legt vielmehr definitiv etwas fest; insofern ist es wohl lediglich ein kommunikativer Gestus, wenn er sagt, „über diese These und Grundposition kann man ja durchaus streiten“. Wer das eben zitierte Wissen Sutors hat, der weiß mehr, als je ein Mensch wissen kann: Der Mensch ist endlich, ihm steht es nicht zu, Aussagen über die Unendlichkeit zu machen. Das darf nur Cott. Und an den kann man glauben — oder auch nicht. Mit Wissenschaft haben Sutors jenseitige Aussagen jedenfalls wenig gemein. Hier deutet sich freilich an, daß Sutor seine Didaktik so gründlich, wie ich behauptet habe, doch nicht revidiert hat — der eschatologische Gehalt/Charakter seiner früheren Didaktik wird auf solche Weise konserviert. Er taucht nur nicht mehr expressis verbis auf.

Ich komme schließlich zu Sutors Rechtfertigung seiner These, der historisch-dialektische Ansatz dürfe nicht beanspruchen, „die Totalität der Gesellschaft in ihrer geschichtlichen Entwicklung erklären zu können“

Sutor möchte erstens das Urteil über die inhaltliche Richtigkeit jenes Satzes „gern dem Urteil von Fachleuten“ überlassen, übergeht aber damit gleichzeitig den Inhalt meiner Kritik, zweitens rechtfertigt er sich mit folgendem Hinweis: „Lödige wird wohl aus seiner Kenntnis der politik-didaktischen Literatur nicht bestreiten wollen, daß es dort in manchen Varianten die kurzschlüssige Auslegung des Gedankens der Totalität der Gesellschaft gegeben hat und gibt...“ Dies bestreite ich in der Tat nicht. Was ich bestreite, ist die Legitimität des Gedankens, inhaltliche Aussagen mit deren Rezeption verwechseln zu dürfen. Richtig stellt Sutor fest: „Ganz unbezweifelbar jedenfalls scheint mir die Aussage, daß kritische Theorie der Gesellschaft... ohne die Kategorie der gesellschaftlichen Totalität und Dialektik von Einzelnem und Ganzem nicht vorstellbar ist.“ Ich denke, solche Sätze hören sich nun doch etwas anders an als die von mir inkriminierten aus Sutors Didaktik. Auch darüber mag der Leser sich selbst ein Urteil bilden.

Noch ein Zitat von Sutor in Sachen Frankfurter Schule: „Daß alles mit allem zusammenhängt, ist eine banale Erfahrung und nichtssagende Rede-weise ... Die Kritische Theorie mag recht haben mit ihrer These, die gesellschaftliche Totalität sei im Einzelnen vorhanden, aber wir werden ihrer dort nicht wissenschaftlich habhaft. Es wäre deshalb an der Zeit, in politischer Bildung Abschied zu nehmen von einem vagen und undifferenzierten Gerede von der Gesellschaft." Diese Stelle im zweiten Band von Sutors neuer Grundlegung, von dem er meint, ich hätte ihn „gar nicht in die Hand genommen“ ist meines Erachtens bezeichnend für Sutors Rezeption kritischer Theorie, an die man wiederum Gagels bereits zitierte Frage stellen darf: „Woher weiß der Autor dieses so genau“?

Der vielleicht schönste Aphorismus aus Adornos „Minima Moralia“ lautet: „Geliebt wirst du einzig, wo du schwach dich zeigen darfst, ohne Stärke zu provozieren.“ Was sich hier in aphoristischer Form ausdrückt, ist die Erkenntnis, daß sich das Allgemeine — das Prinzip kapitalistischer Konkurrenz — ins Besondere — die Liebe als Kontrapunkt jener Konkurrenz — eingraviert. Nicht nur, aber auch das ist letztlich mit Totalität gemeint. Und wenn Liebe als Kontrapunkt, als Refugium definiert wird, so ist dies der Beweis dafür, daß sie, wenn nicht absorbiert, so doch mehr als nur peripher vom Marktprinzip affiziert ist: Ein Refugium hat zur logischen Voraussetzung jenes „feindliche Leben“, von dem Schiller in der „Glocke“ spricht.

Und dies sollen Zusammenhänge sein, deren man wissenschaftlich nicht habhaft werden kann? Mit den Mitteln der Demoskopie erkennt man solche Zusammenhänge gewiß nicht, womit sich hier zugleich andeutet, warum ich der Auffassung bin, daß es der Didaktik in Wahrheit wohl kaum um die tatsächliche Komplementarität der wissenschaftstheoretischen Ansätze geht

Den entscheidenden Punkt meiner Kritik an seiner Konzeption — dies gilt auch für Claußen und Gagel — behandelt Sutor wie die Katze den heißen Brei: er umgeht ihn. Sutor wirft mir vor, das „Einmaleins wissenschaftstheoretischer Reflexion“ nicht zu beherrschen, und bemerkt in diesem Kontext: „Es ist schon erstaunlich, in einem Aufsatz dieses Titels und dieser Absicht nirgends den Versuch einer Definition von . Gegenstand’ zu finden.“

Wenn Sutor selber weiß um die „identitätsfeindlichen und identitätszerstörenden Bedingungen der arbeitsteiligen industriellen Gesellschaft unserer Zeit“ — würde er dem nicht zustimmen, hätte Sutor Habermas, den er an dieser Stelle referiert, kritisiert und nicht affirmiert—, dann darf man wohl mit Fug und Recht feststellen, daß sich wohl kaum ein vernichtenderes Urteil über unsere Gesellschaft fällen läßt.

Hier — und das ist meine entscheidende Kritik — hätten Wissenschaft und wissenschaftliches Denken weiterzumachen und zu fragen nach den Strukturen jener Gesellschaft, nach dem inneren Zusammenhang jener Totalität, die Identität zerstört. Wie sich solches Abbrechen gegenstandsorientierten Denkens zugunsten voreiliger Pädagogisierung auswirkt, sei an einem Beispiel aus dem von Sutor herausgegebenen Schulbuch „Politik“ aufgezeigt: Dort wird nach einer sehr knappen Einführung in das Thema Arbeitslosigkeit folgendes gesagt: „Was sind die Gründe für dieses Defizit an Arbeitsplätzen? Zur Analyse bedarf es der Unterscheidung von echter und unechter, kurzfristiger und lang anhaltender Arbeitslosigkeit.“

Im folgenden finden sich dann (in zwei Spalten) Auflistungen von Merkmalen unechter und echter Arbeitslosigkeit: dadurch, daß die unechte Arbeitslosigkeit in der linken Spalte plaziert ist, wird sie optisch, aber eben nicht nur optisch in den Vordergrund gerückt, obwohl nicht erst seit heute bekannt ist, daß die Zahl unechter Arbeitsloser eine Quantite negligeable ist — was auch Sutor wissen sollte. In der rechten Spalte geht es um echte Arbeitslosigkeit, aufgeführt wird dabei auch der Begriff „Strukturelle Arbeitslosigkeit“, wobei das zugrundeliegende Phänomen zurückgeführt wird auf ökonomischen Strukturwandel, der, wenn man ihn so definiert, gewiß auch strukturelle Arbeitslosigkeit zur Folge hat; des Pudels Kern aber ist der Punkt, daß nämlich bei näherer Betrachtung des Gegenstandes Arbeitslosigkeit auffallen sollte, daß dieses Phänomen untrennbar verkoppelt ist mit marktwirtschaftlichen Ordnungen.

Noch das mögliche Gegenargument, zur Zeit des Wirtschaftswunders habe es Vollbeschäftigung gegeben, verrät sich mit dem Hinweis auf das Wirtschafts wunder: Wunder gibt es immer wieder, tatsächlich aber höchst selten. Es muß, so läßt sich schlußfolgern, in marktwirtschaftlichen Wirtschaftsordnungen Grundstrukturen geben, aufgrund deren Arbeitslosigkeit als mehr denn als Epiphänomen zu betrachten ist. Mindestens soviel läßt sich sagen, daß die Ware Arbeitskraft, marktwirtschaftlich gesehen, eine Manövriermasse ist, die je nach Bedarf eingesetzt oder auch freigesetzt wird. Noch der Begriff „Soziale Marktwirtschaft“ bezeugt, daß Marktwirtschaft nicht aufs Wohl der Menschen zielt, sonst wäre eine soziale Kompensatorik nicht vonnöten. Zur Totalitätjenes Gegenstandes gehören also auch die sozialen und psychischen Folgen von Arbeitslosigkeit — oder sind diese nicht Formal-Objekt von Politikwissenschaft? —, die spätestens seit den Untersuchungen von Marie Jahoda u. a. allgemein bekannt sein sollten.

Sind solche massiven Schwächen in Sutors Unterrichtswerk purer Zufall? Am Beispiel der Arbeitslosigkeit kann man studieren, was Identitätszerstörung ist; hier kann man lernen, wie das Einzelne und das Ganze miteinander verwoben sind; hier kann man erkennen, was gesellschaftliche Totalität ist. Mag solche Kritik wie die hier geäußerte auch das Ergebnis eines „Analysieren(s) ohne Instrumente“ sein, ist sie darum falsch?

Aber was ist das eigentlich: Eine „Analyse ohne Instrumente“? Nach Ansicht von Gagel, Claußen und Sutor lautet die Antwort: falsch. Was ist eine Analyse mit Instrumenten? Richtig. Damit wird freilich die Frage nicht beantwortet. Immerhin aber läßt sich Gagels ebenso wie Sutors Kritik entnehmen, daß beide der Auffassung sind, Analysen seien nur möglich mit Instrumenten. Diese Auffassung unterstellt, daß vor der Analyse bereits gewußt werden kann, welche Instrumente hierfür geeignet sind, über deren Eignung aber erst nach der Analyse entschieden werden kann. Trial and Error? So verfahren die von mir kritisierten Politikdidaktiker meines Erachtens nicht. Die Instrumente — und das ist mein Vorwurf — stehen fest, bevor die Sache selbst zur Debatte steht. Maßgeblich für die Ergebnisse solcher didaktischer Gegenstandsanalysen sind damit gegenstandsjenseitige Methoden, letzten Endes: der politische Standort des Politikdidaktikers. Und nichts anderes ist mit dem Vorwurf gemeint, die politische Didaktik sei eine instrumentelle Wissenschaft

Sutor plädiert in guter Tradition für kategoriale Bildung und definiert Kategorien „als Brücke zwischen Lernendem und Sache“ Mein Problem ist, daß die Politikdidaktik meines Erachtens mit Kategorien arbeitet, die bei näherem Betrachten höchst fragwürdig sind, die Gegenstände entschlüsseln helfen sollen, ohne dies tatsächlich zu leisten. Sollte dies stimmen, dann erweisen sich solche Kategorien nicht als eine sachadäquate Brücke zwischen dem Lernenden und der Sache, sondern als ein Instrument, ideologisches Bewußtsein zu erzeugen — ein Vorwurf, der allerdings insofern relativiert werden muß, als bekannt ist, daß politische Bildung politische Sozialisation nicht maßgeblich, sondern eher peripher beeinflußt. Eine Theorie der politischen Bildung hätte — gerade auch um ihrer Praktikabilität willen — in die inhaltliche Erschließung des Gegenstandes, in dessen Analyse mehr Energie zu investieren, statt die Analyse voreilig pädagogisch zu unterminieren. Damit wäre der Politikdidaktik wie auch der Politikdidaktikmehr gedient. Und dann wäre der Vorwurf, die Didaktik der politischen Bildung sei eine Wissenschaft ohne Gegenstand, gegenstandslos.

Hartwig Lödige

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. hierzu unter anderem Bodo von Borries, Unkenntnis des Nationalsozialismus — Versagen des Geschichtsunterrichts? Bemerkungen zu alten und neuen empirischen Studien, in: Geschichtsdidaktik, 5 (1980) 2, S. 109— 126, und Sibylle Hübner-Funk, Nationale Identität: Neubeginn und Kontinuität, in: Soziale Welt, 36 (1985) 2, S. 153— 171.

  2. Diese Untersuchung wurde am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung von den Autoren zusammen mit Ingrid Schmidt durchgeführt; vgl. Christel Hopf/Knut Nevermann/Ingrid Schmidt, Wie kamen die Nationalsozialisten an die Macht. Eine empirische Analyse von Deutungen in Unterricht, Frankfurt/Main 1985.

  3. Vgl. als Übersicht über die analysierten Lehrpläne Anhang 1 dieser Arbeit.

  4. Vgl. als Übersicht über die überwiegend verwandten und analysierten Schulbücher Anhang 2 dieser Arbeit.

  5. Karl D. Bracher, Demokratie und Machtergreifung. Der Weg zum 30. Januar 1933, in: Karl D. Bracher/Manfred Funke/Hans-Adolf Jacobsen (Hrsg.), Nationalsozialistische Diktatur 1933— 1945. Eine Bilanz, Düsseldorf 1983, S. 18.

  6. Vgl. ausführlicher zum methodischen Vorgehen und zur Beschreibung der Stichprobe C. Hopf/K. Nevermann/I. S. 14 ff. 2), Schmidt (Anm.

  7. Vgl. zu Fragen der Erhebung und Auswertung qualitativer Daten unter anderem auch Christel Hopf/Elmar Weingarten (Hrsg.), Qualitative Sozialforschung, Stuttgart 1979.

  8. Vgl. als Information zu den Ergebnissen der quantitativen Auswertung dieser ersten beiden Interviewabschnitte Tabelle 2.

  9. Vgl. etwa Karl D. Erdmann, Die Weimarer Republik (Band 19 des Handbuchs der deutschen Geschichte), München 19809; Karl D. Erdmann, Deutschland unter der Herrschaft des Nationalsozialismus 1933— 1939 (Band 20 des Handbuchs der deutschen Geschichte), München 19809; Karl D. Erdmann/Hagen Schulze (Hrsg.), Weimar. Selbstpreisgabe einer Demokratie. Eine Bilanz heute, Düsseldorf 1980.

  10. Karl D. Bracher, Die Auflösung der Weimarer Republik. Eine Studie zum Problem des Machtverfalls in der Demokratie, Villingen 19715, *S*. 637 f.

  11. Vgl. z. B. Reinhard Kühnl, Formen bürgerlicher Herrschaft — Liberalismus und Faschismus, Reinbek bei Hamburg 1971, und Reinhard Kühnl, Der deutsche Faschismus in Quellen und Dokumenten, Köln 1976.

  12. Vgl. z. B. verschiedene Beiträge in: Heinrich A. Winkler, Liberalismus und Antiliberalismus. Studien zur politischen Sozialgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts, Göttingen 1979; Hans Mommsen, Zur Verschränkung traditioneller und faschistischer Führungsgruppen in Deutschland beim Übergang von der Bewegungs-zur Systemphase, in: Wolfgang Schieder (Hrsg.), Faschismus als soziale Bewegung. Deutschland und Italien im Vergleich, Hamburg 1976, S. 157— 181; Hans Mommsen, Anmerkungen zum 50. Jahrestag der Machtergreifung, in: Geschichtsdidaktik, 8 (1983) 1, S. 1— 7; Jürgen Kocka, Ursachen des Nationalsozialismus, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 25/80, S. 3— 15; Martin Broszat, Der Staat Hitlers. Grundlegung und Entwicklung seiner inneren Verfassung, München 19798.

  13. Vgl. hierzu die Kapitel 4 und 5 in C. Hopf/K. Nevermann/I. Schmidt (Anm. 2).

  14. Vgl. zu dieser C. Hopf/K. Nevermann/I. Schmidt (Anm. 2), S. 111 ff.

  15. Vgl. an neueren Beiträgen unter anderem Bracher, Broszat, Kocka, Mommsen, Nolte, in: Institut für Zeit-geschichte (Hrsg.), Totalitarismus und Faschismus. Eine wissenschaftliche und politische Begriffskontroverse. Kolloquium im Institut für Zeitgeschichte am 24. November 1978, München 1980.

  16. Vgl. hierzu unter anderem Werner Gestigkeit, Die Totalitarismus-Legende von der Zerstörung der Weimarer Republik in den bundesdeutschen Schul-Geschichtsbüchern, in: Reinhard Kühnl/Gerd Hardach (Hrsg.), Die Zerstörung der Weimarer Republik, Köln 1979-, S. 253— 290; Hans Mommsen, Die Last der Vergangenheit, in: Jürgen Habermas (Hrsg.), Stichworte zur , Geistigen Situation der Zeit', 1. Band: Nation und Republik, Frankfurt/Main 1979, S. 164— 184.

  17. Eva Reichmann, Die Flucht in den Haß. Die Ursachen der deutschen Judenkatastrophe, Frankfurt/Main o. J. (1956), S. 8.

  18. Vgl. hierzu unter anderem Werner Jochmann, Die Ausbreitung des Antisemitismus, in: Werner E. Mosse unter Mitwirkung von Arnold Paucker (Hrsg.), Deutsches Judentum in Krieg und Revolution 1916— 1923, Tübingen 1971, S. 409— 510; Heinrich A. Winkler, Die deutsche Gesellschaft der Weimarer Republik und der Antisemitismus, in: Bernd Martin/Ernst Schulin, Die Juden als Minderheit in der Geschichte, München 19822, S. 271— 289.

  19. Vgl. zu dieser Position z. B. George L. Mosse, Die deutsche Rechte und die Juden, in: Werner E. Mosse unter Mitwirkung von Arnold Paucker (Hrsg.), Entscheidungsjahr 1932. Zur Judenfrage in der Endphase der Weimarer Republik, Tübingen 19662, S. 183— 246.

  20. Vgl. z. B. E. Reichmann (Anm. 17) oder H. A. Winkler (Anm. 18).

  21. Vgl. z. B. K. D. Erdmann (Anm. 9) oder Helmut Heiber, Die Republik von Weimar, München 198215.

  22. Vgl. hierzu Tabelle 2.

  23. Vgl. hierzu ausführlicher C. Hopf/K. Nevermann/I. Schmidt (Anm. 2), S. 300 ff.

  24. Hartwig Lödige, Die Didaktik der politischen Bildung: Eine Wissenschaft ohne Gegenstand?, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 50/1985, S. 3 ff.

  25. Bernhard Claußen, Kritik ohne Substanz, S. 28.

  26. Walter Gagel, Eine Analyse ohne Instrumente, S. 29.

  27. Bernhard Sutor, Kritik ohne Methode, S. 30.

  28. Walter Gagel (Anm. 3), S. 29.

  29. Lödige (Anm. 1), S. 18.

  30. Claußen (Anm. 2), S. 27.

  31. Gagel (Anm. 3), S. 29.

  32. Ebd., S. 28.

  33. Günter C. Behrmann, Politik. Zur Problematik des sozialkundlich-politischen Unterrichts und seiner neueren Didaktik, in: ders. u. a., Geschichte und Politik. Didaktische Grundlegung eines kooperativen Unterrichts, Paderborn 1978, S. 196, Fn. 135; jenes Zitat wird auch von Hilligen rezitiert, in: Wolfgang Hilligen, Zur Didaktik des politischen Unterrichts, 4„ völlig neu bearb. Aufl., Opladen und Bonn 1984, S. 165.

  34. Ebd., S. 164 (im Original kursiv).

  35. Ebd. (Herv. v. Hilligen).

  36. Ebd., S. 165 (Herv. v. Hilligen).

  37. Gagel (Anm. 3), S. 28/29.

  38. Hilligen (Anm. 10), S. 165.

  39. Gagel (Anm. 3), S. 29.

  40. Lödige (Anm. 1), S. 15.

  41. Ebd., S. 4, Fn. 5.

  42. Sutor (Anm. 4), S. 32.

  43. Lödige (Anm. 1), S. 16.

  44. Sutor (Anm. 4), S. 32.

  45. Gagel (Anm. 3), S. 29.

  46. Bernhard Sutor, Neue Grundlegung politischer Bildüng, Paderborn 1984, Bd. I, S. 54.

  47. Sutor (Anm. 4), S. 34.

  48. Ebd.

  49. Ebd.

  50. Sutor, Neue Grundlegung (Anm. 23), Bd. II, S. 58.

  51. Sutor (Anm. 4), S. 32.

  52. Gagel (Anm. 3). S. 29.

  53. Theodor W. Adorno, Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben, Frankfurt am Main 1971, S. 255.

  54. Lödige (Anm. 1), S. 17.

  55. Sutor (Anm. 4), S. 30.

  56. Ebd.

  57. Sutor, Neue Grundlegung (Anm. 23), Bd. II, S. 56.

  58. Bernhard Sutor (Hrsg.), Politik. Ein Lehr-und Arbeitsbuch für den Politikunterricht, Paderborn 1979, S. 352 f.

  59. Sutor (Anm. 4), S. 30.

  60. Marie Jahoda u. a., Die Arbeitslosen von Marienthal. Ein soziographischer Versuch (1933), Frankfurt am Main 1975.

  61. Gagel (Anm. 3). S. 39.

  62. Lödige (Anm. 1), S. 18.

  63. Sutor, Neue Grundlegung (Anm. 23), Bd. II, S. 73.

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Knut Nevermann, Dr. jur., geb. 1944; Direktor des Landesinstituts für Schule und Weiterbildung in Soest; Privatdozent am Fachbereich Politische Wissenschaft der FU Berlin; von 1974 bis 1985 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung in Berlin; Arbeitsgebiete: Bildungsverwaltung und Bildungsrecht. Veröffentlichungen u. a.: (zus. mit Sabine Gerbaulet u. a.) Schulnahe Curriculumentwicklung, Stuttgart 1972; (zus. mit Ingo Richter [Hrsg. ]) Rechte der Lehrer, Rechte der Schüler, Rechte der Eltern, München 1977; (zus. mit Christel Hopf und Ingo Richter) Schulaufsicht und Schule, Stuttgart 1980; Der Schulleiter, Stuttgart 1982; (zus. mit Martin Baethge [Hrsg. ]) Organisation, Recht und Ökonomie des Bildungswesens, Band V der „Enzyklopädie Erziehungswissenschaft“, Stuttgart 1985; (zus. mit Christel Hopf und Ingrid Schmidt) Wie kamen die Nationalsozialisten an die Macht, Frankfurt 1985.