„Die Demokratie ist ein unschätzbares Kampffeld für jede vernünftige Reform, da sie Reformen ohne Gewaltanwendung zuläßt. Aber wenn die Erhaltung der Demokratie nicht zur ersten Regel jeder einzelnen Schlacht auf diesem Kampffelde gemacht wird, dann können die latenten antidemokratischen Tendenzen, die es ja immer gibt .. einen Zusammenbruch der Demokratie herbeiführen.
Wo das Verständnis für diese Prinzipien fehlt, dort mußfür seine Entwicklung gekämpft werden; die umgekehrte Politik kann sich als verhängnisvoll erweisen, sie kann dazuführen, daß der wichtigste Kampf verloren geht, nämlich der Kampf um die Demokratie selbst. “
Karl R. Popper 1)
Die Bundesrepublik Deutschland verdankt einen wesentlichen Teil ihrer demokratischen Stabilität der ganz persönlichen Lebenserfahrung derer, die diese zweite Republik mitaufbauten. Jene Gründergeneration war geprägt von der unmittelbaren Konfrontation mit der Brutalität eines totalitären Systems und der Grausamkeit des Krieges. Mit der bedingungslosen Kapitulation im Mai 1945 empfanden sich viele Deutsche deshalb zuerst als — wie es von Bundeskanzler Helmut Kohl anläßlich des 40. Jahrestages formuliert und später von Bundespräsident Richard von Weizsäcker aufgegriffen wurde — „befreit vom Schrecken des Krieges und von den tausend Verstrickungen, die der totalitäre NS-Staat geschaffen hatte. Der 8. Mai war ein Tag der Befreiung“
Die Gemeinsamkeit des „Nie wieder Krieg — Nie wieder Diktatur“ festigte den demokratischen Konsens in der zweiten deutschen Republik überraschend schnell. Dies war keineswegs selbstverständlich. Die Weimarer Republik, stigmatisiert als „Tochter der Niederlage“, hatte sich nie richtig stabilisiert. Sie war im wesentlichen eine Demokratie ohne Demokraten geblieben. Gerade die Diskussion der Intellektuellen war bestimmt von Demokratiekritik, nicht von Demokratietheorie. Nicht nur der Spielregelkonsens blieb ständig gefährdet, auch die Einsicht in die Wertorientierung der demokratischen Ordnung war unterentwickelt. „Wohl gab es Formulierun-gen und Erinnerungen an die großen Kataloge der Menschen-und Bürgerrechte in Staatsverfassungen und Gesetzestexten wie in der politischen Rhetorik, aber sie wirkten meist als bloßer Anspruch, nicht als zentrales Herzstück und werter-füllte Sinngebung des Gemeinwesens.“ Gerade hierin unterschied sich die Lage 1945 erheblich von der des Jahres 1918.
Die moralische Bindungslosigkeit der nationalsozialistischen Diktatur und die Brutalität ihres Unterdrückungssystems hatten die Sehnsucht nach Achtung der Menschenwürde und Anerkennung der Menschenrechte gefestigt und das Bedürfnis nach einer politischen Ordnung neu geweckt, die Freiheit und Gerechtigkeit zu sichern in der Lage war. Der Widerstand gegen das Unrechtsregime Hitlers, „die Verschwörung, die in dem Attentat vom 20. Juli gipfelte, und in der neben den militärischen Aktivisten Hunderte von politisch aktiven Zivilisten aller ... Richtungen ihr Leben einsetzten, wurde zum ersten sichtbaren Signal eines neuen Konsensus über den Vorrang von Freiheit, Recht und Menschlichkeit unter den Deutschen verschiedenster sozialer Herkunft und geistiger Tradition.“
Inzwischen jedoch wird die politische Kultur in der Bundesrepublik zunehmend von jenen Generationen geprägt, denen das unmittelbare Erleben eines totalitären Systems erspart geblieben ist. Das aus persönlicher Lebenserfahrung gefe-stigte Bekenntnis der Gründergeneration zur demokratischen Ordnung ist von jenen kaum zu erwarten, die in der zweiten deutschen Republik aufgewachsen sind, die — um es überspitzt zu sagen — den wahren Wert der Freiheit wegen der nie vorhandenen Gefahr ihres tatsächlichen Verlustes nur erahnen können. Richard Löwenthal fordert deshalb völlig zu Recht: „Unser demokratischer Grundkonsens, der ein Produkt nicht einer langen Geschichte, sondern der Erfahrungen einer prägenden Folge von Katastrophen und Wiederaufstieg ist, kann nicht durch bloße Beharrung bewahrt werden — er muß immer wieder von neuen Generationen gegenüber neuen Problemen erneuert werden, wenn er dauern soll.“
Voraussetzung dafür ist eine klare Beschreibung und einleuchtende Begründung der Felder, die um der Freiheit und Menschlichkeit willen dem politischen Streit entzogen sein müssen. Es geht also darum, die Bedeutung des Konsenses über die Grundlagen demokratischer Ordnung zu vermitteln, damit die Pluralität in der freiheitlichen Demokratie gesichert bleibt. Hierin liegt die Hauptaufgabe der Erziehung zur Demokratie und damit politischer Bildung überhaupt.
Zum Konsensbegriff
Der Begriff , Konsens 4 gehört zu den Schlüsselwörtern in der Geschichte. Abgeleitet vom lateinischen Verbum , consentire‘ (= übereinstimmen) heißt , consensus 4 wörtlich , Übereinstimmung 4 oder Zustimmung". Die erste bekannte, über den normalen Sprachgebrauch hinausgehende begriffliche Prägung erhielt der Terminus , consensus 4 durch die Formel „iuris consensu et utilitatis communione sociatus“, die von Cicero (107— 43 v. Chr.) stammt In lateinischen Texten verschiedener Philosophen und Staatstheoretiker hielt sich der Begriff bis ins 18. Jahrhundert. Vom gleichen Wortstamm abgeleitet etablierte sich im englischen Sprachraum unter dem Einfluß John Lockes (1632— 1704) der Begriff , consent 4 und in Frankreich, gefördert von den Enzyklopädisten um Denis Diderot (1713— 1783), der Ausdruck consentement’. Der ursprüngliche Terminus »consensus 4 wurde dann offenbar von Auguste Comte (1798— 1857) wieder aufgegriffen und von Emile Durkheim (1858— 1917) im Sinne von übernommen. Solidarität Inzwischen hat sich der Begriff auf breiter Front durchgesetzt und wird von den Rechtswissenschaften bis hin zur Kommunikations-und Informationstheorie benutzt; damit verbunden ist allerdings ein gewisser Verlust an inhaltlicher Klarheit. In der Politischen Wissenschaft hat es sich zunehmend durchgesetzt, unter Konsens „a state of agreement concerning ... values" zu verstehen. Für die Gesellschaftsanalyse wurde der Konsensbegriff unverzichtbar, „denn eine fundamentale und allgemeine Übereinstimmung hinsichtlich der Ziele und der Methoden ihrer Erreichung ist die Vorbedingung für das Weiterexistieren einer politischen Gesellschaft wie jeder anderen Vereinigung“
Diese Übereinstimmung — eben die Bereitschaft zum Miteinander, die jede Gemeinschaft erst ermöglicht — erfordert vom einzelnen den Verzicht auf ein Stück eigener Souveränität. Die grundsätzliche Bereitschaft dazu ist im Wesen des Menschen selbst begründet, denn „die Einheit der Person verlangt die einheitsstiftende Perspektive einer Ordnung garantierenden Lebens-welt“ Eine freiheitliche Demokratie zeichnet sich dadurch aus, daß sie auf die Freiwilligkeit eines solchen teilweisen Souveränitätsverzichts setzt. Voraussetzung dafür ist das Vertrauen jedes einzelnen, daß auch alle anderen diese Leistung zu erbringen bereit sind. Quasi als Bürge für diesen Vertrauensvorschuß tritt dabei der demokratische Staat auf. Das Vertrauen in den teilweisen Souveränitätsverzicht aller ist allen gemeinsam und damit die Wurzel des Konsensgedankens in der Demokratie.
In keiner Staatsform ist soviel vom Konsens die Rede wie in der Demokratie, denn freiwillige Übereinstimmung ist nicht nur die Voraussetzung demokratischer Ordnung, sie bestimmt auch das Wesen der Demokratie, „weil alle institutioneile Machtausübung vom Konsens der Gesamtheit her legitimiert wird, in dem allen Bürgern zu gleichem Recht eine Mitwirkung am politischen Geschehen eröffnet ist, daher jede Ausübung von Bestimmung und Macht nur auf direktem oder indirektem Auftrag des Volkes beruht“ Es lassen sich in der freiheitlichen Demokratie drei Konsensebenen unterscheiden:
1. „Ein Consensus, der ... auf dem Vertrauen beruht, daß ein freies Spiel der politischen Kräfte auf Dauer eine gerechte Ordnung verwirklichen wird.“ Auf dieser Übereinstimmung ruht die Legitimität freiheitlicher Gesellschaftsordnung; es handelt sich hier um den Systemkonsens.
2. „Davon unterschieden ein anderer Consensus, der in diesem Spiel der konkurrierenden Ideen und Kräfte notwendig ist.“ Diese Übereinstimmung die Regeln der Konfliktaustragung betreffend, läßt sich als Spielregelkonsens bezeichnen. 3. Auf dieser Grundlage ist die jeweilige politische Entscheidung durch Mehrheit, Kompromiß oder Einigkeit möglich, kann also ein Problemlösungskonsens zustande kommen.
Diese Konsensebenen lassen sich nicht voneinander trennen, sondern bedingen einander. Der Systemkonsens umfaßt dabei auch „die den Gegnern gemeinsame humane Intention, nur solche Mittel zur Auseinandersetzung zu gebrauchen, die man auch dem anderen zugesteht und die den Bestand des die Gegensätze übergreifenden Dritten nicht gefährden“ Die Einigkeit darüber ermöglicht erst die freie Gesellschaft und setzt gleichzeitig Markierungen für den Spielregelkonsens. Der Systemkonsens konkretisiert sich im Spielregelkonsens, der seinerseits nur wirksam ist, wenn ein Systemkonsens besteht. Sind System- und Spielregelkonsens gesichert, so bedarf der Problemlösungskonsens nicht mehr der Unterstützung aller, sondern kann auch lediglich von der Mehrheit getragen Bindungskraft entfalten. Insgesamt läßt sich also differenzieren zwischen dem entscheidungsvorausgehenden und dem entscheidungstragenden Konsens: „Der erste Konsens ist inputorientiert und zugleich die Grundlage jedes Verfassungskonsensus, der zweite dagegen outputorientiert und auf das politische Konkurrenzverhältnis von Regierung und Opposition bezogen. Die Legitimität eines demokratischen Systems kommt aber primär in dem inputorientierten Konsensus zum Ausdruck, im outputorientierten dagegen eine Machtkonstellation.“
Es geht in unserem Zusammenhang vor allem um den System-und Spielregelkonsens, denn hier entscheidet sich das Schicksal der pluralistischen Demokratie. Gerade wegen ihrer bewußt gewählten pluralistischen Struktur leiden nämlich demokratische Gesellschaften „unter der ständigen, ihnen geradezu innewohnenden Gefahr, daß die Gruppenkonflikte, die zum Lebensinhalt der Demokratie gehören, sich eines Tages so vertiefen, daß sie die Gesellschaft zu vernichten drohen“
Die liberale Demokratie stellt sich deshalb die Frage, wie zu gewährleisten ist, „daß ein gewisses Maß an Übereinstimmung in politischen Über-zeugungen (, Konsensus') die potentiell desintegrierenden Auswirkungen des Konflikts (, Dissensus') auffangen und so die Stabilität der Demokratie sicherstellen“ kann. Der freiheitliche Staat fordert vom Bürger also nicht nur Konflikt-fähigkeit, sondern auch Willen und Fähigkeit zum Konsens, zumindest, wenn es um die Grundlagen des Systems geht.
Zur Ambivalenz der Konsensidee
Entscheidend für die Wirkung des Konsensgedankens ist, wie der Konsensbegriff verstanden wird. Die Konsensidee ist nämlich nicht nur wesentliches Element der Demokratietheorie, sondern auch Bestandteil der in der Identitätstheorie geforderten völligen Übereinstimmung zwischen Regierenden und Regierten. Diese gegensätzlichen Interpretationen des Konsensbegriffes sind in der politischen Theorie immer wieder anzutreffen: Die Forderung nach völliger Überein-stimmung in der Tradition von Platon und Rousseau — aktualisiert im Totalitarismus — stößt auf das Modell freier Zustimmung, d. h. die Legiti-rung durch Mehrheiten, gegründet auf die Ideen von Aristoteles und Locke — aktualisiert in der Pluralismustheorie.
Der wichtigste moderne deutsche Vertreter der Identitätstheorie ist Carl Schmitt, der bereits in seiner „Politischen Theologie“ (1922) die Formel von der „Identität der Regierenden mit den Regierten“ verwendete. In seiner erstmals 1928 veröffentlichten „Verfassungslehre“ schrieb Schmitt: „Demokratie ... ist Identität von Herrscher und Beherrschten, Regierenden und Regierten, Befehlenden und Gehorchenden ... Demokratie setzt im Ganzen und in jeder Einzelheit ihrer politischen Existenz ein in sich gleichartiges Volk voraus.“ Hinter der Identitätstheorie steht also die Vorstellung eines homogenen Gemeinwillens. Weil aber Einheit damit zum höchsten Ziel wird, ist Vielfalt gefährdet. Schon 1926 forderte Carl Schmitt: „Zur Demokratie gehört also notwendig erstens Homogenität und zweitens — nötigenfalls — die Ausscheidung oder Vernichtung des Heterogenen.“
Das Ideal völliger gesellschaftlicher Einheit ist gegen die Freiheit des Menschen gerichtet, denn „schon der Gedanke einer konfliktlosen Gesellschaft ist ein Gewaltakt an der menschlichen Natur“ Die Vorstellung, totale Übereinstimmung sei als freiwilliger Konsens möglich, ist irreal und gefährlich: „Absolute Zustimmung wird nämlich nur dadurch garantiert, daß dem Bürger die Freiheit genommen, daß er entindividualisiert wird.“ Allumfassender Konsens ist also notwendigerweise mit Zwang verbunden. Absoluter Konsens ist der Wegbereiter absoluter Macht. Darauf haben die großen Philosophen der Freiheit seit Aristoteles immer wieder hingewiesen, am eindrucksvollsten wohl Immanuel Kant, für den Universalkonsens ein Synonym für Despotismus war.
Besondere Sprengkraft erhält das universelle Konsenspostulat der Identitätstheorie durch die Verknüpfung mit ideologischen Komponenten. Ideologie gründet nämlich weniger „auf den Inhalt der jeweiligen Überzeugungen als auf die Unverrückbarkeit und Unbedingtheit, mit der sie gewußt und vertreten werden. Der Grad an Unbedingtheit und Abgeschlossenheit einer politischen und theoretischen Position macht ihren ideologischen Charakter aus.“ Wo Ideologie dominiert, wird es deshalb zur entscheidenden
Aufgabe, alle Gesellschaftsglieder auf die als endgültig und wahr festgelegten Ideen zu verpflichten. Carl Schmitt etwa distanzierte sich 1932 ganz offen von den „Fiktionen eines gegen Wert und Wahrheit neutralen Mehrheitsfunktionalismus“ Absoluter Konsens ist das Ziel, und folgerichtig gelten Meinungsverschiedenheiten als Zeichen falschen Bewußtseins.
Die Wahrheitsgewißheit der Ideologie und das Einheitsideal der Identitätstheorie sind zwei Seiten einer Medaille. Für sich allein schon in höchstem Maße freiheitsgefährdend, ergänzen sie sich und sind Ursprung wie Rechtfertigung totalitärer Systeme.
Da selbst totalitäre. Systeme im Zeitalter der Demokratie der Frage nach der Zustimmung ihrer Bürger nicht mehr ausweichen können, braucht „eine Regierung, deren Legitimität nicht durch eine allgemeine Zustimmung zu Methoden, Mitteln, Verfahren und Teilnahme bestätigt wird, ...den Mythos eines einzigen, wahren, substantiellen consensus als eine Art teleologischen Wesens-kern der Gesellschaft“ Dieser Konsens wird oft mit Hilfe scheinbar demokratischer Mittel — Akklamation, Plebiszite ohne Entscheidungsfreiheit, Massenkundgebungen — vorgetäuscht.
Jacob L. Talmon widmete dieser Entwicklung eine beeindruckende Untersuchung und führte dafür den Begriff der »totalitären Demokratie* ein. Wie er überzeugend darlegt, basiert diese moderne Form totalitärer Herrschaft „auf der Annahme einer alleinigen und ausschließlichen Wahrheit in der Politik“; sie postuliert „eine vorausbestimmte harmonische und vollkommene Ordnung der Dinge..., zu der die Menschen zwangsläufig und unwiderruflich getrieben werden“
Der Identitätstheorie widerspricht die — von Ernst Fraenkel so genannte — Konsenstheorie, die die Existenz und Notwendigkeit eines allumfassenden Konsenses bestreitet, jedoch behauptet, daß es einen Konsens gibt und geben muß, „der sich auf Wertvorstellungen erstreckt, die fundamental, bedeutsam und ausreichend abstrakt sind, um bei der Fällung konkreter politischer Entscheidungen als regulative Prinzipien verwendet werden zu können“ Dem unreflektierten Konsens, den die Identitätstheorie durch den ständigen Appell an die Irrationalität sucht, steht der reflektierte Konsens durch Interessen-ausgleich in einer pluralistischen Gesellschaft gegenüber. Konsens als Gemeinschaftszwang oder aber als freie Zustimmung — in dieser Alternative zeigt sich die Ambivalenz des Konsensgedankens. „Die von Links-und Rechtsradikalen geforderte Reduzierung des Menschen auf eine einzige, alle anderen im Konfliktfall letztlich ausschließende Loyalität — sei es zur Klasse oder zur Nation — muß... als totalitär entlarvt und mit der eine humane Gesellschaft erst ermöglichenden pluralistischen Wirklichkeit — der gleichzeitigen, wenn auch vielfach abgestuften Loyalität zu vielen, sich teilweise überschneidenden Gemeinschaften wie Familie, Religionsgemeinschaft, Berufsverband, Klasse, Nation, Staat, Sportclubs usw. — kontrastiert werden.“
Die Offenlegung dieser Ambivalenz der Konsensidee ist um so wichtiger, als sich auf den ersten Blick zwischen Identitäts-und Pluralismustheorie Unterschiede in der Verwendung des Konsensbegriffs kaum feststellen lassen. Karl Dietrich Bracher bemerkt völlig zu Recht: „Die gegenwärtige Verwirrung der Maßstäbe bei der Beurteilung politischer Systeme, die sich im 20. Jahrhundert durchweg auf die Zustimmung der Bürger berufen, ruht nicht zum wenigsten daher, daß der totale Consensus-Anspruch der Diktaturen nicht klar genug abgehoben wird vom demokratischen Mehrheits-Consensus, und daß der grundlegende Unterschied verwischt oder als , bloß formal’ bagatellisiert wird, der zwischen der Wahl als Alternative und als bloßer Akklamation besteht.“
Dieser Verwirrung um den Konsensbegriff kann einerseits dadurch begegnet werden, daß der identitäre Charakter totalitärer Systeme klar beschrieben und so der Mißbrauch der Konsens-idee offenbar wird. Andererseits aber kann die notwendige Klarheit nicht ohne eine präzise Beschreibung der Rolle des Konsenses in der freiheitlichen Demokratie erreicht werden.
Der Minimalkonsens
Wie gezeigt, geht es bei der Frage nach Inhalt und Stellenwert des Konsenses darum, „ob die Vielfalt oder die Mehrzahl der Interessen durch diktatorische Herrschaft unterdrückt oder gleich-geschaltet oder ob ihr freier Ausdruck gestattet wird, und die Frage ist in diesem letzteren Fall wiederum, ob widerstreitende Interessen ... zum Bürgerkriege führen, oder ob man gemeinsame Spielregeln findet und beachtet, die einen friedlichen Austrag und Ausgleich möglich machen“
Die freiheitliche Demokratie braucht Konsens, sie benötigt aber auch die Fähigkeit, den Dissens zu ertragen und durchzustehen. Die Balance zwischen Konsens und Konflikt muß so gewählt sein, „daß Konsens nicht auf Kosten der Freiheit und Konflikt nicht auf Kosten der Einheit der Gesellschaft geschieht“
Der für die pluralistische Demokratie unverzichtbare Konsensbereich muß also deren Existez sichern, ohne die Pluralität zu gefährden. Dieses Ziel ist am besten erreichbar, wenn nicht soviel Konsens wie möglich gefordert wird, sondern im Gegenteil nur soviel Konsens wie nötig. Es geht um der Sicherung von Freiheit und Vielfalt willen darum, das Minimum an notwendiger Überein-stimmung für eine politische Gemeinschaft zu definieren. Dieses Konsensminimum wird als Minimalkonsens bezeichnet.
Bei Ernst Fraenkel findet sich bereits 1932 die Formel vom „Minimum von Gemeinsamkeiten im sozialen Leben des Volkes, das zu einem Staat zusammengefaßt ist“ sie taucht in dieser oder ähnlicher Form in seinen Abhandlungen immer wieder auf. Insofern kann Fraenkel sicherlich als gedanklicher Vater des Begriffs „Minimalkonsens“ gelten. Der Terminus selbst findet sich erstmals bei Manfred Hättich. In seinem 1965 erschienenen Aufsatz „Das Toleranzproblem in der Demokratie“ heißt es: „Toleranz setzt Übereinstimmung in ihrer Werthaftigkeit voraus. Ohne solchen Minimalkonsens gibt es überhaupt kein Miteinanderleben.“
Seitdem ist der Begriff „Minimalkonsens“ in der politikwissenschaftlichen Literatur weithin gebräuchlich. Er findet sich u. a. bei Gerhard Lehmbruch, Axel Görlitz, Kurt Gerhard Fischer, Wolfgang Hilligen, Thomas Ellwein, Bernhard Sutor, Hans Kremendahl, Thomas Otto Hüglin, Detlev Göldner, Michael Stolleis, Gertrud Höhler, Peter Massing, Winfried Steffani, Wolfgang Bergsdorf, Günter C. Behrmann und jüngst bei Heinz Theisen.
Darüber hinaus hielt der Ausdruck auch Einzug in die politische Sprache. Als frühester Beleg kann hier das im März 1976 von dem der CDU nahestehenden Studentenverband „Ring Christlich-Demokratischer Studenten“ (RCDS) verabschiedete Grundsatzprogramm gelten, wo es in Ziffer 12 heißt: „Es muß gesichert sein, daß die Menschen auf der Basis eines Minimalkonsenses nach ihren unterschiedlichen Anlagen, Neigungen, Interessen, Fähigkeiten, Wertvorstellungen und Meinungen leben können.“
Weitgehend unabhängig von der Verwendung des Begriffs „Minimalkonsens“ hat sich der Gedanke eines in der Demokratie unverzichtbaren Konsensminimums durchgesetzt. In der wissenschaftlichen Literatur ist in diesem Zusammenhang auch oft von Grundkonsens, Verfassungskonsens u. ä. die Rede. In der politischen Debatte wird meist die Formel vom „Konsens der Demokraten“ gebraucht.
Der Begriff „Minimalkonsens“ verdeutlicht am besten die Funktion des Konsenses in der freiheitlichen Demokratie, Pluralität zu ermöglichen und zu sichern. Er kann auch helfen, den Konsensgedanken seiner Ambivalenz zu berauben, denn die Befürwortung eines Minimalkonsenses schließt einen allumfassenden, totalen Konsens als Selbstzweck oder Politikziel aus. Andererseits wird durch den Begriff , Minimalkonsens 4 auch klar, daß die ihn ausfüllenden Konsenselemente tatsächlich unverzichtbar sind.
Die Entscheidung für den Minimalkonsens ist die Entscheidung für das Ausmaß an Überein-stimmung zwischen den Gliedern einer politischen Gemeinschaft, das ausreicht, die Existenz dieser Gemeinschaft zu sichern, zugleich aber dort seine Grenze findet, wo Freiheit und sich daraus ergebende Vielfalt behindert oder gefährdet werden. Der Minimalkonsens weist den Weg „zwischen der Übersteigerung des Konflikts zur Gewalttätigkeit und Kampf und der Unterdrükkung des Konflikts durch Gleichschaltung und Diktatur“ Er dient dem Schutz der Menschen und ihrer Freiheit vor Anarchie und Totalitarismus.
Pluralismustheorie und Minimalkonsens
Die ausdrückliche, auch theoretisch begründete Wendung von einem generellen und weitgehend unbestimmten Konsensbegriff zum Gedanken des Minimalkonsenses wurde von der Pluralismustheorie vollzogen. Sie versuchte, das schon von Aristoteles formulierte Postulat der „Vielfalt in Einheit“ systematisch zu begründen und wandte sich der von Otto von Gierke (1841— 1921) so bezeichneten „Kardinalfrage nach dem Verhältnis zwischen der fiktiven Einheit und der realen Vielheit in der Gesamtheit“ zu. „Das Wort Pluralismus verdanken wir dem Schöpfer der deutschen Philosophensprache, Christian Wolff (1679— 1754). Er bezeichnet damit eine Weitsicht, in der die Wirklichkeit in verschiedene, voneinander unabhängige Realitäten zerfällt oder jedenfalls auf mehr als ein oder zwei voneinander unabhängige Prinzipien zurückzuführen ist.“ Erst 1915 wurde der Begriff »Pluralismus von dem britischen Politikwissenschaftler Harold Laski (1893— 1950) aktualisiert und als Gegenbegriff zu staatlicher Omnipotenz eingeführt. Er verknüpfte den Pluralismusbegriff auch mit der Konsensfrage und unterstrich in seiner Abhandlung „Parliamentary Government in England“ (1938), daß eine Übereinstimmung im Grundsätzlichen die Voraussetzung des parlamentarischen Systems sei. Dies ist auch der Grundgedanke der Werke von Ernest Barker („Reflections on Government“, 1942) und Carl J. Friedrich („The new Belief in the Common Man“, 1942). Barker brachte ihn auf die Formel: „agree to differ in unity“.
Auch in Deutschland versuchte die Pluralismus-theorie in der Weimarer Zeit Fuß zu fassen. So schrieb zum Beispiel Hermann Heller 1928: „Das Volk als Vielheit soll sich selbst bewußt zum Volk ials Einheit bilden. Ein bestimmtes Maß sozialer Homogenität muß gegeben sein, damit politische Einheitsbildung überhaupt möglich sein soll ...
Soziale Homogenität kann aber niemals die Aufhebung der notwendigen antagonistischen Geisellschaftsstruktur bedeuten.“ Das nie gewichene Mißtrauen gegenüber dem politischen Wettbewerb in der Weimarer Demokratie und ihr Niedergang durch den Aufstieg einer identitären Ideologie zeigen allerdings, daß diese Einsicht die politische Kultur der ersten deutschen Demokratie kaum geprägt hat.
'Andererseits schärften die Erfahrungen in und mit der Weimarer Republik auch das Bewußtsein für den grundlegenden Gehalt der Frage nach dem Verhältnis von Einheit und Vielfalt in einer freiheitlichen Gesellschaft. Dies gilt insbesondere für Ernst Fraenkel, dem wichtigsten deutschen Vertreter der Pluralismustheorie. Schon in seinen frühen Arbeiten hielt er den Konsensbereich hin-i sichtlich der Existenz einer staatlichen Gemeinschaft für ebenso unabdingbar, wie er diese Gemeinschaft durch Dissens gekennzeichnet sah:
„Eine dialektische (= pluralistische, d. Verf.) Demokratie ... ist nur solange möglich, wie eine Garantie dafür gegeben ist, daß ein Minimum von Gemeinsamkeiten im sozialen Leben des Volkes, das zu einem Staat zusammengefaßt ist, vorhanden bleibt. Sind auch die letzten Gemeinsamkeiten der kämpfenden Gruppen in einem Staat fortgefallen, so löst sich der Staat in sich auf.“ Diese Feststellung von 1932 war auch zugleich Analyse des Niedergangs der Weimarer Republik und Warnung vor ihrem Ende.
Für Fraenkel ging es zuerst um das Problem, „wie trotz der Anerkennung von kollektiv geltend zu machenden Partikularinteressen ein Gemeinwohl gebildet und das Gemeinwohl gefördert werden kann“ Seine Antwort auf diese Frage brachte er auf die inzwischen schon klassische Formel: „In jeder politischen Gesellschaft zerfällt der Gesamtbereich der sozialen Ordnung in einen streitigen und einen unstreitigen Sektor.“
Für die Pluralismustheorie ist also Konsens gerade deshalb ein Thema, weil die Legitimität des Dissenses anerkannt ist: „Erhebt der Pluralismus generell den sozialen und politischen Konflikt zur anerkannten demokratischen Normalität, so gebührt auf der anderen Seite dem consensus über einige Grundregeln des politischen Lebens ein zentraler Ort in der Gesellschaft.“ Dieses Konsensverständnis schließt natürlich eine deutliche Absage an Versuche ein, allumfassenden Konsens anzustreben.
Weil in pluralistischen Gesellschaften der Bestand an Gemeinsamkeiten gering ist und Verschiedenheiten eher ins Auge fallen, sieht sich die Pluralismustheorie teilweise dem Vorwurf ausgesetzt, jeden Konsensansatz einem totalen Wertrelativismus zu opfern. Diese Kritik ist nicht gerechtfertigt. Ganz im Gegenteil muß anerkannt werden, daß die Pluralismustheorie von Anfang an einen entscheidenden Beitrag zur Begründung der Konsensnotwendigkeit geleistet hat.
Gerade Ernst Fraenkel hat immer wieder mit Nachdruck darauf hingewiesen, „daß auf die Dauer ein Staat nicht lebensfähig ist, in dem weder über ein Minimum fundamentaler, noch über zahlreiche detaillierte Fragen der Wirtschaft, Gesellschaft und Politik eine weitgehende Überein-stimmung besteht“, „daß, wenn eine Demokratie funktionieren soll, Individuen und Gruppen sich bei der Vertretung ihrer Partikularinteressen einem generell anerkannten Wertkodex unterordnen müssen“ Auch Winfried Steffani betont: „Erst das Vorhandensein eines Minimalkonsenses erlaubt die offene Austragung politischer Konflikte — das Kennzeichen einer freiheitlichen Gesellschaft — ohne die Gefahr eines Zerfalls des politischen Gemeinwesens, der Gesellschaft.“
Bei aller Betonung der Heterogenität einer Gesellschaft und der Berechtigung und Notwendigkeit des Widerstreits von Partikularinteressen zeigt das Konsenspostulat der Pluralismustheorie, „daß Konfliktaustragung nicht total, sondern regelbar, nicht destruktiv, sondern konstruktiv und mit der Chance zum Ergebnis zu begreifen ist“ Eine freiheitliche Demokratie geht demnach, wie Fraenkel zusammenfassend feststellt, von der „Notwendigkeit und Wünschbarkeit der Divergenz in tunlichst möglichst vielen Einzelfragen und der Notwendigkeit und Unvermeidlichkeit der Konvergenz in allen Grundfragen aus. Sie verwirft und bekennt sich gleichzeitig zum consensus omnium, je nachdem, wie wichtig für die physische Existenz und die moralische Inte-grität der Nation zu sein vermag, was zur Diskussion steht.“'
Da die Pluralismustheorie einen gewissen Konsens in jeder Gesellschaft für unverzichtbar hält, sich aber scharf gegen einen zu umfassenden Konsensansatz wehrt, kann sie der Frage nach der Bestimmung des Konsensinhalts um ihrer eigenen Glaubwürdigkeit willen nicht ausweichen. Der Hinweis auf den in jeder Gesellschaft vorhandenen , nicht-streitigen Sektor* ist hier nicht ausreichend, denn dieser Sektor umfaßt im Verständnis der Pluralismustheorie „kognitive (gemeinsame Deutungen der Welt), affektive (gemeinsame Symbole) und Faktoren, bewertende bewußte und unbewußte Orientierungen ebenso wie Einstellungen der Gleichgültigkeit, der Apathie, des Konformismus, der Duldung, der Akzeptierung und der aktiven Zustimmung, die sich auf alle Bereiche des Gesellschaftlichen beziehen und sich weder exakt definieren noch ausreichend quantifizieren lassen“
Schon Ernst Fraenkel bemühte sich deshalb um eine Verengung des , nicht-streitigen Sektors*. Er forderte die „Anerkennung eines Minimums all-gemeingültiger Verfahrens-und Verhaltensregeln ..., deren Respektierung in der Option für eine demokratisch strukturierte Gesellschaft essentiell eingeschlossen ist“ Die Anknüpfung an die englische Tradition des „agree to disagree“ ist dabei unübersehbar. Auf dieser Grundlage entwickelte die Pluralismustheorie weitere Konsensinhalte, denn „der Konsens über die Legitimität des Dissenses macht den Konsens über die dafür notwendigen Rahmenbedingungen erforderlich“
Es geht also um einen Minimalkonsens, der — wie Fraenkel es formulierte — „nicht ausreichend konkret ist, um als Aktionsprogramm politischen Handelns dienen zu können, der jedoch ausreichend detailliert sein muß, um verhindern zu können, daß die von den Parteien und Gruppen ausgehandelten Kompromisse in offenen Widerspruch zu dem moralischen Gewissen und gesamtpolitischen Verantwortungsbewußtsein der Nation geraten“
Ernst Fraenkel versuchte auch den Inhalt dieses Minimalkonsenses katalogartig zusammenzufassen: „Der generell als gültig anerkannte Wertkodex schließt ein: a) Die Anerkennung der Volkssouveränität als Legitimitätsgrundlage der bestehenden Verfassungsordnung. b) Die Unterwerfung unter das Prinzip der Mehrheitsentscheidung. c) Die Respektierung des Prinzips der Gleichheit vor dem Gesetz. d) Die Geltung der traditionellen fundamentalen Freiheitsrechte. e) Die unverbrüchliche Anwendung der Prinzipien der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung und der Unparteilichkeit der Justiz. f) Die Handhabung der Gebote der Fairneß bei der Verwendung der Spielregeln, die den Prozeß der politischen Willensbildung zu regeln bestimmt sind.“
Mit dem Versuch einer Beschreibung unverzichtbarer Konsensinhalte wagte Ernst Fraenkel einen wichtigen Schritt, denn „unmerklich gleitet damit die Pluralismustheorie von der Tatsachenfeststellung zur Normfestsetzung hinüber“ Die Gefahr eines solchen Schrittes liegt auf der Hand, „wenn nämlich der faktische Konsensus als unverletzliche Grundlage der pluralistischen Demokratie unkritisch ins Normative gewendet, aus einem Sein also unmittelbar ein Sollen abgeleitet wird, bedeutet dies, ... daß der Konsensus ...den Status quo rechtfertigt und dies aus seiner bloßen Faktizität begründet“
Andere Vertreter der Pluralismustheorie ziehen deshalb engere Grenzen für den gewünschten Konsensinhalt, so zum Beispiel Hans Kremendahl: „Allenfalls erscheint es schlüssig, die grundlegenden Menschenrechte in einen Normenkatalog aufzunehmen, über den Konsensus herrschen muß, wenn eine Gesellschaft die Minimalbedingungen freier Konfliktaustragung erfüllen soll. Hinzuzufügen wären jene institutionellen Minimalkonsequenzen, die sich daraus für das politische System ergeben.“ Er hält es für einen Vorteil des Pluralismus, daß durch den Grundsatz der Offenheit „allzu starke apriorische Fixierungen von notwendigen Konsensinhal-ten" vermieden werden können. Winfried Steffani sieht als Inhalt des unstreitigen Sektors neben den anerkannten Grund-und Menschenrechten „fundamentale, rechtsstaatlich gesicherte Verfahrensregeln“
Es ist festzuhalten, daß Unschlüssigkeit und auch eine gewisse Widersprüchlichkeit die Versuche der Pluralismustheorie kennzeichnen, den Minimalkonsens auch inhaltlich zu beschreiben. Bei aller Klarheit, wo es um die Notwendigkeit von Übereinstimmungen gerade in der pluralistischen Gesellschaft geht, bleibt es letztlich doch bei einem — wie Eckhard Jesse zu Recht beklagt — „höchst unterschiedlich gebrauchten und unscharf verwendeten Konsensusbegriff So ist auch Winfried Steffani zuzustimmen, wenn er feststellt: „Die mangelhafte Bestimmtheit des Konsensuskonzepts steht in einem merklichen Mißverhältnis zu dessen grundlegender Bedeutung für den politischen Pluralismus.“
Zum Konsensbedarf in der freiheitlichen Demokratie
Auf dieser Grundlage ist nun zu klären, welcher Konsensbedarf in der pluralistischen Gesellschaft grundsätzlich vorhanden ist. Die Klärung dieser Frage ist sowohl auf einer inhaltlichen Ebene — welche Bereiche muß der Minimalkonsens umfassen? — als auch auf einer quantitativen Ebene — welcher Unterstützung bedarf der Minimalkonsens? — zu suchen.
Für eine inhaltliche Begrenzung des Minimalkonsenses ist zunächst die Frage wichtig, wieviele Bürger den Minimalkonsens als solchen tragen müssen. Je größer die Gruppe derer ist, von denen die freiwillige Zustimmung zu den Elementen des Minimalkonsenses erwartet wird, desto enger muß der Konsensbereich gefaßt werden. Dabei ist zu berücksichtigen, daß, gerade weil die Demokratie widerstreitende Auffassungen zuläßt und Vielfalt wünscht, Konsens in diesem System am wenigsten gesichert ist.
Manfred Hättich erinnert deshalb zu Recht daran, daß in einer pluralistischen Gesellschaft hundertprozentige Übereinstimmung nicht erreichbar ist, denn es werde „immer eine Minderheit geben, der gegenüber dieser Konsens herrschaftlich durchgesetzt werden muß“ Hättich warnt deshalb auch vor einer Fixierung auf die quantitative Seite des Problems: „Nicht die Prozente sind in der Konsensfrage entscheidend, sondern das Gewicht, mit dem die verschiedenen Positionen die Atmosphäre und das politische Geschehen beeinflussen.“
Die Akzeptanz unverzichtbarer Konsenselemente muß — wie Ulrich Scheuner unterstreicht — vor allem ausreichen, um sicherzustellen, „daß sich der antagonistische Konflikt in den Grenzen des Verfassungskonsenses (= Minimalkonsenses, d. Verf.) hält, daß nicht die Grundlagen der gesellschaftlichen Ordnung ... zur Disposition gestellt werden können“
Das heißt zunächst, daß ein Minimalkonsens seine Konsenskraft in allen sozialen und politischen Schichten entfalten muß: „Für ein demokratisches System ist es von existentieller Bedeutung, in welchem Maß der Wertkodex pluralistischer Demokratie mit seinen regulativen Ideen, formal-demokratischen Spielregeln sowie konkreten demokratischen Wertprinzipien in das Bewußtsein der Mehrheit der Gesellschaft Eingang gefunden hat und nicht allein Bejahung durch Eliten erfährt. Dabei darf allerdings nicht vergessen werden, daß diese Eliten entscheidenden Einfluß auf das Konsensverhalten der übrigen Bevölkerung haben.“
Der brauchbarste Hinweis auf den notwendigen Konsensbedarf liegt in der Einsicht, daß der Minimalkonsens gegenüber den ihn nicht mittragenden Minderheiten durchgesetzt werden muß. Der Minimalkonsens muß deshalb mindestens von so vielen Bürgern mitgetragen werden, daß seine Durchsetzung gegenüber sich verweigernden Minderheiten auch ohne Gefährdung seines Inhalts, der Demokratie, möglich bleibt. Konsens-opponierende Minderheiten können so stark anwachsen, daß der Minimalkonsens allenfalls noch als Mehrheitsmeinung gilt, nicht mehr aber gesellschaftstragend ist. Wann dieser Punkt erreicht wird, ist nicht allgemein für alle demokratischen Gesellschaften zu definieren, sondern von vielerlei Komponenten abhängig.
Wie eng oder wie weit sind nun die inhaltlichen Anforderungen an den Minimalkonsens zu stellen, wenn es dessen Aufgabe ist, die Existenz und den Zusammenhalt einer pluralistischen Gesellschaft zu sichern? In der Bundesrepublik wird diese Diskussion wie zwischen Skylla und Cha-
58) 60) rybdis geführt: Hier ist die Erinnerung an die im Wertrelativismus zerfallene Weimarer Republik gegenwärtig, dort lauern die durch Gemeinschaftskult ermöglichten Schrecken des Nationalsozialismus. Die Frage, was zum , nicht-kontroversen Bereich 4 gehören soll, ist also selbst wieder kontrovers.
Manfred Hättich fordert zum Beispiel einen von breiter Zustimmung getragenen Ordnungskonsens, schränkt aber zugleich ein: „Zu hohe Konsenserwartungen stehen aber im Widerspruch zu eben dieser demokratischen Ordnungsvorstellung“ da sie die Legitimität von Vielfalt in Frage stellen. Heinrich Oberreuter weist darauf hin, daß die „Gefahr, den Konsensbereich auszudehnen und damit die Chancen für Pluralität und Dissens zu beschneiden, immer besteht. Daher stellt sich ... das Problem, den streitentrückten Basiskonsens eng begrenzt zu halten.“
Kurt Gerhard Fischer warnt vor Systemveränderungen von rechts, „denn sie wollen die offene Gesellschaft einschnüren ins Korsett eines Maximum-Consensus“ Er fügt an anderer Stelle hinzu: „Entscheidend kommt es mir auf das Minimum an, weil die Minimalisierung des normativen consensus gesellschaftlichen Fortschritt ermöglicht ... Die Kehrseite der Minimalisierung lautet: Maximalisierung von Autonomie für Individuen und Gruppen.“ Auch Bernhard Sutor lehnt zu hohe Konsenserwartungen ab, denn „Konsens ist eher Voraussetzung als Ziel von Politik: das Ergebnis politischer Konfliktregelung ist in der Regel nicht Konsens, sondern Kompromiß“
Thomas Ellwein hingegen sieht die größere Gefahr „durch die mangelnde Bereitschaft, sich geduldig um Konsens zu bemühen und sich lieber mit einem minimalen Konsens zufrieden zu geben, als eigene größere Forderungen zu verwirklichen“ Ebenso stellt Gertrud Höhler kritisch fest: „Auch der Pluralismus könnte mehr als den weltlichen Minimalkonsens vertragen, ohne zum weltanschaulichen Totalitarismus zu entarten.“
Die Bestimmung eines unverzichtbaren Konsens-inhalts ergibt sich letztlich aus der Funktion, die dem Konsensbereich in einer pluralistischen Demokratie zukommt: Er soll zur Vielfalt ermuntern und sie ermöglichen — das legt einerseits eine starke Beschränkung des zu fordernden Konsensinhaltes nahe —, aber diese Vielfalt auch schützen können — was andererseits ausreichenden Konsens erfordert. Der „Inhalt des Konsensus ist demnach die Chance zum Dissens“
Gerade die Formel „agree to disagree“ erfordert jedoch zumindest auch Einigkeit über die Art der Konfliktregelung, d. h. über „die Freiheit zur Austragung von Konflikten mit Methoden, die auf dem Respekt vor den Freiheitsrechten der anderen und auf dem Konsens über die zur Bewahrung der Freiheit aller notwendigen Regeln beruhen“ „Nicht ob gestritten wird, ist eine Existenzfrage für politische Gemeinschaften, sondern wie gestritten wird.“
Die Einigkeit über Konfliktregelungsmechanismen ist allerdings nur tragfähig, wenn — wie Reinhold Niebuhr 1961 formulierte — das „Gefühl der Verbundenheit mit dem Gemeinwesen und ... das Vertrauen, daß die Regierung oder der Staat der legitime Sprecher des Gemeinwesens ist“ hinzutreten. Gabriel A. Almond und Sidney Verba unterstrichen diese Komponente in ihrer inzwischen klassischen Studie „The civic culture": „... this sense of Community over and above political differences keeps the affective attachments to political groups from challenging the stability of the System“ Die Rolle von „social trust“ für den Zusammenhalt des demokratischen Staates darf also nicht unterschätzt werden. Über die Einbeziehung von Verfahrensregeln in den notwendigen Minimalkonsens besteht zwar Einigkeit, strittig ist jedoch, ob ein das demokratische System legitimierender Konsens auch den Bezug auf Grundwerte einschließen muß. Wilhelm Hennis erkennt den Fortschritt der Moderne gerade darin, „daß in ihr Legitimität gerade nicht durch Rekurs auf letzte Rechtsgründe erwächst... Es ist geradezu das Signum der legitimen Herrschaft der Neuzeit, daß sie sich ... nur auf , vorletzte 4 Gründe bezieht — legale Verfahren, bestimmte Herrschaftsmodi, , Rechte 4.“ In seltener Übereinstimmung fügt Jürgen Habermas hinzu: „Heute legitimieren weder vorletzte noch letzte Gründe ... Heute haben legitimierende Kraft allein Regeln und Kommunikationsvoraussetzungen, die eine unter Freien und Gleichen erzielte Übereinstimmung oder Vereinbarung von einem kontingenten oder erzwungenen Konsens zu unterscheiden erlauben.“
Doch diese Argumentation greift zu kurz, denn der Minimalkonsens wäre nicht tragfähig, würde er notwendigen grundlegenden Wertentscheidungen nur ausweichen wollen. Schon die erwähnte Anerkennung eines Rechts auf Dissens erfordert z. B.den Schutz des Grundwertes Freiheit. Allgemeiner noch impliziert das Ziel der Vielfalt die Anerkennung des Anspruchs des Menschen auf eigenständige Existenz, auf Wahrung der grundlegenden Menschenrechte.
Freilich bleibt die Frage, welche Grundwerte der Minimalkonsens einschließen muß. Schon im Interesse des Ziels größtmöglicher Vielfalt ist hier Zurückhaltung zu üben. Eine allzu starke wertbezogene Konsensausweitung kann zudem leicht kontraproduktiv wirken: „Eine Wertentscheidung ohne wenigstens eingeschränkten Konsens mag zur Verminderung eines Übels oder zur Lösung eines aktuellen Programms notwendig erscheinen. Sie kann aber ... wegen des mangelnden Konsenses das Gesamtsystem gefährden.“
Einen gewissen Einfluß auf die Frage nach der Einbeziehung von Grundwerten in den Minimal-konsens hat auch ein scheinbar zunächst rein wissenschaftstheoretisches Problem: Der „kritische Rationalismus hat darauf aufmerksam gemacht, daß Aussagen über die faktische einheitliche oder mehrheitliche Anerkennung von Normen in einer Gesellschaft zwar empirische Aussagen sind, aber nicht zur Rechtfertigung der Werturteile und mithin auch nicht als Legitimation eines Minimum Consensus taugen“ Angesichts der Unmöglichkeit, „wissenschaftliche Feststellungen über letzte Werte zu treffen, glaubten gewissenhafte Forscher nur die Wahl zu haben, entweder von solchen Erklärungen ganz abzusehen oder sie lediglich als persönliche Ansicht oder höchstens als philosophische Spekulation’ anzubieten“ Nicht zu Unrecht wird in diesem Mißverständnis des Kritischen Rationalismus eine Ursache eines völligen Wertrelativismus gesehen.
Kurt Gerhard Fischer versucht diesen Bedenken Rechnung zu tragen, indem er fordert, die Grundwerturteile des Minimalkonsenses müßten dem wissenschaftlichen Argumentationszwang aussetzbar sein; es müsse „um der Rationalität von Gesellschaft willen daran festgehalten werden, daß die in ihr, gleichviel wie, abgeleiteten und zur Geltung gebrachten Werte jederzeit zur Diskussion stehen können“ Einen anderen Weg schlägt Kurt Biedenkopf vor, der fordert, „daß bestimmte Grundannahmen des gesellschaftlichen Konsenses der Hinterfragung entzogen sind ... Dies ist keine Aufforderung zur Unwissenschaftlichkeit, sondern ganz im Gegenteil, wenn wir zu dem Ergebnis kommen, daß es einen inhaltlichen Grundkonsens geben muß, der der Pluralität im Sinne der Beliebigkeit von Antworten entzogen ist, weil andernfalls Gesellschaft sich nicht organisieren läßt, dann ist die Anerkennung eines solchen Grundkonsenses eine rationale Erkenntnis und nicht die Unterwerfung unter eine irrationale Annahme.“
In diesem Zusammenhang gilt es sich bewußt zu machen, daß sich Grundwerte nicht erkennen, sondern allenfalls feekennen lassen, „letzten Endes sind sie ein Problem des Glaubens“ Das Beispiel des Grundgesetzes zeigt zwar, daß ein solches Bekenntnis im demokratischen Staat durchaus der Hinterfragung entzogen werden kann, denn das Grundgesetz selbst verwehrt den Dissens über die Artikel 1 und 20 und setzt damit die Menschenwürde als letzten Wert. Es ist aber offensichtlich, daß ein Minimalkonsens, der sich so der Diskussion entziehen will, nur dann Konsenskraft entfaltet, wenn er gerade in seinem Grundwerteteil inhaltlich sehr eng begrenzt bleibt.
Diesem Gedankengang folgt z. B. Wolfgang Hilligen: „Die politischen Grundentscheidungen für einen (am Grundgesetz orientierten) formalen und materialen Minimalkonsensus werden in didaktischer Absicht in den folgenden drei Optionen zusammengefaßt:
— für Sicherung der personalen Grundrechte (liberal-konservative Komponente der Menschenwürde); — für Herstellung der politischen Voraussetzungen für die freie Entfaltung der Persönlichkeit aller und für die Überwindung sozialer Ungleichheiten, für Chancengleichheit, Selbstbestimmung und Mitbestimmung (Emanzipation); (soziale Komponente der Menschenwürde);
— für die Notwendigkeit, Spielraum und Institutionen für politische Alternativen zu erhalten, zu verbessern, zu schaffen.“ Karl Dietrich Bracher nennt „drei Grundvoraussetzungen eines funktionsfähigen Staates, der mit einem Minimum an politischer Gewalt auskommt und einem Maximum an friedlicher Konfliktbewältigung Raum bietet. Erstens: Demokratie ist Mehrheitsherrschaft, in der alle Stimmen gleich und frei sind. Zweitens: sie trägt dem pluralistischen wie egalitären Bedürfnis der Bürger nach Bewegungsfreiheit und Chancengleichheit möglichst weitgehend Rechnung. Drittens: sie ist aber nicht radikaler Gleichheitszwang und Mehrheitsabsolutismus, weil sie sowohl dem Schutz des Individuums wie der Minderheit, die keine feste Größe ist und gegebenenfalls an die Regierung kommen kann, verpflichtet bleibt.“
Zusammenfassend läßt sich also feststellen, daß der für die pluralistische Demokratie unverzichtbare Minimalkonsens „ein formales Vernunft-prinzip (das seinen Ausdruck in prinzipiellen Regeln menschlicher Kommunikation und gesellschaftlicher Interaktion findet) und ... ein materiales , Moralprinzip'(das sich in regulativen Ideen wie Gemeinwohl und Gerechtigkeit ausdrückt)“ umfaßt. Dabei ist festzuhalten, daß Demokratie „das politische System mit dem geringsten Konsensbedarf (ist), was inhaltliche Übereinstimmung angeht. Sie hat aber einen hohen Bedarf an Ordnungs-und Verfahrenskonsens.“
Die Elemente des Minimalkonsenses in der freiheitlichen Demokratie
Auf dieser Grundlage ist der Versuch zu wagen, den Inhalt des für die freiheitliche Demokratie unverzichtbaren Minimalkonsenses präziser zu bestimmen. Voraussetzung dafür ist die Klarheit über das, was den Menschen ausmacht. Die unveräußerliche Würde, Gleichwertigkeit, Verschiedenartigkeit und Unvollkommenheit sind allen Menschen unwiderruflich eigen. Diese Wesenseigenheiten können weder von Dritten bestritten werden, noch kann sie der einzelne aus eigenem Antrieb abschütteln.
Aus diesem Menschenbild ergeben sich die Grundlagen einer dem Menschen gemäßen politischen Ordnung: Der Schutz der Menschenrechte und der Freiheit des einzelnen folgt aus der Achtung vor der unveräußerlichen menschlichen Würde. Aus der Gleichwertigkeit aller ergibt sich der Anspruch aller auf grundsätzlich gleichen Zugang zur politischen Willensbildung, aus der Verschiedenartigkeit folgen die Legitimität von Vielfalt und Freiheit. Das Wissen um die jedem Menschen eigene Unvollkommenheit schließlich verhindert die Anerkennung selbsternannter Herrschaftseliten, garantiert die Offenheit der Willensbildung und begründet die Entscheidungsfindung durch Mehrheit.
Die freiheitliche Demokratie geht also von Unterschiedlichkeit und Gegensätzlichkeit zwischen den Menschen, von Vielfalt und Konflikt in der Gesellschaft aus. „Gerade dadurch, daß nicht nur eine Weltanschauung, eine Religion, eine politisehe Programmatik zugelassen und toleriert wird, sondern eine relative Vielfalt der Wert-, Lebens-und politischen Orientierungen möglich ist, konstituiert sich demokratische Legitimität.“ Es handelt sich dabei um relative Vielfalt, weil dort eine Grenze besteht, wo die Würde des Menschen und seine Freiheit bedroht werden.
Voraussetzung für diese Offenheit der freiheitlichen Demokratie ist die Einigkeit unter ihren Bürgern. Diese Einigkeit muß zumindest umfassen:
1. die Achtung der Menschenwürde und die Anerkennung der Menschenrechte, 2. die Anerkennung demokratischer Spielregeln, insbesondere des Mehrheitsprinzips, und 3. die Anerkennung des staatlichen Gewaltmonopols bzw. die individuelle Bereitschaft zum Gewaltverzicht. Dieser unverzichtbare Minimalkonsens ist der Kern demokratischer Identität. Wo er in Zweifel gerät, ist die Existenz der freiheitlichen Demokratie bedroht. „Wer nämlich abstreitet, daß jede Gesellschaft eines Minimums gemeinsamer Grundüberzeugungen bedarf, daß ein rationaler, immer wieder zu überprüfender Minimum-Consensus unvermeidlich ist, liefert auch sich selbst der Gewalttätigkeit des jeweiligen Stärkeren aus.“ Freiheit und Vielfalt sind aber auch dort in Gefahr, wo zu weitgehender Konsens gefordert oder gar erzwungen wird. Organisationsprinzipien wie Gewaltenteilung und Parlamentarismus sind notwendig, um diesen Minimalkonsens im Staatsleben institutionell zu sichern. Sie wären verzichtbar, wenn andere Organisationsprinzipien diese Funktion übernehmen könnten, was nach allen bisherigen Erfahrungen zumindest höchst zweifelhaft ist; deshalb gehören sie nicht unmittelbar zu den unverzichtbaren Konsenselementen. Die Grundfreiheiten sind nicht ausdrücklich eingeschlossen, weil sie sich aus der Achtung der Menschenwürde und der Anerkennung der Menschenrechte ergeben.
Die drei Elemente des für die pluralistische Demokratie unverzichtbaren Minimalkonsenses können nicht voneinander isoliert gesehen werden. Sie bedingen und begrenzen einander. Die Achtung der Menschenwürde und die Anerkennung der Menschenrechte heben als Wertentscheidung den Minimalkonsens über einen reinen Spielregelkonsens hinaus. Hierin unterscheidet sich „die . verfassungsmäßige'(. konstitutionell le‘) Demokratie, in welcher gerade die Mäßigung des politischen Formprinzips durch das Normative das Entscheidende ist, von der . absoluten'(. massiven') Demokratie, die das , dezisionistische“ Moment der Mehrheitsentscheidung in den Mittelpunkt rückt“
Die Wertentscheidung für die Achtung der Menschenwürde macht auch die Anerkennung demokratischer Verfahren und insbesondere der Mehrheitsregel für alle akzeptabel, denn durch diese Wertentscheidung ist Minderheitenschutz gesichert. So ist es möglich, eine Übereinstimmung über die Gültigkeit der Mehrheitsregel zu erreichen, die unabhängig vom Inhalt der Mehrheitsbeschlüsse ist, solange niemand befürchten muß, durch solche Mehrheitsbeschlüsse in seinen grundlegenden Menschenrechten beeinträchtigt zu werden
Die Achtung der Menschenwürde aller und die Anerkennung des Mehrheitsentscheids schränken die Freiheit des einzelnen ohne Zweifel ein. Es kann aber „jemand nur zugemutet werden, freiwillig die ihm gesetzten Grenzen einzuhalten, wenn er die Sicherheit hat, daß alle anderen dies ihm gegenüber auch tun. ... Diese Sicherheit aber kann er nur haben, wenn der Gehorsam aller notfalls erzwungen wird.“ Daß dies notfalls geschehen kann, garantiert das staatliche Gewaltmonopol. Es kann aktiviert werden, wenn die Bereitschaft zum individuellen Gewaltverzicht nachläßt und damit die Achtung vor der Würde des Menschen abnimmt.
Insofern besteht ein enger Zusammenhang zwischen der Geltung des Minimalkonsenses und der Notwendigkeit staatlicher Zwangsmaßnahmen: „Der Kreis des als natürlich und rechtmäßig angesehenen verdrängt den Zwang aus der Gesellschaft... Entsprechend muß der Zwang in der Gesellschaft mit dem Abnehmen eines fundamentalen Konsenses zunehmen.“ Es ist jedoch zu unterstreichen, daß das staatliche Gewaltmonopol der Wertentscheidung zugunsten der Würde des Menschen unterworfen ist und sich nicht gegen sie richten darf.
Die Legitimität des beschriebenen Minimalkonsenses wird dadurch gestärkt, daß er die einzige Möglichkeit bietet, „um unter den Bedingungen einer pluralistischen Gesellschaft zu Entscheidungen zu kommen, ohne diese Bedingungen selbst aufzuheben“ Dies ergibt sich aus der Verknüpfung der Anerkennung von Spielregeln der friedlichen Konfliktlösung mit der Wertentscheidung für die Achtung der Würde des Menschen. Mit dieser Wertentscheidung liegt dem für die Existenz der freiheitlichen Demokratie unverzichtbaren Minimalkonsens nicht nur ein normativer Akt zugrunde, sondern dadurch erhält er auch eine „normative Funktion“ In ihm manifestiert sich das Ethos einer — wie es Karl Dietrich Bracher formuliert — „wertbetonten, substantiellen Demokratie, die aber nicht auf eine bestimmte Weltanschauung begrenzt, sondern verpflichtet ist: den Regeln zur Wahrung der Freiheit und Chancengleichheit, der stets zu erneuernden freien Legitimierung von Parlament und Regierung, der gleichen Chance der Minderheit zur Mehrheit zu werden, der freien politischen Willensbildung, über allem der Wahrung demokratischer Grundrechte in ihrer vor-und überstaatlichen Geltung.“