Die Lateinamerika-Politik der USA zeichnet sich seit dem frühen 19. Jahrhundert durch ein spezifisches Realitätsdefizit aus. Nicht daß damit die amerikanische Tradition sehr „realer“ Politik ignoriert würde, die alle Verhaltensspielarten eines (Über-) Mächtigen gegenüber kleineren und schwachen Nachbarn umfaßt: Krieg und Annexion; Intervention und Okkupation; Manipulation (Einsetzung, Sturz) lokaler Regierungen; Einflußnahme durch Gewährung, Versagung und Entziehung von Vorteilen (politische Anerkennung, wirtschaftliche oder militärische Hilfeleistungen) oder durch Sanktionen usw. Realitätsdefizit in diesem Zusammenhang meint vielmehr tief eingegrabene realitätsinadäquate Interpretationsmuster gegenüber der Politik und Gesellschaft Lateinamerikas sowie den amerikanischen Möglichkeiten, sie zu beeinflussen. Der erste Aspekt findet seinen Ausdruck im Konzept der „Western Hemisphere“, der zweite im amerikanischen Monroeismus.
Die „Western Hemisphere“ ist mehr ein ideologisch-normativ als ein geographisch verstandener Begriff. Er impliziert, daß zwischen den USA und Lateinamerika eine prinzipielle Harmonie und Gemeinsamkeit aufgeklärt-fortschrittlicher, human-demokratischer und wirtschaftsliberaler Grundwerte, Ziele, Interessen und Institutionen (Verfassung, Rechtsstaat usw.) bestehe. Eine „special hemispheric Community“ verbinde Nord und Süd in Amerika -Tatsächlich handelt es sich dabei mehr um (illusionäre) Projektionen nordamerikanischer Wertvorstellungen, Erfahrungen und Interessen als um eine Realitätsbeschreibung.
Auch ohne diesen etwas außer Mode gekommenen Begriff „Western Hemisphere“ wirkt das Interpretationsmuster fort. Es ist entscheidend mitverantwortlich dafür, daß die USA sich so schwer tun, radikale revolutionäre Abweichungen von der Western-Hemisphere-Orthodoxie als Folgen genuin und autonom (latein-) amerikanischer gesellschaftlicher Prozesse zu begreifen. Weil das — ä la Morgenstern — nicht sein kann oder darf, interpretieren die USA diese immer wieder als das Produkt von Mächten, die von außen auf Amerika einwirken, d. h. als Ergebnis extrakontinentaler Interventionen. Globale Konspirationstheorien erschweren so die realistische Analyse komplexer sozialer Prozesse, wie sie z. Z. in Mittelamerika zu beobachten sind.
Das andere hiermit auf das engste zusammenhängende Interpretations-und Handlungsmuster ist der Monroeismus: Der Grundgedanke der Monroe-Doktrin von 1823, zum Mythos erstarrt und gleichzeitig außerordentlich flexibel, prägt die amerikanische Interpretation politisch-sozialer Vorgänge in Lateinamerika und determiniert die Lateinamerika-Politik der USA. Die Vereinigten Staaten würden — so der Kernsatz in Präsident Monroes Kongreßbotschaft von 1823, der erst später so genannten Monroe-„Doktrin“ — Versuche außerkontinentaler Mächte „to extend their System to any portion of this hemisphere“ betrachten „as dangerous to our peace and safety“. Die USA identifizieren ihre eigene Sicherheit mit der politisch-territorialen Integrität der Staaten Lateinamerikas ebenso wie mit dem ungestörten Bestand der Western-Hemisphere-Orthodoxie gegenüber Bedrohungen, die von außerhalb Amerikas kommen. Die USA würden also im eigenen Sicherheitsinteresse militärische, politische und ideologische Gefährdungen Amerikas durch außeramerikanische Mächte abwehren, und sei es durch eigene Intervention in Lateinamerika. Diesen Gedanken, der sich 1823 gegen die „Heilige Allianz“ richtete, wendeten die USA später zwangfos gegen die europäischen Mächte schlechthin, gegen den Faschismus oder den „internationalen Kommunismus“. Monroes im Ausgangspunkt ganz pragmatische Zielsetzung schlug in der Folgezeit in der amerikanischen kollektiven Psyche tiefe Wurzeln und entwickelte sich zu einem Defensivreflex, dem in Amerika existentielle Bedeutung zukam — nicht weil ein amerikanischer Präsident 1823 ein pragmatisches Prinzip gut formuliert hatte, sondern weil es als kollektives Identitätssymbol der nationalen Rollendefinition in Amerika dienen konnte; weil die darauf gegründete Politik Traditionspatina ansetzte und über hundert Jahre lang einen solchen Erfolg hatte, daß man diesen der immanenten Vernünftigkeit des Prinzips zuschrieb und seine eigentlichen Ursachen vergaß, nämlich die Parallelität englischer Interessen (und die englische Flotte) im 19. und die amerikanische Übermacht im 20. Jahrhundert. Der Monroeismus wurde mit anderen Worten zum geschichtswirksamen Mythos. Und es ist gerade der außerordentliche und lang andauernde Erfolg der mit diesem Begriff umrissenen Politik, der sich unter veränderten interamerikanischen und weltpolitischen Bedingungen nunmehr als Hemmnis für eine realitätsadäquate Lateinamerika-Politik auswirkt.
Die amerikanische Politik des Monroeismus war immer strikt einseitig. Dennoch hatte sie auch objektiv reflexhafte Schutzwirkungen zugunsten Lateinamerikas. Aber Amerikas Monroeismus schlug in Hegemonie um, wo jene angenommene Interessenidentität — häufig genug — fehlte und die USA auf einer „Als-ob“ -Basis agierten und seit 1904 vielfach in Lateinamerika intervenierten, um (angeblich) Interventionen außeramerikanischer Mächte zu verhindern. Erst F. D. Roosevelt baute diesen zur Gewohnheit gewordenen Interventionismus in den dreißiger Jahren („Good Neighbor Policy“) und unter dem Kooperationsdruck im Zweiten Weltkrieg ab. Die seit 1889 andauernden Bemühungen um eine Institutionalisierung der interamerikanischen Beziehungen fanden ihren Höhepunkt im Interamerikanischen Vertrag über gegenseitigen Beistand, sogenannter Vertrag von Rio de Janeiro 1947, und in der Organisation Amerikanischer Staaten [OAS] 1948. Dabei verfolgten die USA langfristig zwei Hauptziele: die Western-Hemisphere-Ideologie zum gewissermaßen vertraglich verpflich-tenden Credo aller amerikanischen Staaten zu machen und so den Monroe-Abwehrmechanismus zu „multilateralisieren". Im Prinzip ist das auch gelungen: ersteres mit den erwähnten Verträgen und wohl Hunderten von Resolutionen, Proklamationen usw., letzteres mit weit formulierten Kriterien, die nicht nur extrakontinentale militärische Aggressionen, sondern auch ideologische Interventionen zum potentiellen casus foederis kollektiver (!) Sanktions-und Abwehrmechanismen machen.
Abgesehen von verbalen Antikommunismus-Bekundungen aus der Zeit des Kalten Krieges hat es aber nur einmal, bei den Kuba-Sanktionen 1964, eine knappe (unter starkem amerikanischen Druck zustande gekommene) Mehrheit in der OAS für die amerikanische Position gegeben, daß interne radikale Veränderungen in Lateinamerika (Abweichungen von der Western-Hemisphere-Orthodoxie) als externe Aggression zu interpretieren und zu sanktionieren seien (die OAS hat die Sanktionen gegen Kuba inzwischen zu freiwilligen gemacht) Im übrigen haben die OAS und Lateinamerika diese These verworfen. Wortführer dieser Gegenposition war nachdrücklich und ständig vor allen anderen Staaten Mexiko.
Die Nichtübernahme des Monroeismus durch die OAS hat die USA aber nicht zum Verzicht auf ihn bewogen. Offenbar nach dem Grundsatz: so viel Multilateralismus wie möglich, so viel Unilateralismus wie nach ihrer Ansicht nötig, haben sie mehrfach auf den klassischen einseitigen Monroeismus zurückgegriffen: in Guatemala 1954; in Kuba 1961; in der Dominikanischen Republik 1965 (die nachträglich von der OAS beschlossene „kollektive“ Streitmacht kaschiert das nur schwach); in Grenada 1983; in Nicaragua seit 1983.
Lateinamerika seinerseits — stets auf der Suche nach seiner eigenen individuellen und kollektiven Identität gegenüber Europa und Nordamerika — setzt dem amerikanischen Monroeismus einen zwar oft diffusen, aber gerade durch ihn provozierten kollektiven Nationalismus entgegen. Die in diesem Zusammenhang vielfach verwendeten Begriffe wie Bolivarismus, Hispanis-mus, Luso-Hispanismus u. ä. bezeichnen im ersten Falle das Ziel der staatlich-politischen Selbständigkeit und Unabhängigkeit schlechthin mit Zielrichtung gegen die ehemaligen Kolonialmächte Spanien und Portugal ebenso wie gegen die USA; in den letzten beiden Fällen eine kulturelle kollektive Identität Lateinamerikas unter Berufung auf das allen gemeinsame kulturelle Erbe Spaniens oder/und Portugals, die sich allein und ausdrücklich gegen die Vereinigten Staaten richtet. Auch der revolutionäre Marxismus ist für Lateinamerika in den Worten des Mexikaners Carlos Fuentes „eine Chance, endlich wir selbst zu sein — weder alte noch neue, sondern einfach authentisch lateinamerikanische Gesellschaften .. ,“ Die dependencia-Theorie war vielleicht nicht immer überzeugende Soziologie oder politische Ökonomie, aber doch ein wichtiges Element lateinamerikanischer Identitätsfindung.
Konkret und politisch suchte Lateinamerika im interamerikanischen System (Rio-Vertrag, OAS und deren Umfeld) durchzusetzen: erstens die Prinzipien der Respektierung der staatlichen Souveränität und Nichtintervention sowie zweitens die Verpflichtung der USA zu Entwicklungsund Wirtschaftshilfe Die praktisch lückenlose und kategorische Ausformulierung der erstgenannten Prinzipien seit 1933 (Montevideo), insbesondere aber seit 1947/48, hebt den Widerspruch zur nordamerikanischen Politik des Monroeismus nicht auf, sondern macht ihn nur um so sichtbarer. Der zweite Grundsatz ist von den USA nie akzeptiert worden; die Entwicklung hat ihn inzwischen auch überholt.
Die wirtschaftlichen und politischen Beziehungen Lateinamerikas zu den USA haben sich von etwa 1950 bis 1979 und auch danach qualitativ verändert. Das beruhte einerseits auf einem relativen wirtschaftlichen Machtverlust der USA im Weltsystem, zum anderen auf dem in dieser Zeit außerordentlichen wirtschaftlichen Wachstum Lateinamerikas. Diese Tendenz wurde unterstützt durch die dynamisierende Wirkung des Prinzips der Diversifizierung. Das gilt intern für die Industrialisierung sowie für den Agrarsektor, nach außen durch die Entwicklung der Beziehungen Lateinamerikas zu Europa, Asien (insbesondere Japan) und den kommunistischen Staaten sowie nicht zuletzt innerhalb Lateinamerikas selbst. Während um 1950 die USA der ausschließliche oder doch absolut dominante Partner, Lieferant und Abnehmer, für wirtschaftliche Leistungen und Güter, Kapital, Know-how, militärische Ausrüstungen und Sicherheit, für Ideologie und politische Beziehungen überhaupt waren, hat sich diese Rolle in den achtziger Jahren auf eine nur relativ starke Position reduziert (sie ist in Mittelamerika und der Karibik noch immer stärker als im übrigen Lateinamerika).
Lateinamerika hat sich engagiert in die Dritte-Welt-Bewegung eingeordnet und dadurch seine Stellung zumindest politisch als Exponent im Kampf um eine neue Weltwirtschaftsordnung verstärkt; Lateinamerika hat die Kontrolle über seine nationalen Ressourcen und über multinationale Korporationen weitgehend zurückgewonnen. Intra-lateinamerikanische Kooperation (subregional: Anden, Mittelamerika, Karibik; regional seit 1975 das Sistema Economico Latinoamericano, kurz SELA, d. h. das „Lateinamerikanische Wirtschaftssystem“) ermöglicht die Koordination, gemeinsame Planung und die Entwicklung gemeinsamer Positionen gegenüber den USA und weltweit. Selbst das derzeitige Schuldenproblem ist jedenfalls nicht das einer einseitigen Abhängigkeit von den USA, für die umgekehrt Lateinamerika zum drittwichtigsten Wirtschaftspartner geworden ist. Im Ergebnis: Es bestehen immer noch (und zwar unterschiedlich) ungleichgewichtige Beziehungen, aber eine tendenzielle Entwicklung von extrem einseitiger Dependenz zu sehr realer Interdependenz ist unübersehbar
Carter und Lateinamerika
Diesen veränderten Bedingungen hatte die Regierung Carter Rechnung zu tragen versucht. Nachdem in Kuba die Monroe-Politik gescheitert war, hatten sich die USA im Namen des Monroeismus ein modifiziertes Ziel gesetzt: langfristig, den kubanischen Fremdkörper zu beseitigen; kurz-und mittelfristig, ihn in Lateinamerika zu isolieren (beides war erfolglos) und vor allem den „Export der Revolution“ oder ein „zweites Kuba“ in Lateinamerika zu verhindern. Denn Kuba, so der monroeistische Gedanke, vermittele permanent die außerkontinentale Intervention in Lateinamerika und die Sowjetunion handele durch Kuba In diesem Sinne erfolgreich hatten die USA 1965 in der Dominikanischen Republik interveniert (und später in Grenada sowie indirekt in Nicaragua).
Die Carter-Administration suchte diese regional fixierte und eingeengte amerikanische Lateinamerika-Politik durch eine mehr problembewußte globalistische Umorientierung auf die allgemeine Nord-Süd-Thematik von ihren traditionellen Spannungen zu entlasten. In der OAS akzeptierte sie vorsichtig einen „ideologischen Pluralismus“. Die Menschenrechte als Leitmotiv Carterscher Politik waren ein universales Thema, und Carter demonstrierte durch die Reduzierung von Militärhilfe an lateinamerikanische Militär-diktaturen (einige verzichteten freiwillig), daß er keine regionale Ausnahme machen wollte. Die Panama-Kanal-Verträge schließlich beendeten einen jahrzehntelangen Prozeß eskalierender Spannungen nicht nur im Verhältnis zu Panama, sondern ganz Lateinamerika. Schließlich ließ die Carter-Administration Somoza fallen und forderte mit der OAS seinen Rücktritt. Damit gab Carter eine spezifische Lateinamerika-Politik im Grunde auf. Das kam der Interessenlage Lateinamerikas entgegen. Denn Lateinamerika hatte ja in der Nord-Süd-Konfiguration gerade für den „Süden“ optiert und darin eine erfolgversprechende Strategie zur Minderung der Abhängigkeit von den USA gesehen
Reagan und Lateinamerika
Eben diese Umorientierung machte Reagan seinem Vorgänger zum Vorwurf: „Verlust“ Nicaraguas, Ermutigung für die Guerrilla in El Salvador und Guatemala. Reagan dagegen wollte die „sowjetische Expansion“ stoppen und die amerikanische Macht in dieser lebenswichtigen Region wieder zur Geltung bringen.
Die Lateinamerika-Politik der Reagan-Administration — wenn man denn allgemein von einer solchen sprechen kann — zeichnet sich insgesamt durch die Rückkehr zu alten Interpretations-und Handlungsmustern aus: zur (ideologischen) Wertegemeinschaft der „Western Hemisphere“ und zum Monroeismus. Die Reideologisierung ihrer Außenpolitik, die Ein-und Unterordnung aller großen Fragen in bzw. unter den globalen Ost
West-Konflikt wird neuerdings für nur eine „erste Phase“ gehalten. Für Mittelamerika gilt sie permanent; Lateinamerika allgemein tritt zunächst dagegen kaum ins Bewußtsein. Washingtons Aufmerksamkeit gilt vor allem Mittelamerika und der Karibik. Diese Region ist nach Secretary Haig der „Testfall" für die globale sowjetische Expansion und andererseits für den Widerstandswillen, die Glaubwürdigkeit und Bündnis-treue der USA; es gelte „to draw the line“. Nach Reagan erleidet Mittelamerika „the first real communist aggression on the American main-land“, einen konspirativen „attempt to destabilize the entire region“, aber — „we’ve seen it rolled back in ... Grenada“
Während aber Carters Globalismus die regionalen Probleme in die globalen einmünden lassen und sie auf dieser Ebene auflösen wollte, defi-niert Reagans neuer Globalismus Mittelamerikas Probleme zwar in globalen Kategorien, sucht aber regionalspezifische (monroeistische) Lösungen. Die Administration nahm auch Jeane Kirkpatricks Unterscheidung — die deshalb, nicht wegen ihrer Originalität wichtig geworden ist — zwischen nur autoritären (beeinflußbar, ersetzbar und vor allem antikommunistisch) und totalitären Regimen (marxistisch-kommunistisch, quasi-permanent) bereitwillig auf und kehrte zur Politik der militärischen und wirtschaftlichen Unterstützung der durch ihren Antikommunismus ausgewiesenen (Militär-) Diktaturen zurück: Chile, Uruguay, Brasilien, Argentinien. Aus zahlreichen öffentlichen Erklärungen Reagans spricht auch der andere Gedanke Kirkpatricks: die USA müßten sich in Mittelamerika gegen die sowjetisch-kommunistische Expansion verteidigen.
Mittelamerika — Die Analyse
Die Region Mittelamerika hebt sich durch die Nähe und Dringlichkeit ihrer Probleme für die USA vom übrigen Lateinamerika ab. Amerikas Interesse an „Lateinamerika“ bezog sich immer zum größeren Teil auf diese Region. Das amerikanische Hauptargument bei der politischen Problemanalyse ist hier das der Fremdbestimmung. Das bezieht sich auf die Regime in Kuba und Nicaragua sowie die Guerrilla-Opposition in El Salvador, zeitweilig auch auf die Regime in Guatemala sowie in Kolumbien, Peru u. a. Sie alle seien inspiriert und abhängig von der ideologischen, politischen, wirtschaftlichen und militärischen Unterstützung durch die Sowjetunion (den internationalen Kommunismus), die in Lateinamerika vor allem durch Kuba und Nicaragua vermittelt werde. Die behauptete Fremdbestimmung (außerkontinentale Intervention) löst den monroeistischen Defensivreflex aus.
Läßt sich die zentrale Frage, ob diese Regime und Bewegungen autonom, autochthon lateinamerikanisch oder heteronom sind, zufriedenstellend beantworten? Die Lage in Mittelamerika (und einigen Teilen Südamerikas) ist gekennzeichnet durch rapiden sozialen Wandel; unterschiedliche und konkurrierende Konzepte von Modernität und Entwicklung treffen unter Bedingungen zeitlichen und äußeren politischen Druckes auf starre gesellschaftliche und politische Strukturen, unvollkommen integrierte Bevölkerungen, unausgeglichene Produktions-und Wirtschaftsformen, extrem ungleiche Vermögens-und Einkommensverhältnisse usw. Die Ursachen für explosive Unruhen in Mittelamerika sind — nur das ist sicher — komplex.
Vielleicht — aber auch nur vielleicht angesichts der angedeuteten Bedingungen — ist die Vorstellung vom Massenprotest marginalisierter Land-bevölkerungen, die lange unter gewaltsam aufrechterhaltenen Bedingungen extrem ungerechter Eigentumsverteilung gelebt haben, naiv. Es sei aber daran erinnert, daß revolutionärer Protest sich weniger in Zeiten extremer (aber „stabiler“) Ungerechtigkeit und Unterdrückung ereignet, sondern dann, wenn Veränderungen als möglich, greifbar und machbar erscheinen. Das Zeitalter der instant communication stellt auch dem campesino in El Salvador oder den Bergen Nicaraguas täglich eine andere Welt vor die Sinne. Und gegen die (Mit-) Verursachung durch Armut und Verzweiflung sprechen noch nicht die hohen wirtschaftlichen Wachstumsraten in Mittelamerika zwischen 1960 und 1979.
Ebenso plausibel wäre es, die Ereignisse in Mittelamerika rein politisch zu erklären: Einer akademisch ausgebildeten und politisierten Jugend der schmalen bürgerlichen Mittelschichten blieb in langen Jahren personal-autoritärer Diktaturen (Somoza, Trujillo usw.) jede Chance demokratisch-partizipatorischer Aktivität versagt, so daß sich das angestaute Verlangen danach explosionsartig — „revolutionär“ — Bahn bricht. Ebenso denkbar als Erklärungsansatz ist der Machthunger einiger „harter Marxisten“, der nur in einem total beherrschten System befriedigt werden kann. Die Quelle ihrer Ideologie ist inzwischen universales Gemeingut. Einer konspirativ-planenden Intervention außeramerikanischer Mächte bedarf es dafür nicht notwendig.
Was immer diese oder weitere Analysen im einzelnen wert sein mögen — sie ignorieren zwar nicht die mögliche, wenn nicht sogar offensichtliche externe Unterstützung (von der Sowjetunion über Kuba oder Nicaragua), machen aber den autonomen und autochthonen Charakter der in Mittelamerika Handelnden deutlich.
Die monroeistischen Interpretations-und Handlungsmuster dagegen verstellen die Einsicht in diese Grundtatsachen und lenken — mit dem Hinweis auf externe Unterstützung/Intervention — die Aufmerksamkeit eher auf Sekundärphänomene. Die Rolle der Sowjetunion, auf die es ihnen zufolge ja in erster Linie ankäme, wird jedoch, soweit ersichtlich, nirgends konkret untersucht. Natürlich ist sie interessiert und nutzt das amerikanische Dilemma vor allem propagandistisch aus. Es wird aber durchaus bezweifelt, ob sie bereit sei, die Kosten für das sandinistische Regime ähnlich wie für Kuba (z. B. konkret für den Ölbedarf) zu übernehmen. Noch weniger ist diese Rolle für El Salvador spezifiziert worden. Auch externe Unterstützung, an der wohl niemand zweifelt, hebt die Autonomie dieser Bewegungen und Regime nicht auf. Entscheidend ist, daß für die USA nach ihrem Verhalten und ihren dafür gegebenen öffentlichen Begründungen hier nicht eine Frage, sondern ein ausgemachtes Faktum vorliegt. In ihrer (offiziellen)
Analyse und Interpretation sind die Probleme der Region Produkte sowjetischer Expansion und Intervention. Das läßt sich in zwei Zusammenhängen belegen.
Einmal wird diese Interpretation indirekt sichtbar bei der Charakterisierung des sandinistischen Regimes in Nicaragua. Es wird von Reagan bezeichnet als „totalitarian government" oder „regime“, als „communist“ oder „pro-Soviet dictatorship“, als „communist totalitarian state“, in dem eine „Marxist-Leninist clique ... imposing a brutal dictatorship“ die demokratischen Ideale der Anti-Somoza-Revolution verraten habe Hierbei geht es erkennbar nicht um eine exakte Beschreibung der Verhältnisse in Nicaragua. Was in Mittelamerika/Nicaragua geschehe (noch 1985 meint er allerdings, die Sandinisten „are indeed trying to establish another Cuba“ sei so „unamerikanisch“ und unvereinbar mit der „Western Hemisphere“, daß es nur als Produkt außeramerikanischer Intervention überhaupt gedacht werden könne.
Diese Interpretation spricht Reagan (darin Kirkpatrick u. a. Vertretern der neuen Rechten folgend) vielfach explizit aus. Danach ist das Regime in Nicaragua nichts als ein „satellite of the Soviet Union and Cuba“, ein „beachhead for Subversion“ oder ein „basecamp for the spread of communism in our hemisphere“. Vielleicht am deutlichsten am 6. Juni 1985: „... the Nicaraguan Communists are no more and no less than agents of Soviet expansionism .. .“
Diese Fixierung auf sicher vorhandene, aber nicht primär relevante exogene Faktoren hilft wohl auch zu erklären, warum Mittelamerika überhaupt zu einer nationalen Priorität geworden ist. Auch in klugen und kritischen Analysen finden sich begründungslose Aussagen der Art, daß die Bedeutung Mittelamerikas für die USA gar nicht überschätzt werden könne oder daß es dort um die Fähigkeit der USA gehe, auch künftig „to exercise a vital role in its own backyard“ Der Monroeismus-Reflex, ausgelöst durch ein externes Element, ersetzt die Analyse. Wo diese — wie im National Security Council (NSC) — tatsächlich stattfindet, werden zahlreiche, im einzelnen durchaus plausible Argumente zusammengetragen: politische (Verbreitung von Terror und damit Instabilität), ideologische, ökonomische (Gefährdung der Ölquellen in Venezuela, Mexiko und Texas sowie der Ölraffinerien in der Karibik), strategische (Schiffahrtswege durch den Panama-Kanal, die für USA-Asien-Europa lebens-wichtig sind und im Krisenfalle zu ihrer Sicherung große amerikanische Kräfte zu Lasten der Verteidigung der Verbündeten binden würden), ethnisch-demographische (Einwanderungswellen aus Lateinamerika, die schon heute nicht zu kontrollieren sind) usw. So entsteht zwar ein großes Tableau, eine Art Horrorvision. Aber diese Analyse vermittelt mehr den Charakter einer immensen Fleißarbeit, die auch an die fernsten Eventualitäten denkt, als eine überzeugende plausible Begründung für ein nationales Engagement, das den militärischen Konflikt, und zwar bei Reagans Agententheorie logischerweise mit der Sowjetunion, nicht nur mit Nicaragua, mit einbezieht. Aber der Präsident übernimmt dieses Szenario
Zu einer rationalen Analyse kann diese Interpretation nur führen, wenn man die Agententheorie ernst nimmt: Dann handelt eben nicht das kleine Nicaragua, sondern die Sowjetunion unmittelbar in Amerikas „backyard“. Dann läßt sich die Gefährdung eines globalen bipolaren Gleichgewichts konstruieren. Und eben das tut Reagan: „If we permit the Soviets, using the Sandinistas, to establish a beachhead on the American main-land and to spread their Subversion, the free world will face a major challenge to the geopolitical balance of power.“
Diese Rationalität beruht aber eben auf der Realität der Agententheorie. Gerade sie weist jedoch bei distanzierter und nüchterner Betrachtung der Lage in Mittelamerika einen starken Einschuß von Irrationalität auf, die im Monroeismus ihre Wurzel hat. Dieser ist, als defensives Prinzip, keineswegs an sich irrational. Aber die reflexhaften Reaktionen sind es, die er als nationaler Mythos produziert.
Die Lage in Mittelamerika ist unklar und verworren. Sie hat komplexe Ursachen, die primär in Mittelamerika selbst liegen, sicher auch mit vergangener Politik der USA, am wenigsten aber mit außeramerikanischer Intervention zu tun haben.
Dieser Zustand wird noch lange anhalten. Kurzfristige „Lösungen“ sind schlechthin undenkbar.
Amerika hat aus vielfach erörterten Gründen Schwierigkeiten, mit anhaltenden Herausforderungen zu leben; es verlangt eindeutig definierte Fronten und Gegner. Bis vor kurzem konnten die USA in Lateinamerika ihre überragende Macht im Namen des Monroeismus einsetzen und die Zwielichtigkeit solcher Lagen dezisionistisch beenden (Secretary of State Olney sprach diesen Gedanken 1895 erstmalig aus).
Angesichts der veränderten politisch-ökonomisch-psychologischen Beziehungen der USA zu Lateinamerika und der globalen Einbindung der Mittelamerika-Konflikte — im Verhältnis zu Gegnern wie zu Verbündeten — läßt sich amerikanische Macht, die zwar global relativiert worden, aber natürlich immer noch überwältigend ist, nicht mehr in „amerikanische“ Lösungen für die Konflikte Mittelamerikas umsetzen. Im Hinblick auf diese wird sie zunehmend irrelevant. Die immer denkbare militärische Intervention würde gewiß den allergeringsten Beitrag dazu leisten.
Die Vereinigten Staaten müssen also heute mit unlösbaren Problemen in nächster Nachbarschaft leben. Sie sind verwundbar geworden durch irreguläre, „unordentliche“, nicht zu definierende, schwer durchschaubare Kräfte, die keinem Staat zuzuordnen und gerade deshalb (weil die gegenüber dem Staate einsetzbare Macht nicht greift) nicht kontrollierbar sind — verwundbar durch den Typus des „internationalen Partisanen“. Das permanente „Sicherheitsdilemma“ der Staaten dieser Welt, von dem die USA in dieser Unmittelbarkeit bis vor kurzem noch verschont geblieben waren, trifft jetzt auch sie. Die Geschichte hat sie eingeholt; sie sind ein Staat unter anderen geworden. Sie haben ihren historisch zufällig privilegierten Status, den sie stets als höheres Recht interpretiert hatten, eingebüßt. Darin liegt das Hauptproblem für die USA in Mittelamerika: Es sind Anpassungsschwierigkeiten an den Allgemeinzustand des internationalen Systems. Dieses anerkennt keinen Anspruch darauf, im eigenen „backyard“ nicht herausgefordert zu sein — obwohl jedermann die Annehmlichkeit einer solchen Lage einräumen würde.
Reagans Monroeismus ist eine nostalgische Rückwendung zu einem heute paradiesisch erscheinenden, aber verlorenen Zustand unilateral definierter und aufrechterhaltener Sicherheit im karibischen Umfeld. Er suggeriert klare Fronten, eindeutige (außeramerikanische) Gegner und die Möglichkeit amerikanischer Lösungen. Es gibt sie nicht mehr.
Mittelamerika — Umsetzung der Analyse in Politik
Mit der Denunzierung des Regimes in Nicaragua und der Aufständischen in El Salvador als fremdbestimmt lieferte die Reagan-Administration die Basis für die schon klassisch gewordenen monroeistischen Reaktionsmuster. Die Stationen der Eskalation sind weitgehend bekannt: Einstellung der anfangs gewährten Wirtschaftshilfe (1979— 1981 rd. 119 Mio. US-Dollar) und am 1. Mai 1985 Abbruch aller Handelsbeziehungen und Verkehrsverbindungen; die diplomatischen Beziehungen werden (das ist neu) aufrechterhalten. Sodann militärische Drohgebärden bis eben unterhalb der Schwelle der direkten militärischen Intervention: große und lange dauernde „Manöver“ zu Wasser und zu Lande „gemeinsam“ mit und in Honduras; die Verminung der Häfen von Corinto u. a.; schließlich ab Herbst 1983 die Unterstützung der sogenannten Contras. Diese Unterstützung hat durchaus eine gewisse Reziprozitätslogik für sich: Sie kann sich zu ihrer eigenen Rechtfertigung auf die externe Hilfe für das sandinistische Regime berufen. Mit derselben Plausibilität kann dieses Regime natürlich den von den USA erhobenen Vorwurf der unzulässigen Dritt-intervention in Nicaragua gegen die USA selbst wenden. Nur die monroeistische Interpretation der USA behandelt diese Fälle diskriminierend ungleich: Ihr zufolge ist die amerikanische Hilfe oder Intervention legitim, wenn nicht legal, dient sie doch der Abwehr der illegitimen (illegalen)
Hilfe bzw. Intervention Dritter für/in Nicaragua.
Der Nachprüfung durch eine relativ abgehobene Instanz, den Internationalen Gerichtshof im Haag (IGH), haben sich die USA durch die Kündigung ihrer Unterwerfungserklärung von 1946 unter die Zuständigkeit des IGH nach Art. 36 Abs. 2 seines Statuts als Reaktion auf die Klage Nicaraguas entzogen.
Es entspricht langer amerikanischer Tradition, derartige Maßnahmen als „Selbstverteidigung“
zu bezeichnen und ihre Konformität mit den Satzungen von UNO und OAS sowie dem Rio-Vertrag zu postulieren Einen „bewaffneten Angriff 1, gegen den die sogenannte Verteidigung sich richten könnte, haben allerdings auch die USA nicht einmal behauptet. Wenn der Rio-Vertrag und die OAS-Satzung die Reichweite zulässi21 ger Selbstverteidigung über den bewaffneten Angriff hinaus in Richtung „ideologische Aggression“ ausdehnen sollten (was diese Texte stellen-weise nahelegen, aber gleichwohl umstritten ist), dann wäre diese Art „Verteidigung“ allenfalls als interamerikanische Konfliktmaßnahme aufgrund formalisierter Mehrheitsverfahren und -beschlüsse denkbar, die es aber hier nicht gegeben hat. Keinesfalls aber stellen sie einem Einzelstaat ein „Selbstverteidigungsrecht“ zur Verfügung, das in Phantasiezonen der Abwehr politischer Unbequemlichkeiten vorstößt — mögen diese auch noch so fühlbar und nachvollziehbar sein.
Entsprechend stark gerät auch die emotional-ideologische Aufwertung der Contras — dies wohl primär für den politischen Hausgebrauch in den USA: Sie soll Kongreß und Öffentlichkeit überzeugen, die zögernd-mißtrauisch reagieren und militärische Verwicklungen fürchten (ein „zweites Vietnam“). Deshalb stilisiert Reagan die Contras zur „democratic resistance“ bzw. zu „freedom Fighters“ hoch und versucht, sie bzw. die amerikanische Hilfe für sie durch ihre Gleichsetzung mit zentralen Symbolen der amerikanischen Geschichte zu legitimieren-: „They are the moral equal of our Founding Fathers ... the struggle here ist not right versus left; it is right versus wrong“
Die Diskussion und Kritik an der Unterstützung der Contras ist jedenfalls im Kongreß mehr taktisch als grundsätzlich; sie fürchtet vor allem die militärische Verwicklung der USA nach dem Muster Vietnams, zieht aber die monroeistische Interpretation und Reaktion im übrigen kaum in Zweifel. Sie führte 1984 immerhin zur Einstellung dieser Hilfe. Durch geschickte quantitative und inhaltliche Beschränkung sowie starkes Lobbying im Kongreß erreichte Reagan im Sommer 1985 die Wiederaufnahme von „humanitärer Hilfe“: statt Waffen und Munition nur Medizin, Nahrung, Kleidung u. ä. Aber auch so werden die Rebellen entsprechend entlastet, zumal die militärische Ausrüstung privat (durch „Spenden“) weitergeführt worden sein soll. Offenbar sind aber auch die verschiedenen Verhandlungsprozesse — die bilateralen wie die multilateralen (Contadora) — von dem monroe-23) istischen Muster geprägt worden. Die Quellen lassen hier keine eindeutigen Aussagen zu. Es scheint, daß die Vereinigten Staaten in den seltenen bilateralen Gesprächsrunden mit Nicaragua maximale, dabei unpräzis formulierte und präsentierte Ziele — praktisch die Selbstpreisgabe des Regimes — zur Voraussetzung für Verhandlungen über die Verbesserung der Beziehungen machten und Signale für vielleicht mögliche Teil-kompromisse ignorierten. Eine sorgfältige Analyse der Gespräche kommt zu dem Ergebnis, daß „U. S. officials operated in a männer that guaranteed their failure“
Die lateinamerikanischen Contadora-Verhandlungen verfolgten das Ziel, die Region zu befrieden, unter Anerkennung der Existenz und Souveränität aller beteiligten Staaten/Regierungen. Diese sehr „lateinamerikanisch“ -pluralistische Konzeption war vermutlich deshalb zu keinem Zeitpunkt mit der monroeistischen Zielsetzung der USA in Einklang zu bringen, obwohl die USA den Contadora-Prozeß verbal unterstützten. Der Kongreß forderte diese Unterstützung ausdrücklich. Die USA (oder ihre Verbündeten) stellten jedoch offenbar neue Forderungen, wenn Verständigungsmöglichkeiten auftauchten. Die erwähnte Analyse meint vorsichtig abwägend: „... U. S.demands clearly have made the process more difficult." Und abschließend: „No doubt American impatience, ineptitude, and extreme demands contributed to the demise of the peace effort.“
Beim Problem „Export der Revolution“ von Kuba oder Nicaragua werden — historisch und kulturell bedingt — unterschiedliche Perzeptionen derselben Sachverhalte deutlich. Sie helfen vielleicht, die unterschiedlichen Positionen der USA und Lateinamerikas zu erklären: Monroeismus und Bolivarismus, Pluralismus o. ä. Auch die meisten Staaten Lateinamerikas, und zwar nicht nur reaktionäre Militärdiktaturen, mißbilligen die Radikalisierung in Kuba und Nicaragua und entwickeln Mißtrauen und Sorge ihnen gegenüber (Mexiko z. B.). Gleichwohl verkörpern beide Staaten für Lateinamerika die Tradition des Bolivarismus, respektiert Lateinamerika den Beitrag, den beide zur Entwicklung einer neuen lateinamerikanischen Identität gerade gegenüber den USA geleistet haben.
Noch wichtiger ist aber vielleicht folgende Erwägung: Den USA erscheint die unkontrollierbare Penetration staatlicher Grenzen durch nicht-staatliche, ideologisch stark motivierte Bewegungen als besonders bedrohlich. Staatliche und gesellschaftliche Räume sind in Lateinamerika weniger stark verfestigt und gegeneinander abgeschottet; Grenzen spielen eine weit geringere Rolle. Trotz vielfacher Gegensätze zwischen Staaten und Herrschaftseliten wirken hier eine einheitliche Kulturerfahrung, eine lange politische Tradition des leichten Standortwechsels politischer Gruppen (Chiles politische Opposition operiert jetzt etwa von Argentinien aus) und schließlich das Band eines gemeinsamen lateinamerikanischen Nationalismus. Die Penetration von Grenzen findet deshalb in Lateinamerika dauernd statt. Unterstützung für die „Revolution“ in einem anderen Lande, Anathema für die USA (zumindest bei Anzeichen von Radikalität in der Revolution), erscheint den Lateinamerikanern, jedenfalls jenseits der unmittelbaren Nachbarschaft zu Kuba oder Nicaragua, als fast natürlich und alltäglich. Das gilt erst recht für die Perspektive Kubas oder Nicaraguas. Zwar hat sich der Charakter revolutionärer Aktivitäten seit Castro qualitativ verändert. Dennoch ist vor diesem Hintergrund der lateinamerikanische Lösungsansatz für die Probleme Lateinamerikas ein anderer als der der USA: Er ist offener und pluralistischer. Betreiben die USA nun mit allen Mitteln „short of direct military Intervention“ den Sturz des sandinistischen Regimes? Präsident Reagan hat das begreiflicherweise immer wieder geleugnet. Innerhalb der Administration gibt es dazu offenbar unterschiedliche Meinungen. Reagan hat aber zugleich öffentlich betont: es komme auf den Politikwandel, die Wiederherstellung der demokratischen Ziele der Anti-Somoza-Revolution, den Regime-Wandel an: „... remove in the sense of its present structure, in which it is a Communist totalitarian state . es sei „fine“, wenn der Wandel durch dieselben Personen bewirkt werde... Das Ziel ist eigentlich unmißverständlich. Wichtiger aber und von außen zur Zeit nicht zu beantworten ist die Frage, welche Mittel die USA dafür einzusetzen bereit sind. Außer der direkten militärischen Intervention sind allerdings kaum noch andere Drehungen an der Pressionsschraube denkbar.
Die amerikanische Politik gegenüber den anderen Staaten Mittelamerikas besteht in der gewissermaßen spiegelbildlich-positiven Seite des Monroeismus: politische, wirtschaftliche und militärische — kurz: demokratiefördende — Unterstützung dieser Staaten, insbesondere dann, wenn sie eine demokratische Legitimation vorweisen können. Das galt schon immer für Costa Rica, seit den Wahlen auch für das Duarte-Regime in El Salvador (dort auch technische Wahl-hilfe usw.), neuerdings auch für Honduras und sogar für Guatemala
Regionale Politik-Konzepte
Darüber hinaus gab es zwei Ansätze zu größeren und längerfristig angelegten regionalen Politik-Konzepten: Reagans Caribbean Basin Initiative (CBI) und den Bericht der überparteilichen President’s National Bipartisan Commission on Central America, nach ihren Initiatoren bzw. Vorsitzenden kurz Kissinger (-Jackson) Report genannt (1984). Beide Ansätze haben die Erwartungen enttäuscht, die mit ihnen verbunden waren.
Die als großer Wurf konzipierte CBI, von Reagan im Februar 1982 in einer Rede vor der OAS vorgestellt, verfolgte drei Ziele: Erstens eine kurzfristige Erhöhung der Wirtschaftshilfe, noch 1982 vom Kongreß beschlossen. Zweitens die Stärkung des privaten Sektors gegenüber staatlicher Wirtschaftshilfe durch Erleichterung des Zugangs zum amerikanischen Markt für Produkte aus der Region: zwölf Jahre Zollfreiheit. Die praktische Bedeutung war jedoch gering, denn ohnehin waren schon 80— 85 % der fraglichen Produkte in den USA zollfrei; für den geringen verbleibenden Bereich sahen Reagan und dann der Kongreß auf Druck von Industrie und Gewerkschaften zahlreiche Ausnahmen und Not-bremsen vor, um nicht amerikanische Arbeitsplätze und Kapazitäten zu vernichten. Drittens schließlich sollten amerikanische Steuervergünstigungen amerikanische Investitionen in der Region anregen. Der Kongreß reduzierte sie auf Steuervorteile für Kongreßreisen in die Region — d. h. in Hotels, die ohnehin meist amerikanischen Unternehmen gehören.
Nicht viel besser erging es dem Kissinger-Bericht Er ist besonders enttäuschend, weil ihm trotz engagierten -Sachverstandes im Grunde nichts Neues bzw. nur mehr vom Alten einfiel. Im Guatemala-Jahr 1954 wäre er revolutionär gewesen. Analyse und Therapie sind traditionell: Die unvermeidbaren Modernisierungsunruhen würden von der Sowjetunion und Kuba ausgenutzt. Der Bericht, dem ein lineares Entwicklungsmodell zugrunde liegt, verlangt massive wirtschaftliche Unterstützung, militärische Außenabsicherung und Demokratie-Hilfe, um eine gerechtere Gesellschaft, Frieden und Stabilität, Demokratie und rule of law zu entwickeln und so den sowjetischen Einfluß auszuschalten. Der Bericht empfahl ein Sechs-Jahresprogramm über 8, 8 Mrd. US-Dollar und die Errichtung einer Central American Development Organization. Alle diese Elemente finden sich bereits im Marshall-Plan oder in Kennedys Alliance for Progress. Daß diese Rezepte in Lateinamerika seit Jahrzehnten gescheitert sind und das Problem darin bestehen könnte, daß es überhaupt vermutlich keine „amerikanischen Lösungen“ für Mittelamerikas Probleme gibt, auch wenn sie teuer und gut gemeint sind, ignoriert der Bericht. Aber niemand wollte das hören, so jedenfalls behauptet ein ungenannter „distinguished political scientist“, Berater der Kommission, denn der Bericht „was, fundamentally, a political document designed for the President of the United States“
Die legislative Umsetzung der konzeptionellen Vorstellungen blieb alsbald im Kongreß stecken. Dieser beschloß zwar die für 1985 beantragten Mittel, verwarf aber in schöner Allianz zwischen Senator Jesse Helms und liberalen Demokraten das Kernstück, die Sechs-Jahres-Budgetierung. Der Kampf um die jährlichen Auslandshilfemittel geht also routinemäßig weiter. Vom Kissinger-Bericht spricht nur der Präsident noch gelegentlich.
Das Kernproblem mit der Rezeptur des Kissinger-Berichts ist der Widerspruch zwischen der amerikanischen Lösung und der mittelamerikanischen Realität. Das amerikanische Modell setzt für seine „Lösung“ das Potential des Mittelsektors als der politisch und wirtschaftlich maßgebenden Kraft voraus. Damit sind mittlere gemäßigte politische Positionen gemeint wie auch bürgerliche Mittelschichten als ihre historisch verläßlichsten sozialen Träger. In jahrzehntelanger Wirtschafts-und Entwicklungshilfe hat sich jedoch gezeigt, daß externe Maßnahmen von der im Kissinger-Bericht vorgesehenen Art jedenfalls nicht geeignet sind, dieses Potential zu schaffen. Duarte verkörpert es vielleicht; aber seine politische Basis ist offensichtlich schwach. Es ist fraglich, ob er nicht zwischen den linken und rechten Kräften zerrieben wird. Da dieser Mittelsektor fehlt oder schwach ist, finden die Vereinigten Staaten immer wieder — selbst wenn sie sie nicht lieben — in der extremen Rechten (da die Linke ausscheidet) ihren einzigen Partner. Dies ist die vom Bericht ignorierte Lehre aus dem Scheitern der Allianz für den Fortschritt. Entweder reichen auch die amerikanischen Mittel nicht aus oder, was wahrscheinlicher ist, die zugrundeliegende Theorie ist falsch.
Rechte (militärische oder zivile) Diktatoren als zwar ungeliebte, aber doch den Umständen nach unverzichtbare Garanten amerikanischer strategischer oder ökonomischer Interessen — das erklärt zugleich die Härte und Schnelligkeit, mit der die USA sie fallen lassen oder ihren Abgang beschleunigen, wenn ihre Position erschüttert ist und sie deshalb im Hinblick auf diese amerikanischen Interessen funktionslos werden. Das jüngste Schicksal des Diktators Duvalier jr. in Haiti verdeutlicht diese These. Sie macht es aber auch überflüssig, die Frage einer „grundsätzlichen“ (der wievielten?) Abkehr der USA von den Diktaturen Lateinamerikas zu diskutieren.
Erst nach längerem Zögern versuchte Reagan schließlich in seiner Rede am 27. April 1983 vor beiden Häusern des Kongresses der Lateinamerika-Politik seiner Administration einen konzeptionellen Rahmen zu geben. Er faßte ihn in vier Grundsätzen oder Zielformulierungen zusammen, die offenbar eine verbindliche Sprachregelung oder einen Konsens innerhalb der Administration darstellten, denn sie finden sich — und zwar in dieser Reihenfolge — danach immer wieder in öffentlichen und amtlichen Erklärungen Reagans und seiner Berater. Diese Grundsätze lauten: Die USA müßten in Lateinamerika unterstützen 1. Demokratie, entsprechende Reformen und menschliche Freiheit, 2. die wirtschaftliche Entwicklung, 3. die militärische Sicherheit und 4.den Dialog und Verhandlungen in und zwischen den Nationen der Region.
Wie diese Grundsätze konkret ausgefüllt bzw. nicht ausgefüllt worden sind, ist zuvor dargelegt worden.
Die erstaunliche Unbestimmtheit der Demokratie-Priorität und ihre Naivität angesichts des Widerspruches zur Politik der Unterstützung für autoritäre (sofern nur antikommunistische) Regime lösen sich auf — für die USA jedenfalls; für das demokratische Lateinamerika bleibt der Widerspruch eine Quelle der Irritation —, wenn man die Vorstellungen der Administration über „Demokratie“ zu erschließen sucht. Sofern man ihre Äußerungen dazu ernst nehmen darf, wird „Demokratie“, jedenfalls in Mittelamerika, nicht als human-ethisch-politischer Wert verstanden, sondern rein instrumental. Sie fügt sich auf diese Weise in den Monroeismus-Kontext ein: Demokratie ist nach Reagan das wirksamste Mittel, um den Kommunismus in Lateinamerika einzudämmen Oder sie wird, amerikanischer Tradition folgend, mit privater Wirtschaftsfreiheit (free enterprise) identifiziert und als Mittel zu deren Sicherung angesehen. So jedenfalls meinte Ass. Secretary of State for Latin American Affairs, Motley: ...... a functioning democratic System provides the best chance for stability that Investors need to plan ahead“
Lateinamerika: Redemokratisierung
Es ist zuvor viel von Mittelamerika und der Karibik die Rede gewesen, wenig von Lateinamerika allgemein. Das entspricht der Interessenartikulation der Reagan-Administration und der historischen Priorität dieser Region in der amerikanischen Aufmerksamkeit. Es gibt dagegen kaum Stellungnahmen zu einer allgemeinen Lateinamerika-Politik. Diese war zunächst, von Mittelamerika abgesehen, durch zwei Haltungen gekennzeichnet gewesen: Rückkehr zur Unterstützung für antikommunistische, wenn auch undemokratisch-autoritäre Regime (Argentinien, Chile, Uruguay); sodann Reduzierung der staatlichen Rolle im Bereich der Wirtschaftshilfe und darüber hinaus allgemein das Ziel, im Handel und bei Finanztransaktionen den privaten Sektor zu stärken und den staatlichen Anteil (foreign aid, Kredite etc.) zu reduzieren.
Erst die Redemokratisierungsbewegung in Lateinamerika (Argentinien, Uruguay, Brasilien vor allem) hat Lateinamerika jenseits von Mittelamerika und Karibik wieder ins politische Bewußtsein der USA gehoben. Diese Wandlungen erfolgten völlig ohne amerikanisches Zutun, wenn nicht sogar — angesichts der Unterstützung für autoritäre antikommunistische Regime — gegen sie. Sie sind das Ergebnis des Drucks demokratischer Bewegungen ebenso wie der puren Erschöpfung der Militärregime, die deshalb die neuen zivilen demokratischen Regierungen mit der Hypothek ihrer ungelösten Probleme (insbesondere wirtschaftliche Stagnation und Verschuldung) belasten. Hinsichtlich der Auslandsschulden will die Reagan-Administration ohne Anerkennung eigener Verantwortlichkeiten den Internationalen Währungsfonds (IWF) und die privaten Banken ermuntern, Umschuldungsabkommen zu schließen
Das grundsätzliche amerikanische Interesse an der Demokratie in Lateinamerika kann gar nicht in Zweifel gezogen werden. Gleichwohl steht es unter dem oben erwähnten Vorbehalt, daß — so sehen es jedenfalls die USA — fundamentale amerikanische Interessen (strategische, wirtschaftliche) unbedingt gesichert werden müssen, auch durch die Kooperation mit Diktatoren.
Ebenso unbezweifelbar ist jedoch, daß die USA diese Ziele lieber gemeinsam mit demokratischen Regierungen zu erreichen suchen würden. Deshalb ist es nicht eigentlich Opportunismus, sondern eher konsequenter Pragmatismus, wenn die USA sich jetzt so nachdrücklich dieser Redemokratisierungsbewegung in Lateinamerika anschließen und die Demokratie-Priorität aus Reagans Mittelamerika-Rede vom 27. April 1983 nun auf Lateinamerika allgemein übertragen. Sie haben damit jedoch das erwähnte Glaubwürdigkeitsproblem in Lateinamerika.
Ein neues Instrument zur Implementierung des Demokratie-Engagements ist das durch Gesetz geschaffene und finanzierte National Endowment for Democracy. Die Stiftung soll jedoch nicht selbst Politik treiben, sondern Einrichtungen (Stiftungen) z. B.der Gewerkschaften, Arbeitgeberverbände und politischen Parteien unterstützen. Diese sollen dann ihrerseits (nicht zuletzt nach dem Vorbild entsprechender deutscher Institutionen) ihren Partnern in Lateinamerika finanziell und mit praktischer „Demokratie-Unterweisung“ helfen — möglichst pragmatisch, un-ideologisch —, Demokratie zu praktizieren und dadurch zu sichern Diese Tendenz zur „Privatisierung“ oder „Vergesellschaftung“ der Außenpolitik entspricht sicher der konservativen Philosophie der Administration. Darüber hinaus sind größere Konzepte oder Ansätze nicht erkennbar. Es bleibt offen, ob „Demokratie“ hier Ziel oder nur Mittel ist.