Der in den siebziger Jahren einsetzende Redemokratisierungsprozeß langlebiger autoritärer, von Militärs direkt beherrschter oder mitgetragener Regime in Südeuropa (Spanien, Portugal, Griechenland) und Südamerika (um nur einige zu nennen: Brasilien, Argentinien, Peru) ist in den Ländern selbst wie auch im Ausland allgemein auf breite Zustimmung gestoßen. Wie O’Donnell feststellt, hat innerhalb der südamerikanischen Linken ein Lernprozeß stattgefunden Über lange Jahre mit rechtsautoritären, repressiven Regimen konfrontiert, habe die Linke ihre frühere Verachtung sogenannter „formaler“ Demokratie aufgegeben. Sie wisse jetzt zu schätzen, welche Vorzüge freie Information, Wahlen und Interessengruppen der Bevölkerung böten. Gleichzeitig sei die Attraktivität kommunistischer „Volksdemokratien“ innerhalb der südamerikanischen Linken gesunken.
In der sozialwissenschaftlichen Literatur gibt es seit Ende der siebziger Jahre systematische Versuche, eine Art „Erklärungsmodell" zu konstruieren, das Ursachen und Verlaufslogik der Redemokratisierungsprozesse in Südeuropa und Südamerika in einer vergleichenden Perspektive erfassen möchte Ein ähnlicher normativer Konsensus herrscht nicht gegenüber politischen Entwicklungsprozessen in Zentralamerika, die als Demokratisierung oder Redemokratisierung bezeichnet werden könnten. Auch lassen sich die Grundelemente des für Südeuropa und Südamerika entwickelten Erklärungsmodells von Redemokratisierungsprozessen nur in begrenzter Form auf die andersartigen Situationen in Zentralamerika anwenden.
In Kapitel I soll angedeutet werden, in welchen Hauptpunkten das Erklärungsmodell, welches für Ursachen und Probleme der Redemokratisierung autoritärer Regime entworfen worden ist, in Zentralamerika mit einer andersartigen Realität konfrontiert wird. In Kapitel II erfolgt ein Hinweis darauf, daß zwischen den gescheiterten Versuchen der (Re-) Demokratisierung autoritärer Regime und dem Wachstum revolutionärer Bewegungen in Zentralamerika ein enger Zusammenhang besteht. In den folgenden Kapiteln beschränke ich mich ganz bewußt auf eine Analyse der Demokratisierungsproblematik der beiden wissenschaftlich, politisch wie publizistisch besonders kontrovers diskutierten Fälle; Nicaragua und El Salvador. Nicaragua wird dabei eingehender behandelt, weil die Vorgänge in diesem revolutionären Land an das Einfühlungs-und Vorstellungsvermögen des Lesers noch höhere Ansprüche stellen als in El Salvador, wo immerhin eine christdemokratische Partei siegreich aus den Wahlen 1984 und 1985 hervorgegangen ist. Die mutmaßlichen demokratischen Entwicklungsperspektiven Guatemalas, wo vor wenigen Wochen ein ziviler, ebenfalls christdemokratischer Präsident gewählt wurde, werden nur mit wenigen Worten gestreift.
Nicht eingegangen wird auf die übrigen zentralamerikanischen Länder: Costa Rica, Honduras und Panama. In Costa Rica herrscht seit 1948 ein außerordentlich stabiles demokratisches System. Wenn man sich vergegenwärtigt, daß sich in der Nachkriegszeit nur sehr wenige Demokratien — und dies zumeist nur in hochentwickelten Län-B dem — als stabil erwiesen haben dann wird deutlich, daß Costa Rica nicht nur als zentralamerikanischer, sondern als universeller politischer Sonderfall gelten kann. Die Tatsache des Überlebens der Demokratie in Costa Rica kann nicht nur darauf zurückgeführt werden, daß dort 1948 nach einem kurzen Bürgerkrieg das Militär als chronischer Machtkonkurrent demokratischer Parteienherrschaft abgeschafft wurde. Vielmehr geht man in der einschlägigen sozialwissenschaftlichen Literatur bei der Erklärung dieses Phänomens historisch weit zurück, z. T. bis in die Kolonialzeit, in der schon das Grundmuster der für lateinamerikanische Verhältnisse ungewöhnlich egalitären sozialen Verhältnisse geprägt worden sei
Panama, ohnehin nicht historisch zu Zentralamerika gehörig, sondern bis 1903 Teil Kolumbiens (die USA setzten im Zusammenhang mit dem Bau des Panamakanals die Separation von Kolumbien durch), zeichnet sich zusammen mit Costa Rica gegenüber den anderen zentralamerikanischen Ländern durch einen wesentlich höheren Lebensstandard sowie ein für lateinamerikanische Verhältnisse außergewöhnlich hohes Maß an „Grundbedürfnisbefriedigung“ (gemeint ist die Versorgung der Bevölkerung mit Nahrungsmitteln, Gesundheitsfürsorge, Schulen etc.) aus Blättert man die Jahrbücher von Amnesty International der letzten Jahre durch, so stellt man fest, daß Panama zusammen mit Costa Rica — bis vor kurzem auch Honduras — zu den Ländern ohne Menschenrechtsverletzungen gehört. Ob das politische System, das in Panama nach der langjährigen direkten wie indirekten Herrschaft des populistischen Militärcaudillo Omar Torrijos (von 1968 bis zu seinem Tode 1981) errichtet wurde, im konventionellen Sinne als demokratisch qualifiziert werden kann, ist zu bezweifeln, denn de facto fügen sich die zivilen Präsidenten den Weisungen der nach wie vor allmächtigen Nationalgarde. Realiter führen aber die Panamenos — immer im zentralamerikanischen Vergleich gesehen — ein recht freies Leben.
Honduras wird nach einer längeren Militärherrschaft (von 1963 bis 1981 mit einer kurzen zivilen Unterbrechung 1971/72) seit 1982 wieder von Zivilisten regiert. Es ist aber strittig, ob die Macht des Militärs unter dem neuen zivilen Mantel nicht gewachsen ist. Zweifellos hat es sich bei der Militärherrschaft bis 1980 um eine dictablanda, eine sehr gemäßigte Diktatur gehandelt, in der keine Pressezensur stattfand, die Parteien nicht unterdrückt wurden und vor allem die Gewerkschaften und — im Agrarland Honduras besonders wichtig — die Landarbeiter-und Kleinbauernorganisationen sich frei entfalten und Arbeitskämpfe normal austragen konnten Im Zeichen der Revolutionsbekämpfung und der „kommunistischen Gefahr“ sind in Honduras bedauerlicherweise in jüngster Zeit repressive Tendenzen zu verzeichnen.
I. Zentralamerika — die von der Redemokratisierungstheorie nicht beachtete Region
Die theoretisch und komparativ orientierte sozialwissenschaftliche Literatur über Voraussetzun-gen und Verlaufsformen der Redemokratisierung autoritärer Regime bezieht sich, wie bemerkt, auf Südeuropa und Südamerika. Behandelt werden (vgl.den Beitrag von Dieter Nohlen in diesem Heft) nicht traditionelle autoritäre Regime, sondern die „neuen“ autoritären Regime, die mit dem Anspruch auftraten, ein auf längere Dauer angelegtes politisches Herrschaftsmodell alternativ zur Demokratie zu errichten. Zum anderen handelt es sich um Länder, die auf demokratische Entwicklungsperioden in der Vergangenheit, auch wenn sie z. T. von Ambivalenzen geprägt waren, zurückblicken können. Insofern ist es auch sinnvoll, von „Redemokratisierung“ zu sprechen.
Für Zentralamerika wäre es nur für Honduras und Guatemala gerechtfertigt, den Begriff Redemokratisierung zu verwenden. Vor 1963 hatte in Honduras eine mehrere Jahrzehnte dauernde, von den beiden Traditionsparteien — der Liberalen Partei und der Nationalen Partei — geprägte Demokratie lateinamerikanischer Provenienz Bestand. In Guatemala gab es eine sehr kurze demokratische Entwicklungsphase in einer langen Geschichte blutiger Diktatur, die von 1945 bis 1954 dauerte und mit dem von der CIA unterstützten Militärputsch des Obristen Castillo Armas ein Ende fand Allerdings wird von einigen Autoren die Präsidentschaft von Arbenz (1951— 1954) schon nicht mehr als genuin demokratische Phase gewertet
In der Redemokratisierungs-Literatur werden politische Rahmenbedingungen unterstellt, wie sie in drei zentralamerikanischen Ländern (Nicaragua, El Salvador und Guatemala) nicht existierten bzw. existieren. Es wird in dieser Literatur angenommen, daß die Demokratisierungskoalition aus blandos (softliners) des Regimelagers und moderados (Gemäßigten) des Regimeoppositionslagers gebildet wird Die moderados verfügen über die Hegemonie im Oppositionslager. Die radicales, also die u. U.den gewaltsamen Regimesturz befürwortende linksradikale Regime-opposition, sind zwar existent, aber schwach. Die radicales erfüllen für die moderados eine nützliche Funktion. Denn die moderados vermögen den blandos plausibel zu machen, daß die Anziehungskraft der noch schwachen radicales steigen könnte, wenn das Redemokratisierungsprojekt nicht bald zum Zuge kommt. Gleichzeitig bieten die moderados so etwas wie eine Wohlverhaltensgarantie für die blandos. Sie sind im Extremfall bereit, Stillschweigen über Menschenrechtsverletzungen in der Vergangenheit zu bewahren, in die u. U. nicht nur die duros (hardliners) des Regime-lagers, sondern auch die blandos einbezogen sind. Auf der anderen Seite dient die Existenz der duros den blandos als nützliches Verhandlungsmittel gegenüber den moderados. Mit dem Hinweis auf die Möglichkeiten der duros, einen Redemokratisierungsprozeß zu stoppen, der für das Militär als ehrverletzend oder gefährlich gilt, können sie die moderados zu Konzessionen, zum Abgehen von rigorosen Forderungen, sei es in der Frage von Menschenrechten oder sozialen Strukturreformen, veranlassen. Jede Seite führt so der anderen die Handlungsgrenzen und die Risiken überzogener Forderungen vor Augen. Angestrebt wird ein Kompromiß politischer und sozialer Natur: Die duros müssen einige Erfüllungen sozialreformistischer Natur erdulden, die die moderados schon deshalb durchsetzen müssen, um den radicales das Wasser abzugraben. Die blandos müssen versuchen, übertriebene soziale Erwartungen tatsächlicher oder potentieller Anhänger vor allem aus den unteren Schichten zu dämpfen, die jene mit der Errichtung eines neuen Regimes verbinden. Kurzum: Das Experiment der Redemokratisierung verlangt von allen Seiten Kompromißbereitschaft, die bewußte Vermeidung radikaler Lösungen.
Zentralamerika entzieht sich nun in folgender Hinsicht diesen Modellannahmen:
1. Versuche zur Zivilisierung und Demokratisierung von Militärregimen finden in El Salvador und Guatemala im Angesicht starker sozialrevolutionärer Bewegungen statt. El Salvador befindet sich spätestens seit der Jahreswende 1980/81 in einem offenen Bürgerkrieg. Sozialrevolutionäre Bewegungen (radicales) sind hier ernst zu nehmende Konkurrenten von sozialreformistischen Demokraten (moderados). 2. Das sandinistische Nicaragua stellt einen in der genannten Literatur gar nicht behandelten Fall dar. Hier geht es um das Problem, inwieweit eine sozialrevolutionäre Guerilla, die beim Sturz eines autoritären Regimes erfolgreich war, sich bereit zeigt zu der Entwicklung eines demokratischen Normen entsprechenden politischen Systems. 3. Externe Akteure, hier vor allem die USA, haben auf die politischen Entwicklungsprozesse einen überragenden Einfluß genommen Aller Wahrscheinlichkeit nach hätte ohne das Drängen der USA der bisher zu verzeichnende Prozeß der Zivilisierung und Demokratisierung des politischen Lebens in El Salvador entweder nicht stattgefunden oder wäre durch einen rechten Putsch unterbrochen worden. Bei einem Sieg des FDR/FMLN im Bürgerkrieg, wie er ohne die Militär-hilfe der USA für das Regime möglich schien, und auch bei einer „Verhandlungslösung“, wie sie der FDR/FMLN seit mehreren Jahren anstrebt, wäre die Entwicklung ganz anders verlaufen. Auch die Bereitschaft der guatemaltekischen Militärs 1984, die Wahl einer Nationalversammlung und 1985 die Wahl eines zivilen Präsidenten zuzulassen, ist mutmaßlich mit auf ihre Erwartung zurückzuführen, daß der amerikanische Kongreß sich jetzt bereit finden werde, dem Land massive Wirtschafts-und Militärhilfe zu leisten. Inwieweit die Regierung der USA eine Demokratisierung Nicaraguas gehindert oder gefördert hat, ist strittig (vgl. unten). 4. Hingewiesen wurde bereits darauf, daß für Nicaragua und El Salvador angesichts der mangelnden demokratischen Tradition nicht von Redemokratisierungs-, sondern von Demokratisierungsversuchen gesprochen werden muß. Auch der Typus der in mehreren zentralamerikanischen Ländern herrschenden Regime wies erhebliche Unterschiede zu den „neuen autoritären Regimen“ Südamerikas auf, die Untersuchungsgegenstand der Redemokratisierungsliteratur sind. Nur in Honduras herrschte das Militär direkt für eine längere Periode. In El Salvador und Guatemala (bis zum Militärputsch von 1982) herrschte das Militär Jahrzehnte hinter einer zivilen Fassade. Das somozistische Regime stützte sich zwar auf die Nationalgarde, es handelte sich aber um ein Sippenregime und zugleich um eine Bereicherungsdiktatur (Kleptokratie) hinter ebenfalls ziviler Fassade
II. Die sozialrevolutionäre Option als demokratische Ersatzalternative
Zum Zusammenhang des Scheiterns der Demokratisierung autoritärer Regime und dem Wachstum sozialrevolutionärer Bewegungen
Für Nicaragua, El Salvador und Guatemala lassen sich Indizien dafür finden, daß der Aufstieg der Sozialrevolutionäre zu einer starken politischen Kraft mit vielen Anhängern und wichtigen Koalitionspartnern unter den autoritären Regimen erst begann, als die demokratische und sozialreformistische Transformationsalternative in Gestalt der etablierten regimeoppositionellen Parteien und Interessengruppen sich als unfähig zeigte, eine Ablösung des betreffenden autoritären Regimes zu erreichen
Guerillaverbänden und sozialrevolutionären Bewegungen bot sich unter diesen Umständen die
Chance, sich als eine Art erfolgversprechende demokratische Ersatzalternative anzubieten. So nahmen Guerillaverbände und sozialrevolutionäre Beweguhgen nachweislich einen Aufschwung, nachdem das salvadorianische Regime mit dem Wahlbetrug von 1972 demonstriert hatte, daß es auf friedliche Weise nicht in eine Demokratie umgewandelt werden konnte. Und in Nicaragua wuchs der FSLN zu einer Massenbewegung erst nach der Ermordung des demokratischen Oppositionsführers Chamorro (Anfang 1978) an. Dieser Mord, für den der Somoza-Clan verantwortlich gemacht wurde, signalisierte Antisomozisten im In-und Ausland, daß dieses Regime nur mit Gewalt zu stürzen sei. Durch eine ausgefeilte interne und internationale Bündnis-taktik und sein Eingehen auf allgemein konsensfähige Ziele (Pluralismus, Gemischtwirtschaft und Blockfreiheit) wurde der FSLN in den Augen der nationalen wie internationalen Öffentlichkeit als demokratisch „salonfähig“ und gewissermaßen als eine Art bewaffneter Arm des demokratischen und sozialreformistischen Oppositionslagers verstanden. Die Massenanziehungskraft der guatemaltekischen Guerilla trotz bzw. teilweise wegen der brutalen Counter-Insurgen-B cy-Maßnahmen des Regimes kann auf die Tatsache zurückgeführt werden, daß das Regime in breiten Bevölkerungssektoren als nicht demokratisch transformierbar galt.
Ohne die Argumentation hier weiter zu vertiefen, sei ein Zitat wiedergegeben, in dem der behauptete und überprüfte Zusammenhang bildhaft formuliert ist: „Der sozialrevolutionären Flutwelle geht die demokratische, mehr oder minder sozialreformistisch orientierte, voraus. Die demokratische Flutwelle erweist sich als stark genug, um die Fundamente des autoritären Regimes zu unterspülen, aber als zu schwach, sie zu zerstören. Sie bereitet damit der sozialrevolutionären Flutwelle die Bahn. Stark kann die sozialrevolutionäre Flutwelle nur werden, wenn sie die zurück-strömende demokratische Flutwelle weitgehend in sich aufnimmt.“
M. E. kann man in analoger Weise in Ländern, in denen eine sozialrevolutionäre Bewegung stark ist, größere Demokratisierungserfolge nur dann erwarten, wenn die an die Regierung gelangten Demokraten sich als Ersatzalternative zur sozial-revolutionären begreifen. Ein Demokratisierungsprozeß in einer derartigen Situation dürfte nur dann von Erfolg gekrönt sein, wenn die Regierung wesentliche Teile des sozialen Veränderungsprogrammes, das die Sozialrevolutionäre vorschlagen, in die Tat umsetzt oder Teile des revolutionären Lagers an der Regierung beteiligt. Verharrt die zivile Regierung im Sozialkonservatismus — sei es, weil sie von den Militärs dazu gedrängt wird oder keine sozialreformistischen Ambitionen hat —, dann kann es ihr kaum gelingen, den Wettkampf mit den Sozialrevolutionären um Unterstützung in den Unterschichten erfolgreich zu bestreiten.
III. Das sandinistische Regime: revolutionäre Demokratie oder totalitäres Regime?
1. Probleme des Demokratisierungsprozesses in Nicaragua Eine Einschätzung des demokratischen Gehalts des sandinistischen Regimes in Nicaragua erweist sich aus mehreren Gründen als besonders schwierig: 1. Je nach ideologischer Couleur wird das sandinistische Regime ganz unterschiedlich beschrieben. Einen Extremfall stellt die Dämonisierung und Stigmatisierung des sandinistischen Regimes dar, wie sie von der Reagan-Regierung, vor allem vom Präsidenten selbst, betrieben wird. Er charakterisiert es als kommunistisches, totalitäres Regime, das interne Opponenten brutal unterdrückt, gegenüber den Indianern Genozid betreibt, die Kirchen verfolgt und nach außen im Bündnis mit der UdSSR und Kuba die Subversion in den Nachbarländern, vor allem in El Salvador, tatkräftig unterstützt. Demgegenüber hat der amerikanische Präsident die Contras — die von der CIA finanzierte und dirigierte antisandinistische Guerilla — zu demokratischen „Freiheitskämpfern“ in der Tradition Bolivars und Lafayettes verklärt In der konservativen Presse und in „Schnellschußanalysen“ (häufig von Haß geprägt, der seine Nahrung aus enttäuschten Hoffnungen und Erwartungen bezieht) haben derartige Charakterisierungen ihren Widerhall gefunden.
Im umgekehrten Extremfall wird das sandinistische Regime als ein Musterfall sozial und partizipatorisch orientierter Demokratie beschrieben. Dabei werden Abweichungen von freiheitlich-pluralistischen Normen auf den Kriegszustand, in dem sich das Land befindet, sowie auf die Gefahr einer Intervention durch die USA zurückgeführt. Bemühungen, selber „vor Ort“ einen klaren Eindruck zu gewinnen, münden, wenn man sich möglichst objektiv informieren will und allen Gesprächspartnern mit Skepsis begegnet, in einen Zustand nicht unbeträchtlicher Ambivalenz, um nicht von Verwirrung zu sprechen
2. Die Debatte über Nicaragua, wie sie vor allem unter Sicherheitsexperten der USA geführt wird, bezieht sich allerdings weniger darauf, welche konkrete Politik die Sandinisten bisher betrieben haben, also etwa auf die Frage, welches Ausmaß an Pluralismus in Nicaragua tatsächlich herrscht Es interessieren vielmehr die mutmaßlichen Intentionen der Sandinisten. Dem „worst case“ -Denken entspricht es anzunehmen, daß die Sandinisten mittel-und langfristig nach innen ein totalitäres Regime, nach außen die Bindung an das kommunistische Lager anstreben. Die Geschichte des FSLN und die bisherige Politik der Sandinisten werden auf Indizien überprüft, die in diese Richtung zu deuten scheinen. Derartige Indizien lassen sich, wenn man lange genug sucht, durchaus finden. Es wird angenommen, daß der sozialrevolutionäre Gegner in Nicaragua, ähnlich wie die UdSSR selbst, sich taktisch klug, vorsichtig, flexibel verhält und mit einer Salamitaktik der Schaffung kleiner faits accomplis vorgeht, die angemessene Reaktionen der USA erschweren. Aus einer nüchternen sicherheitspolitischen Perspektive können die Äußerungen Reagans — da in ihnen das gegenwärtige Nicaragua eindeutig negativ verzeichnet und die Contras als demokratische Alternative hoch-stilisiert werden — als Tendenzen zu „overselling the threat — overselling the remedy“ gekennzeichnet werden.
Die ganze Debatte, die sich auf Mutmaßungen über Intentionen des FSLN bezieht, leidet m. E. darunter, daß sie zu stark auf die Vorstellung von der faktenschaffenden Kraft der Ideologie und zu wenig auf die normative Kraft des Faktischen bezogen ist. Man sollte also nicht nur fragen, was die Sandinisten (mutmaßlich) wollen, sondern was sie — angesichts der internen wie externen Rahmenbedingungen — (mutmaßlich) durchsetzen können. Zu prüfen wäre also, welches die Handlungsmöglichkeiten des FSLN bei unterschiedlichen Annahmen über seine Zielsetzungen und bei unterschiedlichen Interpretationen seines bisherigen politischen Kurses sind und voraussichtlich sein werden. 3. Außerordentlich schwierig, ja häufig unmöglich ist es, die Hauptursachen von als problematisch bewerteten Aspekten des sandinistischen Regimes eindeutig zu identifizieren. Ist die Hoch-rüstung des sandinistischen Nicaragua, wie die Reagan-Regierung behauptet, auf Aggressionsgelüste der Sandinisten zurückzuführen? Oder ist sie , wie die Sandinisten anführen, nur ein notwendiger Reflex auf die akute Bedrohung durch die Contras und die potentielle Bedrohung durch eine direkte amerikanische Militärintervention?
In gleicher Weise können Einschränkungen des Pluralismus auf kommunistische Tendenzen des FSLN hindeuten, aber auch als durch die Bedrohungssituation zu rechtfertigende Ausnahmeregelungen interpretiert werden Um ein letztes Beispiel zu nennen (die Kette ließe sich beliebig fortsetzen): Für das Sinken des Lebensstandards können die allgemeine schlechte Wirtschaftslage im gesamten Zentralamerika, Notwendigkeiten einer Kriegswirtschaft, US-Maßnahmen zur ökonomischen Isolierung (die im Handelsboykott 1985 mündeten) sowie Mängel des sandinistischen Planungssystems etc. verantwortlich gemacht werden. 4. Es fragt sich, welches Land als Vergleichsmaßstab zu wählen ist, wenn möglichst nüchtern versucht wird, Probleme wie Vorzüge „sandinistischer Demokratie“ zu analysieren. M. E. bietet sich hier El Salvador besonders gut an. Es handelt sich — wie im Falle Nicaraguas — um ein Land ohne größere demokratische Traditionen; es befindet sich — wie Nicaragua — im Bürgerkrieg, und in beiden Fällen wurden traditionell autoritäre Regime 1979 gestürzt. Von der Reagan-Regierung und der konservativen Presse als positives Gegenmodell zu Nicaragua gepriesen, scheint es ein fair ausgewähltes Vergleichsobjekt zu sein. Es mag sein, daß bei einem anderen Verhalten der Sandinisten Nicaragua sich politisch in ein zweites Costa Rica hätte verwandeln können. Das lag aber nicht in der Absicht der Sandinisten. Zudem erfreut sich, wie bemerkt, Costa Rica eines viel höheren Lebensstandards als Nicaragua und ist schon von daher als Vergleichs-objekt nicht gut geeignet. Wenn man nach den Intentionen bzw. Zielvorstellungen der Sandinisten fragt, liegt es nahe, ihre Verlautbarungen (vor allem die internen) vor der Machteroberung daraufhin zu überprüfen, welche Staats-und Gesellschaftsordnung sie anstrebten. Als Ergebnis eines solchen Dokumentenstudiums läßt sich festhalten, daß alle Fraktionen des FSLN, auch die Terceristas, sich als politisch-militärische Avantgarde im marxistisch-leninistischen Sinne begriffen Als Endziel strebte man die Errichtung einer — allerdings nie näher beschriebenen — sozialistischen Gesellschaft an und sah in den kommunistischen Ländern die „strategischen“ Verbündeten, von denen man Hilfe beim Aufbau des „Sozialismus“ erwartete. Nichtrevolutionäre „bürgerliche“ Parteien und Interessengruppen im Inland sowie sozialreformistische Regierungen und Parteien im Ausland sah man als „taktische“ Allianzpartner, die notwendig waren, um das Somoza-Regime revolutionär stürzen und danach ein Übergangsregime von unbestimmter Dauer errichten zu können. Die Devise der Terceristas, aus Koalitionsnotwendigkeiten sich öffentlicher Bekenntnisse zum Marxismus-Leninismus zu enthalten, setzte sich innerhalb des FSLN durch und wird bis heute weitestgehend — wenn man von Indiskretionen absieht — befolgt.
Offiziell verpflichtete sich der FSLN vor der Machteroberung auf die berühmte Zieltrias von Pluralismus, Gemischtwirtschaft und Blockfreiheit und versprach, ohne allerdings damals einen konkreten Termin zu nennen, die baldige Abhaltung freier Wahlen. An diesen Versprechen wird der FSLN, obwohl ihm nach seinem Eigenverständnis die „revolutionäre Legitimation“ als ausreichend erscheint, bis heute im In-und Ausland gemessen.
Die politische Entwicklung des sandinistischen Nicaragua kann man in drei Phasen unterteilen: eine erste Phase, in der der FSLN ein von ihm dominiertes Übergangsregime errichtete (von der Machteroberung im Juli 1979 bis zum Beginn des Wahlkampfes im August 1984); eine zweite Phase, in der die Chance bestand, die Institutionalisierung eines demokratisch-pluralistisch-revolutionären Mischregimes neuen Typs zu erreichen (Beginn des Wahlkampfes im August 1984 bis zu den
Wahlen im November); schließlich eine dritte Phase seit den Wahlen vom 4. November 1984, deren Ausgang ungewiß ist.
Es ist strittig, wie man das Übergangsregime, das nach dem Sturz des Somoza-Regimes entstand, angemessen typologisch charakterisiert. Mir scheint der Terminus linkes mobilisatorisches Hegemonialparteienregimeam geeignetsten, da bei Dominanz des FSLN sich weder ein totalitäres noch voll pluralistisches Regime formte
Daß es sich bei den führenden Sandinisten nicht um eine Art von „Sozialdemokraten in Uniform“ handelte, die für Nicaragua eine linke Version costaricanischere Demokratie anstrebten, zeigte sich relativ rasch. Die Frage nach der Macht im Staate wußte der FSLN schnell für sich zu entscheiden. Basis des Aufstiegs des FSLN zur hegemonialen politischen Kraft war, daß er sich das Monopol über alle Zwangsressourcen sicherte, d. h. neue, von bewährten Guerillakommandanten geleitete, ideologisch dem FSLN ergebene Streit-und Sicherheitskräfte sowie Milizen aufbaute. Der FSLN verschaffte sich eine Mehrheit in allen relevanten politischen Institutionen: von der Regierungsjunta bis zum als Konsultativparlament tätigen Staatsrat. Als wichtigste Entscheidungsinstanz fungiert das Neunergremium der Revolutionskommandanten. Sie bilden zugleich das Führungsorgan des FSLN, der bewußt nach dem Kaderparteiprinzip aufgebaut wurde und auch heute nur einige wenige tausend Vollmitglieder (militantes) umfassen dürfte. Der Wahltermin wurde auf das Jahr 1985 festgesetzt. Nichtsandinistische Parteien wurden nicht verboten, sie waren z. B. im Staatsrat vertreten, ihnen wurde aber ein minderer politischer Rechtsstatus eingeräumt als dem FSLN. Als Einschränkung politischer Opposition konnte vor allem das Verbot für nicht-sandinistische Parteien gelten, bis zum Beginn des für 1985 geplanten Wahlkampfes öffentliche Kundgebungen abzuhalten.
Der Organisationsraum, vor allem im Bereich der Unterschichtsektoren, war in der Somoza-Zeit nur dünn besetzt. Der FSLN verstand es, diesen Raum relativ rasch mit eigenen Organisationen zu füllen. Unternehmerorganisationen blieben bestehen, und zu vorhandenen Mittelschichtorganisationen wurden sandinistische Parallelorganisationen geschaffen. Gegenüber bestehenden städtischen Gewerkschaften wurde aber in Gestalt der CST ein „Verdrängungswettbewerb“ durchgeführt, der bisweilen an halbherzige Gleichschaltungsversuche erinnerte. Mit der Landarbeitergewerkschaft ATC und der Kleinbauernorganisation UNAG hat der FSLN im ländlichen Unterschichtbereich ein Organisationsmonopol, im ländlichen unteren Mittelschichtbereich eine dominierende Position erreicht. Sein organisatorisch-mobilisatorisches Vermögen stellte der FSLN weiter durch Schaffung von sandinistischen Organisationen für Kinder, Jugendliche, Studenten, Frauen etc., die Miliz, vor allem aber die Sandinistischen Verteidigungskomitees (CDS) unter Beweis. Die CDS, die vielleicht eine halbe Million Menschen umfassen und auf Ortsebene (inzwischen auch auf Betriebsbasis) organisiert sind, haben im besonderen Ausmaß Kritik auf sich gezogen. Denn neben Aufgaben der Gemeinschaftsentwicklung, die die CDS als gewaltige Entwicklungsmaschine erscheinen lassen (z. B. Straßenbau, Impfaktionen etc.), erfüllen sie eine Fülle von quasistaatlichen Funktionen, von der Ausgabe der Lebensmittelkarten über die Erfassung der Wehrfähigen bis zu para-polizeilichen Aktivitäten. Nach Berichten von Personen, welche die CDS über längere Zeit kennengelernt haben, agieren sie bislang nicht als eine Art Blockwartsystem. Kaum zu zweifeln ist allerdings daran, daß der FSLN mit den CDS potentiell auf ein zur totalitären Kontrolle befähigendes Instrument zurückgreifen könnte.
Naturgemäß starke Kritik hat die Medienpolitik des FSLN gefunden, die oppositionelle Informations-und Kontrollmöglichkeiten stark einschränkt. Das Fernsehen ist staatlich, d. h. sandinistisch, und der FSLN kontrolliert mehrere Radiostationen sowie zwei der drei Zeitungen des Landes. Seit Ausrufung des Notstandes nach Angriffen der Contras im März 1982 unterliegen die privaten Rundfunkstationen sowie die Zeitung La Prensa, die als Kampfblatt der antisandinistisehen Opposition agierte, der Zensur.
In seiner Menschenrechtspolitik hat das sandinistische Regime noch nicht den Stand Costa Ricas und Panamas erreicht, schneidet aber bis heute vorteilhaft gegenüber derjenigen El Salvadors und Guatemalas ab. Die amerikanische Menschenrechtsorganisation America’s Watch hat z. B. kritisiert, daß gewaltlose Regimeoppositionelle, z. T. ohne prompte Benachrichtigung von Angehörigen, in Haft gehalten und von sandinistischen Laienrichtern verurteilt würden. Sie ist aber nach einer sorgfältigen Prüfung zu dem Ergebnis gelangt, daß, im Gegensatz zu Behauptungen der Reagan-Regierung, das Regime in keiner Weise eine Politik des Mordens, des Folterns und „Verschwindenlassens“ betreibe und auch der Vorwurf einer Genozidpolitik gegenüber den Indianern der Berechtigung entbehre. Und wenn auch zwischen FSLN und katholischer Amtskirche ein heftiger politischer Konflikt ausgetragen werde, so sei die Behauptung, in Nicaragua finde eine Kirchenverfolgung statt, schlicht falsch. Wichtig sei nicht zuletzt, daß inzwischen für Menschenrechtsverletzungen verantwortliche Polizisten und Militärs strafrechtlich verfolgt würden Demgegenüber weist America’s Watch den Contras systematisch betriebene Terrorpraktiken nach
Es wäre unsinnig, die These zu vertreten, daß eine Demokratie nur in einer kapitalistischen Gesellschaft gedeihen kann. Aber ein größerer privatwirtschaftlicher Sektor stellt eine Begrenzung der Staatsmacht dar, kann als sozio-ökonomische Fundierung eines politischen Pluralismus gelten Der FSLN hat sich an das Prinzip der Gemischtwirtschaft gehalten. Die Verstaatlichungspolitik blieb zurückhaltend. Nach wie vor wird die Mehrheit des Bruttosozialprodukts im Privatsektor produziert. Vor allem die Agrarreformpolitik weicht von kommunistischen Mustern weit ab, insofern sie vor allem Individualbesitzer neben Kreditgenossenschaften bedacht hat
Nach sandinistischem Demokratieverständnis — dies entspricht durchaus einer demokratisch-so-zialistischen Tradition — bemißt sich die Qualität einer Demokratie nicht nur an Wahlen, sondern auch an der Bereitschaft und Fähigkeit des politischen Systems, soziale Gerechtigkeit zugunsten unterprivilegierter Schichten durchzusetzen In dieser Hinsicht hat das Regime durch seine Agrarreform, die Einführung kostenloser Gesundheitsfürsorge, eine effektive Alphabetisierungskampagne etc. Maßstäbe gesetzt. Auch wenn der Lebensstandard gesunken ist (zu den Verursachungsfaktoren vgl. oben), verdient Anerkennung, in welchem Ausmaß das sandinistische Regime versucht hat, in seiner Praxis Normen zu berücksichtigen, die man dem Begriff „soziale Demokratie“ zuordnen kann. Anlaß zu Kommunismusbesorgnissen gab vor allem die enge Zusammenarbeit des sandinistischen Regimes im sicherheits-, militär-und parteipolitischen Bereich mit kommunistischen Staaten, vor allem mit der UdSSR und Kuba . Auch gab es Indizien dafür, daß der FSLN befreundete Guerillaorganisationen, vor allem in El Salvador, logistisch und mit Waffen unterstützte. Während eine Beurteilung des sandinistischen Übergangsregimes, die sich an Demokratienormen orientiert, naturgemäß ambivalent ausfällt, bestand m. E. in der Phase des Wahlprozesses, also der zweiten Entwicklungsperiode des Regimes (vgl. oben), eine Chance, die Institutionalisierung eines stärker pluralistischen Systems zu erreichen. Die interne Opposition Nicaraguas, vor allem aber die Regierung der USA haben hier eine historische Gelegenheit versäumt, auf die Institutionalisierung eines sicherheitspolitisch wie demokratisch akzeptablen Regimes in Nicaragua gestaltenden Einfluß zu nehmen.
An diesen Wahlen nahm die Coordinadora Democrätica, die im wesentlichen „bürgerliche“ antisandinistische Opposition, nicht teil, weil, so ihre Argumentation, sie keine fairen Wettkampf-chancen vorfände Von der Reagan-Regierung und der konservativen Presse wurde die Coordinadora zur „eigentlichen“ Opposition stilisiert, ohne deren Teilnahme die Wahlen keinen demokratisch-legitimatorischen Charakter haben würden. Gleichzeitig drängte die Reagan-Regierung aber die Coordinadora und andere nicht-sandinistische Parteien, nicht an den Wahlen teilzunehmen, und stigmatisierte die Wahlen schon Monate, bevor sie stattfanden, als Pseudowahlen.
Natürlich ist es richtig, daß die nicht-sandinistisehen Parteien sich in einem Wettbewerbsnachteil gegenüber dem FSLN befanden, der, wie skizziert, alle Vorteile eines Hegemonialparteiensystems für sich auszunutzen gewußt hatte. Auch setzte der FSLN das Wahlalter vor allem deshalb auf 16 Jahre herab, weil er wußte, daß sein Rückhalt unter den Jugendlichen besonders groß war. Gerade aber wenn man den FSLN als kommunistisch verdächtigte, mußte man ihm erstaunliche Kompromißbereitschaft attestieren. Denn: Es wurde nach einem relativ reinen Verhältniswahl-recht gewählt, das selbst kleinen Oppositionsparteien die Chance zum Einzug in das Parlament bot; während des Wahlkampfes vom 1. August 1984 bis 2. November 1984 war die Pressezensur erheblich gelockert; während des Wahlkampfes hatten auch nicht-sandinistische Parteien die Möglichkeit zur Abhaltung von öffentlichen Kundgebungen, die nur selten von sandinistischen Jugendlichen gestört wurden; allen an der Wahl teilnehmenden Parteien wurde nicht nur eine gleiche Summe zur Wahlkampffinanzierung zur Verfügung gestellt, ungleich wichtiger: sie erhielten unentgeltlich gleiche Sendezeiten im Fernsehen (tägliche Gesamtzeit für Wahlwerbung 30 Minuten) und im Rundfunk (tägliche Gesamt-zeit für WahlWerbung 45 Minuten; außerdem war es möglich, zusätzliche Werbezeit zu „kaufen“); die Wahl selbst war geheim, und nach Berichten renommierter Wahlbeobachter aus dem Ausland kam es zu keinen Fälschungen bei der Auszählung Kurzum: Wenn die Unzufriedenheit mit dem FSLN tatsächlich so groß war, wie Kritiker im Inland und Ausland behaupte-ten, dann hätten sie unter den geschilderten Wahlprozeßbedingungen ihren Ausdruck in einem mächtigen Votum für antisandinistische Parteien finden müssen
An den Wahlen am 4. November 1984 nahmen neben dem FSLN drei links und drei rechts von ihm politisch angesiedelte Parteien teil. Bei einer Wahlbeteiligung von 75% gewann der FSLN 63% der abgegebenen Stimmen und dokumentierte damit seinen Rückhalt in der Bevölkerung. Das Risiko für die Coordinadora wie für die Reagan-Regierung bestand darin, daß bei einer Wahlteilnahme und dem nicht nur möglichen, sondern auch wahrscheinlichen Sieg der FSLN die Unterstützung der Contras und damit die Option des gewaltsamen Regimesturzes sich nicht mehr hätte vertreten lassen. Aber: Eine durch die Coordinadora verstärkte gewichtige anti-sandinistische Opposition im Parlament hätte dank ihrer Unterstützung im westlichen Ausland (in den USA, Westeuropa und Lateinamerika) ein enorm starkes Hindernis gegen befürchtete kommunistische Tendenzen des FSLN nach innen wie nach außen dargestellt Sie hätte auch auf die Gestaltung der Verfassung entscheidenden Einfluß nehmen und sich Chancen für spätere Wahlen ausrechnen können.
Die dritte, noch offene Entwicklungsphase des sandinistischen Nicaragua ist ebenfalls von Ambivalenz geprägt: Auf einen „Dialog“ mit der internen Opposition folgte im Oktober 1985 die Verhängung von Notstandsmaßnahmen. Solange Ronald Reagan Präsident der USA bleibt (noch drei Jahre), ist m. E. weder mit dramatischen Entwicklungen in Nicaragua selbst noch der amerikanischen Nicaraguapolitik zu rechnen. Eine amerikanische Intervention in Nicaragua ist äußerst unwahrscheinlich, wie auch die Aussicht, den Contras könne es gelingen, das Regime zu Stürzen . Angesichts dieser Tatsachen ist vorstellbar, daß die nächste amerikanische Regierung, wenn sie sich z einem realistischen Kurs entschließt, ernsthaft den Versuch unternimmt, zu einem sicherheits-und ordungspolitisch für beide Seiten akzeptablen Arrangement zu gelangen Ob sich die Sandinisten als Marxisten-Leninisten verstehen und sich für utopische Sozialismusziele erwärmen, ist letztlich unerheblich. Ihnen ein Bedürfnis nach Unterwerfung unter die Interessen der UdSSR zu unterstellen wäre unsinnig, weil es ihrem nationalistischen Selbstverständnis nicht gerecht wird Von ausschlaggebender Bedeutung dürfte sein, ob sie bereit sind, vitalen Sicherheitsinteressen der USA Rechnung zu tragen und sich innenpolitisch auf die Institutionalisierung eines — zumindest vorerst — begrenzten, aber langfristig gesicherten Pluralismus einzulassen. M. E. weisen die Indizien auf eine derartige Bereitschaft des FSLN hin, doch sind neuerdings verstärkt skeptische Einschätzungen geäußert worden (Hans-Jürgen Wischnewski, amnesty international). 2. Probleme des Demokratisierungsprozesses in El Salvador
Das politische Regime El Salvadors war und ist US-freundlich, galt und gilt deshalb als sicherheitspolitisch unbedenklich. So erklärt es sich wohl auch, daß die gleichen Personen, die das sandinistische Nicaragua mit äußerster Skepsis beurteilen, bei der Bewertung der jüngsten Entwicklung El Salvadors großzügige Nachsicht walten lassen und vor allem rosige Zukunftsperspektiven formulieren. Demokratischen Normen widersprechende Mißstände werden als vorbeiziehende dunkle Schatten interpretiert; die Frage wird nicht gestellt, ob es sich dabei vielleicht nicht um zählebige Strukturdefekte handelt. Von einer normativen Demokratieperspektive her muß man es als tragisch bezeichnen, daß sich das in diesem Lande durchaus kraftvolle, genuin demokratisch-sozialreformistische Lager gespalten hat, demokratische Sozialreformisten sich auf den entgegengesetzten Bürgerkriegsseiten befinden und kompromittierende Kompromisse mit Kräften eingegangen sind, deren demokratische Orientierung — um es zurückhaltend zu formulieren — dubios ist. In holzschnittartiger Vereinfachung seien zum besseren Verständnis dieser Aussagen im folgenden die Etappen der jüngsten politischen Entwicklung El Salvadors skizziert.
Das demokratische Potential El Salvadors wurde in den sechziger und siebziger Jahren durch die christdemokratische Partei PDC und die sozialdemokratische Partei MNR repräsentiert. Da ihre Versuche, die friedliche Transformation der militärisch dominierten Scheindemokratie in eine echte Demokratie durchzusetzen, erfolglos blieben, gewann die sozialrevolutionäre, durch die Guerillaverbände und revolutionäre „Volksorganisationen“ verkörperte, Alternative des gewaltsamen Regimesturzes an Attraktivität und Plausibilität. Ein Militärputsch reformistischer junger Offiziere am 15. Oktober 1979 bereitete dem alten Regime ein Ende. Er sollte „ 5 Minuten vor 12“ ein „zweites Nicaragua“ verhindern. Die Christ-und die sozialdemokratische Partei wurden an der neuen Junta und Regierung beteiligt. Diese militärisch-zivile Reformkoalition zerbrach aber nach nur drei Monaten zum Jahresende 1979, vor allem, weil konservative Militärs Sozialreformen abblockten und die von Streit-und Sicherheitskräften betriebene oder geduldete Repression sich gegen Sozialrevolutionäre und Sozialreformisten wandte.
Der sozialdemokratische MNR und Dissidenten der Christdemokraten, die eine neue christdemokratische Partei, den MPSC, gründeten, scherten aus dem Regierungslager aus und schlossen einige Monate später eine Koalition mit der Guerilla und den „Volksorganisationen“. Es entstand der FDR/FMLN. Der offizielle PDC verblieb in der Regierung, zunächst unter Führung Hector Dadas, nach dessen Rücktritt unter der Duartes. Der PDC vermochte die Militärs auf ein weitreichendes Programm der Sozialreformen ähnlich wie in Nicaragua (Agrarreform, Verstaatlichung des Außenhandels und des Finanzsektors) zu verpflichten, das teilweise in die Tat umgesetzt wurde. Er zeigte sich aber als unfähig, die blutige Repressionspolitik, für die die Sicherheits-und Streitkräfte direkt oder indirekt verantwortlich waren, zu unterbinden.
Der Versuch des FDR/FMLN, im Januar 1981 ähnlich wie in Nicaragua das Regime mittels eines „Volksaufstandes“ zu stürzen, mißlang, weil er keine ausreichende Resonanz in der Bevölkerung fand. Spätestens seit diesem gescheiterten Volksaufstand befindet sich das Land im offenen Bürgerkrieg. Seit Herbst 1981 verlangt der FDR/FMLN eine „Verhandlungslösung“ als Ausweg aus dem Bürgerkrieg Die salvadorianische Regierung wie die Reagan-Regierung lassen bis heute dem FDR/FMLN nur die Option offen, die Waffen niederzulegen und sich an Wahlen zu beteiligen oder aber das Land zu verlassen. Demgegenüber will der FDR/FMLN sich nur dann an Wahlen beteiligen, wenn eine Übereinkunft über eine Regierungsbeteiligung auf Zeit und über die Umstrukturierung der Streit-und Sicherheitskräfte erzielt ist, welche das Überlebensinteresse von Guerillaverbänden in geeigneter Form respektiert. Man kann diskutieren, inwie-weit die Forderungen des FDR/FMLN angesichts der machtpolitischen Verhältnisse in El Salvador und sicherheitspolitischer Interessen der USA als realistisch zu bezeichnen sind. Klar ist aber, daß der Bürgerkrieg nur beendet werden kann, wenn eine Regelung gefunden wird, die die vitalen Überlebensinteressen des FDR/FMLN berücksichtigt
Der FDR/FMLN beteiligte sich nicht an den Wahlen, die seit 1982 in El Salvador abgehalten wurden. Ähnlich wie für den Wähler in Nicaragua das Auswahlspektrum nach rechts hin begrenzt war, war es in El Salvador nach links hin eingeschränkt. Im nachhinein lesen sich gleichwohl die Wahlergebnisse in El Salvador in „westlichen Augen“ wie eine demokratische „Erfolgsstory“: Der demokratisch-sozial-reformistische PDC wurde, auch wenn er die absolute Mehrheit verfehlte, relativ stärkste Partei bei den Nationalversammlungswahlen von 1982; sein Präsidentschaftskandidat Jose Napoleon Duarte siegte bei Stichwahlen im Mai 1984, und der PDC überschritt in Kammer-und Kommunalwahlen 1985 die absolute Mehrheit. Bevor man in einen unkritischen Jubel über diesen Demokratisierungserfolg in einem traditionell autokratisch beherrschten Lande ausbricht, sollte man sich aber bisher nicht gelöste Probleme dieses Demokratisierungsprozesses vor Augen führen:
— Das Militär hat sich zwar verändert. Ohne seine parteipolitische Neutralität bei den Wahlen wäre der Wahlsieg der PDC nicht zustande gekommen. Die Militärs, von den USA unter Druck gesetzt, wissen, daß der amerikanische Kongreß bei einem Rechtsputsch mutmaßlich keine weiteren Gelder für El Salvador bewilligen würde. Sie sind vornehmlich an dem Überleben der eigenen Institution interessiert, weniger an der Bewahrung einer Sozialordnung, die eine Oligarchie begünstigt hat. Das Militär bleibt aber auch nach den Wahlsiegen der PDC die politisch mächtigste Institution, es verfügt zumindest über eine alle Politikbereiche betreffende Vetomacht. Ein Beispiel für viele: Erst Ende 1984 wurden Nationalgardisten verurteilt, die für den Mord an amerikanischen Nonnen 1980 verantwortlich waren, und bis Ende des gleichen Jahres wurde kein Uniformierter wegen Menschenrechtsverletzungen, die er an Landsleuten beging, strafrechtlich verfolgt Wer — wie ich meine zu Recht — argumentiert, daß der zivile FDR mit seinen Sozial-und dissidenten Christdemokraten relativ ohnmächtig ist, weil sich die Macht in den Händen der Männer mit den Waffen, also des FMLN, konzentriert, sollte auch für die Gegenseite ähnliche Kriterien anlegen: Auch im Regierungslager besitzen die Männer mit den Waffen, also die Streitkräfte, die eigentliche politische Macht. — Ein besonderes Problem der Zivilisierung und Demokratisierung des salvadorianischen Regimes stellen die gravierenden Menschenrechtsverletzungen dar, die in der überwiegenden Mehrzahl auf das Konto des Regimes bzw. ihm verbundener Kräfte gegangen sind, in der Minderzahl auf dasjenige der Guerilla. Für Terrorakte der Guerilla kann man den sozialreformistischen Kräften des FDR eine gewisse stillschweigende indirekte Mitverantwortung nicht absprechen. Gleiches gilt in Hinsicht auf vom Regime zu verantwortende Gewaltakte für den seit 1980 in Koalition mit den Militärs und bis 1985 mit Rechtsparteien regierenden PDC. In dem Anfang 1984 veröffentlichten Bericht der Kissinger-Kommission wird festgestellt, daß seit 1979 ca. 30 000 politische Morde in El Salvador begangen wurden, wobei die Sicherheitskräfte in Verbindung mit den Todesschwadronen für viele Tausende direkt verantwortlich gewesen seien 1984 sank, nachdem die USA Ende 1983 energischen Druck auf das Militär ausübten und auch Präsident Duarte seit seinem Amtsantritt im Juni 1984 seinen Einfluß geltend zu machen versuchte, die Zahl derartiger politischer Morde drastisch Seit dem Beginn des Jahres 1984 ist aber zugleich das Militär dazu übergegangen, mit brutalen Mitteln (u. a. Bombardements) die Bevölkerung aus den von der Guerilla kontrollierten Gebieten zu vertreiben, um so dem Fisch (Guerilla) das Wasser (Bevölkerung) zu entziehen. Ob es gelungen ist und in nächster Zukunft gelingen wird, die Guerilla militärisch entscheidend zu schwächen, ist ungewiß. Solange aber der FDR/FMLN stark ist, bleibt die Versuchung bei Militär und Polizei wie den ihnen verbundenen paramilitärischen Organisationen, Terror als Mittel der Revolutionsbekämpfung einzusetzen. Hingewiesen werden muß im Zusammenhang der Menschenrechtsproblematik auch auf das Problem, daß — ganz anders als in Nicaragua — hier mehrere Priester, Nonnen, viele Katecheten und selbst der Erzbischof des Landes von Rechtskräften ermordet wurden. Der mit den Todesschwadronen in Verbindung stehende D’Aubisson, mutmaßlich der Auftraggeber des Mordes an Erzbischof Romero 1980 wurde nach den Wahlen von 1982 zum Parlamentspräsidenten gewählt, und er unterlag Duarte in den Stichwahlen für die Präsidentschaft im Mai 1984 nur knapp.
— Der Prozeß der salvadorianischen Demokratisierung wurde von Sozialreformmaßnahmen begleitet, welche den Forderungen der Linken nach Strukturreformen offensiv begegnen und ihnen Anhänger abspenstig machen sollten (vgl. oben: die demokratische Regierung als Ersatzalternative der sozialrevolutionären Option). Ob sie ausreichend waren, ist ungewiß. Wenn man die Agrarreform als Schlüsselreform betrachtet, scheint das sandinistische Nicaragua bisher erheblich besser abgeschnitten zu haben. — Zum Problem des Pluralismus und der Demokratisierung bemerkte die amerikanische Menschenrechtsorganisation America’s Watch im März 1985: „... es gibt keine Anzeichen dafür, daß eine auf dem linken Flügel angesiedelte Oppositionszeitung so arbeiten könnte, wie dies solche Zeitungen taten, bis sie von den Streitkräften 1980 und 1981 gewaltsam geschlossen wurden; es gibt keine Anzeichen dafür, daß auf dem linken Flügel angesiedelte Gewerkschaften arbeiten könnten, so wie sie dies taten, bis ihre Anführer in den Jahren 1980, 1981 und 1982 verschwanden, verhaftet, gefoltert und ermordet wurden; es gibt keine Anzeichen dafür, daß Linksparteien arbeiten könnten, wie sie es taten, bis ihre Führer in den Jahren 1980, 1981 und 1982 verschwanden oder ermordet wurden. Der bestehende politische Raum erlaubt den Salvadorianern die Wahl zwischen Christdemokraten und den Parteien auf der Rechten. Solange der politische Raum sich nicht so erweitert, daß er auch friedliche Opposition durch Zeitungen, Gewerkschaften und Parteien links von den Christdemokraten zuläßt, solange wird es nicht möglich sein, davon zu sprechen, daß eine Demokratisierung auf dem Vormarsch sei.“ 3. Bemerkungen zur Demokratisierung in Guatemala Vor wenigen Wochen, im Dezember 1985, ging ein christdemokratischer Präsident siegreich aus den Wahlen in Guatemala hervor. Euphorische Kommentare haben diesen Vorgang begleitet; m. E. ist jedoch auch Skepsis angebracht: Im Gegensatz zum salvadorianischen Militär scheint das guatemaltekische extrem sozialkonservativ orientiert zu sein und wird aller Voraussicht nach keine Agrarreform zulassen. Es weist eine noch erheblich schlechtere Tradition chronischer Menschenrechtsverletzungen auf als das salvadorianische. Angesichts dieser blutigen Tradition muß man ein großer Optimist sein, um eine erhebliche Besserung zu erwarten.
Der neue Präsident scheint entschlossen zu sein, mit Hilfe der amerikanischen Regierung als Druckmittel die ihm verbleibenden Möglichkeiten auszunutzen, das Regime zu humanisieren und einige bescheidene Sozialreformen auf den Weg zu bringen. Seine Handlungsmöglichkeiten dürften aber, ähnlich wie es bei der Regierung des reformistischen zivilen Präsidenten Mendez Montenegro (1966— 1969) der Fall war, äußerst gering sein. Für die USA kann sich das Problem ergeben, daß sie im Zeichen der Revolutionsbekämpfung in Guatemala in noch größere Schwierigkeiten geraten als bei der Verteidigung El Salvadors gegen die „kommunistische Gefahr“.